Die München Variationen - Stefan Marek - E-Book

Die München Variationen E-Book

Stefan Marek

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Beschreibung

Alles beginnt mit einer waghalsigen Wette… Und Ludger, der bisher ein halbwegs solides Leben führte – zumindest unter der Woche – stürzt in ein Leben voller Gratwanderungen. Er steht im Mittelpunkt einer Handlung, die ein atemberaubendes Kaleidoskop der Stadt München mit dutzenden Personen und Handlungssträngen zeigt. Dabei gerät München zu einer heimlichen Protagonistin, und so ist dieses Buch auch eine Hommage des Autors an die Stadt, in der er lebt.

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Stefan Marek

Die München Variationen

Impressum

© Telescope Verlag 2017

www.telescope-verlag.de

Bilder: Regina Weber

Lektorat: Verena Rotermund, Selzen

Für Worobuschek

Ludger

Der Taubenkot klatschte direkt auf Ludgers Kopf. Das musste derzeit ein besonderer Wettbewerb unter den Münchner Tauben sein. Man kann natürlich seine Überzeugung darauf ausrichten, dass es Glück bringt, von einer Taube verschmutzt zu werden. Dann ist die Wahrnehmung viel mehr auf etwas fokussiert, was für einen positiv ist als auf ein negatives Ereignis. Wenn man sich vor Augen führt, wie eng unser Filter ist und nur 0,002% aller Reize, die wir wahrnehmen, zu uns vordringen können, dann würde man seinen engen Filter unbedingt so ausrichten, dass er eines der unzähligen, nicht wahrgenommenen glücklichen Ereignisse durchließe.

Nachdem sich Ludger notdürftig gesäubert hatte, ging er weiter. Es war ein schöner Spätsommerabend und die Sonne würde bald untergehen. Er ging die Treppe zum Bahnsteig Donnersberger Brücke hinunter, als ihn eine Frau ansprach:

„Entschuldigen Sie, geht es hier in die Innenstadt?“

Ihre Stimme klang angenehm in seinen Ohren. Sie sah jünger aus als er, er schätzte sie auf Anfang Vierzig, sie trug ein elegantes rotes, knielanges Kleid und Stöckelschuhe.

„Ja“, antwortete er und roch Prada.

Sofort stiegen in ihm Erinnerungen hoch. Eine seiner früheren Bekanntschaften hatte auch gerne dieses Parfüm benutzt und rote Kleider getragen. Es lag schon über zehn Jahre zurück. Eine verrückte Geschichte, die nur wenige Wochen hielt. Er konnte sich noch erinnern, dass sie immer rote Spitzenunterwäsche getragen hatte. Er blickte in blaue Augen und lächelte die Frau an. Ob er dies wegen der Erinnerung oder wegen ihr tat, wusste er in diesem Moment nicht. Die S2 nach Erding fuhr ein.

„In diese S-Bahn können Sie einsteigen, wenn Sie in die Stadtmitte möchten.“

Sie lächelte ihn an, drehte sich um und stieg ein.

„Wieder eine Chance im Leben vertan. Ich hätte sie ansprechen sollen, ob sie mit mir noch einen Cocktail oder sonst etwas trinken will.“

Lange schaute er der fahrenden S-Bahn nach. Dann stieg er selbst in die nächste ein und fuhr ziellos weiter. Wie Schatten huschten die Fassaden der Häuser an ihm vorbei. Dabei erinnerte er sich an die verlorene Zeit mit seiner Geliebten damals.

„Es war von Anfang an hoffnungslos. Sie war zwar wunderschön, aber sie wollte nur spielen. Und ich Tölpel dachte, es sei mehr. Zum Glück ging es schnell vorbei. Wie überhaupt?“

Die Durchsage der Haltestellen kam nicht automatisch vom Band, sondern wurde heute in Bayerisch vom Fahrer durchgesagt. Er konnte diesen Dialekt immer noch kaum verstehen, obwohl er schon seit mehr als fünfzehn Jahren in München wohnte. Ursprünglich kam er aus Dresden. Er betrachtete sein Gesicht in der Fensterscheibe, als die Bahn durch einen Tunnel fuhr: kurzes braunes Haar, spitze Nase, lustige grüne Augen, die Stirn bereits mit Falten durchzogen, der Jüngste war er mit fünfzig Jahren auch vom Aussehen her nicht mehr. „Ja, die Zeit, wie sie rast, kaum hat man sich berappelt, wird man älter und älter; kaum macht es ein wenig Spaß, geht auch schon die Sonne langsam wieder unter.“

Er stieg am Marienplatz aus und fuhr mit der Rolltreppe hinauf. Beim Hochfahren fiel sein Blick unbewusst auf Werbeplakate. Viele kannte er, weil er sich hier häufig aufhielt. Ein neues Plakat warb für ein Wettlokal.

„Prima, da gehe ich gleich mal hin!“, dachte er sich und ging im Kopf die Quoten für die kommenden Spiele durch. Er hatte noch nicht zu Abend gegessen, Kaffee musste reichen. Am liebsten mochte er Latte macchiato mit drei Stück Süßstoff. Schon morgens machte er sich den einen oder anderen, über den Tag verteilt trank er fünf Tassen mindestens. Sein Smartphone vibrierte. Eine WhatsApp seines Chefs. Er sollte am Montag eine Präsentation halten.

„Prima, dass ich das am Samstagabend erfahre.“

Er arbeitete bei einer Versicherung als Webmaster.

