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Welche Rolle sollten Unternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft spielen? Wie können Wirtschaftsunternehmens einen Mehrwert für alle schaffen, und zwar so, dass es die Umwelt nicht schädigt? Kurz: Wie sieht ein verantwortungsvoller, nachhaltiger Kapitalismus aus? Darüber wurde und wird viel diskutiert. Stark beeinflusst haben die Debatte der Schweizer Unternehmer und Umweltschützer André Hoffmann, bekannt durch seine leitende Tätigkeit bei Roche und beim WWF, und der belgische Wirtschaftsjournalist Peter Vanham, die hier ihr neues Buch – ihre Zukunftsvision für Wirtschaft und Gesellschaft – vorlegen. Eindringlich, klar und immer mit praktischem Blick zeigen die beiden renommierten Vordenker aus der Geschäftswelt, wie es gelingt, den Fokus auf die langfristige Wachstumsperspektive zu verlagern, und wie man es vermeidet, kurzfristige Gewinne überzubewerten – damit nachhaltiger Wohlstand für ein Unternehmen, seine Interessengruppen, die Gesellschaft und den Planeten entsteht. Als Beispiele dienen Unternehmen wie Harley-Davidson, Holcim, Schneider Electric und Hoffmanns eigenes Familienunternehmen Roche – Firmen, die die notwendigen Schritte unternommen haben, um ihre natürlichen, sozialen und menschlichen Einflüsse in nachhaltige und positive Auswirkungen umzuwandeln. Aber auch einige kleinere Schweizer Unternehmen, z. B. Innergia, eine lokale Genossenschaft für erneuerbare Energien, beziehen sie ein.
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Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
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André Hoffmann Peter Vanham
Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wohlstand
Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke
NZZ Libro
Der Verlag NZZ Libro wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 by André Hoffmann und Peter Vanham. Alle Rechte vorbehalten.
Titel der Originalausgabe:The New Nature of Business:
The Path to Prosperity and Sustainability
Diese Übersetzung wurde in Lizenz von John Wiley & Sons, Inc. veröffentlicht.
© 2025 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Umschlagabbildung: © Victor Picon
Covergestaltung: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg
Korrektorat:Anna Ertel, Göttingen
Layout, Satz: Claudia Wild, Konstanz
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
Herstellerinformation: Schwabe Verlagsgruppe AG, NZZ Libro, Grellingerstrasse 21, CH-4052 Basel, [email protected]
Verantwortliche Person gem. Art. 16 GPSR: Schwabe Verlag GmbH, Marienstraße 28, D-10117 Berlin, [email protected]
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.
ISBN Print 978-3-03980-006-3
ISBN E-Book 978-3-03980-007-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
(Von André:) Für meine Frau und meine ganze Familie.
Langfristiges Denken ist der Schlüssel!
(Von Peter:) Für Valeria, Eloise und Amélie, die meine «neue Natur», ein Ehemann und Vater zu sein, definiert haben.
Prolog
Einführung
Kapitel 1 Der Mythos des Gründers und die Kapitalien eines Unternehmens
Kapitel 2 Ein Naturschützer und sein Kampf für das natürliche Kapital der Welt
Kapitel 3 Auf der Suche nach dem Kompass für eine neue Art der Unternehmensführung
Kapitel 4 Die Firma Roche heute
Kapitel 5 Die Wurzeln der neuen Art des Wirtschaftens
Kapitel 6 Mit Bedacht bauen und mit gutem Beispiel vorangehen
Kapitel 7 Vom Abfall-Typ zum Superhelden
Kapitel 8 Eine neue Welt von Geschäftsmodellen
Kapitel 9 Das neue Wesen der Unternehmensführung
Kapitel 10 Epilog
Danksagungen
Über die Autoren
Anmerkungen
Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und der turbulente Beginn seiner neuen Amtszeit werfen die Frage auf, ob es uns noch gelingen kann, eine neue Art des Wirtschaftens zu verwirklichen, oder ob wir stattdessen zu den schädlichen und verschwenderischen Praktiken der Vergangenheit zurückkehren werden. Doch ich bleibe optimistisch. Die Wissenschaft ändert sich nicht aufgrund von Vorschriften. Der Klimawandel lässt sich nicht durch ein Dekret des Präsidenten aufhalten.
Die ersten Anzeichen von jenseits des Atlantiks waren natürlich nicht hoffnungsvoll. Im Januar 2025 traten die USA zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aus.1Wochen später kündigte die US-Regierung alle möglichen Mittelkürzungen an, was UN-Organisationen, aber auch ihre eigene Umweltschutzbehörde betraf.2 Einige der weltweit wichtigsten Klimaforschungszentren, wie die National Oceanic and Atmospheric Administration,3 waren ebenfalls davon betroffen.
Doch der vielleicht besorgniserregendste Teil der politischen Agenda von Präsident Trump ist die damit einhergehende Zensur. Wichtige Regierungsbehörden, vom Verteidigungs- bis zum Außenministerium und vom Landwirtschafts- bis zum Verkehrsministerium, haben seit seinem Amtsantritt Hinweise auf den Klimawandel von ihren Internetseiten entfernt.4 Und zunehmend werden US-Bundesmittel für wissenschaftliche Forschungen, in denen das Wort «Klima» auch nur erwähnt wird, gestrichen.5 Mit anderen Worten: Die derzeitige Regierung versucht, die Geschichte umzuschreiben.
Diese radikalen politischen Veränderungen wirken sich auch auf die Geschäftswelt aus. Nach der Wahl von Donald Trump kündigten sechs große US-Banken an, sie würden die Net Zero Banking Alliance verlassen.6 Andere Unternehmen hatten die Zeichen der Zeit bereits vorher erkannt und ihre Klimaziele nach unten korrigiert oder deren wissenschaftliche Bewertung im Laufe des Jahres 2024 zurückgefahren7; und um das Bild zu Beginn des Jahres 2025 zu aktualisieren: zahlreiche in den USA tätige Unternehmen wurden in den letzten Monaten von der Regierung angewiesen, sich an die neuen Spielregeln zu halten, sei es in Bezug auf DEI8, oder in Bezug auf Nachhaltigkeit.9 Ausnahmen sind mir nicht bekannt.
Infolgedessen erlebt die Industrie für fossile Brennstoffe in den USA und weltweit eine Renaissance. Exxon beispielsweise hatte sich nie vollständig auf die Umstellung auf erneuerbare Energien eingelassen und verdoppelt nun stolz seine Ölförderung und -ausbeutung.10 BP und Shell gehören inzwischen zu jenen Unternehmen, die ihr Handeln überdenken und sich wieder auf ihr Kerngeschäft mit Öl und Gas zurückbesinnen. Zudem setzen sich die Lobbygruppen der amerikanischen Wirtschaft, ermutigt durch ihre neue Regierung, auch in der Europäischen Union für eine Lockerung der Nachhaltigkeitsbestimmungen ein.11 All dies verheißt nichts Gutes für die neue Art des Wirtschaftens.
Doch wie der englische Historiker Thomas Fuller vor vielen Jahrhunderten in einem Gedicht schrieb: «Die dunkelste Stunde der Nacht kommt kurz vor dem Morgengrauen.» Während die Klimaschutzmaßnahmen von Unternehmen in der Tat stark unter Druck geraten sind, schreiten die Bemühungen in anderen Bereichen, wie z. B. dem Naturschutz und der Biodiversität oder der Entwicklung der Bilanzierung nach den verschiedenen Kapitalformen, weiter voran. Und während die US-Regierung bei der Umsetzung der neuen Naturschutzagenda Rückschritte macht, setzen andere Länder und Regionen, wie die Schweiz und die Europäische Union sowie China, Japan und andere Teile Asiens, ihre Bemühungen fort.
