Die Moorheiligen - Christiane Meyer-Ricks - E-Book

Die Moorheiligen E-Book

Christiane Meyer-Ricks

4,9

Beschreibung

Was geschah mit Erich Gabert? Während einer Firmenfeier in den 70er-Jahren spurlos verschwunden, bleibt das Schicksal des Wirtschaftskapitäns jahrzehntelang ungeklärt. Bis er unweit einer Industrieruine im friesischen Moor ermordet aufgefunden wird. Die Recherchen der Berliner Journalistin Mirjam Kruse führen diese zurück in die eigene Vergangenheit. Dabei kreuzt sie die Wege des ostfriesischen Staatsanwaltes Jorik Hein, der einem folgenschweren Wirtschaftsverbrechen seiner Jugendtage auf der Spur ist. Eine schicksalhafte Kollision bahnt sich an.

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Christiane Meyer-Ricks

Die Moorheiligen

Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Benjamin Arnold

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Olha Rohulya / Shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-4772-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Erich Gabert zog die Augenbrauen hoch. Das wirkte spöttisch und passte irgendwie nicht zu seinen dunkelbraunen Teddy-Knopfaugen, die vertrauensvoll in die Welt blickten. Er trug ein braunes Breitcordsakko, ein Hemd mit spitzem Kragen, dessen Streifen sich zu einem aufdringlichen Muster kreuzten, und eine breite einfarbige Krawatte. Neben ihm auf der Bar standen ein unangetastetes Glas Jever und eine Schale mit Erdnüssen. Das Licht war schummrig, und die Luft stand vor Rauch und Dunst. Hinter Gabert lachte eine Frau mit weit geöffnetem Mund über etwas, das ihr ein rotgesichtiger Mann ins Ohr sagte. Erich beachtete die beiden nicht. Er sah sein Gegenüber mit diesem Ausdruck an, der zu besagen schien: »Willst du mich für blöd verkaufen?«

Staatsanwalt Jorik Hein hätte gerne gewusst, wen Erich Gabert mit dieser Mischung aus Vertrauen und Unglauben ansah. Er drehte das Foto um, fand aber keine Quellenangabe darauf. Auch in der Vermisstendatei war nirgendwo ein Hinweis auf den Fotografen zu finden. Komisch, dachte Hein. Er betrachtete die anderen Fotos, die verstreut auf seinem Schreibtisch lagen. Sie brachten weniger Charakterliches zum Ausdruck als vielmehr die Tatsache, dass der Abgebildete schon eine ganze Weile tot im Moor lag. Diese Bilder stammten aus einer Akte der Rechtsmedizin Hannover, die seit heute Morgen auf seinem Schreibtisch im Amtsgericht Greveshaven lag. In seinem Bezirk gab es nicht viele Vermisstenfälle. Genau genommen waren seit 1960 nur zwei Menschen als vermisst gemeldet worden: eine Bäckerin, von der man sagte, sie sei mit einem bayerischen Baustoffhändler durchgebrannt, und der andere war Erich Gabert. Von ihm hieß es in der Akte, er sei ein unauffälliger, liebenswerter Mensch ohne Feinde gewesen.

Wenig später saß Jorik Hein am Steuer seines Wagens auf dem Weg nach Hannover, um herauszufinden, ob der Tote auf den Bildern der Rechtsmedizin Erich Gabert war.

Viel Verkehr war nicht auf der Straße. Es ist wirklich schön hier, dachte Hein, als er auf die Greveshavener Landstraße Richtung Autobahn einbog. Er betrachtete die späte Morgensonne zwischen den kahlen Ästen, den Dunst über den Feldern, die Frostlöcher im Asphalt – und alles, was da jenseits der Waldkante neugierig guckte. Nichts, was Hein sich vorstellen konnte, würde ihn jemals von hier wegführen.

Kapitel 2

Alle Zeitungen hatten sich auf die Bilder der Moorleiche gestürzt. Sie zeigten ein Ungeheuer. Ein entfernt menschliches Gesicht, dessen Mund weit offen stand, aus dem eine lange Zunge heraushing wie eine Schlange. Offenbar sind die Bilder vom Leichenfund gleich an die Presse weitergereicht worden, ärgerte sich Hein, als er kopfschüttelnd die geschmacklosen Moorleichen-Aufmacher im Fenster eines Zeitungskiosks betrachtete.

Wenigstens, dachte er, gibt es noch keinen Namen hinter diesen unsäglichen Schlagzeilen.

Jemand hinter ihm hupte. Erst dachte Hein, er hätte beim Lesen der Zeitungsüberschriften die grüne Ampelphase verpasst, aber jetzt hupten auch Fahrer vor ihm, und auf der Straße waren Menschen in Bewegung. Zwei Wagen waren kollidiert und blockierten den Weg. Die Fahrer standen sich wütend gegenüber. Sogar durch das geschlossene Fenster drang das Geschrei zu Hein in den Wagen.

Immer mehr Neugierige kamen hinzu, um das Spektakel zu sehen: Wette, es kommt zu einer Schlägerei. Ein Bier auf den Bärtigen. Ich tippe auf den Kleinen.

Hein stöhnte ungeduldig. Ausgerechnet jetzt, wo er das Rechtsmedizinische Institut in der Mitte des Uni-Campus schon sehen konnte. Mit seinen verspiegelten Fenstern, die an dunkle Höhlen in einem ranzigen gelben Käse erinnerten, ragte das Institut fünf Stockwerke hoch in den Himmel. Hein war jedes Mal aufs Neue von diesem spektakulären Schandfleck beeindruckt. Die Wiesen rund um die Gebäude der Medizinischen Fakultät waren silberweiß gefroren. Hier und da lagen schwarze verrenkte Äste im dicken Eismantel auf der harten Erde. Sie waren schon beim leichtesten Wind abgebrochen.

