Die Musik auf den Dächern - Selim Özdogan - E-Book

Die Musik auf den Dächern E-Book

Selim Özdogan

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Beschreibung

Latifa riecht plötzlich nach frisch geröstetem Kaffee, was erstaunliche Folgen hat. Ein junger indischer Germanist knackt das Passwort zum Nachlass eines gefeierten Schriftstellers – beobachtet von einem Hasen im Kopf von dessen Sohn. Außerirdische pflanzen Sonnenblumen in zu einem Hakenkreuz arrangierten Gummistiefeln. Der Rattenfänger von Hameln erzählt die Geschichte endlich mal aus seiner Sicht. Hillalum trifft die Gottmaschine. Şeyda hat Migrationshintergrund und geht mit dieser Diagnose ganz anders um, als von ihr erwartet wird. Virtuos schlüpft Selim Özdogan in sehr verschiedene Erzählerrollen und zeigt dabei sein Können in allen Registern. Sein oft melancholischer Blick spürt das Schöne im Alltäglichen auf und legt dabei Überraschendes bloß. Gekonnt unterläuft Özdogan immer wieder die Erwartungen, indem er sämtliche Zuschreibungen ins Leere laufen lässt. Nicht zuletzt die Anspielungen und Zitate aus Mafiafilmen, Popmusik und Beatliteratur machen die Lektüre seiner Texte zu einem großen Vergnügen.

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Seitenzahl: 286

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SELIM ÖZDOGAN, geboren 1971 in Köln, zweisprachig aufgewachsen, Abitur, danach Studium der Völkerkunde, Philosophie und Anglistik, abgebrochen. Zahlreiche Jobs, Veröffentlichungen seit 1995. Sein Debütroman Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist wurde zum Kultbuch. Zuletzt erschien bei Edition Nautilus der Kriminalroman Der die Träume hört (2019). Selim Özdogan lebt in Köln.

SELIM ÖZDOGAN

DIE MUSIKAUF DEN DÄCHERN

ERZÄHLUNGEN

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2021

Deutsche Erstausgabe September 2021

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Porträt des Autors Seite 2:

© Lucie Ella

1. Auflage

ISBN E-Book 978-3-96054-263-6

Every soul is like a minnow

Every mind is like a shark

Me, I’ve broken every window

But the house, the house is dark

Leonard Cohen

I was fresh from a war

but it was internal

J Hus

INHALT

Alles fängt mit A an

In Gummistiefeln

Die Bibelwerkstatt

Drei Seiten

Das Kleid meiner Mutter

Ein geheimer Akkord

Was in dieser Musik geblieben ist

Vom Leben gezeichnet

Geschichte ohne Papier

Letzte Wünsche

Prüfung

Die Depressionen der anderen

Worauf wartest du

130 Kinder

Man trauert nur um sich selbst

Arabica Pacamara

Am Strand

Fitnessflüchtlinge

Nach der Seitenlinie

Herr Richter

Erdkunde

Sauber bleiben

Paket

Stimmt

Nicht die Ohren

Titelseite

Fuchs und Bass

Epilog

ALLES FÄNGT MIT A AN

Wenn montags auf der Arbeit darüber geredet wird, was man am Wochenende so gemacht hat, sage ich nie, ich war mit Cenk im Park. Oder im Zoo. Oder auf dem Sofa. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk Neocube gespielt, diese kleinen magnetischen Kugeln, die man zu verschiedenen Formen zusammenlegen kann. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk gepuzzelt. Ich erzähle auf der Arbeit nicht von Cenk. Aber manchmal von Esra. Oder ich erzähle, wie ich früher die Wochenenden verbracht habe. Zu Hause. Dann hören die Kollegen meist interessiert zu. So wie ich lange Zeit Menschen zugehört habe, die schon mal das Meer gesehen hatten.

Als ich dann zum ersten Mal davorstand, hatte ich Angst. Ich wusste nicht, ob vor dem Wasser oder davor, dass diese Sehnsucht nun für immer verloren war. Zwei Jahre ist das nun her. Ich erzähle nie von Cenk, und nach dem Besuch von Herrn Olson werde ich das auch in Zukunft nicht tun. Obwohl mir das Erzählen vielleicht helfen könnte zu verstehen.

Es war Mittwoch. Mittwochs schauen Esra und ich immer zusammen Muhteşem Yüzyil, die Serie über das Leben Sultan Süleymans. Mindestens eine halbe Stunde bevor sie beginnt, gehe ich hoch, wir trinken Tee und reden. Tee erinnert mich immer an Geselligkeit, ich trinke ihn nie allein. Wenn ich allein bin, trinke ich Kaffee. Ohne Milch und ohne Zucker, ich mag ihn so, aber er ist kein Getränk zum Zusammensein.

An diesem Mittwoch war ich gerade erst von der Arbeit zurück, als Esra klingelte. Sie fragte mich, ob ich kurz hochkommen könne. Patrick sei da mit einem Mann, den sie nicht kenne. Patrick ist ein Schüler, er kommt zweimal die Woche und spielt mit Cenk, damit Cenk Deutsch lernt. Esra zahlt vier Euro pro Stunde und so ein Club reicher Menschen zahlt auch vier Euro, und so bekommt Patrick acht.