„Darum kümmere ich mich am Montag, die Wetten sind wichtiger.“ Als er am Marienplatz ankam, empfing ihn die Kühle der Nacht. Das Rathaus leuchtete hell und nur wenige Touristen und Nachtschwärmer waren auf dem zentralen Platz Münchens unterwegs. Er schlenderte die Weinstraße Richtung Odeonsplatz hinunter und wunderte sich, warum heute Nacht der Mond so groß und deutlich zu sehen war. München gefiel ihm sehr als Stadt, nicht zu groß und unübersichtlich, gerade noch erträglich. Zwar eine Millionenstadt, aber unterteilt in viele Stadtteile, die manche Bewohner nur selten verließen. Das Zentrum gehörte den Kaufwütigen, Partygängern und natürlich den vielen Touristen aus der ganzen Welt. Er wohnte in Haidhausen. Gepflegter Altbau in der Wörthstraße, in direkter Nähe zum Ostbahnhof, einem der begehrtesten Stadtteile in München. Dort gab es eine gelungene Mischung aus Wohnkultur, Kneipenszene, Kultureinrichtungen und Kleingewerbe, also noch ein richtiges „Milieu“. Seine drei Zimmer hatte er sich geschmackvoll nur mit alten Holzmöbeln eingerichtet, die er sich gebraucht gekauft hatte. Gegen Ikea und sonstige Möbelhäuser war er allergisch. Zum Thema Liebe fiel ihm wenig ein. Ja, hier und da gab es mal eine amouröse Bekanntschaft, aber insgesamt nichts festes. Er liebte die Unabhängigkeit.

Ludger, Karl, Heike

Am Odeonsplatz angekommen, setzte er sich beim Café Tambosi an einen Tisch im Außenbereich. Das Rauchen hatte er sich vor ein paar Jahren mühsam abgewöhnt. Am Anfang hatte er sehr oft daran gedacht, doch mit der Zeit vergaß er beinahe, dass er geraucht hatte. Heute Abend verspürte er wieder einen Drang dazu. Er wusste aber, wenn er sich nur eine anzündete, war er innerhalb kürzester Zeit wieder bei der Schachtel am Tag. Nach allen möglichen Methoden, Pflastern, Hypnose und Nikotinkaugummis hatte er eines Tages von einen Tag auf den anderen einfach aufgehört. Die Entzugserscheinungen der ersten Zeit ertrug er tapfer, das war, wenn man so will, die Strafe. Nach einigen Tagen ging es, der Rest war Kopfsache, weil das Rauchen häufig ritualisiert ist: Die berühmte Zigarette beim Kaffee nach dem Aufstehen, die Stresszigarette, die nur noch aufgeregter macht, die Zigarette aus Langeweile oder ganz klassisch nach dem Sex. Viele Raucher sagen, sie sind Genussraucher. Das ist natürlich eine Lüge. Nur das Nikotin treibt sie an, sonst nichts. Rauchen ist eine hinterhältige Sucht, die dir immer einflüstert, wie toll es doch ist zu rauchen. Er nippte an seinem Latte macchiato. Trotz der kühlen Witterung war es eine herrliche Sommernacht. Rote Lampen standen auf den vollbesetzten Tischen. Doch er hatte sich schnell sattgesehen. Seine Gedanken schweiften, natürlich, zu Fußballwetten ab.

„Morgen werde ich das ganz große Ding machen. Eine Kombiwette mit einer Riesenquote. Bei den Spielen kann einfach nichts schiefgehen. Dafür überziehe ich sogar mein Konto. Ich werde 10.000 Euro setzen, gewinne ich, bin ich saniert und habe 200.000 Euro gewonnen.“

Sein Herz schlug automatisch beim Gedanken an diese Wette schneller. Er nippte an seinem Getränk und schaute sich um. Saß da nicht an einem Tisch, weiter entfernt, Karl, sein Kumpel aus alten Tagen? Alt war er geworden, wenige graue Haarsträhnen zierten seinen fast kahlen Kopf. Wer war die charmante Begleitung? Er beschloss, sie noch ein wenig weiter zu beobachten. Karl unterhielt sich angeregt mit der blonden Frau. Sie lachten oft und schienen sich gut zu verstehen. Ihm fiel auf, dass sich die Blondine immer wieder durch die Haare strich und Karls Arm streichelte. Er ging auf Karl zu und lächelte.

„Hallo, wie geht’s, lange nicht gesehen! Darf ich mich dazusetzen?“ Beide musterten ihn.

„Mensch Ludger, alter Schwede, was machst du denn hier?“

„Dasselbe wie ihr an diesem wunderschönen Abend.“

„Aber klar, setz dich zu uns, hier ist ein Stuhl, darf ich vorstellen: Heike, eine alte Bekannte.“

Er gab ihr die Hand, sie musste am Gesicht etwas gemacht haben, zu glatt, kaum eine Falte. Er vermutete Hyaluronsäure oder Botox.

„Schade, dass sich viele Frauen ihr Alter nicht eingestehen wollen“, dachte er, „ständig finden sie hier eine Falte oder dort ein Pfund zu viel. Dabei ist es das Natürlichste der Welt zu altern. Wir werden geboren, um irgendwann alt zu sterben.“

„Soll ich eine Flasche Wein für uns bestellen?“, fragte Ludger.

„Klar, es ist noch nicht zu spät und der Abend ist noch jung, oder?“ Er kannte Karl von einer früheren Firma her. Es war eine ziemliche Irrenanstalt gewesen, wie er fand. Heike zündete sich eine Zigarette an. „Und was machst du gerade?“, fragte sie.

„Nichts Aufregendes, ich arbeite bei einer Versicherung als Webmaster.“

„Du und Karl, ihr kennt euch schon lange?“

„Ja, ewig.“

Sein Smartphone vibrierte.

Es war eine Push-Up-Nachricht von seinem Wettanbieter, dass sich die Quoten geändert hatten. „Entschuldigung, ich muss kurz auf die Toilette.“

Dort checkte er die neuesten Quoten.

„Morgen bin ich reich. Das muss einfach klappen.“

Er ging wieder zu Karl und Heike zurück.

„Na, hat dich deine Geliebte angerufen?“, stichelte Karl.

„Nein, nein, es war nur Unwichtiges“, lenkte er ab.