Ein Loch lag unter Ästen neben einem Baum versteckt. Nur ein bisschen Erde auf der silbernen Wiese verriet Hein die Lage des Fuchsbaus. Zu seiner Überraschung kletterte der Fuchs aus seiner Höhle und trabte mit hoch erhobenem Kopf langsam davon. Städter, lächelte Hein, und es war nicht zu sagen, ob er den Fuchs oder die Gruppe Studenten meinte, die trotz eisiger Temperaturen in kurzen Jacken und dünnen Turnschuhen aus dem Park kamen. Zwei junge Frauen, strohblond, Grübchen, Pudelmütze, blieben neben Heins Wagen stehen und guckten hinein. Er konnte sie fast sagen hören: »Ist das nicht der Schauspieler?«

Angelockt von diesem Ausruf, versammelte sich eine ganze Gruppe junger Leute neben seinem Wagen. Einige fotografierten ihn sogar mit ihren Handykameras. Als er vergeblich seine Sonnenbrille im Handschuhfach suchte, hörte er in der Entfernung eine Polizeisirene näher kommen.

Oh nein, das dauert sicher eine Ewigkeit.

Wenig hoffnungsvoll sah Hein zur grünen Ampel hinauf und dann vor sich auf die Straße, wo immer noch nichts voranging. Dann traf er eine Entscheidung. Pardon, Ladies.

Mit einem entschuldigenden Lächeln rollte Hein über den Bürgersteig auf den Fußweg, der den Park durchzog. Die Mädchen sahen entzückt hinterher, und ein junger Mann ließ verdutzt einen Donut in seinem offenen Mund sehen, als Hein den Wagen beschleunigte. Ein Eichhörnchen raste in Panik vor dem heranjagenden Geländewagen über das weiße Gras davon und flitzte einen Baumstamm hinauf. Hein konnte sich das empörte Kratzen der Eichhörnchenpfoten weit oben in der Krone vorstellen.

Vor ihm auf dem Weg hackte ein Eichelhäher wütend auf einen Tannenzapfen ein, und Studenten sprangen fluchend auseinander. Ein Mädchen verlor seine Thermoskanne, und Hein musste auf die Wiese ausweichen, als es sich danach bückte. Mit einer Fontäne aus Dreck und Gras schoss der Wagen aus der Grünanlage in eine Stichstraße, an deren Ende Hein lammfromm vor der Treppe des Rechtsmedizinischen Instituts parkte.

Der Pathologe Friedrich Voss rückte gerade vor dem Spiegel seine Krawatte am Ausschnitt des Laborkittels zurecht und strich sich zufrieden über die vollen Haare, als Hein das Labor betrat und respektvoll die Schiebetür hinter sich schloss. Er nickte Voss zu und deutete mit einer unbestimmten Geste zum Seziertisch. »Nun, Voss, was wissen wir?«

»Der Tote lag über 30 Jahre im Moor. Genauer kann ich es noch nicht sagen. Fest steht, der Mann wurde erschossen. Von vorn. Mitten ins Herz und auf kurze Distanz.«

Über Heins Pokergesicht lief ein Schatten, den Voss nicht deuten konnte. Gerne hätte er nachgefragt, aber Heins Angewohnheit, ihn beim Nachnamen zu nennen, obwohl sie sich schon sehr lange kannten, war eine klare Ansage. Vertraulichkeiten verboten!

Also weiter im Text, dachte Voss: »9-mm-Einschussloch. Ein verirrter Vogelkundler hat die Leiche vorgestern im Nordmoor gefunden. Bei normalen Temperaturen wäre der Naturfreund auf Nimmerwiedersehen im Moor versunken, aber dieses Jahr ist das Moor gefroren. Die Leiche kam quasi als Eisblock hier an.«

Vage bemerkte Voss, dass Hein sich über die Augen strich.

»Ist er am Fundort gestorben?«

»Schwere Verletzungen wie vom Transport einer Leiche durch unwegsames Gelände habe ich nicht gefunden. Er hat nur eine lang gezogene Wunde an der linken Schläfe. Das kann ein Schlag gewesen sein oder von einem Sturz herrühren.«

Hein, der noch immer an der Schiebetür stand, löste sich vom kalten Stahl und umrundete mit einigem Abstand den Seziertisch.

Offenbar hat er es jetzt, nachdem er die ganze Strecke hierhergerast ist, überhaupt nicht mehr eilig, den Toten in Augenschein zu nehmen, dachte Voss und versuchte, Heins Mimik im Schatten der OP-Beleuchtung zu deuten.

Endlich beugte sich Hein über die Leiche. Er verharrte ungewöhnlich lange in dieser Stellung. Das Eis war größtenteils aufgetaut, und ein brauner Brei stockte um den Toten. Es roch nach fauliger Erde. An manchen Stellen war der Körper mit einer festen Lederhaut überzogen, und an Brust und Schulter hafteten dunkle Stoffreste.

»Kann ich bitte Handschuhe haben?«

Voss nickte, doch Hein sah gar nicht hin. Erst als Voss ihm die Schachtel mit den Latexhandschuhen unter die Nase hielt, nahm sein Kollege den Blick von der Leiche. Hein zog sich die Handschuhe an wie ein Chirurg und tastete zielstrebig den Oberkörper der Leiche ab. Mit einer steifen Bewegung entfernte er einen winzigen Porzellankörper vom Stoff und hielt ihn gegen das Licht.

»Der Tote war ein Ideologe und offensichtlich nicht sehr kompromissbereit«, sagte Hein.

Voss sah in seinem weißen Kittel aus wie ein lebendes Fragezeichen: »Was ist das?«

»Ein elektromechanischer Keramikwiderstand, ein Schaltelement. An sich nichts Besonderes, es sei denn, man macht ihn mit seinen beiden Drähten unter dem Kragen fest. Dann dient er als geheimes Erkennungszeichen für eine Protestbewegung.«

»Interessante These«, entgegnete Voss. Es klang eingeschnappt.