Als ich in Esras Küche kam, standen Patrick und der Mann auf und Patrick wollte mich vorstellen.

– Frau Martyna …, fing er an.

– Martynazova, half ich ihm.

– Frau Martynazova, das ist Herr Olson, unser Pate beim Rotary Club.

Wir gaben uns die Hand.

– Sehr erfreut, sagte Herr Olson.

– Ich habe ihm erzählt von Cenk und er wollte sich sein eigenes Bild machen, sagte Patrick.

– Frau Martynazova, sagte Herr Olson, während wir uns an den Küchentisch setzten, ich habe schon mit Frau Can über ihren Sohn gesprochen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie alles verstanden hat. Deshalb habe ich sie gefragt, ob sie jemanden kennt, der für sie übersetzen kann.

Er sprach Esras Nachnamen Kan aus, nicht Dschan.

Während Herr Olson redete, nickte ich viel. Er klang ernst.

Esra sah mich an und ihr nickte ich auch zu.

– Ich werde mit ihr darüber sprechen, sagte ich schließlich.

Nachdem Herr Olson und Patrick gegangen waren, fragte Esra mich:

– Was wollen sie?

Sie musste es schon verstanden haben, aber sie wollte sich vergewissern.

– Sie wollen mit Cenk zu einem … ich weiß das Wort auf Türkisch nicht … zu einem Kinderarzt für den Kopf …

Mein Türkisch ist nicht besonders gut. Ich verstehe fast alles, vor allem seit ich in Deutschland bin und jeden Mittwoch gemeinsam mit Esra Muhteşem Yüzyil gucke. Aber wenn ich sprechen muss, bin ich langsam, ich mache Fehler oder finde die richtigen Worte nicht.

– Psychologe, sagte Esra.

Ich nickte.

– Warum?

– Weil er kein Deutsch spricht.

Patrick kommt jetzt seit über einem Jahr, seit acht Monaten geht Cenk in den Kindergarten, aber er sagt nicht mal ja oder nein auf Deutsch. Doch er versteht alles. Da bin ich mir sicher.

– Sein Großvater hat gar nicht gesprochen, bis er fünf war, sagte Esra. Die Menschen haben schon geglaubt, er sei stumm. Und Cenk spricht ja. Kann der Psychologe denn Türkisch?

– Es gibt einen in Düsseldorf, der Türkisch kann.

– Düsseldorf, sagte sie.

Ich nickte wieder.

Was sollte ich sagen? Dass sie Patrick dafür bezahlt, dass Cenk Deutsch lernt? Dass das wichtig ist in diesem Land? Dass mein Deutsch mir bei der Wohnungssuche nicht viel geholfen hat, wahrscheinlich weil der Name wichtiger ist als die Sprache? Parizoda Martynazova. Da ist Cenk Can einfacher. Sollte ich sagen, dass ich meinen Sohn auch nicht zu einem Psychologen schicken würde?

Wir haben Tee getrunken und Muhteşem Yüzyil geguckt. Es gibt eine Folge, in der man im Hintergrund ein Auto vorbeifahren sieht. Im 16. Jahrhundert. Es ist viel darüber gesprochen worden. Gewitzelt über den Erfindungsreichtum und die Macht der Osmanen. Darüber, dass solche Fehler nicht passieren dürfen, weil dann die ganze Serie der Lächerlichkeit preisgegeben wird.

Man kann das Auto nur sehen, wenn man genau hinguckt. Und so sind die Leute. Sie schauen genau hin. Sie suchen Fehler. Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen.

Ich weiß nicht, warum Cenk zu einem Psychologen gehen sollte. Aber ich weiß auch nicht, warum er sich weigert, Deutsch zu sprechen.

Cenk gewinnt beim Memory gegen mich. Er kann aus den Kügelchen des Neocube einen Würfel basteln. Ich kann nichts vor ihm verstecken und er kann besser als ich mit meinem Smartphone umgehen. Cenk lacht nicht über mein Türkisch, er kann meinen Namen aussprechen, er merkt, wenn ich einen schlechten Tag auf der Arbeit hatte. Dann kommt er immer und kuschelt sich an mich, bevor wir anfangen zu spielen.

Cenk stellt Fragen, die ich nicht immer beantworten kann. Wer hat Oma geboren? Warum wird die Sonne abends rot? Er will wissen, ob in der Geschirrspülmaschine Arme versteckt sind oder wer sonst das Geschirr darin sauber macht. Er möchte wissen, ob Mädchen mit Ohrlöchern geboren werden. Was ein Geruch ist. Wer die Wolken macht und warum sie nie kaputt aussehen. Als er vor meiner Weltkarte stand und ich versucht habe, ihm zu erklären, was er da sieht, wollte er wissen, was denn auf der Rückseite der Welt ist. Er fragt, wie die Bäume im Winter Wind machen, weil sie dann doch gar keine Blätter mehr haben. Und ob Gott eine Brille trägt. Ob Stiefmutter ein Beruf ist.

Die Kollegen stellen mir auch Fragen, ganz andere, auf die ich auch oft nicht zu antworten weiß. Wie es mir denn gefällt in Deutschland und ob es mir nicht zu kalt ist. Zu kalt. Was ich am Wochenende gemacht habe. Ob wir lateinische oder kyrillische Buchstaben haben. Ob ich denn mit dem Zug gekommen bin. Ob wir auch so große Schlaglöcher in den Straßen haben wie in Kasachstan.

