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Nicolai Schumann, arbeitsloser Pianist, will sich in Lissabon nachts von der Brücke Vasco da Gama in den Tejo stürzen. Da kommt Cecília Gonçalves, die in Lissabon an einer internationalen Konferenz über Sapiosexualität teilgenommen hat, vorbei und redet mit ihm. Sie nimmt ihn mit nach Rio de Janeiro, wo sie als Psychologin in einer Favela arbeitet. Eine rasante Geschichte mit einem gefährlichen Höhepunkt beginnt.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.
Eine wunderschöne Zeit, in der dieses Buch entstanden ist. In Rio de Janeiro, Salvador de Bahia, Porto Alegre. Fernab vom Gewittergrollen Deutschlands und Europas. Mit einer brasilianischen Co-Autorin an der Seite. Uma perspectiva feminina!
Rüdiger Schneider, Porto Alegre im Mai 2025
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Wie in einem Kaleidoskop zogen die letzten Jahre an ihm vorbei. Die letzten schlimmen Jahre. Angefangen hatte es 2020, als er sich geweigert hatte, am Piano eine Maske zu tragen. Er hatte das als Verrat an der Musik empfunden. Außerdem behinderte dieses blöde, vom Staat verordnete Ding die Sicht auf die Tasten, über die seine Hände virtuos hinweggleiten konnten. Er war aus dem Sinfonieorchester entlassen worden. Ein Rausschmiss, der eigentlich egal war, da die Konzerte in der Coronazeit sowieso beendet waren. Drei Kollegen hatten diese Zeit nicht überlebt. Nicht weil sie sich das Virus eingefangen hätten, sondern aus Not, aus Kummer, aus Einsamkeit. Das Herz hatte bei Zweien versagt. Und einer war unmittelbar nach der Impfung gestorben.
Er hatte nach seinem Rausschmiss den Fehler begangen, sich dem Whisky hinzugeben. Erst eine Flasche am Tag, dann zwei. Paula, die Portugiesin, mit der er zusammenlebte, hatte das nicht ausgehalten, war ausgezogen, zurückgekehrt in ihren Heimatort Coimbra. Dann ging es nur noch bergab. Vorbestrafung wegen wiederholten Diebstahls bei Aldi. Die Whiskyflaschen waren einfach zu groß, um sie unbemerkt verschwinden zu lassen. Die andauernde Geldnot, der Umzug in ein kleines, billiges Zimmer, der Verkauf des Pianos. Mit der fehlenden Übung verlor er auch die Chance, nach der Coronazeit eine neue Anstellung zu finden. Am schlimmsten aber war die Einsamkeit. Ohne Frau zu leben war die Hölle. Dann, im August 2025 kam der heroische Entschluss, sich aus allem herauszureißen. Mit dem letzten Geld nach Lissabon. Laufen, laufen, laufen. Den Camino Portuguese. Von Lissabon nach Santiago de Compostela. Vielleicht konnte Jakobus helfen. Oder Maria. In Fatima hatte er am Marienaltar eine Kerze angezündet, ein ´Gegrüßet seist du, Maria´gemurmelt. Ob das helfen würde, wusste er nicht. Aber es würde auch nicht schaden. Er war die Straße entlanggelaufen, mit Turnschuhen auf heißem Asphalt. In Santa Cruz waren die Füße kaputt, er konnte kaum noch gehen, war mit dem Bus zurück nach Lissabon gefahren. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Er hatte sich nachts zur Brücke Vasco da Gama geschleppt, saß jetzt auf dem Geländer in Höhe des ersten Pylons, wo es am höchsten war und blickte hinunter auf das Wasser des Tejo, in dem sich die Laternen spiegelten. Das Schild, das Fußgängern und Radfahrern das Betreten der Brücke verbot, hatte ihn nicht interessiert. Selbstmörder achten auf so etwas nicht mehr. Zu der persönlichen Misere kam noch eine andere hinzu, für die er nichts konnte. Europa war militaristisch geworden, bereitete sich auf einen Krieg vor. Statt den Dialog zu suchen, rüstete man auf. Im Geiste hörte er schon das Geknatter der Maschinengewehre, sah Panzer rollen und schlimmer noch: Waren die in den Wellen sich spiegelnden Lichter der Laternen nicht schon Atomblitze? Warum lernten die Menschen nicht, friedlich zu leben? Der Franzose hatte das Schicksal Napoleons vergessen, der Deutsche Stalingrad verdrängt. Russland mit Natostaaten zu umzingeln war ein großer Fehler gewesen, den man hätte erkennen müssen. Jetzt konnte ihm das auch egal sein. Es war zwei Uhr nachts, als er noch einmal in die Tiefe blickte. Gleich würde er springen, fliegen, fast fünfzig Meter. Der Aufprall würde ihn bewusstlos machen, so dass er das Ertrinken gar nicht mehr mitbekam. Dann war das Leben des Nikolai Schumann ausgelöscht. 50 Jahre hatte es gedauert. Ein halbes Jahrhundert. Das war genug.
