Die Natur hat Recht - Elisabeth Weydt - E-Book

Die Natur hat Recht E-Book

Elisabeth Weydt

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Beschreibung

Ein revolutionärer wie zukunftsweisender Ansatz im Klima- und Artenschutz Die Welt steht kurz vor dem ökologischen Kollaps und uns bleibt kaum noch Zeit die Richtung zu ändern. Wir müssen sehr schnell sehr viel ändern. Eine vielversprechende Lösungsmöglichkeit liegt deshalb in unseren Rechtssystemen. Die Journalistin Elisabeth Weydt hat in verschiedenen Ländern recherchiert und berichtet in dieser eindrücklichen Reportage von einer so radikalen wie zukunftsweisenden Idee, die eine Wende für den Natur- und Artenschutz darstellen könnte. Ecuador beispielsweise macht vor, wie Umweltschutz in Zeiten der dringend benötigten Energiewende und des damit einhergehenden Wettrennens nach neuen Rohstoffen wie Kupfer, Kobalt und Lithium angegangen werden kann: indem die Natur zum Rechtssubjekt erklärt wird. Packende Reportage und Aufruf zugleich: Durch einklagbare Rechte der Natur erfolgreich gegen Umweltzerstörung vorgehen Elisabeth Weydts Recherche beginnt im Intag-Tal in Ecuador, dem einzigen Land der Erde, das die Natur in seiner Verfassung zu einer eigenständigen Rechtsperson erklärt hat. Das Konzept beruht auf der Vorstellung, dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind, dass der Mensch nicht mehr Rechte hat als die Natur, dass er gar nicht mehr Rechte haben kann als die Natur, schon allein, weil er selbst Teil der Natur ist. Diesem revolutionären Ansatz um die Rechte der Natur folgen mittlerweile Initiativen weltweit. Manche kämpfen für die Anerkennung eines einzelnen Flusses, manche für einen Wald, andere für ganze Ökosysteme und auch hierzulande gibt es eine solche Initiative. Zudem geht Elisabeth Weydt der Frage nach, was Umweltzerstörung in anderen Teilen der Welt mit Deutschland und unserer Lebensweise zu tun hat und inwiefern die ecuadorianischen Prinzipien auf Deutschland übertragbar sind. Fesselnd und informativ beleuchtet Elisabeth Weydt einen revolutionären Ansatz, der eine Wende für den Klimaschutz bedeuten könnte. Eine Reportage, die uns die Augen öffnet und inspiriert für konstruktive Ansätze und mögliche Wege raus aus der Klimakrise. 

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Seitenzahl: 365

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Für die Frösche,für die Freiheit,für die Frauen

Deutsche Originalausgabe

Copyright © 2023 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Zitat Seite 210:

© by The Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

© der deutschsprachigen Ausgabe »Die Freiheit, frei zu sein«: 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Bildnachweis Bildteil:

© Maria Sturm: Seiten 1, 2–3 Hintergrundbild, 2 links oben, 3 rechts unten, 4 alle Bilder, 5 Hintergrundbild, 16

© Elisabeth Weydt: Seiten 3 rechts oben, 5 rechts oben

© Misha Vallejo Prut: Seiten 6–9

© Georges Senga: Seiten 12–15

Projektleitung: Ellen Venzmer, Knesebeck Verlag

Lektorat: Dr. Julia M. Nauhaus, Lübeck

Gestaltung und Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: © Avigator Fortuner/Shutterstock.com

Gedicht Bildteil S. 10/11: Martha Arotingo

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-95728-723-6

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Prolog: Der Gelobungsring

1. Minero oder Ecologista? Begegnung mit Paramilitärs

Ignorantin im Regenwald: Wo bitte geht’s zur Weltenrettung?

Die stärkste Frau im Intag-Tal: Eine Bäuerin verklagt ihre Regierung

2. Ein Papier für die Natur: Ecuadors außergewöhnliche Verfassung

Lektionen über Mut und Vorsicht vor Gericht – ein juristischer Workshop

Vom Erdölmanager zum Ökoaktivisten

Wie die Natur in die Verfassung kam

Eine Maisgöttin in der Kathedrale der Bücher: Über die Bedeutung der Verfassung für die Welt

Dies ist keine Lyrik – harte Urteile zu den Rechten der Natur

In der Kapitalismusfalle: Banken, Investitionsschutzabkommen und die verfluchten Rohstoffe

3. Von beseelten Steinen und mächtigen Frauen: Das Pachamama-Prinzip

Alles ist vernetzt. Vom Wurzelteich über die Quantenphysik bis zum Kolonialismus

»Vielleicht ist es jetzt auch mal gut«, sagte die Hebamme

Vor Gericht mit der Tochter des Lichts

Von Männern mit Träumen

4. Ein Date mit der deutschen Industrie: Es ist kompliziert

Sie haben verstanden – auf einen Kaffee mit Autodeutschland

Guter Hoffnung am Würgebaum

Porsche, Aurubis und die Zauberformel

Auf Schatzsuche: Von Lieferketten in der Tiefsee und im Bundestag

Wortungetüm für eine bessere Welt: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz

5. Her mit dem Guten Leben: Ein Rezept aus dem Amazonas

Wie man eine Ölfirma vertreibt und Einheit schafft

Pachamama und die Frauen von Sarayaku

Kawsak Sacha als Vorschlag an die Welt

Die Schlange und der gewaltlose Widerstand

Der Lebendige Wald im Schnee

6. Kongo GmbH & Co: Über die Lieferungen zum Leben

Über die Gleichzeitigkeit der Dinge

Über Verantwortung vor den Dingen

Über die Grausamkeit der Dinge

Über die Schönheit der Dinge

Über die Verbundenheit der Dinge

7. Grundgesetzänderung: Über die Würde der deutschen Eiche

Bayerischer Boogie-Woogie: Hans Leo Bader, Alberto Acosta und der Investmentbanker

»Sorry, Klaus!« – Wie Deutschland mehrfach fast eine ökologische Verfassung bekam

Einen Falafel-Teller auf das Grundgesetz. Mittagessen mit der Klimaanwältin Roda Verheyen

Westliche Weltanschauung: Humboldt & Co über die Einheit allen Lebens

Stand der Dinge im Kupferwald

Epilog: Quintessenz aus der Seifenfabrik von El Rosal

Danksagung

Prolog: Der Gelobungsring

Alles ist Wechselwirkung.

ALEXANDER VON HUMBOLDT

Als die Männer die Waffen ziehen und um sich schießen, leert sich mein Kopf. Nichts ergibt hier einen Sinn für mich. Was passiert da gerade? Warum? Wie das möglich? Ich fotografiere wie auf Autopilot. Es geht um einen Kupferminenkonflikt im subtropischen Regenwald Ecuadors. Eine Gruppe bewaffneter Männer ist auf Pick-ups gekommen und will die Straßensperre durchbrechen, die die Menschen hier zum Schutz ihres Landes aufgebaut haben. Ich bin Anfang zwanzig, mit einem Freiwilligendienst im Land und zufällig in diesen Konflikt hineingeraten. Irgendetwas hat das auch mit mir zu tun. Mit mir und Europa und der Welt. Aber ich habe keine Ahnung, was. Irgendwie muss das doch auch anders gehen, denke ich, aber ich habe keine Ahnung, wie. Es ist der Anfang einer langen Reise und der Grund, warum Sie nun dieses Buch in der Hand halten und ich einen Kupferarmreif trage. Ich wollte verstehen. Und ich wollte die Geschichten der Menschen erzählen, die mir unterwegs begegneten. Schön, dass Sie mitkommen auf dem Weg über die Kontinente und durch die Zeiten. Sie können manche Stationen gerne auslassen, vor- und zurückspringen oder von Anfang bis Ende lesen. Je nachdem, was Sie interessiert, wofür Ihr Herz so schlägt und was Sie bereits kennen. Auf die Fotos der Künstler:innen, die auf ihre Art und Weise zu Natur und Gerechtigkeit arbeiten, werden Sie wahrscheinlich schon einen Blick geworfen haben. Danke fürs Hiersein und – trotz der eher dystopischen Weltlage – viel Vergnügen unterwegs.