Ob es unter den Sowjets besser war oder jetzt. Ich sage dann nicht, ich bin fünfundzwanzig, woher soll ich das wissen? Ich sage: Die Älteren sagen, dass es früher besser war.

Die Fragen verraten so viel. Genau wie die Lügen, die man erzählt. Wenn Cenk viele Fragen stellt, freue ich mich. Wenn jemand auf der Arbeit neugierig scheint, trinke ich Kaffee und hebe die Schultern.

Ich könnte auch fragen, aber manchmal glaube ich, sie würden mich dann für dumm halten.

Am Anfang habe ich gedacht, es gäbe nur hier in Bonn so viele Türken. Esra hat mir dann erzählt, wie ihre Landsleute nach Deutschland gekommen sind. Es ist seltsam, dass wir hier Nachbarinnen geworden sind. Viele Usbekinnen gehen in die Türkei, unsere Sprachen sind sich ähnlich, sie lernen schnell. Sie arbeiten dort als Haushälterin, als Kellnerin oder irgendwo, wo sie mehr verdienen können in der kurzen Zeit, die man mit einem Touristenvisum hat. Sie kommen zurück und erzählen vom Meer.

Ich habe auch noch nicht gefragt, warum hier so viele alte Menschen allein sind. Ich sehe sie allein auf der Straße, sie kaufen allein ein, für nur eine Person, sie essen wahrscheinlich auch allein und sie brauchen für jeden Abend eine Serie. Sie leben in ihrem eigenen Land, als hätten sie niemanden.

Der Mund ist eine gute Stelle für Kontakt. Aus ihm kommen die Fragen. Aus ihm kommen die Antworten. Man küsst mit dem Mund. Aber man braucht ihn auch, um Kaffee zu trinken.

Am Samstag gehe ich mit Cenk in den Park. Wir spielen ein wenig Ball und vergraben ein Fünfcentstück, aus dem soll mal ein Geldbaum wachsen. Dann liegen wir nebeneinander und er spielt mit meinen Haaren. Das macht er gerne, er kann stundenlang mit meinen Haaren spielen. Esra hat kurze Haare.

Ich will ihn nicht fragen, warum er kein Deutsch spricht. Der Mund ist eine gute Stelle für Kontakt. Während Cenk meine Haare streichelt, schließe ich die Augen und erzähle davon, wie es war, als ich klein war.

Ich habe es nicht eilig, und wenn ich die richtigen Worte nicht finde, benutze ich die usbekischen. Ich kann nicht sagen, ob Cenk mir Wort für Wort folgt, aber ich weiß, dass er mich versteht.

Ich erzähle, wie wir in einem usbekischen Viertel gewohnt haben, weil mein Vater Usbeke ist, und wie ich mit den Kindern im Viertel Usbekisch geredet habe, aber mit meiner Mutter Kasachisch. Dass ich gar nicht mehr weiß, wie ich Russisch gelernt habe. Dass bei uns alle Kinder mindestens zwei Sprachen konnten, dass das normal war. Dass die Menschen hier das als etwas Besonderes ansehen, als hätte man eine dritte Hand.

Dann sage ich nichts mehr. Er auch nicht. Vielleicht hat er doch nicht verstanden, was ich erzählen wollte. Aber dann fragt er:

– Und wer hat dir Deutsch beigebracht?

– Deutsch habe ich auf der Universität gelernt. Nach der Schule. Deutsch war billig. Man brauchte viel Geld, um Arzt zu werden oder Anwalt, aber Deutsch konnte man lernen, das hat nicht so viel gekostet. Meine Eltern waren arm. Und ich sollte sowieso heiraten, also …

Heiraten. Auf Türkisch evlenmek. Wenn man es wörtlich übersetzt, bedeutet das: jemand mit einem Haus werden. Heiraten. Auf Usbekisch turmush qurmoq: ein Leben aufbauen.

Der Mund ist, wo die Kontakte entstehen. Damals bei der Baumwollernte haben wir uns nachts heimlich aus der Turnhalle geschlichen, in der wir schliefen. Alle Studenten mussten zur Baumwollernte. Wir haben uns geküsst, nachts unter den Sternen. Heiraten.

– Aber du hast keinen Mann, sagt Cenk.

– Hm. Stimmt.

Ich habe keinen Mann. Odil. Seine Küsse schmeckten, als würden wir tanzen zu den Wellen im Meer. Odil. Vielleicht streichelt jetzt Guzal sein lockiges Haar. Odil. Das war kein Haus. Kein Leben. Das war nur ein Sommer. Ich habe mich alt gefühlt, als er zu Ende ging.

– Mein Vater hat seine Arbeit verloren, sage ich. Und ich habe Arbeit gefunden. Hier in Deutschland. Weil ich mich mit Walnüssen auskenne und mit Zentralasien. Und weil ich Deutsch kann. Und Russisch.

Ich könnte an dieser Stelle … Doch ich tue es nicht.

– Weißt du, sage ich, ich bin nach Deutschland gekommen wie der Vater deines Vaters. Um zu arbeiten.