Die Abschlussparty im ´Westlight Lisboa Madalena´ hatte bis in die Nacht gedauert. Es war halb Zwei. Cecília Gonçalves überlegte, ob sie zu dieser späten Zeit noch nach Montijo rüberfahren sollte, um ihre Freundin zu besuchen. “Komm, wann du willst”, hatte Amélia gesagt. “Du weißt, dass ich eine Nachteule bin. Du musst mir unbedingt erzählen, was das für ein seltsames Thema ist, zu dem sich 25 Psychologen aus allen möglichen Ländern treffen. Sapiosexualität. Was ist das?”
Es war leicht zu erklären. Man war weniger in die äußere Erscheinung des Partners verliebt, als vielmehr in sein Wissen, sein Einfühlungsvermögen, seine Sensibilität. ´Sapio´ kam vom Lateinischen ´sapere´, wissen. Sapiosexualität sorgte seit einigen Jahren für kontroverse Diskussionen in der Welt der Psychologen und Psychotherapeuten. Manche taten diese intellektuelle Spielart der Liebe als Unsinn ab. Andere schworen darauf, dass dieses Thema vor allem Frauen anging. Cecília hatte überlegt, ob sie selbst davon betroffen war. Sicher, ein intelligenter Mann konnte eine besondere Attraktivität haben. Aber gehörte nicht die Berührung der Haut mit dazu? Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie beides war. Sapiosexuell und manchmal eben auch normal. Das eine schloss das andere nicht aus.
In ihrer Praxis in Rio de Janeiro waren ihr nur wenige Fälle begegnet, wo eine Frau behauptete sapiosexuell zu sein. Von einem Mann hatte sie das noch nie gehört. Vielleicht war das auch eine westliche Variante der Liebe und weniger typisch für das lebenslustige Brasilien, die Terra do Samba. Auf jeden Fall war sie neugierig auf die Konferenz gewesen und der Einladung nach Lissabon gefolgt. Zumal sie sich endlich wieder mit Amélia treffen konnte, ihrer brasilianischen Freundin, die sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte.
Cecília kannte Lissabon gut, war schon einige Male in der Weißen Stadt gewesen, auch von dort mit Amélia die Atlantikküste entlanggefahren bis an die Algarve. Am Flughafen in Lissabon hatte sie jetzt einen Wagen gemietet, um sich unabhängig bewegen, nach Montijo fahren zu können und vielleicht noch einmal eine Tour mit ihrer Freundin zu machen. Dann in die andere Richtung, nicht an die Algarve, sondern nach Porto. Die Praxis in Rio, im Stadtteil Botafogo, konnte ruhig eine oder sogar zwei Wochen geschlossen bleiben. Es tat auch gut, sich nicht täglich die Sorgen und Probleme anderer Menschen anzuhören.
Um halb Zwei verabschiedete sie sich von den Teilnehmern der Konferenz. Die hatten schon heftig den verschiedensten Getränken zugesprochen. Einige waren in den Sesseln des Saales schon eingeschlafen, schnarchten vor sich hin. Ein Psychologe aus Norwegen präsentierte einen Videoclip mit einem Song von Wendy Shay ´Sapiosexual´. “Kommt aus Ghana”, erklärte er. “Ein Superweib. Sexy. Da wird man schon beim Angucken verrückt. Die transportiert einem das Gehirn aus dem Schädel. Von wegen sapiosexuell!”