So hat beispielsweise in China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, Präsident Xi das Streben nach einer «ökologischen Zivilisation» 2017 in die Verfassung der Regierungspartei aufgenommen.12Seitdem hat diese Idee weite Teile der Gesellschaft und der chinesischen Politik geprägt. Chinesische Unternehmen sind heute weltweit führend in der Entwicklung und Vermarktung von Elektrofahrzeugen und deren Batterien, in der Solarenergie und in verschiedenen anderen «sauberen» Technologien, wie beispielsweise der Wasserstofftechnologie,13 und die chinesische Regierung kommt den Forderungen ihrer Bürger nach saubereren und grüneren Städten in zunehmendem Maße nach.
Die Bemühungen Chinas – wie auch diejenigen der näher gelegenen Länder in der Europäischen Union und der Schweiz – müssen noch viel weiter gehen und deutlich beschleunigt werden. Sie müssen außerdem diejenigen Teile der Wirtschaft mit erfassen, die sich noch in die entgegengesetzte Richtung bewegen, wie z. B. bei den zahlreichen Kohlekraftwerken, die nach wie vor große Teile der Wirtschaft mit Energie versorgen.14
Ich bin zuversichtlich, dass der Trend zu mehr Nachhaltigkeit in China von der Wahl von Präsident Donald Trump in den Vereinigten Staaten nicht beeinträchtigt wird. Während Trump amerikanische Unternehmen auffordert, nach dem Motto «Drill, Baby, drill (Bohr, Baby, bohr)»15 mehr fossile Brennstoffe zu fördern, sind China und andere asiatische und europäische Volkswirtschaften zweifellos weiterhin auf dem Weg zu mehr, nicht weniger Klima- und Naturschutzmaßnahme. Und dank der bestehenden Marktkräfte schreitet der grüne Wandel laut Wissenschaftlern selbst in den USA mit großen Schritten voran.16
Das Gleiche gilt für Graswurzelbewegungen wie B Lab in der Schweiz und in Deutschland oder für Hochschul- und Mitarbeitergruppen von INSEAD bis Roche.
Wie Sie in diesem Buch erfahren werden, ebnen große Unternehmen wie IKEA, Schneider Electric und auch unser Familienunternehmen Roche sowie lokale Unternehmen wie Innergia, eine Schweizer Kooperative für erneuerbare Energien, den Weg für die Schaffung und Durchsetzung der neuen Natur des Wirtschaftens. Sie tun dies unabhängig davon, welche politische Agenda anderswo verfolgt wird.
Deshalb glauben wir, dass es wichtiger denn je ist, diesen Kurs beizubehalten und die Bestrebungen für eine neue Art des Wirtschaftens auszuweiten. Durch die Aufrechterhaltung dieser kritischen Masse wird sich das Gleichgewicht in Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend in Richtung einer nachhaltigeren und inklusiveren Zukunft verschieben.
Statt uns von den letzten Zügen des alten Systems demotivieren zu lassen, sollten wir an der Vorstellung festhalten, dass das neue System bereits auf dem Weg ist. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende Lektüre und hoffen, dass sie sich uns anschließen, um die neue Natur des Wirtschaftens gemeinsam zu verwirklichen, die wir so dringend benötigen.
André Hoffmann
März 2025
Es war an einem regnerischen Nachmittag des Jahres 2003, als ich den Anruf erhielt, der den Anfang vom Ende des damals 107 Jahre alten Unternehmens meiner Familie hätte einläuten können. «Sie müssen sofort nach Basel kommen», sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. «Kommen Sie in mein Privathaus.»
Beunruhigt stieg ich in meinen Wagen, gab die Adresse in das damals noch völlig neue GPS-Navigationssystem ein … und verirrte mich fast. (Die GPS-Navigation funktionierte damals noch nicht so reibungslos und zuverlässig wie heute!) Im strömenden Regen wies mir das Gerät den Weg von meinem Haus durch die bewaldeten Nebenstrassen der Schweiz bis in die nördliche Grenzstadt Basel. Ich fühlte mich wie in einem Film.
Als ich endlich an meinem Ziel angekommen war, erfuhr ich die Neuigkeiten. «Wir haben soeben einen Anruf von Novartis erhalten», sagte Fritz Gerber, der damalige Vorsitzende unseres Familienunternehmens Roche und ein Vertrauter meiner Familie. «Sie sind an der Übernahme der Familienanteile interessiert.»
Mit dieser Nachricht hatte ich nicht gerechnet. Seit mehr als 100 Jahren hatten mein Urgrossvater Fritz Hoffmann und seine Nachfahren dazu beigetragen, Roche von einem experimentellen pharmazeutischen Start-up zu dem weltweit führenden Pharmaunternehmen zu machen, das es war, als ich Mitte der 1990er-Jahre in den Verwaltungsrat eintrat. Während der letzten Jahrzehnte war Roche zu einem der grössten Pharmaunternehmen der Welt geworden. Es war sicherlich auch eines der weltweit grössten Unternehmen, das von der Inhaberfamilie kontrolliert wurde – und meine Familie hatte nie die Absicht gehabt, dieses Vermächtnis zu ändern.
Wir hatten Höhen und Tiefen erlebt, welche sowohl das Schicksal des Unternehmens als auch dasjenige unserer Familie betrafen. Dennoch hatte das Unternehmen langfristige Werte geschaffen und pflegte eine symbiotische Beziehung zu unserer Heimatstadt Basel, zur Schweiz und der Gesundheitsindustrie im Allgemeinen. Es war uns selbst dann gelungen, die Mehrheit der stimmberechtigten Aktien unseres Unternehmens zu halten, als sich unsere Gesamtbeteiligung, durch die Auswirkungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, verringert hatte. Nun hatte ein grosser Minderheitsaktionär seine Stimmrechtsaktien an Novartis verkauft.
* * *
Während ich die Nachricht verarbeitete, dachte ich darüber nach, was eine mögliche Fusion bedeuten würde. Was würde sie für Basel, die Schweiz, die Pharmaindustrie oder die Wirtschaft im Allgemeinen bedeuten? Novartis war unser Nachbar auf der anderen Seite des Rheins. Das Unternehmen war aus der Fusion zweier unserer Konkurrenten aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen – Sandoz und Ciba Geigy. Ich schätzte das Unternehmen als einen Mitbewerber, der uns stets wachsam bleiben liess. Es erinnerte uns ständig daran, dass Innovation und Wettbewerb in einer freien Marktwirtschaft überlebenswichtig sind. Aber niemand in der Familie hatte je die Absicht zu fusionieren, und wir waren nicht die Einzigen, die das so sahen. «Das Brot ist besser in einer Stadt mit zwei Bäckern», pflegte einer unserer neuen Topmanager zu sagen. Das fusionierte Unternehmen würde zu einer Marktkonzentration führen, mit Sicherheit in Basel und in der Schweiz und bis zu einem gewissen Grad auch in der weltweiten Pharmaindustrie. Für das fusionierte Unternehmen würde dies eine Menge sozialer Unruhen mit sich bringen – und es war auch nicht sicher, ob eine Fusion für andere Interessengruppen vorteilhaft wäre.