Sein Großvater hat in einer Fabrik gearbeitet, die Autos baut, das kann ein Kind sich vorstellen, aber ich arbeite in der Zertifikation von Agrarprodukten.

Cenk hört auf, mit meinen Haaren zu spielen, seine Lider sind schwer.

– Ich werde wieder gehen, sage ich. Vielleicht schon bald.

Cenk reißt die Augen auf und sieht mich an. Ich habe es auf Deutsch gesagt. Und jetzt schweige ich. Als hätte ich ihn verraten. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.

Ich könnte ihn fragen. Oder ich könnte versuchen, ihn dazu zu verführen, wenigstens mit mir einige Worte Deutsch zu sprechen. Vielleicht sollte ich mir Gedanken darüber machen, dass er nächsten Sommer schon in die Schule kommt. Vielleicht sucht sich der Lauf der Dinge auch ein eigenes Bett. Ohne dass ich frage.

Fragen. Wie die, die ich Odil gestellt habe. Er hat geschwiegen und das war Antwort genug.

Man kann ein ganzes Leben lang Kaffee trinken und Fragen stellen. Man kann ein ganzes Leben lang sein Bett dort suchen, wo die Arbeit ist. Oder wo das Meer ist. Man kann nicht einfach nur jeden Mittwoch Das prächtige Jahrhundert schauen.

Ich habe mich alt gefühlt nach jenem Sommer mit Odil, aber in Deutschland fühle ich mich noch älter, viel älter. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die Kollegen mich fragen, ob es früher besser war oder jetzt.

Cenk spricht kein Deutsch. Vielleicht, weil er nicht in diese Welt möchte. Er ist ein Kind, wer weiß, wie er die Dinge in seinem Kopf verknüpft und wo er seinen Platz sieht. Er ist ein Kind und er ist weder dumm noch unglücklich. Die Kindheit währt nur fünf Tage und es gibt Fragen in ihr, aber keine Fremde. Und keine Sehnsucht, die einen zum Kaffee greifen lässt, keinen Gram und keine schwermütige Nostalgie.

Die Kindheit, unser Viertel, meine Gefährten, meine Verbündeten, unsere Spiele und Schreie und Odils Locken. Wir kannten es nicht anders. Fortziehen und fremd werden, das war dasselbe Wort, aber wir wussten nicht, was es sagen wollte. Erst unter der Erde werden wir wieder wie Kinder werden, erst wenn wir unter der dunklen Erde liegen, werden unsere Fehler vergessen sein und mit ihnen auch die Sehnsucht.

Ich fühle mich hier zwar manchmal so, als wäre Erde über mir, aber der Mund ist noch an der Luft, ich trinke, ich rede, ich esse. Ich bin tief im Erdreich, doch die Sehnsucht ist wie Wasser, sie findet immer ihren Weg. Und hält mich am Leben. Vielleicht sollte Patrick zu Hause bleiben. Vielleicht sollte ich stattdessen mit Cenk Deutsch sprechen. Ein-, zweimal die Woche.

Seine Augen sehen jetzt schon wieder müde aus. Er weiß, dass ich nicht gehen werde ohne Abschied. Nicht verschwinden werde wie sein Vater. Er vertraut mir. Warum sollte ich ihm Fragen stellen, deren Antworten andere interessieren?

Seine Wimpern sind lang und dick und biegen sich nach oben. Er schläft jetzt, das leise Lied seines Atems hat keine Sprache. Auch er wird groß werden, auch in ihm wird eine Sehnsucht wachsen, der er vielleicht keinen Namen geben kann, auch er wird heiße Getränke trinken, er wird lügen und belogen werden, er wird verletzen und verletzt werden, er wird lieben und vielleicht jemand mit einem Haus werden oder einem Leben, vielleicht wird sich die Liebe anfühlen, als wäre er für immer allein. Ihm werden noch über vierzigtausend Dinge geschehen. Nur jetzt und hier kann ich seinen Schlaf hüten, aber ich kann ihn nicht mal vor seinen eigenen Träumen beschützen.

Was sieht er im Traum? Und wenn er im Traum im Kindergarten ist, welche Sprache reden die anderen dann? Doch sicherlich Deutsch. Die Kollegen auf der Arbeit fragen mich, auf welcher Sprache ich träume. Als könnte es nur eine Sprache geben, als könnten sie irgendetwas besser verstehen, wenn sie wissen, welche die Sprache in meinen Träumen ist. Ich rede Kasachisch mit meiner Mutter, Usbekisch mit meinem Vater, Deutsch mit meinen Kollegen und Türkisch mit Esra und Cenk. Auch in meinen Träumen. Wie sollte es anders sein? Ich träume selten von meinen Kollegen und der Arbeit. Träumt Cenk selten vom Kindergarten? Träumt er von Monstern und davon, dass er fällt, ohne aufzukommen, oder dass er allein ist?

Ich hatte ein Herz, ihr könnt euch vorstellen, was damit passiert ist. Das stand an der Wand eines alten, halb verfallenen Hauses in unserem Viertel.