Cecília hatte im Laufe des Abends nur ein Glas Wein getrunken, war dann auf Mineralwasser umgestiegen. Den Wein konnte sie bei Amélia noch nachholen. Oder auch ein paar Caipirinha oder Gin Tonic. Es war zehn vor Zwei, als sie den roten Fiat 500 aus der Garage holte, in den Navi Amélias Adresse eintippte und losfuhr. Die Brücke Vasco da Gama, die über den Tejo nach Montijo führte, hatte sie nach ein paar Minuten erreicht.
Er blickte auf das nachtdunkle Wasser, zögerte mit dem Abschwung vom Geländer. Es wäre endgültig. Sein, gewesen sein. Ob da etwas nach dem Tod kam? Er wusste es nicht. Niemand wusste es. Sein Blick ging nach links zur Skyline Lissabons. Welch glückliche Zeiten in dieser Stadt! 2003 der internationale Pianowettbewerb, bei dem er Zweiter geworden war. Die Affäre mit der Georgierin, Mariam Alieva, die den Wettbewerb gewonnen hatte. Ihre Wildheit am Klavier. Wie sie bei den Akkorden den Kopf mit den schwarzen Haaren zurückgeworfen hatte, virtuos mit den Händen über die Tasten fliegend, hineinhauend. Sie hatte sich Robert Schumann ausgesucht, das Klavierkonzert 54 in a Moll, das angeblich unvollendete, das ihm aber in seiner romantischen Sehnsucht durchaus vollendet schien. Die Nächte mit Mariam im Lisboa Oriente. Die beschwingte Verliebtheit! Wie war die Welt leicht und schön! Und dann nur drei Jahre später hatte er Paula Ruiz in Lissabon kennengelernt. Sie arbeitete als Bedienung in der ´Limão Rooftop Bar´, war mit ihm nach Deutschland gezogen. Seine Sprache hatte sie nicht gelernt, er aber ihre. Fünfzehn Jahre hatten sie zusammengelebt, bis sie dann seinen resignierenden Lebensstil nicht mehr ausgehalten hatte und zu ihren Eltern nach Coimbra gezogen war. Er hatte keinen Versuch unternommen, sie zurückzugewinnen. Womit auch!? Er hatte nichts mehr zu bieten.
Er war so versunken in seinen Erinnerungen, dass er nicht hörte, wie ein Wagen hielt und jemand ausstieg. Erst die Stimme der Frau holte ihn aus der Trance.
“Alô senhor! Acho que nao é uma boa idea o que o senhor está fazer.“ - Hallo Senhor! Ich glaube nicht, dass das, was Sie tun, eine gute Idee ist.
Ohne sich umzudrehen antwortete er: „Deixe me em paz e siga seu caminho!“ – Lassen Sie mich in Ruhe und gehen oder fahren Sie weiter.
„Olhe, não posso seguir o meo caminho e deixa lo aqui tentando tirar algo tao precioso como sua vida.“ - Schauen Sie, ich kann nicht weggehen und Sie hier zurücklassen, wenn Sie versuchen, sich das Leben zu nehmen.
„Minha vida não tem mais sentido, perdi tudo que era importante. Até perdi minha dignidade.“ - Mein Leben hat keinen Sinn mehr, ich habe alles Wichtige verloren und sogar meine Würde.
„Me chamo Cecília. Como e o seu nome?“ – Ich heiße Cecília. Und Sie?“
Não importa mais meu nome. Mas me chamo Nicolai.“ – Mein Name ist nicht mehr wichtig. Aber ich heiße Nicolai.
Sie kam langsam ein paar Schritte näher und sagte: „Bem, Nicolai! Por que não me das tua mão que te ajudo a descer? Já passei por situações parecidas na minha vida. Achei que não havia mais solução para meus problemas. Mas acredite, Nicolai, sempre haverá uma solução.”“ – Gut, Nicolai! Warum gibst du mir nicht deine Hand, damit ich dir helfen kann, herunter zu kommen? Ich hatte in meinem Leben eine ähnliche Situation. Ich dachte, es gäbe keine Lösung mehr für meine Probleme. Aber glaube mir, Nicolai, es wird immer eine Lösung geben.“
Er drehte langsam den Kopf, legte die Stirn in Falten, schaute sie verwundert an. Im Licht der Laternen sah er, dass sie schön war. Sie erinnerte ihn an die Georgierin, an Mariam Alieva mit den schwarzen Haaren, die mochte jetzt auch etwa so alt sein wie sie.