Dennoch standen wir vor einer schwierigen Entscheidung. Eine Fusion würde zwar das Ende unseres Besitzes bedeuten, dem fusionierten Unternehmen aber auch einen Neuanfang ermöglichen. Als Familie hatten wir uns jahrzehntelang aus dem operativen Geschäft von Roche herausgehalten, vor allem seit dem frühen Tod meines Grossvaters bei einem Autounfall in den 1930er-Jahren. Der Ansatz, das Tagesgeschäft des Unternehmens in die Hände von Nicht-Familienmitgliedern zu legen, hatte lange Zeit gut funktioniert, doch mittlerweile zeigten sich erste Risse. Nur wenige Jahre zuvor war unser Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, als es in den USA wegen eines Skandals um die Festsetzung von Vitaminpreisen verurteilt wurde. Roche musste eine Geldstrafe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar zahlen. Und wir alle, die wir mit dem Unternehmen verbunden waren, mussten akzeptieren, dass dies unter unserer Aufsicht geschehen war. Die Tatsache, dass wir als Eigentümer von solchen Praktiken nichts gewusst und sie nicht verhindert hatten, hatte auch bei uns selbst Zweifel an unserer Fähigkeit aufkommen lassen, das Unternehmen ins 21. Jahrhundert zu führen. Wäre der vorgeschlagene Zusammenschluss nicht letztlich für alle Beteiligten besser?
Als ich mitten in der Nacht von Basel nach Hause zurückfuhr, gingen mir diese widersprüchlichen Gedanken durch den Kopf. In meiner Rolle als eines von nur zwei Familienmitgliedern im Verwaltungsrat würden viele meiner Verwandten eine erste Reaktion von mir erwarten. Und ich musste zugeben: Wenn jemand ein Angebot für unser gesamtes Unternehmen machte, dann lag das wahrscheinlich daran, dass das Unternehmen unterbewertet war. Wir – und ich – mussten gründlich darüber nachdenken, worin unser Mehrwert als Familieneigentümer bestand.
Wir mussten auch die sich uns unmittelbar stellende Frage beantworten: Sollten wir den «sicheren» Weg des Verkaufs gehen und die Fusion der beiden Industrieunternehmen zulassen? Oder waren wir bereit, im Alleingang weiterzukämpfen, vielleicht mit einem kurzfristig geringeren finanziellen Ertrag, dafür aber möglicherweise mit einem besseren langfristigen Ergebnis für die Aktionäre und Interessengruppen?
* * *
Denke ich heute an diese Ereignisse vor zwei Jahrzehnten zurück, so wird mir klar, dass meine Vision für unser Unternehmen, sowie meine Interpretation der Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft in diesem Moment der Krise ihren Ursprung nahmen.
Tatsächlich bewahrten wir unsere Unabhängigkeit und bauten das Unternehmen Roche für das 21. Jahrhundert auf, indem wir dem Leitgedanken folgten, «jetzt das zu tun, was Patienten als Nächstes benötigen». In den Jahren nach dem Übernahmeangebot wurden Medikamente wie Tamiflu und mehrere unserer Medikamente zur Krebstherapie zu grossen Erfolgen, die Millionen von Menschen halfen und den Wert unseres Unternehmens für Patienten unter Beweis stellten. Sie erwiesen sich auch als finanzielle Bestätigung unseres Ansatzes: In den 2010er-Jahren übertraf Roche die Marktkapitalisierung von Novartis, während es zum Zeitpunkt des Übernahmeangebots noch hinter Novartis gelegen hatte.
Doch bevor wir dieses Ziel erreichten, gab es viele Dinge zu klären, unter anderem über unsere Bestimmung. Ich musste für mich und meine Familienmitglieder definieren, wie die von mir vorgeschlagene Alternative zu einer Fusion aussehen würde – und warum sie besser war. Während ich darüber nachgedacht hatte, war ich zu folgender Grundüberzeugung gelangt: Ein Unternehmen existiert nicht ausschliesslich, um kurzfristig Geld für seine Aktionäre zu erwirtschaften. Novartis, Roche und jedes andere Unternehmen sollte nicht einfach nur darauf abzielen, den Gewinn oder die «Gesamtrendite für die Aktionäre» des nächsten Quartals oder Jahres zu maximieren. Aus der eng gefassten Sicht der «treuhänderischen Pflicht» wäre natürlich jeder wohlmeinende Berater entschuldigt gewesen, wenn er damals meiner Familie – oder jedem Aktionär jedes anderen Übernahmekandidaten – gesagt hätte, es sei besser, zu verkaufen. Doch das hätte nicht zu dem beigetragen, was ich heute als die zentrale Verantwortung eines Unternehmens und seiner Eigentümer betrachte: die Schaffung von nachhaltigem und umfassendem Wohlstand. Ich kam zu der Überzeugung, dass das neue Wesen der Unternehmensführung darin bestehen müsse, einen Mehrwert für die Gesellschaft zu schaffen, und zwar auf eine inklusive Art und Weise, die der Umwelt keinen Schaden zufügt.
Warum möchte ich diese Geschichte und die meiner Lebensreise erzählen? Weil die Gesellschaften, denen wir angehören, nach vielen Jahrzehnten des Friedens und des Wohlstands mit Turbulenzen und sogar existenziellen Bedrohungen konfrontiert sind. So wie die Mitglieder meiner Familie und ich vor 20 Jahren an einem Scheideweg standen (oder die früheren Verwalter von Roche in der turbulenten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), denke ich, stehen auch wir heute vor einem Scheideweg. In meiner Familie bereitet sich eine neue Generation darauf vor, das Unternehmen und die Wirtschaft in eine neue Richtung zu lenken. Der engere Rahmen, in dem meine Kinder und ihre Cousins und Cousinen das Familienunternehmen neu erfinden müssen, besteht darin, dass neue Roche-Produkte und -Angebote auf den Markt gebracht werden müssen, da die vorherige Generation von «Blockbustern» an Attraktivität verliert. Doch die nächste Generation muss das Geschäftsmodell auch in einem weiteren Kontext neu erfinden, da es sich kein Unternehmen in ökologischer und gesellschaftlicher Hinsicht mehr leisten kann, nicht nachhaltig zu sein. Unternehmen müssen regenerativ sein und der Gesellschaft und dem Planeten mehr geben, als sie ihm wegnehmen, sei es in Bezug auf die natürlichen Ressourcen, die Finanzen, die Menschen oder die Gesellschaft.
Wir alle haben noch nicht verstanden, wie wir diese Herausforderung meistern können, und die Zeit läuft uns davon. Werden wir weiterhin kurzfristig und aus reinem Eigeninteresse denken und handeln, oder werden wir einen aufgeklärteren Ansatz wählen? Ich hoffe, dass sich die jetzige und die nächste Generation bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage auf die Einsichten stützen kann, die ich im Laufe der Jahre in der Leitung von Roche gewonnen habe.
* * *
Natürlich können Unternehmen und ihre Eigentümer, Führungskräfte und Mitarbeiter nicht jede der vielfältigen Krisen lösen, mit denen wir heute konfrontiert sind – zumindest nicht allein. Wenn wir jedoch unsere Verantwortung wahrnehmen, können wir mit Sicherheit mehr tun, als wir es heute tun, um den nachhaltigen und integrativen Wohlstand zu schaffen, den wir so dringend benötigen. Die heutigen Wirtschaftsakteure zerstören immer noch mehr Werte, als sie schaffen, vor allem weil sie die natürlichen, sozialen und menschlichen Nebeneffekte, die sie verursachen, nicht berücksichtigen. Das bedrückt mich, denn es bedeutet, dass wir schlafwandelnd auf weitere Katastrophen in der Zukunft zusteuern.