»Nach seiner Lehre als Elektromonteur kam der spätere polnische Präsident Lech Walesa 1966 an die Leninwerft in Danzig«, erklärte Hein. »Mit 24 Jahren wurde er zum Betriebsrat gewählt und 1971 stand er an vorderster Front bei den blutigen Unruhen. Einige verträumte Sympathisanten im Westen haben sein Symbol des heimlichen Widerstandes übernommen, um gegen alle möglichen Formen der Unterdrückung zu protestieren.« Hein verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Der Tote heißt Erich Gabert und wird laut Vermisstenakte seit dem 17. Februar 1975 in Greveshaven vermisst.«

»Vielleicht haben seine Angehörigen noch etwas von dem Toten aufgehoben, damit wir einen DNA-Abgleich machen können«, sagte Voss. Er musterte Heins überzeugtes Gesicht. »Nur um ganz sicherzugehen.«

Hein nickte. Er legte den Keramikwiderstand auf die Vermisstenakte und hielt Voss beides vor die Brust. »Danke, Doktor. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie Neuigkeiten haben.«

Das hört sich an, als ob er mir damit eine Freude macht, dachte Voss und ärgerte sich, dass es tatsächlich so war. »Ich melde mich.«

Hein verließ die Anatomie und erreichte nach zwei Stunden Fahrt wieder die Küste. Vor ihm öffnete sich zwischen künstlichem Strand und Hafenanlagen der Ausblick aufs offene Meer. Dabei wurde sein Herz für einen Moment ganz unbeschwert. Wie um ihn zu ärgern, schlich ein Segelboot den Horizont entlang.

Vermutlich konnte der Eigner das Frühjahr nicht abwarten. Jetzt sitzt er mit Wollunterwäsche im Trockenanzug an Bord und betet, dass der Winterwind nicht einschläft, bevor er im Hafen ist.

Doch der Wind frischte auf, und der Mast glitt leicht schwankend immer schneller über das Wasser. Landeinwärts zogen die verfallenen Industriebaracken der Viktoria-Schreibmaschinenwerke vorbei. Wie alle Kinder der Gegend konnte er die Geschichte der alten Fabrikdame im Geiste herunterbeten:

1903 war die »Viktoria« in Thüringen gegründet worden. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg drohte sie den russischen Alliierten in die Hände zu fallen, weshalb sich die Inhaber auf die Suche nach einem neuen Standort machten. Am Marinehafen Greveshaven entdeckten sie Anlagen und Baracken, wo in den letzten Kriegswochen noch Waffen für den Endsieg produziert worden waren. Jetzt hausten dort Hunderte Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen, die sofort als Arbeitskräfte rekrutiert werden konnten.

Aus den Flüchtlingen wurden Fließbandarbeiterinnen, aus britischem Beutegut Motoren und Werkzeuge. Und Hanno Werstand, der letzte Proviantmeister der Kriegsmarine, fertigte aus Restbeständen der Marineschiffe eine Kantine, in der die Arbeiterinnen versorgt wurden. Schon 1953 liefen die ersten Schreibmaschinen vom Band und katapultieren die Region in nur zehn Jahren ins Wirtschaftswunder. 1962 arbeiteten bereits 10.000 Menschen in der Fabrik.

Arbeiterhäuser, Hotels, eine Eisenbahnlinie und eine Autobahn wurden gebaut, Restaurants eröffnet, und niemand musste mehr fischen gehen. Doch Anfang der 70er stagnierte der Absatz, und bald darauf schloss das Werk für immer seine Pforten.

Das waren goldene Zeiten, dachte Hein. Heute war niemand zu sehen, und aus den Schornsteinen stieg kein Rauch auf. Das Gelände lag still und verlassen da – wie ein Brunnen voller Geheimnisse.

Kapitel 3

Hinter der Fabrik veränderte sich die Landschaft. Statt offener Wiesen säumte dichter Wald einen vereisten Weg, den Hein mit unbewegter Miene entlangbretterte. Rechts und links von ihm standen Bäume Spalier. Die kupferfarbenen Stämme verdichteten sich zu einem finsteren Wald. Kein Sonnenlicht erreichte dort mehr den Boden.

Mit einem Sprung schoss der Geländewagen auf einen Waldparkplatz. Der Wagen drehte sich einige Male auf dem Eis und kam dann neben einem Baumstumpf zum Stehen.

Die Kälte schlug Hein wie eine Faust ins Gesicht, als er mit steifen Beinen aus dem Wagen stieg und sich umsah. Ein hölzernes Schild wies mit der abgesägten Spitze zum Nordmoor und ein anderes zum Hotel am Mühlenteich.

Auf den bizarren Baumleichen lag eine Decke aus glitzernden Eiskristallen, und herabhängende Zweige steckten wie Hände im gefrorenen Bach.

Früher war der Parkplatz eine Lichtung, erinnerte sich Hein, und er sah sich selber als Kind. Die Backen rot wie ein frisch polierter Apfel und auf dem Kopf eine braune Maschinenstrickmütze mit langen Ohrschützern. Mit einem Emaille-Eimer in der einen und einer Angel in der anderen Hand, tritt der kleine Hein auf die winterliche Waldwiese. Seine unnatürlich blauen Augen fixieren ein Feuer, das auf dem Waldboden brennt. Sein Vater sitzt auf einer Holzkiste vor dem Feuer. Braune Synthetikjacke und rote Pudelmütze. Er legt sehr vorsichtig noch ein Holzscheit ins Feuer: »Wo hast du den ganzen Tag über gesteckt?«

»Ich hab eine Zanderwohnung gefunden«, sagt Jorik stolz und zeigt seinen Zander. Der Vater streicht ihm über die Mütze. Sanfter, als es sein müsste.

Hinter Hein knackte ein Ast.

»Moin«, dröhnte eine tiefe Stimme.

Aus dem Dickicht ausgedörrter Schilfbüschel trat ein Mann auf den Parkplatz. Sein riesiger Körper steckte in einem bodenlangen Cape aus braunem Ölzeug, und an den Füßen trug er mit Schafwolle gefütterte Gummistiefel.

Der Mann legte den Kopf schräg, sodass sein ungepflegter Bart auf Hein zeigte.

»Moin«, sagte Hein.

»Moin, Morn«, antwortete der Waldschrat und tippte sich an seinen Rangerhut, der mit indianischem Perlenschmuck verziert war.

»Moin, Morn.«

Die Männer maßen einander mit Blicken.

»Genau die richtigen Schuhe für einen Ausflug ins Moor«, sagte der Waldschrat mit einem Anflug von Humor in der Stimme.