Unsere Welt steht kurz vor dem ökologischen Kollaps. Der Lebensstil der Industrienationen zerstört seit langem die Lebensgrundlagen des gesamten Planeten, und die Zeit, die Richtung zu ändern, wird immer knapper. Leben wird zunehmend lebensbedrohlich. Wir sind jetzt acht Milliarden Menschen auf dieser Erde und werden immer mehr. Wir alle verbrauchen Rohstoffe und Land, die einen viel mehr, die anderen viel weniger. Ein Prozent der Menschheit besitzt mehr als die Hälfte des globalen Vermögens. Wenn das 1,5-Grad-Ziel gehalten werden soll und alle dafür die gleiche Menge CO2 emittieren dürften, müssten die reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung ihre CO2-Emissionen um das Dreißigfache reduzieren, also ihr Leben komplett umstellen. Die ärmsten fünfzig Prozent hingegen könnten ihre Emissionen sogar um das Dreifache erhöhen. Die einen müssten also fast alles aufgeben, die anderen könnten richtig zulegen. Das geht aus dem Emissions Gap Report des UN-Umweltprogramms hervor.1 Die Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten sind also extrem ungleich verteilt. Auch geht es dabei weniger um den Individualverbrauch als vielmehr um die Systeme und Strukturen, in denen wir leben. Es geht um unsere Nahrung, unsere Energie, unseren Verkehr und unsere Gebäude. Es geht um Politik und damit um Gesetze.

Mit der aktuellen Politik und den aktuellen Gesetzen bewegen wir uns gerade auf eine Erhitzung von rund drei Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts zu. Das sagt der letzte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC).2 Was das konkret bedeutet, können Sie in vielen anderen Büchern und Artikeln nachlesen. Nichts Gutes jedenfalls. Um unter der lebenssichernden Marke von 1,5 Grad Erderwärmung zu bleiben, müssten die weltweiten CO2-Emissionen bis 2030 fast um die Hälfte gegenüber 2019 sinken. Das ist pro Jahr ungefähr so viel CO2 weniger wie im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie, als fast alles stillstand. Wir müssten dann allerdings jedes Jahr aufs Neue so viel einsparen, statt – wie aktuell – die Emissionen wieder rasant steigen zu lassen. Und CO2 ist ja nur ein Teil der aktuellen ökologischen Krise. Gleichzeitig geht es um das Massenaussterben der Arten und eine gigantische Luft-, Wasser- und Naturverschmutzung durch Abgase und Abfälle. Wenn wir nicht sehr schnell sehr viel ändern, wird es bald sehr viel weniger lebenswertes Leben auf diesem Planeten geben. Auch das sagt das IPCC.

Ein hilfreiches Instrument könnte dabei paradoxerweise ein sehr langwieriges sein: die Änderung unserer Weltbilder und Rechtssysteme, die Erklärung der Natur zum juristischen Subjekt. Ecuador ist das Land, in dem diese Idee am weitesten fortgeschritten ist. Der Kupferminenkonflikt an der Straßensperre ist einer der entscheidenden Präzedenzfälle im weiteren Procedere dort. Denn Ecuador ist das erste und bisher einzige Land auf der Welt, in dem die Natur auf Verfassungsebene zu einer juristischen Person erhoben wurde – ähnlich einer echten Person, einer Aktiengesellschaft oder einem Verein. Natur ist in Ecuador demnach nicht nur schützenswert, weil sie dem Menschen dient, sondern einfach so, weil es sie gibt. Sie hat ein Existenzrecht aus sich selbst heraus. Sie ist Subjekt, nicht nur Objekt. Sie muss nichts leisten, um leben zu dürfen. Zumindest auf dem Papier darf sie »einfach so« existieren.

Und diese Idee könnte alles ändern.

Die Verfassung des kleinen Andenstaats gilt als Paradigmenwechsel, als revolutionäres Unterfangen, das manche auf dieselbe Bedeutungsstufe stellen wie die Abschaffung der Sklaverei und die Einführung des Frauenwahlrechts. Lange hatten nur weiße Männer Rechte auf dieser Welt, später auch Schwarze Männer, Frauen, Kinder. Jetzt vielleicht die Natur. Es geht bei den Rechten der Natur nicht nur um ein paar Paragrafen, sondern um ein Weltverständnis. Es geht um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und damit auch um das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch. Wer ist Subjekt, wer ist Objekt? Wer Ausbeuter und wer Ausgebeutete? Können wir diese Hierarchien vielleicht ganz auflösen?

Als Sklav:innen die Freiheit forderten, hieß es: »Wie soll das denn bitte schön funktionieren? Wer bestellt dann die Felder und Plantagen?« Als Frauen das Wahlrecht forderten, hieß es: »Ja, ja, und dann wollt ihr wahrscheinlich irgendwann Abgeordnete und Ministerpräsidenten werden, hm? Lächerlich!« Heute fordern rund 400 Initiativen weltweit die Anerkennung der Natur als Rechtsperson. Sie wollen Wäldern, Flüssen und Bergen besondere Rechte zugestehen. Einige waren schon erfolgreich: In Neuseeland, Indien oder Kolumbien beispielsweise wurden einzelne Flüsse als Rechtspersonen anerkannt. In Europa hat die Salzwasserlagune Mar Menor in Spanien als erstes Ökosystem diesen besonderen juristischen Status im Herbst 2022 erhalten.

Ein Präzedenzfall innerhalb dieser weltweiten Bewegung der Rechte der Natur ist nun ausgerechnet der Kupferminenkonflikt im Intag-Tal, in den ich 2006 hineingeraten bin. Das Tal liegt in den subtropischen Anden im Norden Ecuadors und zählt zu den artenreichsten Regionen, die der Welt noch geblieben sind. Es erstreckt sich über 2000 Quadratkilometer voller Hügel und grüner Berge. In ihm sind mehrere Gemeinden angesiedelt. Die Menschen dort leben vor allem als Kleinbäuer:innen von und mit der Natur. Seit mittlerweile fast dreißig Jahren kämpfen sie gegen verschiedene internationale Bergbaukonzerne, die dort einen offenen Tagebau in den grünen Wildwuchs reißen wollen. Für das Intag-Tal hieße das, ein riesiges Loch in die grünen Berge zu sprengen und zu graben. Tausende Tier- und Pflanzenarten leben hier, es gibt Dutzende Wasserquellen. Die Region zählt zu den Biodiversitätshotspots der Erde. Doch unter ihr liegt ein anderer Schatz: eines der größten Kupfervorkommen des Landes. Die Leute vor Ort protestieren friedlich gegen die Mine, früher auch mit Gewalt gegen Sachen: Einmal brannten sie beispielsweise die Lagerhalle eines Unternehmens ab. Seit einiger Zeit nun kämpfen sie mit Hilfe der Justiz für ihre Rechte und für die Rechte der Natur. Bisher ist die Mine nicht aufgerissen worden, aber der größte Kupferkonzern der Welt hat die Probebohrungen beendet, Straßen, Anlagen und Camps errichtet und will demnächst mit dem tatsächlichen Bergbau beginnen.