„Você não é português“, sagte er. Du bist keine Portugiesin. “Seu português soa suave, suave, musical, menos áspero que o dos locais.” - Dein Portugiesisch klingt sanft, weich, musikalisch, weniger hart als das der Einheimischen.“
„Eu sou brasileira.“ - Ich bin Brasilianerin“, erklärte sie. „Do Rio de Janeiro.“ - Aus Rio des Janeiro.
Sie kam näher und sah, dass er unentschlossen war. Sie redete weiter mit ihm.
„Estou indo para a casa de um amigo não muito longe daqui. Podemos ir lá juntos.“ - Ich fahre zu einer Freundin, nicht weit von hier. Wir können zusammen dorthin fahren.
Er bewegte langsam die Beine auf die andere, die sichere Seite des Geländers, schob sich von der Brüstung, stand. Cecília kam ein paar Schritte auf ihn zu.
„Por que? O que aconteceu?“ – Warum? Was ist geschehen?
“Warum?” wiederholte er ihre Frage. “Lange Geschichte”, antwortete er auf Portugiesisch. “Es ist alles so sinnlos geworden. Ich habe bessere Zeiten gesehen. Aber das ist vorbei.”
“Gibt es nicht immer einen Ausweg? Welche besseren Zeiten waren das?”
Jetzt ging er noch ein paar Schritte auf sie zu, stand vor ihr, sagte: “Als ich noch Klavier spielen durfte. Aber dann kam diese verdammte Coronazeit. Ich weigerte mich, eine Maske zu tragen, bin aus dem Orchester rausgeworfen worden. Tja, und dann ging es nur noch bergab. Geldmangel, Alkohol, Freundin verloren, Klavier verkauft, mit dem letzten Geld nach Lissabon geflogen. Wollte den Camino Portuguese gehen, den portugiesischen Jakobsweg. Aber das ist mir auch gescheitert. Ich bin nicht weit gekommen.”
“Warum ausgerechnet Lissabon?”
“Weil ich hier meine schönsten Erinnerungen habe.”
“Du bist kein Portugiese”, sagte sie. “Das höre ich an deinem Akzent.”
“Alemão. Deutscher.”
“Oh sim!” Ach ja! Komm, steig ein. Meine Freundin heißt Amélia. Sie ist auch Brasilianerin.“
“Sie wird etwas dagegen haben, wenn du mit einem unbekannten Mann ankommst?”
“Nein. Sie wird erstaunt sein, dass ich mit einem Mann ankomme, den ich auf dieser Brücke gefunden habe.”
“Sie sind in Rio verheiratet?”
“Nein. Ich bin seit drei Jahren solo. Und Sie?”
“Was schon!? Woher sollte ich eine Frau haben? Als insolventer Säufer.”
“Und vorher?”
“Eine Portugiesin. Paula. Sie ist abgehauen, als ich meinen Job verloren habe und mit dem Whisky anfing. Sie ist jetzt bei ihren Eltern in Coimbra.”
“Wie alt ist sie?”
“45. Fünf Jahre jünger als ich. Und Sie, wenn ich das fragen darf?”
“48.”
“Was machst du in Lissabon? Warum bist du hier.”
“Ich bin Psychologin. Wir hatten eine internationale Konferenz. Über Sapiosexualität. Du weißt, was das ist?”
“Nein.”
“Komm, steig ein. Ich erzähle es dir unterwegs.“
Sie nahm seine Hand, führte ihn zu ihrem Wagen.
“Danke”, sagte sie, als er neben ihr im Wagen saß. “Danke, dass du nicht gesprungen bist.”
“Danke?” fragte er verwundert und sah sie von der Seite an. “Du kannst doch nichts dafür, dass ich mich auf das Geländer gesetzt habe.”
“Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn du vor meinen Augen gesprungen wärst. Was hätte ich dann machen können? Einfach weiterfahren, die Polizei informieren? Der Tejo ist hier so breit wie bei uns der Amazonas. Gefunden hätte dich niemand.”