Allerdings bin ich auch kein Weltuntergangstheoretiker. Meine Frustrationen führen mich weder zur Verzweiflung noch zu einer pauschalen Anklage gegenüber meinen Mitmenschen. Ich glaube nicht, dass wir angesichts der Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, hilflos sind. Ich glaube nicht, dass wir eine Revolution brauchen, um die Dinge zu ändern. (Der Familie meiner Mutter wurde ihr Besitz in Mitteleuropa weggenommen, nachdem eine Revolution die Kommunisten dort an die Macht gebracht hatte. Sie würden mir ein solches Versäumnis, aus der Geschichte zu lernen, nicht verzeihen.) Tatsächlich bin ich nicht nur Umweltschützer, sondern auch Kapitalist, und ich glaube, dass der Kapitalismus die Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen, geben kann.
Als stellvertretender Vorsitzender eines Familienunternehmens verdanke ich den Wohlstand, den ich geniesse, dem Privateigentum, dem freien Handel, dem Wettbewerb und der Innovation, von der unser Unternehmen profitieren konnte. Gleichzeitig hat auch die Gesellschaft, der ich angehöre, vom Unternehmergeist unseres Familienunternehmens profitiert. Dass Basel heute so wohlhabend ist, verdanken wir den Unternehmern, die die Stadt im Laufe der Jahrhunderte geprägt und Industrien aufgebaut haben, die der ganzen Region Beschäftigung und Wohlstand brachten. Auf globaler Ebene haben die pharmazeutischen Innovationen von Roche und anderen ähnlichen Unternehmen das Leben der meisten Menschen verbessert, die heute Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Daher glaube ich, dass meine Familie aus gutem Grund dafür gekämpft hat, unsere Roche-Eigentumsrechte über Generationen hinweg zu erhalten: Langfristige Verwaltung von Vermögenswerten kann zu langfristigen Investitionen, Innovationen und Fortschritten führen und dazu beitragen, die Lebensqualität ganzer Gemeinschaften zu verbessern.
Ich glaube jedoch auch, dass wir gemeinsam einen aufgeklärteren Umgang mit dem Kapitalismus benötigen. Der Grund dafür ist, dass Wohlstand nicht nur durch das Finanzkapital einzelner Unternehmer geschaffen wird. Er ist auch das Ergebnis von gesellschaftlichem, natürlichem und menschlichem Kapital, das in der gesamten Gesellschaft und auf unserem Planeten zu finden und aufzubauen ist. Wollen wir unser System des demokratischen Kapitalismus bewahren, so müssen wir sicherstellen, dass unser System auf lange Sicht nachhaltig und für alle von Nutzen ist. Das ist (nicht nur) ein moralischer Imperativ; es ist eine Frage des langfristigen Überlebens des Systems, und es untermauert die demokratische Seite des Kapitalismus.
In diesem Buch stellen mein Mitautor Peter Vanham und ich einige der Konzepte und Fallbeispiele vor, über die ich in den letzten 20 Jahren nachgedacht habe, als ich versuchte, die Grundsteine zu legen, auf denen der Weg zu einem nachhaltigeren und integrativeren Wirtschaftssystem beschritten werden könnte. Einige davon wurden bei Roche gelegt, als das Unternehmen nach dem Übernahmeangebot seinen eigenen Weg suchte. Andere Beispiele stammen von anderen Unternehmen und Führungskräften, die ich kennen- und schätzen gelernt habe. Und wieder andere befinden sich derzeit noch im Versuchsstadium, bevor eine breite Umsetzung (hoffentlich bald) folgen wird. Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass all diese Steine zusammen noch keine vollständige Lösung ergeben. Ebenso wenig entgeht mir die Ironie, dass ein Milliardär über Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit schreibt. Aber wir müssen alle an einem Strang ziehen, um eine nachhaltigere Zukunft zu schaffen, und dies ist mein Versuch, einen Beitrag dazu zu leisten.
Bei der Abfassung dieses Buches habe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen und die unseres Familienunternehmens gestützt. Ich erzähle persönliche Anekdoten und Unternehmensgeschichten aus der Vergangenheit, die Sie hoffentlich inspirieren, weil sie entweder Erfolge zeigen oder die Möglichkeit bieten, aus Misserfolgen zu lernen. Und ich blicke in die Gegenwart und Zukunft und stelle Ideen und Vorgehensweisen vor, von denen ich glaube, dass sie uns allen in Zukunft helfen werden, einen nachhaltigen, umfassenden Wohlstand zu schaffen. Es handelt sich dabei um Herausforderungen, zu deren Bewältigung ich hoffentlich beitragen kann, die aber grösstenteils von denen gelöst werden – oder auch nicht –, die nach mir kommen: Meinen Kindern und allen anderen jungen Menschen auf der Welt. Ich hoffe, dass dieses Buch für sie (und für meine Leser) eine Hilfe sein kann, entweder weil es dazu beiträgt, das Verhalten derjenigen zu ändern, die heute an der Macht sind, oder weil es diejenigen ermutigt, die nach uns kommen werden. Ihnen allen wünsche ich eine anregende Lektüre.
Dieses Kapitel ist aus André Hoffmanns Perspektive geschrieben.
Mein Urgrossvater, Fritz Hoffmann-La Roche, war ein visionärer Unternehmer. Seit 1896 war er ein Pionier der aufstrebenden pharmazeutischen Industrie und meisterte dabei unzählige Hürden und Herausforderungen. Er ging sogar beinahe in Konkurs. Doch als er starb, hatte er ein multinationales Unternehmen aufgebaut, das noch heute zu den grössten und einflussreichsten Pharmaunternehmen der Welt zählt.
Ich liebe es, auf diese Geschichte zurückzublicken, obwohl sie einen problematischen Aspekt hat: Sie konzentriert sich zu sehr auf die Leistungen einer einzelnen Person.
Man hört oft, dass unternehmerischer Erfolg das Ergebnis von individuellem Genie, Unternehmergeist und Beharrlichkeit ist. Es heisst, dass Gründer eine besondere Art von Menschen sind, die sich von uns unterscheiden. Dass sie Lösungen sehen, wo andere Hindernisse erblicken. Dass sie die Zukunft sehen, wo wir nur die Gegenwart wahrnehmen. Und dass sie Erfolg haben nicht aufgrund der Umstände, sondern weil sie dazu bestimmt sind, erfolgreich zu sein und alles zu tun, was erforderlich ist, um diese Bestimmung zu erfüllen.
Dieser Mythos umgibt nicht nur meinen Urgrossvater, sondern auch einige der derzeit reichsten Männer der Welt, wie Elon Musk, Bill Gates und andere Milliardäre aus dem Silicon Valley. Musk war Mitbegründer von PayPal und sagte die Zukunft des Online-Zahlungsverkehrs voraus. Ausserdem war er an der Gründung des Elektroauto-Pioniers Tesla beteiligt, den er zum wertvollsten Automobilunternehmen der Welt ausbaute. Mit Firmen wie SpaceX, Neuralink und xAI setzt er seine geschäftlichen Unternehmungen fort und leistet in allen Bereichen von der Raumfahrt bis zur künstlichen Intelligenz (KI) Pionierarbeit. Gates machte die moderne Computertechnik für die breite Masse zugänglich, indem er den Personal Computer (PC) durch die Windows- und Office-Software von Microsoft populär machte. Beide Unternehmer bauten Geschäftsimperien auf, die den menschlichen Fortschritt beförderten und die Gesellschaft voranbrachten.