In den nächsten Jahren wird es noch oft um Kupfer gehen, denn das Erz ist ein elementarer Rohstoff der Energie- und Mobilitätswende. Wir brauchen es für Windräder, Solarzellen, E-Autos und Stromtrassen, denn fast überall, wo Strom fließt, ist Kupfer verbaut. Die Welt verbraucht aktuell rund 25 Millionen Tonnen Kupfer pro Jahr. Die Weltbank geht davon aus, dass wir bis 2050 noch einmal dieselbe Menge an Kupfer benötigen werden, die wir in den letzten 5000 Jahren Menschheitsgeschichte bereits gefördert haben.3 Wenn Sie jetzt denken: »Oh, vielleicht sollte ich in Kupfer investieren?!«, lesen Sie bitte erst einmal weiter. Kupfer ist zwar ein Rohstoff, der in ausreichenden Mengen auf unserem Planeten vorhanden ist, aber es werden immer weniger Orte, an denen er ohne große Naturzerstörung oder Menschenrechtsverletzungen abgebaut werden kann, wie Sie im Verlauf unserer Reise sehen werden.

Deutschland kommt in dem globalen Gefüge eine besondere Rolle zu. Es ist die viertgrößte Industrienation und einer der größten Autobauer der Welt. Es hat sich auf die Fahnen geschrieben, Menschenrechte zu schützen und nachhaltig sein zu wollen, und hat gleichzeitig in internationalen Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds IWF, der EU oder der UN mächtige Positionen inne. Die Welt hört zu, wenn Deutschland spricht. Außerdem holt sich die Bundesrepublik den überwiegenden Teil ihrer Rohstoffe aus anderen Ländern und ist damit zum einen von diesen extrem abhängig, trägt zum anderen aber auch eine Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz am Anfang der Lieferketten.

Deutschland baut aktuell kein eigenes Kupfer ab und muss alles importieren oder recyceln. Es ist nach China und den USA der drittgrößte Verbraucher von Raffinadekupfer, also von aufbereitetem und verwertbarem Kupfer. China spielt ebenfalls eine besondere Rolle im Spannungsfeld zwischen Klimakollaps, Rohstoffen und Menschenrechten. Darauf können wir hier aber nur vereinzelt eingehen.

Öl und Gas waren die Rohstoffe der Alten Welt. Nur mit ihrer Förderung und ihrer Energie ging die Industrialisierung so schnell und umfassend voran, konnte sich der Kapitalismus so rasant ausbreiten. Er hat vielen Menschen Wohlstand gebracht, vielen aber auch sehr viel Leid – und er hat Natur zerstört. In der angestrebten klimaneutralen Welt von morgen geht es um Kupfer, Kobalt, Lithium und seltene Erden. Wir brauchen die Energiewende, das steht überhaupt nicht in Frage. Wenn wir aber einfach das gleiche System behalten und nur die Rohstoffe austauschen, wird sich nicht viel ändern, und wir werden in wenigen Jahren gegen andere Wände fahren. Vielleicht verursachen die neuen Rohstoffe nicht so viel CO2, aber auch sie sind die Ursache für eine immense Naturzerstörung und menschliches Leid, vor allem wenn sie so massenweise abgebaut werden, wie die Hochrechnungen für die nächsten Jahre vermuten lassen. Schon heute verdanken sich dem Bergbausektor zusammen mit der Verarbeitung der Rohstoffe rund zehn Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Das ist fast das Dreifache dessen, was im Luftverkehr entsteht. Gesetze sind Mittel, um Systeme friedlich zu ändern. Inwiefern die Rechte der Natur dabei hilfreich sein könnten, schauen wir uns auf den nächsten Seiten aus verschiedenen Perspektiven genauer an.

Wir werden auf unserer Reise in diesem Buch nämlich nicht bei den Problemen stehen bleiben, sondern vor allem nach möglichen Lösungen, konstruktiven Ansätzen, Leuchtturmprojekten und inspirierenden Menschen sowie Ideen suchen, nach etwas, das Hoffnung macht, das ein übertragbares Beispiel sein könnte und das einen neuen Horizont öffnet. Das ist der Ansatz des konstruktiven Journalismus, dem ich mich verschrieben habe. Die Brille, die ich dabei aufgesetzt habe, die meine Weltsicht prägt, ist diese:

Der Moment mit den Paramilitärs, der mich so überforderte, ist mittlerweile gut fünfzehn Jahre her. In der Zwischenzeit habe ich viele andere Momente gesammelt, Fakten, Begegnungen und Geschichten. Studiert habe ich Germanistik, Politik- und vergleichende Religionswissenschaft in Münster. Ich recherchierte auf Palmölfeldern in Honduras, wo mehr als hundert Menschen in einem Landkonflikt getötet wurden, oder in einer Silbermine in Bolivien, wo Kinder unter Lebensgefahr nach Rohstoffen und ein bisschen Leben gruben. Ich war in einem Stahlwerk in Indien, in einer Kobalt-Region im Kongo oder bei Quechua-Bäuerinnen in den Anden von Peru. Bei einer Gerichtsverhandlung gegen einen Aktivisten in Yangon/Myanmar saß ich unter einem scheppernden Ventilator. Ich habe mit einer verurteilten Rechtsradikalen Käsekuchen gegessen und mit einem ehemaligen Islamisten Nudelsalat. Ich stand im Plastikmüll zwischen Touristenhochburgen in der mexikanischen Karibik und zwischen abgeholzten Olivenbäumen vor völkerrechtswidrigen Siedlungen im besetzten Palästina.

Immer wieder war ich überfordert. Und immer klarer wurde mir, dass es eigentlich immer dieselben Mechanismen, Muster und Strukturen sind, die zum Leid der Menschen und zur Zerstörung der Natur führen: Gier und Korruption, Kapitalismus und Rohstoffausbeutung, Angst und Ignoranz. Und zugleich: die Abwertung und Ausbeutung der Entrechteten, die Abwertung und Ausbeutung von Natur. Natürlich ist es komplexer, aber gleichzeitig ist es wiederum ganz simpel: Wollen wir Teil eines großen Ganzen sein, oder wollen wir auf Kosten anderer vom großen Ganzen profitieren? Vielleicht sogar so lange, bis das große Ganze irgendwann kollabiert. Wollen wir zerstören, um zu überleben, oder wollen wir gestalten und in Solidarität und Respekt auch mit, vor und von der Natur leben?

Immer mehr verstand ich, was Humboldt mit seinem »Alles ist Wechselwirkung« wohl gemeint hatte. Nichts steht für sich allein.