Cenks Augen bewegen sich unter den Lidern. Ich sehe ihn nur, wenn er mit mir und Esra zusammen ist. Ich weiß nicht, wie er im Kindergarten ist. Ich weiß nicht, wie er mit anderen Kindern ist. Esra sieht mich, wenn ich mit ihr Tee trinke oder im Treppenhaus. Ich erzähle ihr nie von den Fragen der Kollegen. Ich erzähle von unserem Viertel und wie ich Geld nach Hause schicke. Ich erzähle von den Menschen, mit denen mich etwas verbindet. Mit denen ich einen Kontakt über den Mund habe, mit allen habe ich Küsse getauscht.

Was macht Cenk im Kindergarten? Wie ist er dort? Glauben die Erzieher auch so wie ich, dass er ein glückliches Kind ist? Mit wem kann er spielen, wenn er nicht redet?

Vielleicht spricht Cenk kein Deutsch, weil er noch nie einen Kuss bekommen hat von jemandem, der Deutsch spricht. Doch deswegen muss niemand zu einem Arzt für den Kopf, es ist nicht der Kopf, der falsch ist, es sind nur die Herzen, die keinen Weg zum Mund finden.

Cenk stöhnt im Schlaf und ich streiche ihm über das Haar:

– Sch, du träumst nur, sage ich auf Deutsch und dann küsse ich ihn auf die Wange.

IN GUMMISTIEFELN

– Du glaubst nicht wirklich, dass Außerirdische die gemacht haben, oder?

– Nein, sagte ich, das glaube ich nicht. Ich sage nur: Es ist möglich.

Ein Stück trockenes Holz knackte unter dem Rad meiner Schubkarre.

– Es ist längst bewiesen, dass die alle von Menschen gemacht wurden. Zwei Engländer haben zugegeben, dass sie das waren mit den Kornkreisen. Das kann jeder nachlesen. Den einen hat seine Frau verdächtigt, er hätte eine Affäre, weil er sich über Nacht rausschlich, und deshalb hat er ihr gestanden, was er da macht. Aber die Menschen ziehen ja vor, ihr Weltbild nicht von Fakten umschmeißen zu lassen, insbesondere die mit den spirituellen Meisen.

Meine Arme waren schon zerstochen, aber auf Dani war offensichtlich noch keine Mücke gelandet.

– Aber Rationalisten wollen ihr Weltbild doch auch nicht umschmeißen lassen. Sie wollen weiterhin glauben, dass alles irgendwann vom Verstand erfasst werden wird, auch wenn es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass das möglich sein könnte. Sie sind wie Leute, die glauben, man würde eine Melodie verstehen, wenn man sie Ton für Ton durchanalysiert. Dabei lebt die Melodie ja vom Zusammenspiel.

Das Rad meiner Karre blockierte plötzlich, ich schrammte mir das Schienbein am Blech auf. Es ging leicht bergauf, ich ließ die Karre etwas zurückrollen und versuchte dann, mit Schwung über die Erhebung zu kommen. Auch beim zweiten Versuch blockierte das Rad und ich schrammte mir das andere Schienbein auf. Ich nahm zwei Schritte Anlauf und versuchte es etwas weiter rechts.

Dani war mittlerweile aus dem Lichtkreis meiner Stirnleuchte verschwunden. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken, es war eine ausgesprochen warme Nacht und ich fragte mich, wovon sich die Mücken ernährten, wenn keine Menschen im Wald waren.

Dani stellte ihre Stiefel auf die hydraulische Ladefläche des Transporters, als ich ankam, gut acht Kilo wog ein einzelner Stiefel und wir hatten noch nicht mal die Hälfte im Transporter. Die Sonnenblumen waren so hoch, dass man achtgeben musste, die Stiele nicht zu knicken.

– Fast fertig, sagte Dani und setzte sich auf die Ladefläche. Zigarettenpause?

Sie war mager, trug zerschlissene, enge schwarze Jeans, ein schwarzes Top, lilafarbene Chucks, ihre Arme waren muskulös und makellos, kein einziger Stich oder Kratzer von Büschen. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Dann schüttelte ich den Kopf.

– Bis wir alle Stiefel im Transporter haben, ist es drei. Bis wir in der Stadt sind, fast vier. Wir müssen uns ranhalten.

Sie lächelte und glitt von der Ladefläche. Wir schoben unsere Schubkarren zurück.

– Was ja die wenigsten wissen, sagte ich, die beiden Männer wurden vom Geheimdienst bezahlt. Sie haben die Kornkreise tatsächlich selbst gemacht, aber eben auf Befehl. Damit man sagen kann, dass alle Kornkreise auf wissenschaftlich nachvollziehbare Weise erklärt werden können. Auch die, die schon vor fünfhundert Jahren gesehen wurden.

– Ah, sagte Dani, Freimaurerlogen, Rosenkreuzer, Inside Jobs, Weltherrschaft, Geheimlehren, die der Allgemeinheit vorenthalten werden, eine Welt hinter der Welt, wie wir sie kennen, Menschen, die im Verborgenen daran arbeiten, ihr Wissen und ihre Macht zu monopolisieren, schon seit Jahrhunderten. Sie klang ein wenig gelangweilt.

– Snowden, der allererste Renegat? Hätte es nicht vor ihm etliche andere geben müssen, über diese Jahrhunderte verstreut? Können diese Geheimbünde tatsächlich Geheimnisse für sich behalten? Alles kommt früher oder später raus.