Hein öffnete per Fernbedienung die Heckklappe seines Wagens und entnahm dem Kofferraum ein Paar weiche Lederstiefel mit dicker Sohle und einen langen gefütterten Regenmantel. Als er umgezogen war und seine eleganten Straßenschuhe im Kofferraum verstaut hatte, gab er dem Kauz die Hand.

»Kommst ja nicht gerade oft in die Gegend«, sagte Dönne.

»Die Leute hier quatschen mir einfach zu viel«, erwiderte Hein zwinkernd.

Schweigend marschierten sie durch den Wald. Heins Freund Dönne immer voran. Sie bewegten sich vorsichtig. Land und Wasser wechselten unter ihren Füßen, und niemand wusste, wie dick die Eisschicht war. Die Bakterien unter dem Eis spielten beim Vergären organischer Substanzen farbige Streiche. Mal funkelte die Eisschicht im verschwindenden Licht grün, mal weiß. An einigen Stellen war der Wald lila, schwarz oder braun gefärbt, und wenn der Wind durch die gefrorenen Zweige strich, klang es wie Nadeln, die auf Steine fielen. Das reinste Hexenwerk, dachte Hein und war dankbar, dass der alte Förster sich bereit erklärt hatte, ihn hierher zu begleiten.

Das rot-weiße Flatterband der Polizei, das hier unsinnigerweise einen Tatort abriegeln sollte, war schon von Weitem zu sehen.

»Suchst du etwas Bestimmtes?«, fragte Dönne, als sie vor dem Eisloch standen, das die Techniker aus dem Moor gesägt hatten, um den Toten zu bergen.

Hein ließ seinen Blick über die Umgebung streifen.

»Ein eigenartiger Ort zum Sterben.«

»Wat foar in Skyt.« Dönne nickte.

»Wenn er hier erschossen wurde, war es sicher eine Überraschung. Wer folgt schon seinem Henker treudoof in diese entlegene Gegend? Und wenn der Tote woanders erschossen wurde, wie hat der Mörder ihn dann hierherbekommen?«, fragte sich Hein laut.

»Wenn es viel regnet, verflüssigen sich manchmal die Kanäle«, sagte Dönne. »Mit einem schmalen Boot könnte man einen Körper transportieren. – Um welches Jahr geht es denn?«

»1975.«

Dönne schüttelte den Kopf. »Trockenes Jahr. In der Lüneburger Heide gab es damals einen Waldbrand, den sie sogar aus dem All fotografiert haben.«

Die Männer konnten einander kaum noch sehen, so dunkel war es inzwischen geworden. Wieder rauschte der Wind durch die gefrorenen Zweige, und Hein lief ein Schauer über den Rücken.

»Was liegt weiter in der Richtung?«, fragte er.

»Ein, zwei Moorhütten, die auf Sanddünen sitzen. Da haben früher die Torfstecher geschlafen. Aber da ist schon lange keiner mehr gewesen.«

Hein sog die kalte Luft ein. »Es kommt Schnee. Wir sollten zurück.«

Gerade ließen sie sich an einem der fünf Tische in der Gaststätte »Räucherhaus« nieder, als Heins Telefon klingelte. Erschöpft vom Marsch zurück durch das eisige Moor stand er wieder auf und ging mit dem läutenden Telefon vor die Tür.

»Hein.« Seine Zunge fühlte sich steif an.

»Hier ist Voss«, drang es eifrig aus dem Hörer.

Einen Moment lang betrachtete Hein seine verdreckten Gummistiefel. Mit dem Abitur war seine Waisenrente aufgebraucht, und Hein nahm eine Stelle in einem Café an, weil der Wirt ihm die Kammer über der Küche kostenlos zum Wohnen überließ. Klaglos ertrug Hein den Dunst des Frittieröls und die ungeregelten Arbeitszeiten. Ich brauche Zeit zum Planen, sagte er sich. Als sein Vorsatz, Jura zu studieren, feststand, verfügte Hein über 1.500 Mark und war fest entschlossen, als Staatsanwalt einen Unterschied in der Welt zu machen.

Jetzt ist es so weit, dachte Hein und sein Kopf füllte sich mit Vorstellungen davon, was Erich Gabert passiert sein könnte. Dieses Mal würde er wirklich einen Unterschied machen.

»Herrgott, Hein, hören Sie mir eigentlich zu?«, rief Voss aufgebracht ins Telefon.

Der Mann ist wirklich eine Mimose, fand Hein und sagte: »Ich bin ganz Ohr.«

»Die Kollegen in Hamburg haben von Gaberts Familie sein ehemaliges Fußballtrikot für die DNA-Analyse bekommen. Das Profil stimmt mit dem der Moorleiche überein. Es ist Erich Gabert und …«, Voss machte eine seiner berüchtigten theatralischen Kunstpausen, »er war auf LSD, als er starb.«

Hein sah über die Straße in den Wald, der einen gespenstischen Eindruck machte.

»Außerdem hat die ballistische Untersuchung ergeben, dass es sich bei der Waffe um eine Holly gehandelt hat. – Hein?«

Vor seinem geistigen Auge sah Hein, wie Erich Gabert von Waldgeistern verfolgt durch den Wald taumelte. Irgendetwas hatte ihn vor sich hergetrieben.

»Was sagen Sie? – Hein!«, rief Voss durch die Leitung.

»Was soll ich sagen? Wenn wir uns sehen, bekommen Sie einen dicken Kuss von mir.«

Am anderen Ende der Leitung fühlte sich jemand veralbert und legte auf.

In dem dunkel gebeizten Gastraum des ehemaligen Räucherhauses war es finster wie in einem Bergwerk. Hinter der Bar stand ein maulfauler Wirt und trocknete mit hochgekrempelten Ärmeln Gläser ab, die er neben dem Zapfhahn aufstellte. Bevor seine Frau ihn verlassen hatte, um vor der Stille des Moorwalds in die Stadt zu fliehen, hatte sie mit Schablonen Fische an die holzgetäfelten Wände gemalt. Die außen liegenden Wasserrohre hatte sie mit Fischernetzen umwickelt und Muscheln hineingesteckt – ein ebenso verzweifelter wie missglückter Versuch, die Stimmung im »Räucherhaus« aufzuheitern.