Die internationalen Wirtschafts-, Justiz- und Staatssysteme, in denen wir leben und die fast alles Leben auf diesem Planeten durchziehen, sind über Jahrhunderte gewachsen. So einfach kommen wir da nicht heraus. Das Patriarchat hat ordentlich mitgeschrieben an diesen Gesetzestexten und Handelsabkommen, ebenso Rassismus und Kapitalismus. Auch wenn das Credo »Wohlstand für alle!« sein mag, so stehen doch meist Profit, Dominanz und Konkurrenz im Vordergrund. Selten, aber immer häufiger geht es in den Regeln unserer Weltordnung um Gemeinschaft, Gleichberechtigung und Empathie. Doch wenn es immer die gleichen Mechanismen, Muster und Strukturen sind, die zu Leid und Zerstörung führen, dann müsste es doch auch Lösungsansätze geben, die auf ebendiese grundlegenden, destruktiven Muster passen und damit gleich eine ganze Reihe von Unheil auflösen könnten. Ein Schlüssel für gleich mehrere Schlösser?

Mittlerweile trage ich Kupfer am Arm – links, fast immer, es ist ein dünner Armreif. Er soll den Blutstrom zum Herzen mit guter Energie versorgen, hat man mir dort erzählt, wo ich ihn kaufte. Im Kongo war das. Einem Land, dem über die Jahrhunderte Millionen von Menschen und Tonnen von Rohstoffen geraubt wurden. Außerdem liegt hier nach dem Amazonas der zweitgrößte Regenwald der Erde, das Kongo-Becken. Eigentlich heißt das Land Demokratische Republik Kongo, aber mit der Demokratie ist das so eine Sache, hier wie da. Ob das mit dem Blutstrom und der Energie stimmt, weiß ich nicht. Mein Herz aber versorgt der Armreif.

Regelmäßig schickt er Erinnerungen, Ermunterungen, Mahnungen und Bilder. Auch die von den Paramilitärs aus Ecuador, wo ich meine erste wachrüttelnde Begegnung mit diesem uralten und universellen Rohstoff der Menschheit hatte. Der Druck, Kupfer abzubauen, ist heute um ein Vielfaches größer als 2006; der Kupferpreis steigt und steigt und damit die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Minen aufgerissen werden, auch in Gegenden voller Natur und Artenvielfalt.

Das Kupfer an meinem Handgelenk ist eine Art Versprechen, das ich mir angezogen habe – ein Gelobungsring, ein Auftragsring. Er soll mich an das erinnern, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, mit eigenen Ohren gehört habe – an meine Verantwortung gegenüber diesen Geschichten und diesen Menschen und auch gegenüber der Natur.

Das Kupfer erinnert mich daran, dass meine deutsche, meine europäische Geschichte auf grausame Art und Weise mit der Geschichte anderer Völker verwoben ist. Dass diese Grausamkeit bis ins Heute hineinwirkt. Der Kongo wird noch immer ausgebeutet, heute nur anders als zu Kolonialzeiten. Er ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und gleichzeitig eines der ärmsten und konfliktträchtigsten. Korruption macht vieles möglich. Ähnliches gilt für Lateinamerika, wo in den Jahrhunderten der kolonialen Plünderei ganze Völker ausgelöscht wurden, von wo aus Schiffsladungen voller Silber und Gold auf den europäischen Kontinent verbracht wurden. Diese Wirklichkeit schafft es auch heute kaum durch die Aufmerksamkeitshysterie der Weltnachrichten, und doch ist sie mit unserer Wirklichkeit im Westen durch Geschichten und durch Güter verbunden. Medienschaffende wie -nutzende aber haben kaum Kapazitäten dafür. »Eine Kupfermine in einer artenreichen Region? Hm, ja, tragisch, tragisch. Aber na ja, schlimme Dinge passieren überall auf der Welt. Was hat das mit uns zu tun? Und außerdem: Irgendwo müssen die Rohstoffe herkommen, und du willst ja auch, dass dein Handy funktioniert.« Hm, ja. Aber doch nicht so.

Bei meiner Rückkehr nach Ecuador 2020, 2022 und 2023 verbrachte ich Monate im Nebelregenwald von Intag und einige Zeit im Amazonas. Natur schaue ich heute anders an als zu Teenagerzeiten. Aufgewachsen in einem kleinen fränkischen Dorf im Spessart, wo der letzte Bus um sechzehn Uhr fuhr, habe ich Wälder und Wiesen damals vor allem mit Engstirnigkeit und Eingesperrtsein verbunden. Natur hieß für mich Dorfleben, und das schmeckte nach Cola-Bier an der Tanke, roch nach nassem Hund im Regen und klang wie die Coverband in der Dorfturnhalle am Wochenende. Heute spüre ich nirgends mehr Freiheit und gleichzeitig Verbundenheit mit der Welt als mittendrin im Grün – egal wo auf dieser Welt.

1.

Minero oder Ecologista? Begegnung mit Paramilitärs

Hier sprechen, wie immer, meine Privilegien. Wenn man in der Lage ist, die Realität dessen zu ignorieren, was dieses System tut und immer weiter tut, so ist man daran mitschuldig. Man profitiert in hohem Maße davon. Wer nicht darüber nachdenken muss, wie die Gewinner in diesem Spiel an ihre riesigen Rohstoffreichtümer gekommen sind, profitiert von diesem Reichtum. Die Liste der geplünderten Nationen, der installierten Diktatoren, der von Konzernen finanzierten Aufstände, der inhaftierten Menschen und des zerstörten Landes ist lang.

KAE TEMPEST: ON CONNECTION4

Als die Männer an der Straßensperre von Junín um sich schießen, ahne ich nicht, wie lange mich dieser Moment noch begleiten wird, wie viel er anstoßen wird, wie viel ich von den Männern mit den Waffen und den Menschen in Gummistiefeln lernen werde, über mein eigenes Leben und über die Welt. In dem kleinen Tal mit seinem Kupferkonflikt steigen die Fragen der globalen Welt langsam in mir auf: Woher stammen eigentlich all die Dinge unseres täglichen Lebens? Wer muss dafür wie viel leiden? Können wir das nicht auch anders regeln? Und wenn ja: wie? Wer ist überhaupt »wir«? Darf der Westen denn noch mitreden? Haben »wir« der Welt die Klimakatastrophe nicht erst eingebrockt nach all den Jahrhunderten der grausamen Kolonialisierung, Ausbeuterei und ewigen Naturzerstörung?

Mit Anfang zwanzig, als ich für ein Urlaubssemester in den Flieger nach Quito steige, stelle ich mir diese Fragen noch nicht, sondern mache mich einigermaßen ignorant auf zu meinem Freiwilligendienst.

Ich denke ernsthaft, wenn ich nun schon die Güte besitze und unentgeltlich in Ecuador Englisch unterrichte und hier und da ein bisschen mithelfe, dann müsste ich doch irgendetwas zurückbekommen. Wenigstens kostenlose Busfahrten oder so was. Kinotickets vielleicht? Auf die Idee, dass dieses Land ganz bestimmt nicht auf meine weiße Weltvorstellung und mein bisschen Englischunterricht gewartet hat, auf diese Idee komme ich erst sehr viel später. Und dass Ecuador schließlich zu meinen wichtigsten Lehrer:innen gehören würde, realisiere ich erst jetzt. Besonders der Nebelregenwald hat mir viel beigebracht.