– Kennedy, warf ich ein.

– CIA, geschenkt, sagte sie.

– Dafür gibt es genauso wenig Beweise wie für die außerirdische Herkunft der Kornkreise.

Sie lachte und es klang leicht amüsiert. Die Arbeit machte ihr kaum Mühe, Kunststück, sie war Jugendeuropameisterin im Taekwondo gewesen, vor gerade mal sieben Jahren.

– Was ist mit diesen Medien, die Botschaften aus dem All oder von Verstorbenen empfangen?, sagte ich. Sind das auch alles nur Scharlatane?

Sie schaute mich an, als wäre ich ein Kind. Wir waren bereits kurz vor unserer Baumschule, wie wir es immer nannten. Matze hatte hier letztes Jahr noch Cannabis gezüchtet und uns nun den Platz für die Aktion zur Verfügung gestellt. Nächstes Jahr wollte er wieder Geld verdienen. Deshalb waren wir auch nur zu zweit hier. Je weniger davon wussten, desto besser.

Es war nicht leicht gewesen, Matzes und Danis Vertrauen zu gewinnen. Jetzt war ich dabei, in Danis Achtung zu sinken, das war mir klar. Als wir die Gummistiefel auf die Schubkarren geladen hatten und zurückgingen, versuchte ich es dennoch ein weiteres Mal.

– Es ist den meisten Menschen einfach nicht zugänglich, sagte ich, das ist wie höhere Mathematik. Da sagt doch auch niemand, das ist unwissenschaftlich, nur weil das Hirn eine bestimmte Veranlagung mitbringen muss, um da durchzusteigen. Aber wenn jemand Botschaften empfängt, weil er sensibel …

– Ich glaube niemandem, der mit meiner toten Oma sprechen kann, unterbrach sie mich harsch.

Wenn ich mich nicht täuschte, schwitzte sie langsam auch. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Geruch des Waldes und mein Herz pumpte schwer, also hielt ich den Mund und atmete durch die Nase ein.

In der nächsten halben Stunde schwiegen wir. Schließlich waren alle Sonnenblumen, die wir im Frühling in Gummistiefeln in Übergröße gepflanzt hatten, im Transporter. Da ich keinen Führerschein hatte, setzte sich Dani ans Steuer und wir fuhren los.

Ihr glaubt jetzt vielleicht, dass ich einfach nicht weiß, wann genug ist, aber so ist es nicht.

– Es wird so viel Geld in die Raumfahrt gesteckt, sagte ich, da muss doch was dran sein. Glaubst du wirklich, dass die Erde von rund zehn Trillionen Planeten der einzige ist, auf dem es Leben gibt?

– Nein, sagte sie. Ich glaube nur nicht, dass die anderen sich für uns interessieren. Oder dass wir uns für sie interessieren sollten. Wir haben hier eindeutig wichtigere Probleme.

– Auf der Venus zum Beispiel gibt es ja, fing ich an, doch Dani unterbrach mich wieder.

– Auf der Venus, Alter, auf der Venus ist es viel zu heiß für irgendetwas. Hältste mich für blöd, oder was? Auf der Venus hat es mehr als vierhundert Grad, da lebt gar nix.

– Unsere Fantasie reicht vielleicht nicht aus, gab ich zu bedenken. Wir stellen uns Leben immer so ähnlich vor wie unseres. Nicht wie schwingende, entkörperte Wesenheiten, die sich von Hitze ernähren, weil Hitze ja Energie ist. Könnte doch sein, oder? Die DNS ist nicht die einzige Form von belebter Information. Vielleicht sind da Energiewellen mit Bewusstsein, die mit Leichtigkeit Millionen von Kilometern zurücklegen und sich bei Bedarf materialisieren können. Und die genau wie viele frühe Kulturen die Sonne anbeten. Die auch ein Interesse haben, das Hakenkreuz zu entnazifizieren. Eher so spielerisch-kreatives Interesse als ein ideologisch-ästhetisches.

In der Stadt waren wie erwartet kaum Menschen auf den Straßen. Sonntagnacht, Montagmorgen. Dani nahm ihr Telefon und benachrichtigte die anderen über einen vereinbarten Code. Dann schaute sie mich an.

– Du meinst, diese Aktion ist eigentlich gar nicht unsere, sondern die von Venusbewohnern?

– So stark würde ich es nicht simplifizieren, sagte ich.

– Wir wollen den Rechten dieses Symbol nicht mehr überlassen. Wir wollen uns nicht mehr mit ihnen auf Demos prügeln. Wir wollen dem Gegner Boden entreißen, wir haben lange genug über das alles diskutiert, und jetzt faselst du auf einmal die halbe Nacht von Außerirdischen. Ist bei dir eigentlich noch alles klar?

– Ja. Glaube schon, fügte ich nach einer Pause hinzu.

Ich hatte sie für intelligenter gehalten. Sie bremste ab und fuhr nun rückwärts in die enge Gasse, die auf den Rathausplatz führte. Noch bevor der Motor aus war, standen unsere Leute bereit.