“Seltsam. Dass du ausgerechnet Cecília heißt. Sie ist die Schutzpatronin der Musik. Auch in Brasilien?”
“Ja. Sie ist eine katholische Heilige. Mein Vater hat mir diesen Namen gegeben, weil ich am 22. November geboren wurde. Das ist der Namenstag von Cecília.”
Eine Weile schwieg er, erstaunt über die Wendung seines Schicksals. Statt tot im Tejo zu treiben, dem Atlantik entgegen, saß er jetzt neben einer Brasilianerin, die ihn an Mariam, die Georgierin, erinnerte, an die glücklichen Tage in Lissabon.
“Es ist gut, dass du dein Können nicht einfach weggeworfen hast”, sagte sie. “Du wirst das Klavierspielen ja nicht verlernt haben.”
“Aber aus der Übung bin ich. Seit dem Rausschmiss aus dem Orchester habe ich keine Taste mehr berührt. Das Piano stand wie ein stummer Vorwurf im Zimmer. Vor dem Flug nach Lissabon habe ich es verkauft, um es nicht mehr ansehen zu müssen. Na ja, auch um überhaupt fliegen zu können.”
“Du hast nur klassische Musik gespielt?”
“Ach was! Das macht kein Pianist. Je nach Gelegenheit spielen wir auch flottere Stücke.”
“Je nach Gelegenheit? Bei welcher?”
“Nun ja, als ich zum Beispiel Paula kennenlernen wollte, im Limão war das, in einer Bar hier in Lissabon, habe ich mich an das Piano dort gesetzt und für sie einen Reggae gespielt. Und den Refrain dazu gesungen. ´´We all have a soul plan while stepping on a coalyard.´”
“Schön!” meinte sie und lächelte. “Würdest du das auch für mich tun? Ich lade dich Morgen in diese Bar ein. Sie haben das Piano hoffentlich noch.”
Er schüttelte den Kopf, lachte. “Wie verrückt ist das denn!? Ja, natürlich mache ich das. Falls sie mich in die Bar lassen. Ich denke, ich sehe ziemlich abgerissen aus.”
“Das lässt sich leicht beheben. Amélia hat den Kleiderschrank voll. Als ihr Mann abgehauen ist, hat er alles zurückgelassen, und sie hat es bis jetzt noch nicht weggeworfen. Falls dir davon nichts gefällt oder du nicht die Sachen eines anderen Mannes tragen willst, können wir Morgen auch in der Rua Augusta einkaufen.”
“Das würdest du machen?” fragte er erstaunt.
“Ja. Ich treffe nicht jeden Tag einen Mann, der von einer Brücke springen will.”
“Cecília, du hast gesagt, du hättest in deinem Leben eine ähnliche Situation gehabt. Was war passiert? Wir wollen ja nicht nur von mir reden.”
“Vor drei Jahren ist mein Mann mit dem Motorrad tödlich verunglückt und nur einen Monat später mein Sohn an einer Überdosis Heroin gestorben. Er war drogenabhängig. Ich habe es nicht geschafft, ihn davon abzubringen, habe versagt. Es ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Den Sohn zu verlieren. Ich bin in eine tiefe Depression geraten, habe mein Leben für sinnlos gehalten und Schlaftabletten genommen. Das war auf der Terrasse meines Hauses im Stadtteil Botafogo. Ich wollte mich mit einem letzten Blick auf die Bucht und den Zuckerhut verabschieden. Was ich nicht wusste, Amélia war überraschend nach Rio gekommen und hat mich rechtzeitig gefunden. Heute bin ich froh, dass es so gekommen ist. Man darf sein Leben nicht wegwerfen. Es gibt immer eine Lösung. Oder? Wie fühlst du dich jetzt?” fragte sie mit einem Seitenblick auf ihn.
Er hob die Schulter. “Wie soll ich das beschreiben? Überrascht, verwundert. Das alles ist ja gerade ein paar Minuten her. Ich weiß nicht, ob ich wirklich gesprungen wäre. Aber wie hätte es weitergehen sollen? Ich habe keinen Ausweg gesehen. Dass du gekommen bist, was ist das? Zufall, Fügung, Schicksal. Keine Ahnung. Und dann heißt du auch noch ausgerechnet Cecília, Schutzpatronin der Musik. Das ist verrückt. Ja, wie fühle ich mich? Eigentlich ziemlich gut neben dir. Ich könnte auch sagen: wie neugeboren. Oder wie von einem Engel gerettet.”