Drei Waldarbeiter in Flanellhemden mit verschlissenen Krägen saßen an der Bar und guckten eine Sportsendung im Fernsehen. Neben ihnen an der Wand hingen ihre Arbeitsjacken an Wandhaken. Der Wirt wechselte einen Blick mit Hein und trat behäbig an den Tisch, um die Bestellung aufzunehmen.

»Suppe oder Wildeintopf aus der Mikrowelle?«, fragte er.

Hein bestellte sich den Wildeintopf und setzte sich zu Dönne an den Tisch, der bereits sein Brot in die Suppe tunkte und es sich eilig in den Mund schob. Dabei kleckerte er sich den Bart voll. Hein konnte ein liebevolles Lächeln nicht unterdrücken.

»Stell dir vor, Dönne, der Tote war auf Drogen. Und dann wurde er erschossen«, sagte Hein.

»Wat foar in Skyt«, murmelte Dönne. Dabei krümelte er konzentriert Brotstückchen in seine Suppe.

Der Wirt legte das in eine weiße Papierserviette eingerollte Besteck neben Hein auf den Tisch und stellte ein Bier dazu. Dann ging er zurück hinter die Bar, entnahm der Mikrowelle eine Plastikverpackung, schnitt sie auf und kippte den Inhalt auf einen Teller, den er wortlos vor Hein abstellte.

Hein schob den Teller beiseite und dachte laut nach: »Eine Holly war seinerzeit die bevorzugte Waffe der RAF. Worin hat sich Gabert da bloß verstrickt?«

Dönne bemerkte, dass Hein sein Essen nicht anrührte. Er zog den Teller zu sich und begann zu essen.

»Du solltest mehr essen, Jorik.«

Dönne hat recht, dachte Hein, als er etwas später zu Hause vor seinem leeren Kühlschrank stand und auf eine einsame Dose Tomatenmark starrte. Draußen war es jetzt ganz dunkel geworden. Im Wasser spiegelten sich die Lichter der Hotelpromenade, die am Greveshavener Südstrand entlang verlief. Ein Investor hatte die leer stehende Kaserne zu einem Wellnesshotel umgebaut, aber soweit es Hein beurteilen konnte, blieben die meisten Zimmer ungenutzt. Er selber wohnte gegenüber auf der Industrieseite, wo Fischerboote, Baggerschiffe und ein paar Segelboote nebeneinander schaukelten. Durch die Aufbauten der Arbeitsschiffe jaulte der Wind. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur vor der Hafenkneipe schlingerte noch die Lichterkette zum Zeichen dafür, dass es dort Leben und etwas zu trinken und zu essen gab.

Erleichtert ließ Hein die Tür des Kühlschranks zufallen und verließ schnellen Schrittes die Bootshalle. Während er seinen Schal enger zog, sah er lächelnd zurück auf den stolzen Holzrumpf der »Albatros«, die geduldig in ihrem Winterquartier auf die erste milde Frühlingsluft wartete. Hein hatte sie einem plötzlichen Impuls folgend gekauft und dann jahrelang seine gesamte Freizeit damit verbracht, das Schiff in der angemieteten Bootshalle zu renovieren. Als das Boot fertig war, fehlte ihm die handwerkliche Arbeit. Also renovierte er die Werkstatt hinter der Bootshalle. Er verlegte einen glänzenden Eichenboden, zog eine erhöhte Schlafebene ein und baute einen Kiefernholztisch, an dem acht Leute sitzen konnten. Dann malte er die Wasserrohre kobaltblau an und fügte eine Waschecke ein. Nur die Toilette blieb, wo sie immer gewesen war: an der Hallenaußenseite, wo sie in den kalten Winterwochen einfror, bis Hein einen Frostwächter anschaffte. Zuletzt hatte er einen großen Holzofen mit Fenster montiert und seine zentral beheizte Dreizimmerwohnung in der Stadt gekündigt.

Draußen schwappte das Wasser in rosa, grünen und roten Schlieren an den Pier. Es roch nach Altöl, Schlick und Salz. Eine Mischung, die auch durch Heins Adern zu fließen schien.

Die Wände des kleinen viereckigen Raums der Hafenkneipe waren mit hellen Kiefernholzbrettern verschalt und der Boden mit hellblauem Kunststoff ausgelegt. Fünf Tische standen an den Wänden, und am hinteren Ende des Zimmers thronte die dunkel gehaltene Bar. Aus der Schwingtür dahinter preschte jetzt Maria mit einem geflochtenen Brotkorb hervor, den sie dem einzigen anderen Gast hinstellte, der in einer Zeitung blätterte.

Maria konnte nicht langsam, auch wenn kein Betrieb war. Mit Mitte 20 war die hübsche junge Frau an der Seite des verschrobenen Hafenmeisters aufgetaucht und hatte nach einigen Wochen die »Hafenbar«, die geschlossen gewesen war, solange Hein denken konnte, neu eröffnet. Immer trug Maria tief sitzende Jeans, aus denen manchmal die Schlange aufblitzte, die sie sich in wilden Jugendtagen hatte tätowieren lassen – und gelegentlich konnten die scharenweise heranströmenden Bootsleute einen Blick auf das Tal zwischen ihren Brüsten werfen.

»Jorik, du siehst hungrig aus«, sagte sie lächelnd und wischte über den Tresen, wo sich Hein gerade niederließ.

Der andere Gast war Jahn. Hein konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er Jahn nicht gekannt hatte. Das windschiefe Haus auf dem Deich beim alten Fischerhafen, in dem er lebte, war legendär. Seine junge Frau, die älter ausgesehen hatte als er, war früh an Krebs gestorben. Kinder hatten sie keine, also war Jahn allein geblieben und verfiel zusammen mit dem Haus. Im Vorgarten stapelte sich ein Müllberg aus alten Elektrogeräten, Gittern, Rohren und Autoteilen. Im Lauf der Jahre war das Schrottgebirge über das Haus, die Garage und den Schuppen hinausgewachsen, und weder die Nachbarn noch der Bürgermeister konnten daran etwas ändern. Hein erinnerte sich, dass er dort schon als Kind Bauteile für Seifenkisten gesucht hatte.