Die Bleiplatten lagen schon auf dem Platz, wir fuhren die Ladefläche auf halbe Höhe herunter, jeder Handgriff saß, war häufig genug besprochen worden. Es war, als hätten wir einen Tanz choreografiert. Innerhalb von vier Minuten standen 750 Sonnenblumen, die meisten von der Sorte Ring of Fire, in Gummistiefeln in Größe 52 auf Bleiplatten festgeklebt auf dem Rathausplatz. Eine weitere Minute später hatten wir auch den Stacheldrahtzaun um die Hakenkreuzform gezogen, die wir mit den Gummistiefeln gelegt hatten. Die Helfer verschwanden. Fast zeitgleich ging eine anonyme Mitteilung an die Presse raus, am Horizont zeigte sich das erste zarte Grau, das sich noch nicht entscheiden konnte, rot zu werden.

Dani grinste, die Selbstgedrehte zwischen den Lippen, als sie den Motor anließ.

– Findest du es nicht komisch, dass man Zweifel säen möchte, aber selbst nicht zweifelt?, fragte ich.

Jetzt war sie genervt, als hätte die gelungene Aktion eine Art Schutzpanzer entfernt. Sie schnaubte, hob an, etwas zu sagen, schwieg dann aber grimmig.

Ich widerstand der Versuchung. Als sie an einer Ampel hielt, stieg ich aus. Ich wartete, bis der Transporter außer Sichtweite war. Dann sah ich mich um. Keine Zeugen. Ich löste den Körper auf, ich brauchte ihn nicht mehr.

DIE BIBELWERKSTATT

Hillalum wusste nicht, ob er gekommen war, um zu klagen, um anzuklagen oder um Trost zu finden.

Drei Jahre waren vergangen, seit sein Sohn gestorben war, ein Jahr, seit seine Frau ihn verlassen hatte, ein Monat, seit sein Vater erst seine Mutter und dann sich selbst getötet hatte.

Warum?, fragte er. Warum ich? Was habe ich getan? Wie oft habe ich Zuflucht gesucht bei Dir, aber Du hast sie mir nicht gewährt. Einen Menschen nach dem anderen hast Du mir genommen. Sieh, ich bin allein und völlig hilflos. Was willst Du von mir? Was?

Er fragte sich, ob es Hoffnung war, die ihn zur Gottmaschine gebracht hatte, oder Verzweiflung. Vierzehn Tage Fußmarsch hatte er hinter sich, vierzehn Tage, in denen er immer wieder fortgejagt worden war, wenn er um Essen gebeten hatte. Man hatte ihn für einen Vagabunden gehalten, für einen Dieb, für einen Bettler. Vierzehn Tage hatte er sich von dem ernährt, was er in den Abfällen gefunden hatte, und von den Beeren und Wurzeln im Wald. Zwei Tage war er danach angestanden, um Einlass in die Maschine zu erhalten. Zwei Tage, in denen er mit keinem der übrigen Wartenden gesprochen hatte. Wir sind gleich, hatte Hillalum gedacht, doch es hilft nicht, ich bin getrennt von ihnen. Das Leid verbindet uns nicht.

Als er schließlich die Gottmaschine betrat, sank er auf die Knie.

Zunächst sollen die Menschen es Bibelwerkstatt genannt haben, doch heute hieß das Ladenlokal nur noch Gottmaschine. Vor der Bibelwerkstatt soll ein Schuster darin gewesen sein, doch das ist so lange her, dass niemand mehr lebt, dessen Eltern sich daran hätten erinnern können. Nach dem Tod des Schusters hatte ein Schreiber, dessen Name nicht erhalten ist, den Laden übernommen. So wie Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hatte, übersetzte dieser Bibelschreiber sie in die Sprache seiner Kunden.

Der Bibelschreiber hatte einen Blick für das feine Spitzenwerk der Seele, hieß es. Er setzte sich mit seinem Kunden hin und plauderte. Niemand kam sich ausgefragt vor, niemand hatte das Gefühl, der Bibelschreiber fühle ihm auf den Zahn oder trachte nach seinen Geheimnissen.

Der Bibelschreiber hörte die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Frieden, nach Gerechtigkeit. Er hörte in ihren Worten das Leid, den Tod, den Verlust, die Verzweiflung, die Angst. Er hörte ihre Verlorenheit in diesem Tunnel aus Zeit, in dem sie kein Licht erkennen konnten. Er hörte, wie sie glaubten, alles würde sich fügen, wenn sie nur Gott fänden, wenn der Mann nicht mehr trinken würde und anfinge zu arbeiten, wenn die Kinder aufhörten, ins Verderben zu rennen, und der Hunger keinen Platz mehr hätte im Heim.

Er hörte, wie sie von einer Stimme gerufen wurden. Sie wurden gerufen, deswegen kamen sie zu ihm, aber sie kamen auch, weil sie sich mehr erhofften als nur diese Stimme.

Sie wollten dieses Leben meistern, als wäre es ein Handwerk, das man erlernen könnte. Er hörte sie alle, wenn sie auf der Holzbank saßen: breitbeinig, zurückgelehnt, gestikulierend, schüchtern, verängstigt, wütend. Anklagend, erschöpft, bewegungslos, herausfordernd, weinend, lachend, fluchend, Trost suchend. Er hörte sie alle, als sei er das Ohr Gottes.

