Die Offenbarung - Bill Napier - E-Book

Die Offenbarung E-Book

Bill Napier

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Beschreibung

In einem Eisberg bei Grönland entdeckt der Polarforscher Fred Findhorn ein Flugzeugwrack. An Bord: die Leiche des Physikers Lev Petrosian, der am Bau der ersten Atombombe beteiligt war und sich im Kalten Krieg mit geheimen Aufzeichnungen in die Sowjetunion absetzen wollte. Als Findhorn die Unterlagen an sich nimmt, gerät er in das Fadenkreuz ebenso mächtiger wie skrupelloser Verfolger. Offenbar hatte Petrosian an der Umwandlung von Vakuum in Energie gearbeitet – eine epochale Entdeckung und eine Bedrohung für die ganze Menschheit …

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Seitenzahl: 570

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Bill Napier

Die Offenbarung

Aus dem Englischen von Teja Schwaner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In einem Eisberg bei Grönland entdeckt der Polarforscher Fred Findhorn ein Flugzeugwrack. An Bord: die Leiche des Physikers Lev Petrosian, der am Bau der ersten Atombombe beteiligt war und sich im Kalten Krieg mit geheimen Aufzeichnungen in die Sowjetunion absetzen wollte. Als Findhorn die Unterlagen an sich nimmt, gerät er in das Fadenkreuz ebenso mächtiger wie skrupelloser Verfolger. Offenbar hatte Petrosian an der Umwandlung von Vakuum in Energie gearbeitet – eine epochale Entdeckung und eine Bedrohung für die ganze Menschheit …

Über Bill Napier

Bill Napier, geboren 1940 in Perth/Schottland, arbeitet als einer der führenden Asteroidenforscher. Im Sonnensystem kursiert ein Komet, der nach ihm benannt ist: Napier 7096. Bereits sein Thriller «Nemesis» war ein Welterfolg.

Inhaltsübersicht

Der Übersetzer dankt ...Dieses Buch ist ...Ich habe vielen ...Prolog1 Der Schatten auf dem See2 Flesland Alpha3 Berg4 Findhorns Traum5 Die Whisky Society6 Das Museum7 Fat Sam’s8 Camp L9 Der Tempel der himmlischen Wahrheit10 Heiße Luft11 Die Gardens12 Das jüngste Gericht13 Hexenjagd14 Inquisition15 Die Super16 Kult17 Los Alamos18 Die Venona-Akten19 Das foucaultsche Pendel20 FBI21 Insel der Offenbarung22 Papa, der Grieche23 Der Verräter24 Executive Lounge25 Armenien26 Flucht27 DNS28 Die Archivarin29 Matsumo30 Lev Baruch Petrosian31 Instabilität32 Piz Radönt33 Der Überfall34 Petrosians Geheimnis35 Massaker36 Blaskapellen37 Steel drums38 Byurakan

Der Übersetzer dankt Herrn Levent Demirörs für die Hilfe bei atomphysikalischen Fachfragen.

Dieses Buch ist Fabio Migliorini gewidmet.

Ich habe vielen Freunden und Kollegen für ihre Hilfe zu danken. Michael Bartle bin ich dankbar für Informationen über Eisbrecher und grönländische Eisberge. Michael Patterson danke ich für Auskünfte über Ölbohranlagen.

In deutschen und armenischen Fragen haben mich Armin Theissen und Tigran Khanzadyan beraten. Danken möchte ich auch John McLarty und meiner Frau Nancy für ihre kritischen Anmerkungen zu frühen Versionen des Manuskripts. Besondere Anerkennung gebührt meinem Agenten Peter Robinson und Bill Massey, meinem Lektor bei Headline. Ihre Orientierungshilfe und ihr Rat waren von entscheidender Bedeutung, und wenn dieser Roman von Wert ist, haben sie daran einen großen Anteil.

Prolog

Als ich von Memoiren spreche, droht mir der Minister mit der gesamten Palette, angefangen bei Section Two des Geheimhaltungsgesetzes bis zur chinesischen Wasserfolter. Da ich mir jedoch nichts mehr wünsche als ein friedliches Leben, mache ich sofort einen Rückzieher. Ihm ist jedenfalls hoch anzurechnen, dass er sich ein Hohnlächeln verkneift.

«Sie können mich aber nicht daran hindern, einen Roman zu schreiben.»

Der Minister wird puterrot, aber man weiß ja, wie sehr er dem Portwein zugetan ist.