Diese Mythen sind, genau wie bei meinem Urgrossvater, jedoch irreführend. Nicht weil sie de facto falsch sind, sondern weil sie das Gesamtbild verfehlen.
Fritz Hoffmann-La Roche war genau so, wie ich ihn oben beschrieben habe. Doch er war auch ein Kind seiner Zeit und der Welt, die ihn umgab. Für seinen Erfolg konnte er sich auf mehrere «Kapitalien» stützen, die ihm in einzigartiger Weise zur Verfügung standen. Dazu gehörte das Finanzkapital, das ihm von seinem Vater, seinem Schwiegervater und anderen Familienmitgliedern und Partnern zur Verfügung gestellt wurde. Darüber hinaus standen ihm in Basel, der Stadt am Rhein, in der er geboren wurde und fast sein ganzes Leben verbrachte, soziales, natürliches und Humankapital zur Verfügung.
In diesem Kapitel geht es um diese Kapitalien. Wir werden untersuchen, welche Rolle sie im Zusammenhang mit dem Erfolg von Roche spielten, dem Unternehmen, an dem meine Familie bis heute eine Mehrheitsbeteiligung besitzt. Und wir werden zeigen, dass diese Kapitalien für den Kapitalismus von heute und morgen ebenso relevant sind wie zur Zeit von Fritz und seiner Familie am Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Bedeutung von Finanzkapital ist nicht zu unterschätzen, wird aber leicht übersehen. Mein Urgrossvater, der 1868 geboren wurde, hatte das Glück, zu einer Zeit Zugang zu Finanzkapital zu haben, in der nur wenige Menschen diese Möglichkeit hatten. Als er volljährig wurde, entstanden in der Stadt neue Unternehmen mit chemischen und pharmazeutischen Herstellungsverfahren. Im Jahr 1893 trat er in ein solches Unternehmen, Bohny, Hollinger & Cie, ein, das in der Stadt Bohnerwachs und Seife herstellte und ein Kaufhaus mit einem neu entstehenden pharmazeutischen Angebot betrieb.
Mit zunehmender Erfahrung in diesem Unternehmen entwickelte Fritz eine Vision:Wenn es einem Unternehmen gelänge, die Herstellung von Sanitär- und Pharmaprodukten zu industrialisieren, so dachte er, könnte es Drogerien in der ganzen Welt beliefern und genauso erfolgreich werden wie jedes andere Industrieunternehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Die erste war natürlich das Geld. Dank seines Vaters Friedrich, eines erfolgreichen Geschäftsmanns, war das keine unüberwindbare Hürde. Schon bald investierte sein Vater die beachtliche Summe von 200000 Schweizer Franken in die Firma Bohny, Hollinger & Cie, und Fritz wurde in der Folge zum Prokuristen befördert.1
Die Idee, in der Pharmaindustrie Pionierarbeit zu leisten, war vielversprechend, wenn auch riskant. Zu der Zeit, als mein Urgrossvater auf den Plan trat, waren Industrielle bereits in Schwerindustrien wie der Stahl- oder Kohleindustrie, der Eisenbahn- und der Textilindustrie erfolgreich. Sobald ein erfolgreiches industrielles Verfahren gefunden war, war der Weg zum Erfolg klar definiert: Man investierte das für den Bau einer Fabrik erforderliche Kapital und danach folgte der Rest. Es wurden neuartige Maschinen installiert, Personal eingestellt, Rohstoffe in grossen Mengen eingekauft und die Industrieprodukte schliesslich auf neu geschaffenen Märkten verkauft. Dies war das Rezept von Industriellen wie Robert Owen (Textilindustrie, Grossbritannien), Andrew Carnegie (Stahlindustrie, USA) oder Ernest Solvay (Chemieindustrie, Belgien).
Pharmazeutische Produkte wurden jedoch noch weitgehend in kleinen handwerklichen Apotheken hergestellt, in denen ein Apotheker vor Ort die verschiedenen Produkte zubereitete, die seine Apotheke anbot. Fritz ahnte allerdings, dass auch dieser Sektor reif war für die Industrialisierung.
Genauso wichtig wie das Vorhandensein von Kapital ist es jedoch, den Zugang dazu zu behalten. Das galt in den späten 1890er-Jahren genauso wie heute. Fritz wurde mit dieser zeitlosen Wahrheit früher konfrontiert, als ihm lieb war. Schon bald überwarf er sich mit seinen konservativen Geschäftspartnern, denen sein moderner Stil missfiel. Er sah sich gezwungen, entweder seine früheren Investitionen zu verdoppeln und das gesamte Unternehmen zu übernehmen oder den Verlust abzuschreiben. Mit der finanziellen Hilfe seines Vaters und des Fabrikdirektors des Unternehmens, Max Carl Traub, konnte er sich für den ersten Weg entscheiden. Am 2. April 1894 gründeten sie die neue Firma Hoffmann, Traub & Co.
Die Idee, Arzneimittel industriell herzustellen, mochte gut gewesen sein, doch ihre Umsetzung war zur damaligen Zeit nicht so einfach. Das erste Produkt des Unternehmens, ein Wunddesinfektionsmittel namens Airol, verkaufte sich anfangs nicht gut.2 Doch anstatt zu resignieren, machte Fritz weiter. Er liess sich 1895 in Mailand nieder und begann ab Mai 1896 mit dem Kauf von Grundstücken und dem Aufbau einer eigenen pharmazeutischen Firma in Grenzach (Deutschland). Zu diesem Zeitpunkt wollte sein Geschäftspartner Traub jedoch das Unternehmen verlassen. Er sah in der raschen Expansion der Firma, die nicht auf einem soliden Verkaufserlös beruhte, ein grosses Risiko für seine Investition und bat Fritz darum, ihm seinen Anteil auszuzahlen. Dazu war Fritz im September 1896 erneut nur mit der (nunmehr sehr widerwillig gewährten) finanziellen Hilfe seines Vaters in der Lage. Die Firma F. Hoffmann-La Roche & Co. wurde daraufhin am 1. Oktober 1896 in das Handelsregister eingetragen. Fritz hatte in der Zwischenzeit Adèle La Roche geheiratet und ihren Namen seinem hinzugefügt, sodass der Firmenname Hoffmann-La Roche entstand.
Auch wenn ihm in den kommenden Jahren persönliche Beharrlichkeit und pharmazeutische Durchbrüche halfen, war es das von seiner Familie zur Verfügung gestellte finanzielle Kapital, welches ihm die Fortführung seines Unternehmens ermöglichte. Und das zahlte sich letztlich aus. Im Jahr 1898 brachte die Firma F. Hoffmann-La Roche ihr erstes erfolgreiches pharmazeutisches Produkt auf den Markt: Sirolin, ein Hustensaft, der einen Wirkstoff namens Thiocol enthielt. Er wurde mehr als ein halbes Jahrhundert lang verkauft und war der erste echte weltweite «Verkaufsschlager» des Unternehmens. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs, noch bevor das Unternehmen sein 20-jähriges Bestehen feierte, wurden Sirolin und andere neuartige «Roche»-Medikamente überall verkauft, von Paris bis St. Petersburg und von Yokohama bis New York. (Im Laufe der Zeit ging F. Hoffmann-La Roche dazu über, den Namen Roche als Kurzform zu verwenden, vor allem weil sich dieser Teil des Namens am besten in andere Sprachen und Länder übertragen liess.)