Jahn war dann immer herausgestürzt, den Besen über seinen Kopf schwenkend, um sein hochgeschätztes Eigentum zu beschützen. Es war ein besonderer Ort, dessen Verbindung zwischen Haus und Bewohner sprichwörtlich weithin zu riechen war.

»Hallo, Jahn«, sagte Hein.

Jahn brummte etwas und schob Hein die Titelseite der Lokalzeitung herüber.

»Ihr habt noch keinen Namen für die Moorleiche, oder?« Dabei tippte Jahn mit einem breiten schmuddeligen Finger auf das Foto der Titelseite. Es stellte ein Loch im gefrorenen Moor dar, das rundherum mit Flatterband abgegrenzt war.

»Du hast ihn gekannt, Jahn. Er hat auch bei der »Viktoria« gearbeitet. Es ist Erich Gabert.«

»Der ist damals verschwunden.«

Maria flitzte mit einem Teller aus der Küche und stellte ungefragt zwei Fischbrötchen und eine Flasche Bier vor Hein ab. Er dankte es ihr, indem er hungrig in das erste Brötchen biss und genussvoll mit Bier nachspülte.

»Er wurde umgebracht.«

Jahns Ausdruck verschwamm. Für einen Moment zog er sich in die Vergangenheit zurück. Dabei wurde sein Gesicht ganz weich, und Hein registrierte, dass Jahn Erich einmal sehr verbunden gewesen sein musste.

»Obwohl Erich ganz oben in der Firma war, hat er sich um die Arbeiter gesorgt. Er forderte, dass die Angestellten am Wachstum der Firma teilhaben. An das, was ihm wichtig war, ist er rangegangen wie ein Berserker.« Jahn bedeutete Maria, dass er noch ein Bier wollte. »Bei Ungerechtigkeiten konnte er richtig in Rage geraten.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass er sich mit allen angelegt hat – wie damals, als er neue Wohnungen für die Arbeiter forderte und die Gewerkschaft sich vor dem Konflikt scheute. Da hat er sie als Kollaborateure beschimpft und links liegen lassen. Dann ist er ganz nach oben marschiert, direkt zu Hans Bauer, und hat gefragt, ob er sich nicht schämt, in einer Villa zu leben, während seine Arbeiter in alten Kasernen mit Koksöfen hausen und an Lungenkrankheiten sterben wie die Fliegen. Er hat sich mit den Männern angelegt, weil er den Frauen geholfen hat, einen Kinderladen zu gründen und Frauentreffen im Restaurant abzuhalten. Dort gab es Vorträge und Diskussionsabende. Am Anfang war auch deine Mutter öfter mit dabei, aber später habe ich sie nur noch selten gesehen. Die Männer haben ihn ›Emanzenliebling‹ genannt. Er hat wirklich alle provoziert, aber auch viel erreicht.« Jahn nahm einen Schluck aus der Flasche, die Maria vor ihn hingestellt hatte.

»Gab es mit irgendwem Streit?«

Jahns Lider zuckten unruhig, und Hein wusste, dass er etwas für sich behielt.

»Jemand wie Erich hatte immer Streit mit irgendjemandem. Er ist mit seiner Moral allen auf die Nerven gegangen. Aber deswegen bringt man doch niemanden um.«

Eine Stunde später saß Hein auf dem Boden vor seinem Ofen und starrte ins Feuer. Jahn hatte etwas verschwiegen. Auch als er ihn nach Erichs Frau Ursula gefragt hatte, war er stur geblieben. Es schien so, als hätte Erich nicht nur mächtige Feinde gehabt, sondern auch treue Freunde.

Ab und zu streckte Hein seinen Arm nach einem neuen Holzscheit aus und warf ihn ins Feuer. Dort legte er seine Gedanken ab, wie es die Menschen seit Urzeiten taten. In der Fensterspiegelung sah Hein seine Mutter neben sich stehen. Sie trug den blutroten Wollmantel, den Heins Vater ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hatte. Ihre Hände klammerten sich steif an eine Zigarette, während sie mit den Füßen auf der Stelle trippelte. Dann löste sich das Bild auf wie der Rauch ihrer Zigarette.

Der Gedanke an seine Mutter war wie eine Rute aus Brennnesseln.

Alles wird ans Licht kommen.

Er würde dafür sorgen.

Kapitel 4

Es war erst zwei Tage her, dass Erich Gabert ermordet aufgefunden wurde. Seinen damaligen Chef, den »Viktoria«-Vorstandsvorsitzenden Hans Bauer, interessierte das aber nicht. Etwas erhöht saß er auf einem bequemen Stuhl bei einem Berliner Nobelitaliener und ärgerte sich über seine Frau. Ihr hatte er diese alberne Geburtstagsmottoparty zu verdanken.

Irgendetwas drückt bei ihr auf das Geschmackszentrum, dachte Bauer, als seine Frau – kurz bevor die ersten Gäste erschienen – die auf Plakatgröße vergrößerte Dollarnote enthüllte, auf der er als Pate zu sehen war. Darunter stand in großen Lettern: »Don Bauer macht Ihnen ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können.«

Sie meint es ja nur gut, versuchte sich Bauer zu beruhigen, als die Kellner das unsägliche Werk aufhängten und die ersten Gäste dem Motto des Abends entsprechend kostümiert erschienen. Sie stellten sich in einer Schlange auf, und Bauer nahm mit steifen Gesten ihre warmen Worte entgegen.

Sie stehen da wie zur Beerdigung, dachte Ellen Bauer. Zu ihrer Überraschung war der Gedanke überhaupt nicht schockierend. Hans war heute 88 geworden. Ein bisschen sieht er schon aus wie in Stein gemeißelt.

Aber so war er immer gewesen – hart wie Granit, die kurzen Beine nach außen gestemmt, sodass ihn kein LKW umfahren konnte. So fest waren auch seine Überzeugungen.

Vielleicht, überlegte Ellen weiter, ist es besser, wenn er gar nicht mitbekommt, wie alles von dieser unfähigen Regierung und der verdammten Unterschicht zugrunde gerichtet wird.