Hier ist er also, der Roman. Natürlich handelt es sich nur um eine erfundene Geschichte, und wenn man mir zusetzt, werde ich leugnen, dass sie sich je zugetragen hat. Und geleugnet habe ich bereits, und das ohne Ausnahme in allen meinen Gesprächen mit jenen Menschen, die höflich reden und berechnend aus den Augen schauen.

 

Für einen Mann des Polareises wie mich gibt es nichts Seltsames an der Geschichte eines Feuers, das in einem arktischen Schneesturm seinen Anfang nimmt. Der Planet ist ein Ganzes, alles steht mit allem in Verbindung; ich sehe das Ausmaß der Brandrodung der Regenwälder an der Abnahme des Packeises, auf dem ich gehe, und den Verbrauch fossiler Brennstoffe an dem schrecklichen Hunger der Drei-Meter-Monster, die unsere Lager heimsuchen. Die Arktis hingegen wartet ab und schürt in aller Ruhe ihre Rachegelüste … Aber ich schweife ab.

Der Schlüssel zum Geheimnis der Tagebücher war Archie. Mein alter Freund Archie erwies sich als fatale Fehleinschätzung der Marionettenspieler. Sie hatten zu Recht angenommen, dass ich das Material, das mir in die Hände fiel, nicht verstehen würde, dass mir das tief gehende Wissen fehlen würde, das den Schlüssel zu dem Geheimnis darstellte. Aber wenn diese individuelle Marionette ihre Fäden durchschnitt, wenn ich nicht das tat, was meine Drahtzieher von mir erwarteten, dann schreibe ich das Archie zu.

Archies und meine Geschichte reicht zurück bis zur Schöpfung. Als Jungen hatten wir uns auf den Straßen Glasgows im Bezirk Castlemilk herumgetrieben, in jenen Tagen, als dort die wahrhaft harten Männer das Sagen hatten, nicht die tuntigen Schwindler, die man heute dort findet. Junge Freibeuter, stets auf Ärger aus, den wir oft genug machten. Und wenn Ihnen das wie ein recht unwahrscheinlicher Beginn zweier akademischer Laufbahnen erscheint, könnte ich mit ein paar pikanten Geschichten über eine ganze Anzahl ehrenwerter Glasgower Bürger aufwarten. So hat zum Beispiel unser gegenwärtiger schottischer Premierminister … aber es geht schon wieder los, ich schweife ab.

Dann waren da die Damen, und dann ging ich nach Aberdeen, und unsere Wege trennten sich, bis wir uns Jahre später zufällig bei einem Dinner der Royal Society in London wieder begegneten. Archie, der Freibeuter, war inzwischen ein geachteter Kernphysiker und berühmt für seine Arbeit an der Superstring-Theorie. Ich erforschte das arktische Klima und suchte nach Anzeichen bevorstehender Katastrophen. Als Mönche der Neuzeit hatten wir für Handel und Wandel nur Geringschätzung übrig und verachteten alles Weltliche. Stattdessen widmeten wir unser Leben der Suche nach tieferen Wahrheiten.

Und wie dieses dem Weltlichen abgewandte Paar reagierte, als unermesslicher Reichtum in greifbare Nähe rückte, na ja – das ist Teil dieser Geschichte.

Der Rest der Geschichte handelt davon, den Planeten in Schutt und Asche zu legen.

1 Der Schatten auf dem See

Donnerstag, 29. Juli 1942

Leute von außerhalb. Männer mit einer starken, fast schon übernatürlichen Aura. Kommen von Wer-weiß-wo nach Jot-we-de. Der Bahnhofsvorsteher bildet sich ein, dass sie Gangster sind, Mafia-Bosse, zu einem geheimen Meinungsaustausch eingetroffen.

Es ist schließlich eine ruhige Nebenstrecke, und mit irgendwas muss man seinen Geist ja beschäftigen.

Er kann absolut nicht wissen, dass die drei Männer, die aus dem Pullmanwagen steigen, unendlich viel gefährlicher sind als alles, was er sich auszumalen vermag.

Als Erster taucht John Baudino auf, der Leibwächter des Papstes. Seine Gorillagestalt füllt fast die gesamte Türöffnung aus. Er hat einen dunkelgrünen Einkaufsbeutel dabei. Baudino inspiziert argwöhnisch den Bahnsteig, bevor er aussteigt. Zwei weitere Männer folgen. Einer von ihnen ist groß und dünn, hat durchdringend blickende blaue Augen. Er trägt einen breitkrempigen Filzhut und raucht eine Zigarette. Der dritte Mann ist dünn und gelehrtenhaft, hat ein blasses, ernstes Gesicht und trägt eine Brille mit runden Gläsern.