„Wenn man dafür extra auf die Toilette geht, kann es nichts Unwichtiges gewesen sein“, stellte Heike fest.

Dass sich in seinem Leben inzwischen alles um Wetten drehte, wollte er ihnen nicht sagen. Das wäre ihm zu peinlich gewesen.

„Aber zum Glück bist du noch nicht zur Head-Down-Generation gewechselt, bei denen ist eine normale Konversation ohne Smartphone überhaupt nicht mehr möglich. Eher schreiben sie sich WhatsApp-Nachrichten, als sich mal zu unterhalten, das scheint unmöglich geworden zu sein.“

„Ja, da hast du recht, Heike“, sagte er, „als ich noch jung war, gab es das ja noch gar nicht und es ging auch so. Sogar besser, wie ich finde.“

Sie waren beim zweiten Glas Wein angelangt und die Flasche war beinahe leer.

„Ein schöner Abend aber auch. Schade, dass er bald vorbei ist“, meinte Karl.

„Ja, wirklich jammerschade“, sagte Heike und legte ihre Hand auf die von Karl.

Für sie war die Nacht bestimmt noch nicht vorbei.

„Gut, lasst uns nach Hause gehen.“

„Ich zahle heute Abend, es war ja schließlich ein unerwartetes, aber schönes Wiedersehen.“

„Ja, vielen Dank, mach’s gut, Ludger.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und Heike und Karl machten sich auf den Heimweg.

„Wie kannst du dich nur mit so einem Loser abgeben“, machte Heike ihm beim nach Hause gehen einen Vorwurf.

„Ach, er ist ein alter Freund, da ist es mir egal, ob er ein Loser ist oder nicht.“

„Du solltest ihn nicht mehr treffen.“

„Ich treffe, wen ich will, das hat Madame nicht zu bestimmen“, dachte er sich.

Karl öffnete seine Haustür und gab Heike einen langen Kuss. Sie wohnte nicht bei ihm, sie waren auch nicht verheiratet, eher eine On-off-Geschichte. Heike war Fotografin für erotische Bilder, Karl Übersetzer von Romanen aus dem Englischen ins Deutsche. Ihr Atelier war auch zugleich Wohnung. Sie lebten eine „68er-Kiste“ mit „keine Verantwortung“, aber umso mehr „Spaß“. Öfters krachte es. Der anschließende Versöhnungssex gefiel beiden sehr.

Ludger

Ludger ging zur U-Bahn am Odeonsplatz. Er fuhr mit der U5 zum Ostbahnhof nach Hause. Dort war speziell an den Wochenendnächten „besonderes“ Publikum unterwegs. Eine Mischung aus Nachtschwärmern, die vor allem zum Kunstpark Ost wollten, Obdachlosen, die eine Übernachtungsmöglichkeit suchten, Drogenabhängigen, Prostituierten und Touristen. Kater Kolja, sein dicker schwarzer Mitbewohner mit einem weißen Bikini als Maserung, begrüßte ihn maunzend. Ludger hatte ihn ganz vergessen und fütterte ihn aus einer großen Dose Katzenfutter, dazu gab es Leckerlis. Kolja würde trotzdem sehr lange brauchen, bis er ihm diese Vernachlässigung verzeihen würde. Da half auch das offensichtlich schlechte Gewissen seines Herrchens nichts.

„Warum bin ich dieser Sucht eigentlich verfallen?“

Seine Gedanken schweiften beim Laufen ab.

„Vielleicht weil ich ein Suchttyp bin, wie es mal jemand festgestellt hat. Was war ich schon nicht nach allem süchtig, ein Wunder, dass ich nicht bei harten Drogen gelandet bin. In alles steigere ich mich hinein bis zum Exzess, ein gesundes Mittelmaß gibt es nicht. Ein Glück, dass ich mir das Rauchen abgewöhnt habe. Aber ich habe es unter Kontrolle, ganz bestimmt.“

Zu Hause checkte er am Laptop noch die letzten Wettkurse und schlief in der Hoffnung auf den großen Gewinn ein. Er träumte, dass er durch einen Tunnel ging, ein Zug kam ihm entgegen. Kurz bevor er überfahren wurde, tauchte er unter und kam nach einer Ewigkeit in einem See wieder an die Oberfläche. Er konnte sich zwar am nächsten Morgen vage an den Traum erinnern, was selten genug war, konnte ihn aber nicht analysieren.

„Müssen Träume wirklich immer eine Bedeutung haben oder sind es nicht nur sinnlose Zuckungen unserer Synapsen im Gehirn während der Nacht? Sei es drum, heute ist mein Glückstag!“

Am Nachmittag würden die Spiele beginnen, auf die er gesetzt hatte. Er ließ es gemütlich angehen und machte sich einen Kaffee, stellte das Radio an (BR Klassik) und las die Zeitung von gestern. Zuerst den Lokalteil, die üblichen Krisenherde auf der Welt interessierten ihn nicht. Da hatte tatsächlich eine Ehefrau nach zwanzig Ehejahren ihren Mann mit einem Messer umgebracht, nach eigener Aussage wegen unüberbrückbarer Differenzen.

„Sachen gibt’s, die gibt es gar nicht“, dachte er sich und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.

Dabei fiel ihm ein, dass er dringend zum Zahnarzt wegen einer professionellen Zahnreinigung müsste. Es klingelte an der Tür, Frau Radtke von gegenüber. Eine Endzwanzigerin mit wechselnden Männerbesuch, was man an den lautstarken Auseinandersetzungen auf dem Treppengang öfters hören konnte.

„Hätten Sie ein wenig Salz für mich?“, fragte sie ihn schüchtern. Er wusste ganz genau, dass dies nicht der Grund für ihr Klingeln war.

„Ja, einen Moment, ich hole welches.“

Als er mit dem Salz zurückkam, sah er an ihren Augen, dass sie vorher geweint haben musste.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ja, natürlich, wie kommen Sie denn darauf, dass es nicht so wäre?“ Sie lächelte verkrampft.