Er sah, wie Cecília lächelte. Sie warf dabei kurz den Kopf in den Nacken, so dass die in Wellen flutenden Haare einen in Gold gefassten, rubinroten Ohrstecker freigaben. “Schön”, sagte sie. “Beautyful! Das gefällt mir. Das hätte ich noch als Thema bei der Konferenz gebrauchen können.”
“Ach ja”, meinte er. “Du wolltest mir das noch erklären. Was war das für eine Sexualität? Habe ich vergessen.”
“Sapiosexualität. Kommt vom Lateinischen ´sapere´, wissen. Es bezeichnet die erotische Hingezogenheit zum Intellekt einer anderen Person. Sapiosexuelle Menschen werden auch ´Nymphobrainiacs´ genannt. Aber ehrlich gesagt, ich halte nicht viel von dieser neumodischen Diskussion in der Psychologie. Bei einer Beziehung kommt es ja mehr auf Einfühlungsvermögen an. Nach Lissabon bin ich eigentlich vor allem wegen Amélia gekommen.”
Sie hatten das Ende der Brücke erreicht. “Zwölf Kilometer ist die lang”, sagte Nicolai.
“Oh, dann ist es wohl die längste Brücke der Welt.”
“Nein, die ist in China. Aber die hier ist lang genug.”
“Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer bis zu Amélia. Sie wohnt in der Rua Bela Vista, in einem Haus an einer der Buchten des Tejo”, sagte Cecília.
“Erzähle mir etwas von ihr! Was macht sie, wie lebt sie, wovon lebt sie? Wie alt ist sie?”
“Oh, du willst aber viel wissen. Sie ist auch 48 wie ich. Sie ist geschieden. Ihr Mann hat eine Weinfabrik für den berühmten Vinho Verde. Er ist Millionär. Um seine Fabrik nicht mit ihr teilen zu müssen, zahlt er ihr einen sehr luxuriösen Unterhalt. Das Haus hat er ihr überlassen. Amélia malt, in Öl, sie hat auch schon eine Ausstellungen gehabt. Mit mehr oder weniger Erfolg. Mais ou menos. Ich würde sie als sehr attraktiv bezeichnen. Aber mach dir da keine Hoffnungen. Sie ist polyamourös. Du weißt, was das heißt?”
“Claro! Kann ich mir herleiten. ´Poly´ - viel. Sie wechselt also häufig ihre Liebhaber oder hat gleich mehrere.”
“Ja, und vor allem erheblich jüngere. Und die müssen muskulös sein. Du hättest auch von daher im Moment keine Chance bei ihr. Du müsstest erst wieder richtig ins Futter kommen. Wenn sie in Rio ist, besucht sie gerne Striptease-Shows.”
“Chance bei ihr?” Er gab seiner Stimme einen beleidigten Unterton. “Will ich doch gar nicht.”
“Dann ist es ja gut. Ich habe dich gewarnt.”
“Wie oder wo habt ihr euch kennengelernt?”
“Wir sind in Rio in dieselbe Schule gegangen, auch in dieselbe Klasse. Nach em Abitur haben wir uns zunächst aus den Augen verloren. Ich habe Psychologie studiert und sie hat bei einem Urlaub auf Madeira ihren portugiesischen Mann kennengelernt und geheiratet. Wir haben uns nur ab und zu geschrieben oder miteinander telefoniert. Kurz nach ihrer Scheidung hat sie mich in Rio besucht und ich sie danach in Lissabon beziehungsweise in Montijo, das ja sozusagen zu Lissabon gehört, aber verwaltungsmäßig zum Bezirk Setubal.”
Sie hatten das Zentrum von Montijo erreicht, passierten eine beleuchtete Kirche mit weißer Fassade und zwei Türmen.
“Das ist die Kirche ´Espírito Santo´”, erklärte Cecília. “Wenn du barocke, goldene Pracht liebst, lohnt es sich, sie zu besichtigen.”