Der Mann, der ungeduldig auf dem leeren Bahnsteig wartet, hatte nur Oppenheimer erwartet. Die anderen beiden überraschen ihn.

«Hallo, Arthur», sagt der Mann mit den blauen Augen und schüttelt ihm die Hand. Er sieht müde aus, als habe er nicht geschlafen.

«Du hättest doch fliegen können, Oppie. Tausend Meilen sind eine verdammt lange Zugfahrt.»

Oppenheimer lässt seine Zigarette auf den Bahnsteig fallen und bläst den letzten Rauch aus. «Du weißt doch, wie der General ist. Er hält uns für zu wertvoll, um eine Flugreise zu riskieren.»

Arthur Compton führt die Gruppe zum Ausgang.

Der Bahnhofsvorsteher bedenkt sie mit einem argwöhnischen Kopfnicken. «Sie sind zum Fischen hergekommen?», fragt er, um einen freundlichen Ton bemüht. Es ist keine Angelsaison. Sein Blick wandert zu ihrer Kleidung und zu ihrem Gepäck, die so gar nicht auf Angler hindeuten.

«Nein. Wir sind deutsche Spione», knurrt Baudino und hält ihm die Zugfahrkarten unter die Nase. Der Bahnhofsvorsteher schnappt sich die Karten und kichert nervös.

In Comptons Kombiwagen kramt Baudino ein Notizbuch und einen .38er Colt aus dem Einkaufsbeutel zu seinen Füßen. Er legt die Waffe auf seinem Knie ab. «Sagen Sie das, was Sie zu sagen haben, an einem ruhigen Ort, Mister Compton. Nicht in der Hütte», sagt er.

«Kommen Sie, John, das ist ein gutes Versteck. Niemand weiß, dass ich hier bin.»

«Wir haben Sie gefunden», sagt Baudino über die Schulter. Er ist schon dabei, Autokennzeichen mit einer Liste abzugleichen.

Compton denkt darüber nach. «Genau.» Er lenkt den Wagen über eine schmale, nicht sehr befahrene Vorstadtstraße. Nach ungefähr drei Meilen werden die Häuser allmählich immer weniger, und die Straße wird von Nadelwald gesäumt. Ab und zu blitzt rechts zwischen den Bäumen ein See auf. Nach zehn Minuten schaltet Compton runter und biegt dann auf eine unbefestigte Piste ab. Nach ungefähr einer weiteren Meile erreicht er eine Lichtung und hält vor einem Blockhaus. Auf der Veranda hängt Wäsche zum Trocknen an einer Leine. Sie steigen aus und recken sich. Die Luft ist kühl und klar. Baudino schiebt die Waffe in seinen Hosengürtel.

Compton sagt: «Wisst ihr, was ich an diesem Ort so besonders mag? Das Wasser. Es ist überall. Es ergießt sich sogar vom Himmel. Nach der Mesa ist es einfach herrlich. Mögt ihr Jungs vielleicht einen Kaffee?»

Oppenheimer schüttelt den Kopf. «Später. Lasst uns erst mal reden.» Er beugt sich in den Wagen und holt eine Aktentasche hervor.

Compton gibt die Richtung an, und sie machen sich auf den Weg durch den Wald. Nach ungefähr einer halben Meile gelangen sie an einen See, dessen fernes Ufer sich irgendwo hinter dem Horizont befindet. Sie gehen den steinigen Strand entlang. Baudino bildet das Schlusslicht und hält sich außer Hörweite gut dreißig Meter hinter den drei anderen: Was die Eierköpfe zu besprechen haben, geht ihn nichts an. Seine Aufgabe besteht darin, sie zu beschützen, und deswegen schaut er sich unentwegt um und späht in den Wald. Ab und zu tastet er wie zur Beruhigung nach seiner Waffe.

Compton sagt: «Oppie, was immer dich veranlasst haben mag, tausend Meilen bis an die kanadische Grenze zu reisen muss ja eine äußerst ernste Angelegenheit sein.»

Oppenheimer macht ein grimmiges Gesicht. «Teller glaubt, dass die Bombe die Atmosphäre entzünden wird, vielleicht sogar die Ozeane.»

Compton bleibt stehen. «Was?»

Oppenheimer klopft auf die Aktentasche. «Ich habe seine Berechnungen mitgebracht.»