„Eigentlich wollte ich noch fragen, ob Sie eine Zigarette für mich haben, Sie rauchen doch?“

„Nein, leider nicht, aber unten ist gleich ein Automat!“

Sie wurde ein wenig verlegen und sogar rot.

„Ja, wenn ich nur Kleingeld hätte …“

„So schaut’s aus“, dachte er sich, „abgebrannt ist sie, die Kleine.“

„Einen Moment, ich hole Ihnen einen Fünfer, Sie können ihn mir ja später irgendwann zurückgeben. „

„Das ist aber sehr freundlich von Ihnen, Herr Milker!“, sagte sie überglücklich, als sie das Geld nahm.

„Es wäre besser, wenn es beim nächsten Männerbesuch nicht so laut zugehen würde“, dachte er sich und schloss die Tür.

In der Küche trank er seinen Kaffee weiter und surfte im Internet. Normalerweise bekam er jede Menge Werbung von Wettanbietern angezeigt, er wusste warum, waren es seine bevorzugten Websites.

„Hm, Herrmann von Mönchengladbach ist verletzt, aber ich glaube trotzdem, dass sie gewinnen. Sollte ich noch tippen, dass Kruse das 1:0 macht? Nein, ich sollte es nicht übertreiben, reicht schon, wenn ich heute 10.000 Euro setze.“

Er zog sich nach dem Frühstück langsam an und ging zum Ostbahnhof die aktuelle Zeitung kaufen. Letzte Nachtschwärmer waren noch unterwegs oder hatten beschlossen mit Bier aus dem Kiosk, einfach weiterzufeiern. Apropos Medien. Er gab nichts auf die „Wahrheit“ der Staatsmedien. Für ihn waren die Zeitungen samt und sonders einseitig und bezahlt. Neutraler und guter Journalismus war es schon lange nicht mehr. Immer wurde auf die Russen geschimpft und deren Propaganda.

Seine eigenen Gedanken begannen ihn aufzuregen. Ihm gefiel die Welt nicht mehr, wie sie war. Er begann den Sportteil intensiv zu studieren. Jede noch so unwichtige Kleinigkeit oder jedes Detail konnte über seinen Gewinn entscheiden. War die Mannschaft motiviert, hatte es einen Trainerwechsel gegeben? Wie schaute es mit den Verletzten aus? Wie steht es mit der Statistik zum jeweiligen Spiel? Gab es Spieler mit Formkrisen? Er beschloss, seine Tipps zu belassen. Fünf Richtige und er hätte 200.000 Euro gewonnen. Klingt denkbar einfach, ist aber bei den Unwägbarkeiten einer Fußballpartie riskant. Schnell pfiff der Schiedsrichter in der letzten Minute einen unberechtigten Elfmeter oder es wurde ein Abseitstor gegeben. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht, das ist auch der Reiz einer Fußballwette.

„Was werde ich mit dem ganzen Geld machen?“, überlegte er.

„Vielleicht gar nichts oder anlegen für schlechte Zeiten. Eine Urlaubsreise? Mir liegt nicht viel am Reisen. Genau, ich verzocke höchstwahrscheinlich alles wieder schnell, so wird es sein.“

An seine Arbeit bei der Versicherung dachte er nicht. Jeden Tag von 9 bis 18 Uhr mit einer Stunde Mittagspause. Normalerweise hatte er Ruhe bei seinem Job, nur in Stoßzeiten wie bei wichtigen Presseterminen oder kurzfristigen Werbeaktionen hatte er viel zu tun. Von seinem Mac administrierte er den Onlineauftritt der Versicherung. Neben Erfahrung als Programmierer und Webdesigner brauchte man auch eine Menge „Stallgeruch”, um genau das umzusetzen, was seine Vorgesetzten vom ihm erwarteten. Er machte den Job jetzt schon seit acht Jahren und hatte Routine darin. Nach der Arbeit ging er oft etwas essen und verbrachte dann den Abend im Wettlokal. Meistens verlor er, aber ab und zu hatte er richtig Glück und konnte mit einem satten Gewinn nach Hause gehen. „Stallgeruch” war wichtig in seiner Firma. Vor ein paar Jahren hatte sein Chef die glorreiche Idee, seinen Job „outzusourcen“ und eine Fremdagentur die Gestaltung der Firmenhomepage zu überlassen. Nach drei Monaten stellte man ihn reumütig wieder ein, weil es drunter und drüber ging und die Homepage nach kurzer Zeit total verschandelt war. Die Fremdfirma hatte einfach kein Gespür und Einfühlungsvermögen in die inneren Strukturen und Zusammenhänge. Eigentlich wusste nur Ludger, was die Chefs von der Gestaltung der Homepage erwarteten. Dies war der berühmte „Stallgeruch”. Die Wiedereinstellung ließ sich Ludger mit einer Gehaltserhöhung versüßen. Die drei Monate hatte er ausgiebig Urlaub gemacht, weil er sich so etwas bereits gedacht hatte. Langsam wurde es Zeit, an das Mittagessen zu denken.

„Soll ich mir selbst was kochen oder doch lieber Bestellservice?”

Er entschied sich für den Bestellservice und kramte die Speisekarte eines Inders hervor. Er überlegte kurz und bestellte „Chicken Tikka Masala”, dazu noch Nan. Nach zwanzig Minuten klingelte es an seiner Tür und ein junger Mann (wohl indischer Herkunft) brachte ihm das Bestellte. Nach dem Essen ruhte er sich ein wenig aus und wachte nach einer Dreiviertelstunde munter wieder auf.

„Na dann, auf geht’s ins Wettlokal!”