Und wenn sie gegangen waren, setzte er sich an den Tisch und schrieb. Er schrieb das heilige Buch in einer Sprache, die jene Saite im Menschen zum Klingen brachte, die ihn mit Gott verband. Er fand die geheime Melodie in den Wörtern und Sätzen, die auch den größten Zweifler unter ihnen berührte und ihn die Gegenwart einer Kraft spüren ließ, die schon immer da gewesen war.

Die Bibel konnte das Chaos nicht entwirren, denn dann hätte sich die Welt geändert. Sie lieferte keine Antworten, und sie erlaubte nicht, sich in ihr vor der Welt zu verstecken. Wer es versuchte, wurde Wort für Wort gefunden.

Der Bibelschreiber bot keine Lösung, sondern Licht. Ein Licht aus Worten, die so fein gewählt waren, deren Klang so genau auf den Hörer abgestimmt war, dass sie ihren Weg ins Herz fanden.

Über siebzig Jahre lang soll der Bibelschreiber dort gearbeitet haben, seine Augen und Ohren sollen schlechter geworden sein, er soll immer länger für die Bücher gebraucht haben. Alle, die sich an ihn erinnern können aus einer Zeit, in der sie kleine Kinder waren, sagen, dass er damals über hundert gewesen sein muss.

Nachdem man den Bibelschreiber eines Morgens tot auf seiner Holzbank sitzend gefunden hatte, wurde die Schreibstube zu einem Ort, der die Menschen berührte, wie die Bücher sie berührt hatten. Wer eine halbe Stunde dort blieb, spürte die Melodie Gottes in seinem Blut, spürte, wie seine Widerstände sich auflösten und er Vertrauen fand, sich den Gezeiten des Lebens auszuliefern.

Wie bei den Büchern auch, schien es Menschen zu geben, die diese Melodie besser hören konnten als andere. So wie manche schneller liefen, höher sprangen oder rascher rechneten, so gab es wohl Menschen, die begabter waren, das Lied Gottes zu hören.

Manche behaupteten, wenn es diese Melodie wirklich gäbe, müssten alle sie gleich gut hören können. Die Gottmaschine, wie die Bibelwerkstatt jetzt genannt wurde, sei nichts als Blendwerk. Und selbst wenn sie kein Blendwerk sei, dann hieße das immer noch nicht, dass die Melodie wirklich von Gott kam. Die Gottmaschine, sie nannten es so, weil es die eigene Kraft verstärkte, so kümmerlich sie auch sein mochte.

Hillalum wartete. Er hoffte, dass irgendetwas in ihm sich aufrichten würde. Er dachte an seinen Sohn. An dieses winzige Wesen, das er in seinen Armen gehalten hatte. Er dachte an das Gefühl, als hätten seine Grenzen sich aufgelöst. Als hätte er nicht nur einen Sohn bekommen, sondern als wäre die ganze Welt zu seiner Familie geworden. Drei Wochen hielt dieses Gefühl an. Drei Wochen, dann hörte Enki einfach auf zu atmen.

Zunächst schien es, als würde sein Tod Rahel und Hillalum fester zusammenschweißen. Ein Jahr lang lehnte sich jeder am anderen an, und gemeinsam fielen sie nicht um.

Hillalum konnte nicht sagen, wann sie angefangen hatten, sich voneinander zu entfernen, wann die Gespräche über ein zweites Kind begonnen hatten, wann die Ängste, Hoffnungen und Wünsche sich zwischen sie gedrängt hatten. Bis Rahel schließlich ging.

Auf den Tag genau elf Monate nachdem Rahel gegangen war, war Hillalums Vater aufgetaucht, der Mann, der seine Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte, weil er sie für untreu hielt. Nach 26 Jahren war sein Vater aufgetaucht, mit einer Axt in der Hand, und hatte Hillalums Mutter erschlagen, war dann in den Wald gelaufen und hatte sich erhängt.

Hillalum betrat also die Gottmaschine und sank auf die Knie.

– Warum?, schrie Hillalum. Warum ich?

Wem?

– Was?

Wem ist das passiert?

– Mir. Mir. Warum mir? Warum hast du mir alles genommen?

Wem?

– Mir.

Wer bist du?

– Hillalum. Dein Diener. Vielleicht. Ich weiß es nicht mehr. Was habe ich getan? Wo habe ich mich schuldig gemacht? Wo habe ich gesündigt?

Ich kenne keinen Hillalum. Es gibt niemanden, der gesündigt haben könnte.

Hillalum schrie, er schrie so laut, dass er dachte, seine Lungen würden bersten. Er wollte gesehen werden, gehört, verstanden. Er schrie und weinte. Er schlug auf den Holzboden. Er füllte den ganzen Raum mit seinem Leid, doch niemand sah ihn.

Wann soll dieser Hillalum denn entschieden haben, geboren zu werden? Wann soll er sich entschieden haben zu wachsen? Wann soll er sich entschieden haben, zu einem Mann zu werden und seine Lenden mit Kraft zu gürten? Wann soll er sich entschieden haben zu träumen, und wann soll er entschieden haben, was ihm im Traum erscheint?

– Herr, habe ich nicht immer zu Dir gebetet?

Wer soll das gewesen sein, der zu mir gebetet hat?

– Hillalum, krächzte Hillalum.