Das Intag-Tal ist eine Überwältigung aus Grün und Getier. Man nähert sich ihm am besten langsam und bedächtig, mit dem gebührenden Respekt. Zum Beispiel mit der klapprigen grün-weißroten Buslinie von Otavalo aus, einer Andenstadt im Norden des Landes. Der Bus quietscht und pfeift vorbei an der Abzweigung zur Vulkan-Lagune Cuicocha und die Berge und Hügel hinunter in immer dichteres Grün hinein, in einen Nebelregenwald voller Flechten und Moose, der immer noch auf gut 2000 Höhenmetern liegt. Die feuchte Wärme und der fruchtbare Boden haben ein triefend-tropfendes Geflecht wachsen lassen, aus Farnen, Lianen und riesigen Bäumen, dazwischen wilde Orchideen, Kolibris, Bergtukane und Brillenbären. Auch Pumas gibt es. Unzählige bedrohte und weltweit einzigartige Tier- und Pflanzenarten leben hier. Der subtropische Nebelregenwald in den Anden zählt zu einem der 36 sogenannten Biodiversitätshotspots der Erde. Manchen gilt er sogar als DER Biodiversitätshotspot überhaupt wegen seiner enormen Vielfalt von Pflanzen, Vögeln, Säugetieren und Amphibien.

Auch Menschen leben in Intag, ungefähr 17 000, verstreut über eine Fläche von knapp 2000 Quadratkilometern, also etwa zweimal so groß wie Berlin. Wenige dieser Menschen sind Indigene, die meisten sind Mestizen, also Nachkommen von spanischen Kolonisator:innen und Indigenen. Auch einige Nachkommen von Sklav:innen leben hier. Fast alle sind Kleinbäuer:innen, oder sie haben kleine Läden und Imbisse. Auf überschaubaren Feldern wachsen – oft durcheinander – Kaffee, Bohnen, Mais, Kakao, Zitrusfrüchte und Maniok, Avocado, Ananas, Papaya, Baumtomaten und vieles mehr. Überall rauscht oder plätschert Wasser. Allein in dem Gebiet, das um das Dorf Junín herum für die Kupfermine konzessioniert ist, liegen die Quellen von 42 Wasserläufen. Der größte Fluss ist der Rio Intag. Weil er so viel Wasser führt, das sich immer weiter durchs Land verzweigt, nennt ihn auch die Regierung einen der wichtigsten Flüsse Ecuadors.

Unter diesem grünen Paradies aber liegt ein großer Schatz verborgen: Kupfer. Außerdem ein bisschen Gold und seltene Erden – unentbehrliche Rohstoffe für die überlebensnotwendige globale Wende weg von fossilen hin zu den erneuerbaren Energien aus Wind, Sonne und Wasserkraft. Vor allem das Kupfer ist hier entscheidend, aber noch ziemlich unterschätzt. In einem E-Auto beispielsweise ist etwa viermal so viel von dem Erz verbaut wie in einem Auto mit Verbrennungsmotor. Eine Offshore-Windturbine braucht bis zu dreißig Tonnen Kupfer, um zu funktionieren, und die Windkrafträder an Land etwa acht Tonnen. Irgendwo muss all dieses Kupfer herkommen. Woher genau, das wissen die Hersteller der Endprodukte in Europa oft selbst nicht, weil die Zwischenlieferer ihre Quellen nicht immer transparent machen (siehe Kapitel 4). Die Lieferketten unserer Computer, Autos und Elektrizität sind so lang und international verflochten wie intransparent. Es ist oft unmöglich, auszuschließen, dass unterwegs Menschen ausgebeutet wurden oder Natur endgültig zerstört wurde. Gleichzeitig steigt der Wert des Kupfers mit der Panik vor der Klimakrise und vor ihren Konsequenzen: Hungersnöte, Kriege, weniger Lebensraum für Mensch und Tier. Paradoxerweise zerstört der Abbau der für die Energiewende nötigen Rohstoffe oft Wälder, Moore, Feuchtgebiete und riesige Ökosysteme, die dem Klima guttäten: In den vergangenen zehn Jahren haben die Ökosysteme an Land rund dreißig Prozent der von Menschen verursachten Treibhausgase wieder absorbiert.5 Sie jetzt für die Energiewende zu zerstören, wäre kontraproduktiv, nicht nur für das Klima, sondern auch für die Pandemien der Zukunft. Je weniger Biodiversität, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Zoonosen wie – sehr wahrscheinlich – Covid-19 entstehen, Erkrankungen durch Viren, die vom Tier auf den Menschen überspringen und eine globale Katastrophe auslösen können.

Im Intag laufen viele Fäden dieser weltweiten Verflechtungen zusammen. Auch treffen hier die verschiedenen Welt- und Menschenbilder aufeinander, die derzeit global miteinander ringen und über die Zukunft des Planeten entscheiden werden. Die einen sehen den Reichtum vor allem in der Natur über der Erde, die anderen eher in den Rohstoffen unter der Erde. Das Kupfer unter den subtropischen Anden soll besonders wertvoll sein, lassen schon die ersten Untersuchungen aus den 1990er Jahren vermuten. Der größte Bergbaukonzern der Welt, BHP aus Australien, und der größte Kupferkonzern der Welt, Codelco aus Chile, haben sich hier Konzessionen oder den Zugriff auf Konzessionen gesichert, aber noch nichts ausgehoben. Noch sind beide Unternehmen in der Explorationsphase, also in der Phase, in der der Boden untersucht, die Bevölkerung vorbereitet wird und erste Straßen- und Bohrinstallationen gebaut werden. Im Intag gibt es neben den großen Konzernen auch illegalen Kleinbergbau, also Leute, die auf eigene Faust graben. Außerdem existieren eine kleine offizielle Goldmine und ein Bergwerk für Zement, ansonsten Berge und Hügel voll fruchtbarem Grün und einige kaum erforschte Stätten einer präkolumbianischen Kultur. Über allem thront der Vulkan Cotacachi. Die Menschen nennen ihn hier Mama Cotacachi, die Felder außen herum ihre Rockfalten. Es gibt Menschen, die im Bergbau eine wirtschaftliche Entwicklung sehen, eine Möglichkeit, ihre Kinder auf Universitäten zu schicken und vielleicht einmal eine Auslandsreise machen zu können. Und es gibt Menschen, die ihr Leben geben würden, damit im Intag keine weitere Mine aufgerissen wird. Eine statistische Erhebung dazu gibt es nicht. Aber alle Menschen, denen ich in meinen ecuadorianischen Monaten auf ihren Kleinfarmen, auf dem Markt oder beim Trampen begegne, frage ich nach dem Bergbau und der Natur. Und immer, immer sagen sie, die Natur hier ist wunderschön, sie ist mein Leben, meine Heimat. Der Bergbau würde alles zerstören. Manchmal fügen sie ein »Aber ich will ja auch ein gutes Leben« hinzu. Einmal nimmt mich ein Mann mit hinaus aus dem Tal und bis ins nächste Städtchen Cotacachi. In der guten Stunde, die wir im Auto über holprige Straßen und durch den Nebelregenwald, der immer wieder Postkartenansichten über die grünen Bergketten freigibt, fahren, erzählt er mir, wie sehr er die Natur hier liebt, dass sie ihm Ruhe und Frieden gibt. Dass er dreißig Jahre für das Zementwerk hier gearbeitet hat, bis sein Arzt ihm sagte, keinen Tag länger oder seine Lunge falle demnächst zusammen. Seine Gesundheit ist ruiniert, die Natur um die Mine herum zerstört, aber seine Kinder sind auf der Universität, und er hat ein schickes Auto. Für ihn ist das ein fairer Deal.