Dies beantworte Kolja mit einem vorwurfsvollen Miauen, denn er befürchtete, wieder allein ohne Futter gelassen zu werden. Ludger nahm die U5 vom Ostbahnhof bis zur Schwanthalerhöhe. Er ging gerne dorthin, oft direkt nach der Arbeit. So wie in der Werbung mit Olli Kahn war es dort überhaupt nicht. Eher dunkel, muffig und wenig einladend. Man konnte seine Wetten platzieren, entweder am Automat oder am Schalter. Fußballspiele liefen auf den Großbildfernsehern. Zu trinken gab es offiziell keinen Alkohol. Das machte ihm nichts aus, denn er war Kaffeefetischist. Um 15 Uhr 30 würde Stuttgart gegen Hoffenheim spielen, um 17 Uhr 30 Frankfurt gegen Dortmund. Seine ersten Tipps, Spiele aus der Zweiten Liga, waren schon so, wie er es vorhergesagt hatte, ausgegangen. Dabei hatte er nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Mindestanzahl der Tore pro Spiel gesetzt. Dies erhöhte die Quote. Jetzt nur noch ein Heimsieg und ein Auswärtssieg. Klang einfach, war es leider nicht. Jederzeit konnte etwas passieren. Sei es Abseits, Elfmeter oder rote Karte. „Fixed Matches“, also abgesprochene Spiele, waren in der Bundesliga eher nicht zu erwarten. Risiken gab es immer, aber er hatte sich ausführlich informiert. Auch hinsichtlich der Historie, Tagesform oder von Serien. Es konnte nichts mehr schiefgehen, eigentlich.

Frida

„Das war echt ein Netter”,

dachte sich Frida, als sie in die S-Bahn einstieg. Sie setzte sich auf einen noch freien Platz, griff in die Handtasche und holte ihre Schminksachen raus. Mit einem knallroten Lippenstift zog sie ihre Lippen nach.

„Hoffentlich komme ich rechtzeitig, aber bei einem Rendezvous ist die akademische Viertelstunde zu spät in Ordnung.”

Sie strich sich ihren roten Rock zurecht, ihre Strümpfe zwickten sie. „Wenn er ein Trottel ist, gebe ich ihm zehn Minuten, dann täusche ich einen dringenden Termin vor.”

Beim letzten Rendezvous hatte einer von ihr verlangt, dass sie ihn durch die Stadt begleitete. Das Problem: Er hätte nur einen Lendenschurz an und würde ihr an einer Hundeleine nackt auf allen Vieren folgen. Dabei war er vom Beruf Anwalt. So langsam konnte sie nichts mehr schocken. Oder ein anderes Mal fragte sie bereits nach zehn Minuten ein Verehrer, ob sie bereit wäre mit ihm zusammenzuziehen. Er wurde redselig und zeigte ihr bald seine Operationsnarbe am Kopf von der letzten Krebsoperation. Sie sagte zu ihm, sie gehe nur kurz auf die Toilette und verschwand unauffällig.

„Eine Frau zu finden, die ernste Absichten hat, ist ziemlich leicht. Aber Männer, die es ernst meinen und dazu auch noch geeignet sind, trifft man selten.”

Ludger, Wettlokal

Einige im Wettlokal kannte er, es waren Stammgäste. Ivo, ein Serbe aus der Nähe von Belgrad, ging jede halbe Stunde vor die Tür und rauchte hektisch eine Zigarette. Seine Spezialität waren die Livewetten, z.B. welche Mannschaft oder welcher Spieler das nächste Tor schießen wird. Er gewann erstaunlich oft, denn er war ein ausgefuchster Zocker. Über Politik dürfte man mit ihm nicht sprechen. Vor einiger Zeit hatte er sein Schicksal erzählt:

„Es war im Jugoslawienkrieg 1999, als Belgrad bombardiert wurde. Dabei wurde das Krankenhaus von einer NATO-Bombe getroffen und mein Sohn getötet. Du kannst dir denken, was ich über die NATO und den Westen denke?“

Ludger hatte nur genickt und an seinem Kaffee genippt.

Dann war da noch Eckhardt, ein zweiundsiebzigjähriger Rentner mit einer hohen Knabenstimme. Er kam nur, um nicht allein zu Hause zu sitzen, und setzte immer kleine Beträge auf sichere Wetten. Meist verbrachte er den Nachmittag bis zum späten Abend im Wettlokal. Häufig gab er auch scheinbar „todsichere” Tipps, die sich häufig als Pleite herausstellten. Eckhardt war so etwas wie das Maskottchen und jeder hatte ihn gerne. Herr Schulz, niemand kannte seinen Vornamen, war Außendienstmitarbeiter bei einer Pharmafirma und ein „Intensivwetter”. Wild und durcheinander wettete er darauf los, häufig auch auf andere Sportarten wie Tennis oder Basketball, ohne sich auszukennen, und verlor oft sein Gehalt an einem Wochenende. Ein Spieler, wie ihn das Wettlokal sich nur wünschen konnte. Zum Trost nahm er dann einen Schluck aus seinem Flachmann und war schon bei der nächsten hunderprozentigen Wette, die ihn aus seinen Miesen holen würde. Das System war aber so ausgelegt, dass am Ende, wie im Spielkasino, immer die Bank gewinnt, also hier der Wettanbieter. Selbstverständlich kam es mal vor, dass jemand satte Gewinne einstrich, das statistische Mittel war jedoch auf der Seite des Wettanbieters. Natürlich war bei den Spielern das Thema Wettbetrug nicht erst seit der Hoyzer-Affäre ein beliebtes Thema. Jeder wusste, dass es eine sehr mächtige international operierende Wettmafia gibt. Gerüchteweise sollen sogar schon Spiele der Champions League und bei der letzten Fußball-WM verschoben worden sein, sogenannte „fixed matches“. Ganz gewiss wurde in wirtschaftlich labilen Ländern in Ost- und Südeuropa geschoben, aber auch in niedrigklassigen Ligen in Deutschland. Deshalb sollte man in niedrigen Ligen oder z.B. in Bulgarien nie setzen, außer man hat eine „sichere” Quelle.