Sie hatten für ihren Aufstieg gekämpft, aber die Ausländer und die Arbeitslosen beließen es heute dabei, sich ihre Sozialhilfe abzuholen und dann vor dem Flachbildschirm den Tag zu vertrödeln. Ellen Bauer schüttelte sich innerlich vor Abscheu. Nein, Hans soll nicht erleben, wie das, wofür er geschuftet hat, zugrunde geht.

Mit einem Blick zu ihrem alten Freund Joachim erklomm sie an der Hand eines Kellners einige Stufen, die sie in Augenhöhe mit der funkelnden Champagnerpyramide brachten. Als Joachim mit dem Messer einige Male vorsichtig an einen Glasrand klopfte, kam der Saal respektvoll zur Ruhe.

Ellen ließ sich einen Moment Zeit, um die auf ihr ruhende Aufmerksamkeit aufzusaugen. Dass alle dem Partymotto »Der Pate« folgen würden, hatte sie erwartet. Aber dass sie sich solche Mühe geben würden, sie in das New York der 30er-Jahre zurückzuversetzen, machte sie stolz. Ja, es war das richtige Zeichen. Mit Lausbubengesichtern standen sie alle wie liebe Onkel im warmen Licht der Kerzenlüster, die sie extra für diesen Zweck hatte aufhängen lassen. Man hätte sie für Brüder halten können, aber ihre Bande waren dicker als Blut. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit in einer Zeit, als Wirtschaft noch ein persönliches Geschäft gewesen war.

Ellen hatte ihre Rede in drei Akte aufgeteilt, wie es sich für eine ehemalige Schauspielerin gehörte. Zur Einführung sprach sie von harten Zeiten, vom Krieg und vom Wunder der Liebe. Dann erzählte sie vom Aufbau eines in Trümmern liegenden Unternehmens, vom Wirtschaftswunder, das Hans Bauer mitgestaltet hatte wie kein Zweiter. Dafür, sagte sie, sollte die deutsche Wirtschaft ihm ein Denkmal setzen.

Zum Schluss ihrer Rede bedankte sich Ellen Bauer bei allen für ihr Kommen. Anschließend nahm sie das oberste Glas von der Champagnerpyramide und brachte es ihrem Mann.

Plötzlich roch es nach Essen. Leise hoben die Gespräche wieder an, und es klirrten die Gläser, die sich die Gäste in einer kleinen Prozession von der Pyramide nahmen. Kellner eilten lautlos umher und präsentierten aufwendige Fingerfoodkreationen, die hungrig angenommen wurden. Langsam wurde es heiß. Die großen Fenster fingen an zu beschlagen.

Passanten guckten neugierig herein, um zu erfahren, welcher Prominente hier wieder die Puppen tanzen ließ. Die Lautstärke hob und senkte sich. In Bauers Nähe zwitscherte eine Frau wie eine Amsel. Sie hatte sich ihm vorgestellt, aber Bauer konnte sich ihren Namen nicht merken. Früher hatte er ein gutes Gedächtnis gehabt, mit Hunderten Schubladen, in denen er alles ablegen konnte. Heute landeten die eingehenden Informationen einfach auf dem Fußboden. Wie abwesend stand Bauer davor und fragte sich, wo das alles herkam – wie wenn man in den Kühlschrank schaute und nicht mehr wusste, was man eigentlich wollte.

Schon wieder drückte irgendjemand Bauers Hand und fragte, wie es ihm gehe.

Alle bemühten sich, bei ihm Eindruck zu machen. Einer erzählte ihm von einem Kind, das wegen des dummen Numerus clausus keinen Studienplatz in Medizin bekäme. Ein anderer brauchte eine Baugenehmigung für ein Bootshaus an einem See in Potsdam. Ein Dritter suchte Investoren für einen Kunstfonds.

Irgendwann war Bauer genervt von den unzähligen Rückenklopfern. Die Lautstärke war angestiegen, und er verstand kein Wort mehr. Er konnte nicht einmal mehr folgen, wenn ihn jemand direkt ansprach. Alles sah er wie durch einen Schleier. Seine Augen tränten. Manch ein Gast raunte seinem Nachbarn zu, dass der einstige »Viktoria«-­ Chef gerührt sei. Aber Bauer war gefühlskalt wie ein Hai auf Beutezug. Er wusste, dass alle hier noch eine letzte Gefälligkeit von ihm erwarteten.

Ein bitteres Lachen entkam seinen Lippen, das in den Ohren der Umstehenden wie ein verschlucktes Husten klang. Sofort klopfte ihm wieder jemand auf den Rücken.

Mit den Menschen zu reden, ist anstrengend, dachte Bauer. Aber hier zu sitzen und um ein Glas Wasser bitten zu müssen, ist eine Qual.

Gerade stimmte Joachim ein Geburtstagslied an, in das alle mit einfielen. Am Ende des Liedes klirrten die Gläser, und die Gäste ließen ihn hochleben.

Bald gibt es etwas zu essen. Dann haben sie etwas anderes zu tun, als mich zu quälen.

Er musste dieses ganze Theater durchstehen, sonst würden sie hinter seinem Rücken sagen, er sei alt geworden. Mitleidig würden sie ihn ansehen, und darauf reagierte er empfindlich. Das war seine Schwäche. Er konnte kein Mitleid ertragen. »Immerhin bin ich ehrlich«, grummelte Bauer, als er seinen Platz am Kopf der Tafel einnahm.

»Ich weiß, ihr seid nur hier, damit ihr einmal im Jahr etwas Ordentliches zu essen bekommt. Also lasst es euch schmecken!«, rief er seinen Gästen zu, und die Kellner eilten mit Tellern und Vorlegeplatten herbei. Es gab Pasta mit Kaninchen statt Steak, wie er es sich eigentlich gewünscht hatte. Aus Rücksicht auf das fortgeschrittene Alter vieler Gäste hatte Ellen etwas Schonendes bestellt. Misslaunig kaute Bauer vor sich hin, während Stefan Irgendwer und ein Berti, von dem Bauer überzeugt war, ihn noch nie im Leben gesehen zu haben, Reden auf ihn hielten.