Im Intag geht es also um nichts weniger als um die Deutungshoheit vom guten Leben und um die Zukunft des Planeten. Lässt die Weltgesellschaft zu, dass einer der letzten Biodiversitätshotspots der Erde für das Kupfer der Energie- und Mobilitätswende zerstört wird? Oder findet sie Alternativen? Was ändert sich, wenn die Natur als Subjekt mit eigenen Rechten anerkannt ist?

Ignorantin im Regenwald: Wo bitte geht’s zur Weltenrettung?

2006 bin ich für den Freiwilligendienst knapp vier Monate im Tal. Ich lebe in einer Gastfamilie in einem Dorf mit zehn Häuschen und ohne fließendes Wasser. Ich unterrichte Englisch in einer Dorfschule mit zwei Räumen und einem Volleyballfeld und bin für die kleine Zeitung Periódico Intag unterwegs. Nirgends im Tal gibt es Internet, nur auf zwei Bergen Handyempfang. Das nächste Telefon ist eine gute halbe Stunde mit dem Pick-up entfernt. Es hängt an der Wand im Dorfladen, wo man auch Kekse und Klopapier kaufen kann. Freundschaften entstehen, ein Alltag sortiert sich.

Schon 2006 zieht sich der Konflikt um das Kupfer unter der Erde durch das gesamte Tal – durch Begegnungen, Beziehungen und Ehepaare. Die alles entscheidende Vertrauensfrage, immer: Bist du Ecologista oder Minero? Stehst du auf der Seite der Natur oder auf der Seite der Mine, des Bergbaus, der Naturzerstörung? Ich war und bin immer noch auf der Seite der Natur.

Die ecuadorianische Regierung hatte die Konzessionen damals an das kanadische Unternehmen Ascendant Copper verkauft. Die Bevölkerung wurde nicht informiert und um ihre Meinung gefragt, wie es eigentlich vorgeschrieben war. Regelmäßig drangen Arbeiter des Unternehmens auf das Gelände vor, um Camps und Straßen zu errichten. Die Umweltschützer:innen des Tals versuchten, sie davon abzuhalten, übergaben die Männer regelmäßig der Polizei. Die ließ sie ebenso regelmäßig wieder frei. Schon in den Neunzigern hatte ein japanisches Unternehmen versucht, an das Kupfer unter der Erde zu gelangen, aber unter anderem aufgrund des Widerstands der Leute aufgegeben. Der Konflikt um das Kupfer gehörte 2006 also schon zum Alltag und zur Geschichte des Tals.

Als die Auseinandersetzung eskaliert, bin ich zufällig vor Ort. Kurz vor meiner Abreise zurück nach Deutschland besuche ich das Dorf, das weiter hinten im Tal und mitten in den Konzessionen liegt: Junín. Die Bewohner:innen haben den Eingang mit einer Kette abgesperrt, die sie rund um die Uhr bewachen. Ich gehe mit einer befreundeten Freiwilligen auf einen – wie wir denken – Drei-Tages-Trip ins Hinterland. Helen hat ein paar Monate in dem Dorf gelebt und Freundschaften geknüpft. Wir sprechen mit den Leuten, machen eine kleine Wanderung in die Berge und wollen uns am frühen Morgen nach der zweiten Nacht in einer Hütte aus Holz und ohne Strom auf den Rückweg machen. Doch dann heißt es im frühmorgendlichen Kerzenschein: »Bleibt mal besser hier.« In den letzten Tagen seien in der Umgebung immer wieder mineros gesichtet worden, angeblich auch Männer mit Waffen.

Im Intag gibt es immer Gerüchte und Geschichten, Nachrichten, Tratsch, Lästereien und Aufreger der Woche. Es ist unmöglich, zu entscheiden, was davon stimmt und womit sich jemand einfach nur wichtigmachen will.

Aber diesmal scheint es wirklich ernst zu sein, also bleiben wir.

Helen hat eine kleine Videokamera, ich einen Fotoapparat. Außerdem sind wir weiß und blond, offensichtlich Ausländerinnen. Da werden sie uns schon nichts tun. Wären sie ja schön blöd. Dass genau diese Überlegung in Deutschland zu einem völlig anderen Ergebnis führen würde, der Gedanke kommt uns erst Jahre später bei einem Abendessen auf St. Pauli in Hamburg. Offensichtliche »Ausländer:innen« in Deutschland erfahren in Konfliktsituationen eher Gewalt als keine Gewalt. Wir sehen unsere privilegierte Stellung in dieser Welt als so selbstverständlich an, dass sie uns nicht einmal auffällt.

Es gab damals knapp zehn Freiwillige aus Deutschland in dem Tal. Wir sehen uns nicht oft, weil wir in verschiedenen, weit verstreuten Dörfern wohnen. Nicht weit von meiner Gastfamilie lebt Carlos Zorrilla in einer kleinen weißen Finca auf einem Hügel mitten im Regenwald. Carlos ist einer der zentralen Köpfe im Widerstand gegen den Bergbau. Von Anfang an und auch heute noch. Über die Jahre hinweg trägt er meist Schildkappe und weißen Rauschebart, mal mehr, mal weniger gestutzt. Carlos wurde auf Kuba geboren, hat Che Guevara kurz kennengelernt und weiß seitdem, dass auch Revolutionäre gnadenlos und menschenverachtend sein können. Als Teenager ging er in die USA, studierte später Biologie, arbeitete auf dem Bau und reiste schließlich zwei Jahre lang durch die Welt. Im Intag gefiel es ihm am besten, also kaufte er ein Stück Land und dachte, er könne hier ein ruhiges Leben als Familienvater und Kleinbauer führen. Mit Freund:innen gründete er die Umweltorganisation DECOIN, um abgeholzten Wald wieder aufzuforsten. Doch mehr und mehr wurde aus der Aufforstungsarbeit eine Widerstandsarbeit gegen den Bergbau. DECOIN gewann mehrere Preise, darunter den Äquatorpreis der Vereinten Nationen.

Bei meinem Besuch 2022 ist Carlos 71 Jahre alt. Seine Stimme wurde mit dem Alter brüchiger, seine Bewegungen langsamer. Sein Kopf blieb klar, scheint aber unendlich müde vom ständigen Abwehren irgendwelcher Bedrohungen. »Ich bin es so leid!«, sagt er. »Es ist so anstrengend!«

Aber er sagt auch, es sei doch schon sehr erstaunlich, dass es nach 27 Jahren Konflikt immer noch genügend Menschen gebe, die »nein!« zu der Mine sagen. Es klingt ein wenig Stolz aus seiner Brust und sehr viel Zuneigung. »Sie haben nein zu drei transnationalen Konzernen gesagt, zu Regierungen, Paramilitärs, Polizei und Militär. Polizeirazzien, falsche Anklagen, falsche Verhaftungen, Gefängnis, und es gibt immer noch genug Leute, die NEIN sagen.«

Er selbst steht seit bald dreißig Jahren fast jeden Morgen mit dem Gedanken an die drohende Kupfermine auf. Dann überlegt er, was er heute tun könnte, damit sie nicht aufgerissen wird. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht mindestens eine E-Mail deswegen schreibt, etwas dazu recherchiert, deswegen auf eine Versammlung geht, mit jemandem telefoniert oder in eine andere Stadt fährt.