Frauen verirrten sich selten ins Wettlokal. Spielsucht ist eher bei Männern anzutreffen. Natürlich kam es vor, dass eine Frau auftauchte. Häufig ist die Sprache rau und anzüglich, was Frauen abschreckt. Erstens geht es um Fußball, immer noch eine Männerdomäne, obwohl immer mehr Frauen in Fußballstadien gehen, und zweitens war Wetten, Zocken, Spielen oder wie es sonst hieß eher ein Männerthema. Wenigstens die Bedienung an der Bar war eine Frau. Traudl war immer höflich und zuvorkommend. Eigentlich hieß sie Waltraud, aber hier in Bayern nannte sie jeder Traudl. Von Fußball hatte sie wenig Ahnung, was sie auch offen zugab.

„Aber das würde beim Einstellungsgespräch nicht abgefragt”, sagte sie immer lachend.

Ludger hatte sie einmal gefragt, woher sie käme weil sie kein Bayerisch sprach.

„Aus dem Osten, aus dem heutigen Mecklenburg-Vorpommern”, hatte sie geantwortet.

Noch fünfzehn Minuten bis zum nächsten Spiel, nervös checkte Ludger die Aufstellungen. Es schien alles ordnungsgemäß zu laufen. Das Spiel war eine klare 1. Er bestellte sich einen Kaffee mit Süßstoff (er glaubte mit Süßstoff würde er nicht so viel zunehmen) und rührte lange um. Wenigstens gab es den Kaffee in Keramiktassen und nicht in Plastikbechern. Er beschloss, noch auf ein Tor von Ibisevic für den VfB zu setzen.

„Der ist gut drauf und die Hoffenheimer Abwehr ist immer für ein paar Gegentore gut”, dachte er sich.

Der Wettschalter war das Reich von Paolo, einem graumelierten Italiener, der immer sehr ernst und würdevoll schaute. Die rote Krawatte, die er trug, gab ihm einen offiziellen Touch. Ludger platzierte bei ihm seine Wette und wartete auf den Anpfiff. Wenn die Spiele anfingen, vergaß er alles um sich herum, dann gab es nur noch die Breitbildfernseher und seine Wette. Jede Aktion wurde goutiert oder abfällig kommentiert. Schoss sogar sein erklärter Liebling für dieses Spiel (Ibisevic!) auf das Tor, stieg sein Puls und er hatte den Torjubel schon auf den Lippen.

„Toooooooooooor!!!”, schrie er, als Rüdiger, ein Abwehrspieler, das 1:0 für den VfB schoss. Es war sein erstes Bundesligator.

„Jetzt kann ich mir das Spiel beruhigter anschauen”, sagte Ludger zu Eckhardt. „Warum, hast für den VfB getippt?“, antwortete dieser.

„Ja, das Spiel gehört zu meiner Kombiwette, ich habe 10.000 Euro gesetzt.”

„Donnerwetter”, sagte Eckhardt und pfiff anerkennend durch die Zähne.