Wenn wir die Geschichte erfolgreicher Gründer und Unternehmen erzählen, neigen wir dazu, die Beschaffung von Finanzmitteln zu vernachlässigen, als wäre sie eine Selbstverständlichkeit. Wie diese kleine Geschichte jedoch zeigt, ist Finanzkapital nicht für jeden verfügbar. Der Zugang dazu hängt ebenso sehr vom eigenen Netzwerk wie von der eigenen Geschäftsidee ab. Damit kommt der Verantwortung derjenigen, die darüber verfügen, eine entscheidende Bedeutung zu. Der Einsatz von Finanzkapital für dieses oder jenes Unternehmen trägt dazu bei, den Lauf der Geschichte ganzer Gemeinden, Städte und der Gesellschaft insgesamt zu beeinflussen. Die Geschichte von Roche ist ein gutes historisches Beispiel, doch es gibt ebenso viele Beispiele aus der Gegenwart. Tatsächlich hat das Finanzkapital bei den erfolgreichsten Unternehmern der letzten Zeit eine ebenso wichtige Rolle gespielt. Man denke an die Geschichten von Apple, Amazon, Google und Meta.
Viele Menschen kennen die Legende von Apple: Die Studienabbrecher Steve Jobs und Steve Wozniak gründeten Apple im Jahr 19761in Wozniaks Garage im Silicon Valley. Bereits ein Jahr später erkannte Jobs, dass das Unternehmen Geld benötigte, um sich weiterentwickeln zu können. Damals war es der ehemalige Intel-Mitarbeiter Mark Markkula, der eine beträchtliche Summe einbrachte und damit zum grössten Aktionär von Apple wurde.2
In ähnlicher Weise suchte Jeff Bezos, als er 1994 Amazon gründete, umgehend nach einer Startfinanzierung. Wie bei vielen anderen Unternehmern auch, kam diese von seinen Eltern. Sie stellten Bezos 300000 Dollar zur Verfügung,3 genug, um dem Unternehmen den Fortbestand zu sichern, bis 1995 in einer zweiten Runde acht Millionen Dollar durch den Risikokapitalfonds Kleiner Perkins bereitgestellt wurden.4Was die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page betrifft, so hatten sie seit 1995 in Stanford an einer Suchmaschine herumgetüftelt. Das Unternehmen Google Inc. entstand jedoch erst nach einer Investition von 100000 Dollar durch den Gründer von Sun Microsystems, Andy Bechtolsheim, im Jahr 1998.5
Meta, das Unternehmen, das Mark Zuckerberg mit anderen zu Beginn des Jahres 2004 unter dem Namen Thefacebook.com gründete, erhielt seine erste Finanzierungszusage in Höhe von 500000 Dollar kaum drei Monate nach seiner Gründung in einem Zimmer in einem Studentenwohnheim in Harvard und weniger als ein Jahr, nachdem das Projekt konzipiert worden war. Das Geld kam vom PayPal-Mitgründer und Risikokapitalgeber Peter Thiel.6 Apropos PayPal-Gründer: Elon Musk, der heute vor allem für Tesla, SpaceX und X bekannt ist, begann seine Karriere als Unternehmer mit der Gründung von Zip2, einem Internet-1.0-Unternehmenssuchdienst. Damit kam er einem «Bootstrapping»7 wohl am nächsten, da er in der ersten Finanzierungsrunde mit nur 15000 Dollar begann, die knapp zur Hälfte von ihm und seinem Bruder stammten. Die Hauptinvestition in dieser ersten Finanzierungsrunde stammte jedoch von einer dritten Partei: Greg Kouri,8 einem libanesisch-amerikanischen Geschäftsmann, der sich Zip2 schon früh in einer führenden Rolle anschloss.
Dies soll die Leistungen dieser hervorragenden Unternehmer in keiner Weise schmälern. Aber es sei noch einmal betont: Das Finanzkapital, das diese Unternehmen zum Zeitpunkt ihrer Gründung und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren erhielten, war für ihren Erfolg entscheidend. Ohne dieses Kapital wären die bedeutenden Innovationen, die diese Männer für die Welt entwickelt haben, möglicherweise nicht realisiert worden. Das ist wichtig, denn was für die grössten Technologie- und Pharmaunternehmen der Welt gilt, gilt auch für Unternehmen, die sich heute mit Nachhaltigkeit oder dem Klima beschäftigen. Die Schaffung eines nachhaltigen und profitablen Wirtschaftssystems ist die grosse und ungelöste Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wir werden vorausdenkende Unternehmer benötigen, die Unternehmen gründen, die sich dieser Herausforderung stellen, so wie es in der Vergangenheit Unternehmer gab, die sich den Herausforderungen und Chancen des Internetzeitalters (wie Bezos und Gates) oder des Zeitalters der Industrialisierung (wie mein Urgrossvater) stellten. Es wird allerdings auch Investoren geben müssen, die diesen Unternehmern das nötige Finanzkapital zur Verfügung stellen. Denn für viele erfolgreiche Unternehmer war es vielleicht die grösste Hürde, an das Kapital zu gelangen.
Wie also erhält man Zugang zu Finanzkapital?
Soziales Kapital
Wenn mein Urgrossvater in den 1890er-Jahren sein innovatives Gründungsvorhaben finanzieren konnte, dann vor allem deshalb, weil sein Vater und sein Schwiegervater die finanziellen Mittel dazu besassen. Das wirft jedoch sogleich eine zweite Frage auf:Woher hatten sie das Geld? Eine kurze Antwort auf diese Frage ist, dass beide Männer selbst erfolgreiche Unternehmen führten. Die längere Antwort lautet hingegen, dass sie beide zu den Daig-Familien gehörten, die seit dem Mittelalter einen Grossteil der wirtschaftlichen Entwicklung Basels beherrschten. Wie andere führende Familien erwarben auch die Hoffmanns und La Roches ihr Kapital durch den Aufbau der städtischen Seidenindustrie. Beide Familien spielten ihre jeweilige Rolle, indem sie Unternehmen leiteten und Ämter als Bürgermeister oder Stadträte innehatten. Zusammengenommen bildeten die Familien jedoch einen wichtigen Bestandteil des sozialen Kapitals von Basel.
Soziales Kapital ist weniger greifbar als finanzielles Kapital, aber genauso wichtig für den Aufbau erfolgreicher Unternehmungen. Der Encyclopedia Britannica zufolge umfasst es drei Dimensionen: die miteinander verbundenen Beziehungsnetze zwischen Einzelpersonen und Gruppen, das Mass an Vertrauen, das diese Bindungen kennzeichnet, sowie die Ressourcen oder Vorteile, die aufgrund sozialer Bindungen und sozialer Teilhabe gewonnen und weitergegeben werden.9Fritz profitierte von der jahrhundertelangen Anhäufung dieser Art von Sozialkapital in der Stadt Basel, die bereits im Mittelalter begonnen hatte. Als die Menschen in die aufstrebenden städtischen Zentren zogen, verhalfen sie ihren neuen Heimatorten zu einem unsichtbaren, aber wirksamen Entwicklungsmotor. Im Fall der Stadt Basel importierten die Einwanderer Wissen von anderswo, etwa aus der Seidenindustrie in Norditalien und Südfrankreich. Sie wurden von der religiösen Freiheit der Stadt und ihrer relativen Unabhängigkeit von Fürsten und Bischöfen angezogen. Ihr unternehmerischer Ehrgeiz machte die Stadt am Rhein zu einem blühenden Industrie- und Handelszentrum. Innerhalb der Stadtmauern entstand ein Netz von freien Bürgern und Handwerkern, die einander vertrauten, und als sich dieser Prozess beschleunigte, sicherten sich diese Unternehmer auch eine führende Rolle im politischen und wirtschaftlichen Leben der Stadt. Die führenden Familien unter ihnen wurden als die Daig bekannt.