Das sei extrem anstrengend, gehe an die finanziellen Ressourcen und könne einen schon auch mal depressiv machen, sagt er. »Es gibt wirklich schlechte Tage, aber was mich weitermachen lässt, ist, dass ich erkannt habe, dass ich ein Teil dieses Ökosystems hier bin.« Außerdem sei er ein verantwortungsbewusster Mensch. »Ich bin Teil dieser Gemeinschaft. Deshalb bin ich auch für das Wohlergehen dieser Gemeinschaft mit verantwortlich, für das Wohlergehen der biologischen Gemeinschaft und der sozialen Gemeinschaft.« Deshalb gebe er nicht auf, deshalb mache er immer weiter. Seit fast dreißig Jahren. »Und ich liebe diesen Ort!«

Bei meinem ersten Besuch 2006 sehe ich ihn nur für einen kurzen Nachmittag. Ich weiß nichts über sein Leben und kaum etwas über den Konflikt. Er versucht, uns deutschen Freiwilligen den Regenwald nahezubringen. Kurz danach muss er untertauchen, rund vier Wochen vor dem Übergriff der Paramilitärs in Junín.

Morgens um fünf bekommt er eine Warnung übers Telefon. Einige Polizeiautos seien auf dem Weg zu seiner Finca. Schwer bewaffnete Männer auf den Ladeflächen der Pick-ups. Carlos hat nicht viel Zeit, er flüchtet in Gummistiefeln. Sein Nachbar empfängt die Polizei. Die haben einen Haftbefehl gegen ihn dabei. Er soll einer Frau in Quito bei einer Demonstration Geld und eine Kamera gestohlen haben. Bei der Hausdurchsuchung in seiner kleinen Finca tauchen Drogen und eine Waffe auf. Carlos schwört, sie wurden ihm untergejubelt. Und selbst in einem späteren Gerichtsurteil steht »Drogen gefunden« in Anführungszeichen.

Damals lässt mich die Geschichte erstaunlich kalt. Na ja, Lateinamerika halt, denke ich. Da passieren so Sachen. Und wer weiß, was stimmt und ob Carlos vielleicht tatsächlich Dreck am Stecken hat? Es ist eine von vielen Geschichten, die damals durchs Intag-Tal geistern. Jahre später werde ich ihn erneut treffen, erst in München, dann wieder im Intag. Bis dahin wird es Gerichtsurteile, Dokumente und Dokumentarfilme über die Ereignisse geben und immer offensichtlicher werden: Carlos sollte wohl aus dem Weg geräumt werden.

Kurz vor dem Ende meines Freiwilligendienstes zerschießen die Paramilitärs meine Überheblichkeit und Naivität.

Ich muss noch lange husten und nach Luft ringen. Es ist das erste Mal, dass ich Tränengas einatme. Als ich wieder klar sehen kann, haben sich die bewaffneten Männer einige Meter zurückgezogen, aber die rund dreißig Leute aus Junín schreien noch immer. Vorwürfe und Beleidigungen, die ganze angestaute Wut aus zehn Jahren Konflikt werfen sie den Männern über die Absperrung hinweg entgegen: »Haut ab! Lasst uns endlich in Ruhe! Habt ihr denn keinen Anstand?!« Die Paramilitärs steigen tatsächlich auf ihre Pick-ups und drehen um. Niemand ist ernsthaft verletzt, eine Wade hat einen Streifschuss erlitten.

Ich checke die Fotos: alle scharf, alles gut. Die Szenen habe ich nur durch den Sucher meiner Kamera wahrgenommen. Besonders das Gesicht mit dem dunklen Schnauzer hat sich mir eingebrannt. Auf einem der Fotos sieht es so aus, als fixiere der Mann genau mich. Mit finsterem Blick und erhobener Waffe. Ich bin erstaunlich ruhig.

Die Menschen aus Junín verständigen sich via Walkie-Talkies mit anderen Dörfern und Gemeinden des Tals. Radio Intag berichtet und startet einen Aufruf, doch bitte nach Junín zu kommen und die Leute vor Ort zu unterstützen. Wer weiß, was die Paramilitärs noch vorhaben. Immer mehr Menschen kommen, am nächsten Morgen auch ein Krankenwagen und ein Pfarrer. Die Polizei kommt nicht. Carlos Zorrilla kann auch nicht kommen, er ist wegen des dubiosen Haftbefehls noch immer untergetaucht.

Südamerika ist mit Abstand die tödlichste Region für Umweltaktivist:innen weltweit. Die schlimmste Branche dabei ist der Bergbau, wie aus einer regelmäßigen Erhebung der NGO Global Witness hervorgeht. Für das Jahr 2021 kam sie auf 200 getötete Umweltaktivist:innen weltweit, mehr als die Hälfte davon in Lateinamerika.6 Die Dunkelziffern sind um ein Vielfaches höher. Für 2006 gibt es keine verlässlichen Zahlen.

Helen und ich bleiben noch eine weitere Nacht in den Cabañas von Junín, in einem Holzhaus, das von der Gemeinde für Tourist:innen und Gäste errichtet wurde. Und noch eine Nacht und noch eine Nacht und noch eine Nacht. Jeden Morgen hoffen wir, dass der Ausnahmezustand nun vorbei ist und wir zurück zu unseren Gastfamilien können. Doch es folgen der nächste Abend und der nächste Morgen. In ein paar Tagen geht mein Flieger zurück nach Deutschland. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihn erreichen werde. Die rund 300 herbeigeeilten Helfer:innen aus dem Tal schlafen in Schichten, auf Holzstapeln und Kirchenbänken. Frauen kochen riesige Töpfe voller Bohnen, Reis und Mais über dem Feuer. Ein Schwein wird geschlachtet, es wird Gitarre gespielt und getanzt. Insgesamt dauert die seltsame Episode mit den Paramilitärs sechs Tage.

Der Krankenwagenfahrer nimmt meine Fotos auf einem USB-Stick mit, sie werden in der ecuadorianischen und kanadischen Presse veröffentlicht. Das erfahre ich aber erst hinterher.

Am dritten Tag kommt die Polizei, aber nicht zu Hilfe. Sie hört sich die Geschehnisse an und geht wieder. Es gibt viele Gerüchte, unklare Infos und abstruse Geschichten. Ständig rauschen die Walkie-Talkies. Irgendjemand hat die Paramilitärs weiter oben im Wald gesichtet. Eine Gruppe, die zur Unterstützung kommen wollte, wurde über mehrere Stunden festgehalten, geschlagen und bestohlen. Der Bürgermeister von Cotacachi ist auf dem Weg nach Junín. Jemand vom Bergbauministerium will kommen. Jemand vom Bergbauministerium SOLL kommen! Tausende Pläne werden geschmiedet und wieder verworfen.

Der Plan, der bleibt: Am nächsten Morgen ganz früh geht eine große Gruppe in die Berge und entwaffnet die Paramilitärs. Helen und ich überlegen lange und beschließen schließlich, mitzugehen und wieder Fotos und Videos zu machen. Um drei Uhr in der Nacht stehen wir auf, trinken Kaffee im Kerzenlicht. Oben an der Straßensperre sind die anderen schon im Aufbruch, gut achtzig Leute. Wir nehmen uns noch schnell ein Marmeladenbrötchen, ein Stück frittierter Maniokwurzel und laufen ihnen hinterher. In Gummistiefeln. Alle haben ihre Namen auf eine Liste geschrieben, falls was passiert. Es wird doch nichts passieren?! Der Aufstieg in die grünen Nebelberge ist anstrengend, aber er beflügelt uns mit einer Mischung aus Vorfreude auf ein Ende des Ausnahmezustands und der Angst, dass doch alles schiefgehen könnte. Immerhin besteht der ganze Plan aus der wahnwitzigen Idee, dass die achtzig Bäuer:innen fünfzig bewaffnete Ex-Militärs oder Paramilitärs oder Sicherheitsleute oder was auch immer sie sind mitten im Wald überraschen, entwaffnen und festnehmen sollen.