Ludger

In der Liebe hatte er bisher kein Glück gehabt. Als er um die Jahrtausendwende aus Dresden nach München zog, lag seine Ehe in Trümmern. Die Scheidung lief, und da kam das Angebot eines Headhunters zum passenden Zeitpunkt. Er zog kurzentschlossen nach München und brach seine Zelte in Dresden ab. Das Haus verkaufte er unter Wert, das meiste hatte seine Exfrau bekommen. Die Ehe war auch nach zehn Jahren kinderlos geblieben. Sie dachten, nach der Wende würde eine bessere Zukunft für sie beginnen, das geschah jedoch nicht, sie blieben in ihrem Alltag stecken und entfremdeten sich von Tag zu Tag mehr. In München folgte eine Freundin auf die nächste. Geld hatte er nie genug, aber irgendwie lernte er immer ein nettes Mädchen kennen. In Zeiten von Kontaktanzeigen im Internet war das kein Problem. So stieß er sich in München die Hörner ab, eine ernsthafte Beziehung ging er nicht ein. Zu schlecht waren die Erinnerungen an Gunda, so hatte seine Ehefrau in Dresden geheißen. Nach Dresden fuhr er in all den Jahren nur wenige Male. Dann besuchte er auch seine Mutter im Altersheim. Sein Vater war in der Zwischenzeit an Lungenkrebs gestorben, er war starker Raucher gewesen. Interessiert verfolgte er den Umbau der Innenstadt. Das Dresdner Residenzschloss mit dem historischen und neuen Grünen Gewölbe, Münzkabinett, Kupferstichkabinett und Rüstkammer mit Türkischer Kammer hatten es ihm besonders angetan. Gern schlenderte er durch die Altstadt, setzte sich in ein Café und wurde sentimental, wenn er an seine Jugendzeit in der DDR dachte. Das war nun Vergangenheit. An das Essen in München musste er sich anfangs gewöhnen, durch das fette bayerische Essen hatte er zuerst zugenommen, dann aber seine Ernährung durch eine Diät umgestellt. Nun hielt er sein Gewicht konstant um achtzig Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 Meter durch regelmäßiges Joggen und Radfahren. In München war er häufig umgezogen, sei es aufgrund von Geldmangel oder durch andere Umstände wie bessere Wohnlage oder mehr Zimmer für das gleiche Geld. Schließlich hatte er die Drei-Zimmer-Wohnung, Altbau, in Haidhausen in der Wörthstraße gefunden und beschlossen, dort länger wohnen zu bleiben, weil die Wohnung und das Viertel ihm gefielen. Gleich nach seiner Ankunft in München wurde er FC Bayern München-Fan. In München gibt es eigentlich nur zwei Vereine: die skandalumwitterten 1860er, die immer gegen den Abstieg spielten, sogar in der Zweiten Liga, oder den großen, ruhmreichen FC Bayern München. Die Wahl fiel ihm nicht schwer und so wurde er ein Rot-Weißer. Sein alter Verein Dynamo Dresden verschwand gerade in der Bedeutungslosigkeit und die Heimspiele konnte er jetzt nicht mehr besuchen. Für Fußball hatte er sich schon immer interessiert, was hatte er Sparwasser und Konsorten als kleiner Bub bei der WM 74 zugejubelt und mit Dynamo hatte er auch manche Europapokalschlacht durchgestanden. In München wurde das Interesse an Fußball aber noch größer. Er trat einem Fanclub bei, besuchte die Heimspiele und die Auswärtsspiele schauten sie sich in einer Kneipe („Haidhauser Augustiner”) an. Seine Erinnerung an die Vergangenheit war eng mit der des FCB oder der Nationalmannschaft verknüpft. 2001 Championsleague-Sieg, 2006 dritter Platz WM-Sommermärchen … Irgendwann fing das mit den Wetten an, anfangs harmlos mit Tipprunden im Freundeskreis und im Fanclub. Mit dem Aufkommen von Smartphones wurde es richtig zur Sucht. Kaum eine Stunde, ja Minute, in der er nicht die aktuellen Quoten und kommenden Spiele checkte. Er konnte ohne sein Smartphone nicht mehr leben. Zuerst waren die Einsätze überschaubar, im Laufe der Zeit wurden es aber mehr. Schließlich spielte er immer unkontrollierter. Es gab Tage, da verspielte er hunderte Euro, teilweise mit sinnlosen Wetten, z.B. wer würde bei einem Spiel in Südamerika die nächste Ecke bekommen? Das Ergebnis war oft der Komplettverlust. Immer waren seine Gedanken beim Wetten, in der Arbeit war immer ein Fenster in seinem Browser mit den Wettquoten auf. Oft setzte er einfach vor der Mittagspause auf ein Spiel, das kurz vor dem Ende stand auf ein Tor, obwohl er von den Mannschaften nicht den blassesten Schimmer hatte. Da das statistische Mittel gegen ihn war, verlor er öfter, als er gewann. Doch er merkte sich nur die Gewinne, die Verluste vergaß er schnell. Selektive Wahrnehmung, frei nach dem Motto von Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir die Welt, so wie es mir gefällt.” Kam er dann aus der Mittagspause zurück und sein Tipp war richtig gewesen, dann arbeitete er frohgemut weiter. War hingegen sein Tipp falsch gewesen, sank die Laune und der Nachmittag war gelaufen. Abhilfe konnte da nur eine neue Wette bringen. So ging es eine geraume Zeit, bis er an sein Kontolimit kam. Zum Monatsschluss musste er sich oft mit Wetten zurückhalten, erst wenn das Gehalt auf dem Konto war, ging es wie gewohnt weiter. Manchmal dachte er sich halb scherzhaft am Monatsende: „Irgendwann muss ich mit dem Strumpf über dem Kopf in der Bank Geld abheben.” Beim Surfen auf seinem Smartphone poppte eine Eilmeldung über die Ukraine auf. Den ganzen Konflikt sah er pragmatisch. Es ging dort nicht um eine kunterbunte Bürgerrevolution gegen einen bösen Despoten, sondern um einen kühl kalkulierten Regimechange seitens der USA. Diese politischen Eilmeldungen las er meistens gar nicht zuende und drückte sie schnell wieder weg.

Schnell fiel beim Spiel VfB gegen Hoffenheim das 2:0 und das 3:0, sogar Ibisevic schoss sein Tor, auch diese Zusatzwette hatte er gewonnen.

„Der Nachmittag läuft super heute”, sagte er zu Traudl. Bisher alles richtig, jetzt muss nur noch Dortmund in Frankfurt gewinnen.”

„Das schaffen sie, die sind gut drauf”, antwortete sie bestimmt.

Entspannt schaute er sich den Rest des Spiels an, es ging 6:2 aus. Der Spielbeginn um 17 Uhr 30 des letzten Spiels rückte näher und er wurde noch einmal richtig nervös. An den Fingernägeln würde er nicht kauen. Im Gegenteil, er pflegte seine Fingernägel sehr sorgfältig. Regelmäßig ging er bei einer Bekannten zur Maniküre und ließ sich sogar Klarlack auf die Nägel machen. Diesen Trick, um die Nägel vital und gesund scheinen zu lassen, hatte ihm mal ein befreundeter Schauspieler verschwörerisch zugeflüstert. Seine Hände waren sowieso sehr weich und fühlten sich beim Händegeben angenehm an. Das lag daran, dass er sein ganzes Leben im Büro oder am Computer gearbeitet hatte. Körperliche Arbeit war ihm zuwider und handwerklich war er untalentiert. Er war froh, wenn er überhaupt einen Nagel gerade in die Wand schlagen konnte. Er hatte sein mangelndes handwerkliches Talent in der Schule früh erkannt und sich dann in seinem weiteren Leben nicht mehr dafür interessiert. Er hatte andere Talente.