Die Ereignisse des 19. Jahrhunderts erschütterten auch in Basel die bestehenden Verhältnisse. Angespornt vom revolutionären Geist, der aus dem nahen Frankreich kam, forderte die Basler Landbevölkerung von der Stadt ihre Selbstverwaltung. Dies führte zu einer politischen Teilung, die bis heute Bestand hat: Der historische Kanton Basel wurde in Basel-Stadt und Basel-Landschaft aufgeteilt. Doch die Veränderungen waren nicht nur politischer Natur. Neuankömmlinge von ausserhalb Basels und der Schweiz zogen in die Stadt, um neue Unternehmen zu gründen, vor allem in der chemischen Industrie. Dies führte im Laufe der Zeit zum Niedergang der Seiden- und dem Aufstieg einer neuen Industrie. Mein Urgrossvater und seine Familie verkörperten Kontinuität inmitten dieser Turbulenzen. Mit der Gründung von F. Hoffmann-La Roche verhalfen sie Basel zu einem neuen Goldenen Zeitalter, das auf pharmazeutischem und chemischem Fachwissen beruhte und bis heute anhält. Dass ihnen dieser Wandel gelang, verdankten sie zu einem grossen Teil dem sozialen Kapital der Stadt. Fritz konnte in der Nähe der Stadt Land erwerben, qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte einstellen und sein neues Unternehmen in die geschäftlichen und finanziellen Verbindungen der Stadt mit der Aussenwelt einbinden, und zwar dank des in der Stadt vorhandenen Sozialkapitals und seines Zugangs zu diesem Kapital.
Die führenden Unternehmer von heute haben ihren Erfolg auf ähnliche Weise aufgebaut. Sie hatten Zugang zu ähnlichen Netzwerken und lebten und arbeiteten in Regionen mit umfangreichem Sozialkapital.
Die Gründer von Apple konnten sich beispielsweise auf einen ehemaligen Intel-Mitarbeiter stützen, der ihnen Startkapital zur Verfügung stellte, und sie nahmen sich ein Beispiel an einem benachbarten Unternehmen – Hewlett Packard –, als sie ihr Unternehmen in einer Garage gründeten. Bei Google stürmten Larry Page und Sergey Brin in den 1990er-Jahren die Techszene, nachdem sie an der Stanford University ihre ersten Schritte unternommen hatten. Dass diese beiden Billionen-Dollar-Unternehmen in der San Francisco Bay Area gegründet wurden, war keineswegs ein Zufall. Bereits in den 1960er-Jahren hatte sich das Silicon Valley, wie das Gebiet auch genannt wurde, zum weltweit führenden Zentrum für Computertechnologie und Risikokapital entwickelt. Zu seinem sozialen Kapital gehörten Forscher an Universitäten wie Stanford und deren Innovationen, Militärstützpunkte und deren Auftragnehmer in der Umgebung von San Francisco, die Geschichte des Unternehmertums in der Region, wozu (seit 1939) auch Tech-Pioniere wie Bill Hewlett und David Packard gehörten, sowie die Offenheit gegenüber Einwanderern aus der ganzen Welt, auch aus Asien. Die Gründer von Apple und Google mögen zu Aushängeschildern des Silicon Valley geworden sein, aber sie haben es nicht selbst geschaffen.
Viele Unternehmer suchen ausdrücklich nach Regionen mit hohem Sozialkapital, um dort erfolgreich zu sein. Mark Zuckerberg ist vielleicht gerade deswegen so einzigartig, da er zwei solcher Orte miteinander verbindet. Man könnte behaupten, dass die wesentliche Stärke von Facebook nicht so sehr in seiner technologischen Innovation bestand als vielmehr in dem sozialen Kapital, auf dem es sowohl als Unternehmen als auch als soziales Netzwerk, aufbaute. Andere Unternehmen hatten ähnliche Funktionen in ihre Websites eingebaut und waren zunächst erfolgreicher. Aber Facebook hatte etwas, das seine Konkurrenten nicht hatten: Sein Netzwerk bestand aus Harvard-Studenten, wodurch sich das Unternehmen auf das soziale Kapital der Universität stützen konnte. Mit erstklassigen und gut vernetzten Studenten als seinen ersten Nutzern erweiterte Facebook seinen Wirkungskreis zunächst auf andere renommierte US-Universitäten und verbreitete sich dann von dort über die gesamten USA und die ganze restliche Welt. Um zu dem Unternehmen zu werden, das Meta heute ist, nutzte Zuckerberg auch das soziale Kapital des Silicon Valley. Laut Scott Kirstner, einem Journalisten des Boston Globe, zog Zuckerberg nach Palo Alto, als Peter Thiel, einer der Gründer von PayPal mit Sitz im Silicon Valley, in sein Unternehmen investierte, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem andere Geldgeber in Boston dazu nicht bereit waren.10 Es war jedoch nicht nur Thiels Geld, das das Unternehmen später so erfolgreich machte. Jim Breyer, ein Partner bei der Risikokapitalfirma Accel, berichtete Kirstner im Jahr 2007: «Es sind so viele Facebook-Mitarbeiter von führenden Internetunternehmen wie Yahoo, eBay und Google gekommen, dass die Kultur, die bei Facebook aufgebaut wurde, grundsätzlich stärker mit dem Internet der Verbraucher vertraut ist, als wenn sie irgendwo anders auf dem Planeten aufgebaut worden wäre».11
Etwa 800 Meilen weiter nördlich von San Francisco, in Seattle, trug sich eine ähnliche Geschichte zu. Ein Teil der Entstehungsgeschichte von Microsoft ist vielen bekannt: Bill Gates und Paul Allen lernten sich an einer High School in Seattle kennen; sie begeisterten sich für den einen Computer, den die Schule besass, und entwickelten als Studenten ein Softwaresystem, das Computer wie die des Marktführers IBM noch benutzerfreundlicher machen sollte.12 Der Rest der Erzählung ist Geschichte. Aber wenn man die einzelnen Gründungselemente von Microsoft genauer unter die Lupe nimmt, erkennt man, dass sie alle durch soziales Kapital ermöglicht wurden. Zunächst war es ein Lehrer der Lakeside High School, Bill Dougall, der sich dafür einsetzte, dass seine Schüler Zugang zu einem Computerterminal hatten, wie sich Paul Allen später erinnerte.13 Dougall wandte sich für dieses Vorhaben an den Lakeside Mothers Club, und dieser «stimmte zu, den Erlös aus [seinem] jährlichen Basarverkauf zu verwenden, um ein Fernschreibterminal für die gemeinsame Nutzung von Computerzeit zu mieten». Allen und Gates gehörten zu den eifrigsten Nutzern des Computers, dank der aufgeschlossenen Lakeside-Lehrer und der vorausschauenden, wohlhabenden Lakeside-Mütter. «Sie hätten einen externen Computerexperten für das Planungssystem anheuern können», kommentierte Gates später.14«Die Lehrer hätten darauf bestehen können, dass sie den Computerunterricht erteilen, einfach weil sie die Lehrer waren und wir die Schüler. Aber das taten sie nicht. Wenn es Lakeside nicht gegeben hätte, hätte es auch Microsoft nicht gegeben.»