Nach vier Stunden strammen Marschs durchs steile Grün hält Bolivio Perez, einer der Anführer, die Ansprache vor dem Ansturm, Helen hat es auf Video aufgenommen: »Sind alle da? Ja? Also: Es ist ziemlich sicher, dass die Leute von der Firma zuerst schießen werden. Wenn sie schießen, werden sie in die Luft schießen. Da könnt ihr sicher sein. Wir dürfen nicht in ihre Falle tappen! Die Waffen sollen auf keinen Fall benutzt werden! Ich bitte euch inständig! Bitte glaubt mir: Mit den Waffen werden wir nicht gewinnen. Das hier ist unsere Waffe: dass wir alle aus Intag zusammengekommen sind! Also, wenn es keine Zweifel oder Fragen mehr gibt, gehen wir jetzt los. So geordnet wie nur irgendwie möglich, bitte!«

»Wir sind hier ja nicht bei der Guerilla!«, lacht noch einer, und sie stürmen los. Helen und ich laufen hinterher.

Der Moment der Konfrontation ist extrem angespannt und voller Gebrüll. Die Leute aus Intag überrennen die Männer mit den Waffen beim Mittagessen. Angst, Wut und die Möglichkeit einer totalen Eskalation sirren durch die Luft. Doch die Überrumpelten geben nach viel Geschrei und großen Gesten tatsächlich freiwillig ihre Waffen ab. Die Bäuer:innen eskortieren sie die nassgrünen Steilhänge hinunter nach Junín. Dort werden die Waffen registriert und die 56 Paramilitärs in die Dorfkirche gesperrt. Helen und ich essen schweigend erschöpft im Gras neben der Kirche. Am nächsten Tag soll angeblich der Bürgermeister von Cotacachi kommen. Jetzt aber wirklich.

Der Bürgermeister ist Auki Tituaña, ein Indigener vom Volk der Kichwa. Die Menschen hier halten viel von ihm. Aber er kommt doch nicht am nächsten Tag, sondern weitere zwei Tage später, im Che-Guevara-T-Shirt und zusammen mit einer Staatssekretärin vom Bergbauministerium. Sie haben auch ein paar Männer in Kampfmontur und mit Maschinengewehren dabei. Außerdem meine Fotos von der Schießerei, ausgedruckt und eingeflogen mit einem Hubschrauber über die Berge und Vulkane von Intag.

Die Staatssekretärin hält eine Art improvisiertes Tribunal auf der Wiese vor der Kirche ab. Die 56 Paramilitärs sind immer noch in ihr eingesperrt. Sie wurden in den vergangenen Tagen mit Reis und Bohnen bekocht und weitestgehend in Ruhe gelassen.

Die feinen Schuhe der geschminkten Dame sinken in den weichen Wiesengrund hinter dem Holztisch, der als Pult dienen soll: »Ich lese Ihnen die Verlautbarung vor, weil sie hier ja wahrscheinlich noch nicht angekommen ist. Oder gibt es ein Fax?«

Gelächter aus den Reihen der Gummistiefelträger:innen.

Die Staatssekretärin erhebt die Stimme: »Also: Sehr geehrter Dr. Veintemilla, Geschäftsführer von Ascendant Copper, ich erinnere Sie hiermit daran, dass laut Gesetz zuerst die Umweltverträglichkeitsstudie anerkannt werden muss, bevor Sie hier irgendwelche Aktivitäten auf diesem Gelände durchführen können.«

Jubel im Publikum. Der Konzern muss sich also erst einmal zurückziehen.

Ein paar Tage später geht mein Flieger zurück nach Deutschland. In der ersten Nacht im Bett neben meinem damaligen Partner wache ich auf, sehe seinen Rücken und weiß nicht so recht, wo ich bin. Mein erster Gedanke: Wer ist das? Ein Ecologista oder Minero? Ecologista oder Minero? Ecologista oder Minero? Dann merke ich: »Ah, ok, diese Vertrauensfrage brauche ich hier ja gar nicht zu stellen.« Aber warum eigentlich nicht? Vielleicht ist es gerade in Deutschland mit all seiner Macht, mit all seinem Einfluss und all seinem Geld die entscheidende Frage: Arbeitest du für die Erhaltung oder für die Zerstörung der Natur? Nur: Was genau ist hier der Unterschied?

Die Woche in Junín beschäftigt mich noch lange, sie ist der Ausgangspunkt von vielem. Es ist auch das erste Mal, dass ich erlebe, was Journalismus, was Fotos bewirken können. Und es ist das erste Mal, dass ich mich frage: In welchem System leben wir hier? Woher kommt eigentlich das Kupfer in meinem Laptop, und wer baut meinen Kaffee an? Machen die das auch wie die Kaffeebäuer:innen im Intag in Gummistiefeln, und können sie dabei auf Vulkane blicken?

Die stärkste Frau im Intag-Tal: Eine Bäuerin verklagt ihre Regierung

Sechzehn Jahre nach dem Übergriff lerne ich Cenaida Guachagmira kennen. Auch für sie haben diese sechs Tage im Dezember 2006 ein Davor und Danach markiert. Sie war damals dreizehn Jahre alt und lebte in einem benachbarten Dorf von Junín, in Cerro Pelado. Heute verklagt sie ihre Regierung auf Grundlage der Rechte der Natur in diesem Präzedenzfall. Es geht nicht mehr um die kanadische Firma, sondern um Codelco, und zum ersten Mal hat sich der Präsident Ecuadors als Beteiligter dritten Grades in einen Gerichtsprozess eingeschaltet. Schließlich handelt es sich um die potenziell größte Kupfermine des Landes in einer der biodiversesten Regionen der Welt.

Es ist Januar 2022. Ich bin zum zweiten Mal seit meinem Freiwilligendienst zurückgekehrt nach Intag. Über die Jahre und über das Internet habe ich die Entwicklungen am Rande verfolgt und in anderen Ländern zu anderen Rohstoffen und anderen sozialen Bewegungen recherchiert. Erst nach und nach habe ich gesehen, dass sich der Konflikt und die Lösungsstrategien im Intag in fast allen diesen Geschichten in irgendeiner Facette spiegelten. Sei es beim Landraub in Palästina, bei einer Kindergewerkschaft in der Bergbaustadt Potosí in Bolivien oder auch bei einer Windenergie-Kooperative in einer niedersächsischen Gemeinde. Die Geschichte vom Intag aber wollte lange niemand hören. Zu weit weg, zu komplex, zu unklar die Verbindungen nach Deutschland, das waren die Argumente der Redaktionen. Dann erhalte ich ein Recherche-Stipendium und die Zusage meiner Stamm-Redaktion NDR Info für ein Radio-Feature und kehre 2020 mit der Fotografin Maria Sturm für drei Wochen zurück. Die Geschichte, ihre Relevanz und ihre Menschen beschäftigen mich weiter, und ich komme 2022 noch einmal für ein knappes halbes Jahr nach Ecuador. Von Carlos will