Frida

Das Rendezvous im Tambosi schien einen guten Verlauf zu nehmen. Sie unterhielten sich bereits länger über Gott und die Welt. Franz, so hieß ihr Verehrer, hatte bislang noch keine eindeutigen Angebote gemacht. Das wertete sie bereits als Erfolg. Letztens hatte sie einer nach dem ersten Drink gleich in ein Hotelzimmer eingeladen, „Schließlich habe ich dir den Cocktail bezahlt!”, sagte er als Begründung. Dieses Mal nahm sie sich vor, ihre Getränkerechnung vorsichtshalber selbst zu bezahlen. Er schien halbwegs intelligent und humorvoll zu sein. Auch spielte er nicht dauernd an seinem Smartphone herum, was sie schon bei anderen Rendezvous genervt hatte. Entstand eine kurze Redepause, fielen sie sich fast ins Wort, um ein neues Thema zu beginnen. Kurz gesagt, sie verstanden sich und Frida konnte sich mehr vorstellen. Das Tambosi am Odeonsplatz war ein idealer Ort für so ein Treffen, denn es war zentral gelegen. An abgelegenen Lokalen steckte man ja buchstäblich fest, auch wenn einem nach Verschwinden der Mut stand. Außerdem hatte das Tambosi ein Ambiente, das sie schätzte: stilvolle Holzmöbel, intime Ecken mit gemütlichen Sesseln, Kronleuchtern, alles atmete Geschichte, kein durchgestyltes In-Lokal voller Plastik, wie es sie an jeder Ecke gab. Oberste Regel für ein erstes Treffen war immer ein öffentlicher Ort, denn man konnte nie wissen, wen man da traf. Sie erwartete inzwischen schon die obligatorische rote Rose, das gehörte bei ihr fast dazu. Franz hatte keine dabei, konnte das aber mit einer glaubhaften Geschichte begründen: Einmal hatte er ein echtes Blind Date, also nur vom Foto des Gesichts und stand mit seiner roten Rose erwartungsvoll da. Doch als er sie sah, hätte er am liebsten die Rose schnell verspeist.

Ludger

Das Spiel begann! Pünktlich um 17 Uhr 30 pfiff der Schiedsrichter das Spiel Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund an. In neunzig Minuten würde Ludger wissen, ob er 200.000 Euro gewonnen hatte. „Liebe Dortmunder, macht jetzt bitte, bitte keinen Scheiß”, flehte er innerlich. „Ihr seid Favoriten, gewinnt einfach.” Kaum hatte er sein „Gebet” ausgestoßen, machte Frankfurt das 1:0. Kurz und trocken, Ecke, Tor. Starr blieb er sitzen und starrte den Bildschirm an. Wie gelähmt schaute er zu, wie die Frankfurter jubelten. „Das gibt es nicht, das können sie nicht machen! Die Frankfurter ficken meinen Schein. Weiter geht´s, noch sind fünfundachtzig Minuten zu spielen!” Er gelobte, wenn das Spiel sich noch drehte, in der Frauenkirche eine Kerze anzuzünden, obwohl er Atheist war.

Wütend griffen die Dortmunder an und versuchten schnell den Ausgleich zu schießen.

„Das Tragische am Fußball ist, dass nicht immer unbedingt die bessere Mannschaft gewinnt“, dachte Ludger. Bestes Beispiel war 2012 das „Finale dahoam” des FC Bayern München gegen Chelsea. Selten war eine Mannschaft so drückend überlegen gewesen, verlor aber dennoch im Elfmeterschießen das Spiel.

Traudl

Traudl freute sich auf den Feierabend um 23 Uhr.

„Dann mache ich mir einen heißen Kakao und dusche erst mal lange.” Sie fühlte sich immer schmutzig nach der Arbeit. Ständig Getränke einschenken, Gläser spülen oder Tische sauberwischen. Es ging ihr gegen den Strich.

„Aber von irgendetwas muss man leben.”

Früher, nach dem Studium, war sie noch voller Tatendrang gewesen. Doch Alkohol, falsche Lebenspartner und auch Pech hatten sie zu einer „Lowperformerin”  gemacht, wie man heutzutage im Neoliberalendeutsch sagen würde. Die Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur konnte ihr damals nach dem Studium wenig Hoffnung machen. Sie hatte Philosophie studiert und damit konnte man nicht wirklich viel anfangen. Die Stellen für Dozenten an der Uni waren begrenzt, in der freien Wirtschaft gab es nicht direkt Einsatzmöglichkeiten.

„Wenigstens kann ich komplizierte Zusammenhänge verstehen, analysieren und wiedergeben, das ist auch was.”

Sie bewarb sich bei einigen Unternehmen im Marketing und Vertrieb, bekam aber nur Absagen. Abends trank sie gerne mal ein, zwei Bierchen, was im Laufe der Zeit immer mehr wurde. Sie stieg auf günstigen Wein um, landete dann schließlich beim Schnaps. Eine typische Alkoholikerkarriere. Ihr langjähriger Freund, bei dem sie eingezogen war, fing sie irgendwann an grundlos zu schlagen, sie gewöhnte sich daran. So war sie mit Ende Zwanzig bereits ganz unten angekommen. Seit zwei Jahren war sie nach einer Therapie nun trocken und arbeite seit einem halben Jahr als Bedienung in diesem Wettlokal. Ihren aggressiven Freund hatte sie verlassen.

„So langsam wird es”, stellte Traudl fest und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte tief und stieß den Rauch durch die Nase aus.

„Bekommt man Geld zurück, wenn ein Taxi rückwärts fährt?”, schoss es ihr durch den Kopf. Oder: „Warum ist das Wort ‚Abkürzung’ so ein langes Wort?”

Solche „Brainflashs”, wie sie es nannte, hatte sie öfter.

„Warum laufen Nasen, während Füße riechen?”, war ein Klassiker.

Sie führte es auf ihre inzwischen überwundene Alkoholsucht zurück. Außerdem hatte sie im Philosophiestudium gelernt, alles zu hinterfragen.

„Bin ich eigentlich eine Stoikerin oder eine Epikurerin?”

Ihre Gedanken sprangen wieder in die Realität zurück:

„Die Zigaretten sind wieder teurer geworden” stellte sie fest und nahm sich vor, zeitnah aufzuhören. Sie hatte alles probiert, – nichts hatte genutzt.

„Vielleicht einfach so aufhören und es durchstehen? So jetzt mache ich mir einen schönen Fernsehabend mit mir und meiner Muschi!”

So hatte sie scherzhaft ihre dreifarbige Glückskatze genannt.

„Sogar der Ex-Ministerpräsident von Bayern, der Edmund, nennt seine Frau so, also kann der Name nicht verkehrt sein!”