Inzwischen war das Fest weit fortgeschritten, die meisten Tische waren leer. Sakkos, die vorher straff auf den Schultern gesessen hatten, hingen jetzt achtlos über den Stuhllehnen. Manch ein Gast musste sich im Gespräch an der Bar festhalten, und eine alleinstehende Dame wurde gleich von drei Männern belagert, die sich gegenseitig mit ihren Erzählungen zu übertrumpfen versuchten. Dabei verteilten sie Zigarettenasche überall auf ihrer Kleidung.

Er hatte allen die Hand geschüttelt, hatte bei den erbärmlichen Bitten ein nachdenkliches Gesicht gemacht – und am Ende eine vage Hoffnung versprüht. Jetzt wollte Bauer nach Hause. Er machte seiner Frau ein Zeichen, das sie mit einer flüchtigen Handbewegung zur Kenntnis nahm. Ihr Gesicht war blank und rosig von den anregenden Gesprächen, als sie sich auf dem Weg zur Tür von den verbliebenen Gästen verabschiedeten.

Die meisten waren angetrunken und sicherten sich noch die letzten Weinflaschen auf dem Tisch, weil es ja schade darum wäre. Sie würden sie austrinken und später nach Hause torkeln.

Joachim wollte der Kellnerin beim Abräumen helfen und trug ein Tablett für sie zum Tresen. Dabei rutschten zwei Gläser vom Rand.

Ein untersetzter Mann mit einer albernen Strumpfmaske hielt Bauer kurz vor der Tür auf. Sein Körper dampfte und roch nach Alkohol und Aftershave. Mit einer Hand klopfte er Bauer auf den Rücken und zu allem Überfluss packte der Gangster ihn mit den kalten Lederhandschuhen im Nacken und küsste ihn nach Mafiamanier dreimal zum Abschied auf die Wange.

Bauer überlegte angestrengt, wer der aufdringliche Mann sein mochte. Eine blasse Erinnerung wehte heran. Dann war sein Kopf wie ausgeschaltet, und er verließ entschieden das Lokal.

Im Taxi stöhnte Bauer vernehmlich auf, als sich der dunkelhäutige Fahrer mit breitem Grinsen an ihn wandte.

»Wohin?«

»Koenigsallee, über den Ku’damm«, übernahm Ellen Bauer die Anweisung. »Aber keine Stadttour, wir sind keine Touristen!«

Der Fahrer fuhr mit einem Ruck los, sodass Ellen Bauer sich mit einem erschrockenen Quieken an den Haltegriff klammerte. Draußen fiel der Schnee daunenweich.

Mit überhöhter Geschwindigkeit raste der Fahrer den breiten Boulevard entlang. Bei jeder Bodenwelle schleuderte es die Bauers fast bis an die Decke. Ellens Handtasche fiel hinunter, und der Inhalt ergoss sich auf die schmutzige Plastikmatte im Fußraum. Die »Kaffernmusik«, wie Bauer es nannte, war ohrenbetäubend.

Gemeinsam klaubten sie das Guerlain-Rouge in der goldenen Dose, das Lacroix-Pillendöschen und die Montblanc-Füllfeder, mit der Ellen eben noch die vierstellige Rechnung unterschrieben hatte, zwischen Papieren und Putzlappen hervor, die aussahen, als wären es einmal Unterhosen gewesen.

Hans Bauer überlegte, ob er dem Fahrer sagen sollte, dass sie beide hier aussteigen wollten. Aber wer wusste, ob sie heute noch ein anderes Taxi bekommen würden und ob der nächste Fahrer nicht wieder ein Ausländer wäre. Schon oft hatten die Bauers überlegt, Berlin zu verlassen und zurück in die Ordnung ihrer Wiesbadener Heimat zu ziehen. Doch der Berliner Senat unterstützte ihre Stiftung jedes Jahr mit einer erheblichen Summe.

Bedauerlicherweise hatten die Bauers nicht das Glück gehabt, Kinder zu bekommen. Wie gerne hätte Ellen ihre kleine Tochter zum Ballett gefahren und zugesehen, wie sie auf winzig kleinen rosa Schühchen ihre ersten Pirouetten drehte. Wenn das Leben ihr manchmal die kalte Schulter zeigte, gab es kein Kind, das sie ablenken konnte. Also hatten sie beide spät im Leben beschlossen, unterprivilegierten Kindern durch eine Stiftung Zugang zu Kultur und Kunst zu ermöglichen. Wenigstens war Ellen von da an nicht mehr einsam. Sie kümmerte sich mit der Kraft und der Ausdauer einer Wolfsmutter um die Stiftung. Außerdem trieb sie private und staatliche Finanzmittel für den Erhalt der Stiftung auf, und Jahr um Jahr konnte sie mehr Dankesbriefe von glücklichen Kindern an die Wände ihres Büros hängen, das im Untergeschoss der Bauer’schen Grunewaldvilla untergebracht war.

Dabei war Ellen Bauer nicht unumstritten. Eine Abgeordnete der Grünen erklärte einmal ziemlich unverblümt, dass die Stiftungsvorsitzende die Gelder völlig willkürlich vergab. Immer wieder fanden sich Kritiker, die forderten, dass zu den Hauskonzerten, den Tanzkursen und den von Ellen Bauer organisierten Museumsbesuchen auch Kinder fremdländischer Herkunft Zutritt haben sollten. Auch eine Journalistin der Berliner Zeitung hatte sich mit Ellen Bauers »Stiftung für deutsches Kulturgut« angelegt, jedoch ohne Erfolg. Mit den scharfen Falten rechts und links ihres verkniffenen Mundes wehrte Ellen alle Angriffe ab und zerriss weiterhin alle Anträge mit fremdländisch klingenden Namen. Wer übrig blieb, den prüfte sie persönlich.

Für die Kinder der Ausländer gab es ihrer Meinung nach genügend Fördermöglichkeiten, die ihrerseits die Deutschen diskriminierten. Es machte niemandem etwas aus, wenn in den Förderanträgen der Kreuzberger Ministiftung explizit stand: »Nur für Migranten.«

Eilig hastete das Ehepaar vom Taxi zum schmiedeeisernen Gartentor. Als sie endlich den langen Weg vom Gatter zur Haustür zurückgelegt hatten, stöhnte Hans Bauer vernehmlich auf. Er war ungewöhnlich entkräftet. Jeder Muskel tat ihm weh.