In den folgenden Jahren verfolgten Allen und Gates ihre Leidenschaft für die Programmierung von Computern immer weiter, und das soziale Kapital von Seattle ermöglichte ihnen dies. Als sie noch in der High School waren, verschaffte Paul Gilbert, ein Student an der Universität von Washington, den beiden Zugang zum Sigma-Grossrechner der Universität, der leistungsstärker war als der Lakeside-Computer und für die Datenverarbeitung genutzt werden konnte, so Allen.15 «Wenn wir nicht so viel Zeit mit den Computern der Universität von Washington verbracht hätten, wäre Microsoft vielleicht niemals entstanden», sagte Allen 2017 gegenüber der Universität. Schliesslich war es Gates’ Mutter, die die beiden mit John Opel, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden von IBM, bekannt machte.16 Beide Eltern von Gates waren aktiv in Seattles King-County-Ortsverband von United Way, einer gemeinnützigen Organisation, und hier lernte Mary Gates auch Opel kennen, der dort ebenfalls im Vorstand aktiv war. Von der Lakeside High School über die Universität von Washington bis hin zu United Way: Alle diese Organisationen waren Teil des sozialen Gefüges, auf das Allen und Gates auf ihrem Weg zur Gründung von Microsoft zurückgreifen konnten.
Viele Jahre später, als Jeff Bezos darüber nachdachte, wo er Amazon am besten ansiedeln sollte, hatte sich Seattle durch die Präsenz von Microsoft bereits gewandelt. Aufgrund der Rolle, die das Unternehmen bei der Entwicklung Seattles zu einem Technologiezentrum gespielt hatte, beschloss Bezos, sich ebenfalls dort niederzulassen.
Brad Stone, Journalist und Autor von The Everything Store: Jeff Bezos and the Age of Amazon (Jeff Bezos und das Zeitalter von Amazon), fügt dieser Geschichte über soziales Kapital ein interessantes Detail hinzu:
Bezos entschied sich dafür, sein Unternehmen in Seattle zu gründen, weil die Stadt als Technologiezentrum bekannt war und der Bundesstaat Washington eine relativ niedrige Bevölkerungsdichte hatte […], was bedeutete, dass Amazon nur von einem geringen Prozentsatz der Kunden die staatliche Umsatzsteuer einziehen musste. Während die Gegend immer noch ein abgelegener städtischer Vorposten war, der eher für seinen Grunge-Rock als für seine Geschäftswelt bekannt war, kam Microsoft im nahegelegenen Redmond in Schwung, und die Universität von Washington brachte einen stetigen Strom von Informatikabsolventen hervor.17
Natürliches Kapital
Natürliches Kapital ist der zweite Baustein vieler erfolgreicher Unternehmen. Es entsteht, wenn Menschen die natürliche Umwelt, die sie vorfinden, in einen Vermögenswert oder in einen Input in ihr Unternehmen verwandeln können. Das geschieht auf vielfältige Weise und kommt den Unternehmen sowohl direkt als auch indirekt zugute. Schauen wir uns Roche als Beispiel an.
Grenzen, insbesondere natürliche Grenzen wie Bergrücken oder Flüsse, können sehr einengend wirken. Sie halten Menschen davon ab, sie zu überschreiten, weil sie Gefahren bergen, und sie trennen Gemeinschaften. Doch Grenzen können auch einladend sein. Grenzen können Menschen zusammenbringen, wenn diese herausfinden, wie sie die Grenzen überqueren und überbrücken und so Hindernisse in Berührungspunkte verwandeln können.
Basel ist ein Beispiel für diese beiden Arten von Grenzen. Die Stadt liegt an einem wichtigen Knotenpunkt des Rheins, einem der längsten und breitesten Flüsse des europäischen Kontinents. Jahrtausendelang war der Fluss ein Symbol für die Macht der Natur über den Menschen, weil er so schwer zu überwinden war. (Tatsächlich bildet der Fluss auch heute noch eine natürliche Grenze zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz, eine Teilung, die vor Jahrtausenden begann.) Doch seit der Römerzeit begannen die Menschen auch, den Fluss im wahrsten Sinne des Wortes zu überbrücken. Und sie lernten, die Kraft des Flusses – seine beeindruckende Länge und Strömung – zu ihrem Vorteil zu nutzen. Als sie lernten, den Fluss zu beherrschen, wurde der Rhein zur Lebensader des europäischen Wirtschaftslebens. Er wurde zum längsten befahrbaren Fluss Europas und ermöglichte den grössten Teil des regionalen Warenverkehrs. Die Städte entlang des Rheins, von Rotterdam im Rheindelta über Duisburg, Düsseldorf, Köln, Bonn, Mainz und Mannheim in Deutschland bis hin zu Strassburg in Frankreich, gehören auch heute noch zu den bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten in Europa und profitieren von den naturbedingten Vorzügen des Rheins.
Es ist dieses natürliche Kapital, das Basel zu dem Knotenpunkt machte, der es war, als mein Urgrossvater dort geboren wurde: eine Stadt, in der sich seit Jahrhunderten Kaufleute, Forscher und Einwanderer aus ganz Europa trafen, von denen einige dort blieben und zur Entwicklung der Stadt beitrugen. Schon in der Renaissance waren Denker wie Erasmus von Rotterdam hierhergekommen, da die Stadt ein freundliches Umfeld für frei denkende Geister bot, sowie wegen der blühenden Druck- und Papierindustrie, die durch das reichlich vorhandene Flusswasser ermöglicht wurde. Im 19. Jahrhundert spielte der Rhein eine ähnliche Rolle für die chemische und die pharmazeutische Industrie. Er ermöglichte die unkomplizierte Einfuhr von Rohstoffen und er spielte eine Rolle bei der Verarbeitung und Herstellung von Industriegütern. Ausserdem transportierte er die fertigen Waren aus der Stadt nach Europa und in die Welt.
Bei natürlichem Kapital geht es jedoch nicht nur um Geografie. Für viele Unternehmen, auch für Roche, sind die natürlichen Rohstoffe, die in ihre Produkte einfliessen (die naturbedingten «Abhängigkeiten» eines Unternehmens), und der Einfluss der verkauften Produkte auf die Umwelt (die naturbedingten «Auswirkungen») das wichtigste natürliche Kapital.
Ein Beispiel verdeutlicht diese Abhängigkeit: Seit Ende der 1990er-Jahre stellte Roche Tamiflu her, ein antivirales Medikament zur Behandlung der Influenza- und anderer Grippeviren. Das Medikament hilft heute Patienten und öffentlichen Gesundheitssystemen auf der ganzen Welt und erzielt Milliardenumsätze.18 Am Anfang der Geschichte von Tamiflu steht natürlich eine millionenschwere Forschungs- und Entwicklungsarbeit, angeführt von hervorragenden Wissenschaftlern, in diesem Fall von Roches US-Partner Gilead Sciences. Doch Tamiflu enthält auch einen ganz natürlichen Hauptbestandteil: Shikimisäure,