Lev Petrosian, der Gelehrte, spricht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft. Sein Englisch ist gut und deutlich, mit dem leichten Anflug eines deutschen Akzents. «Er meint, dass Stickstoff und Kohlenstoff in der Atmosphäre die Fusion des Wasserstoffs katalysieren werden. Hier ist die Grundformel.» Er reicht Compton ein Blatt Papier.

Der studiert es im Weitergehen ein paar Minuten lang. Schließlich blickt er zu seinen Kollegen auf. Seinen Augen ist Bestürzung abzulesen. «Mein Gott.»

Oppenheimer nickt. «Ein schlaues Bürschchen, unser Ungar. Bei den ungeheuren Temperaturen, von denen wir sprechen, geht es mit Kohlenstoff los, der verbindet sich mit Wasserstoff bis hinauf zu Stickstoff 15, und dann bekommt man seinen Kohlenstoff zurück. In der Zwischenzeit hat man vier Wasserstoffatome in Helium 4 umgewandelt und Gammastrahlen aller Energiestufen in den Raum geschleudert.»

«Mann, Oppie, wir brauchen den Wasserstoff doch überhaupt nicht zu erzeugen. Er macht achtzig Prozent der Atmosphäre aus. Und den Kohlenstoff haben wir schon im CO2, ganz abgesehen von der Menge Wasserstoff im Wasser. Wenn das hier stimmt, verwandelt es die Atmosphäre in ein Teufelsgebräu.» Compton schüttelt den Kopf. «Aber es kann nicht richtig sein. Es dauert Millionen Jahre, Wasserstoff in Deuterium zu verwandeln.»

Petrosian sagt: «Ungefähr ein Wasserstoffatom unter zehntausend ist Deuterium. Es befindet sich also schon in der Atmosphäre.»

«Soll das heißen …»

«Gott hat unsere Atmosphäre wunderbar gestaltet. Er hat sie so geschaffen, dass auf manchen Energiestufen Reaktionen sehr unwahrscheinlich sind. Die Umwandlungsdauer wird von Millionen Jahren auf wenige Sekunden verkürzt.»

«Wann wird der Prozess ausgelöst?»

«Bei hundert Millionen Grad setzt er ein. Die Bombe könnte eine solche Temperatur erreichen.»

Oppenheimer hüstelt und bleibt stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. «Wir könnten den Planeten zu einem riesigen Feuerball werden lassen.»

«Was meint denn der Papst? Und was meint Onkel Nick?» Compton bezieht sich auf Enrico Fermi und Niels Bohr, Atomphysiker, deren Namen so heikel sind, dass man sie nicht einmal in der Stacheldraht-Enklave Los Alamos ausspricht, sondern sogar dort nur die Spitznamen benutzt.

Oppenheimer zieht nervös an seiner Zigarette. «Die wissen es noch nicht. Ich möchte, dass wir es zuerst überprüfen. Wir werden über Nacht daran arbeiten.»

Compton hebt einen Stein auf und wirft ihn ins Wasser. Sie betrachten die kleinen Wellen, bevor sie weitergehen.

«Raus damit», sagt Oppenheimer.

Compton klingt besorgt. «Oppie, vergegenwärtige dir doch die Gesamtlage. Die U-Boote haben die Engländer so ziemlich im Würgegriff. Hitlers Truppen halten Europa vom Nordkap bis nach Ägypten besetzt. Russland ist fast am Ende, und ich wette eins zu zehn, dass Hitler demnächst durch Persien vorstößt und im Indischen Ozean mit den Japanern zusammentrifft. Die Deutschen und die Japse werden schon bald Asien, Russland und Europa unter sich aufgeteilt haben.»

«Und?»

«Und dann wird Hitler über die Beringstraße kommen und durch Kanada einfallen, als sei es ein Kinderspiel. Wenn er hier ankommt, wird er stärker sein als wir. Wir teilen eine zweitausend Meilen lange Grenze mit den Kanadiern, Oppie, und die ist nicht zu verteidigen. Ich möchte nicht, dass mein Blockhaus innerhalb von fünf Minuten von Görings Stukas zu erreichen ist.»

Oppenheimers durchdringend blaue Augen sind auf den See gerichtet, als blicke er über den Horizont nach Kanada. «Das ist eine eindrucksvolle strategische Vision, Arthur. Aber was willst du damit sagen?»

«Vor zehn Minuten hat mir diese eindrucksvolle strategische Vision noch keine Kopfschmerzen bereitet. Sollten wir das Rennen um den Bau des Dings gewinnen können, wäre ja alles okay. Aber wie könnten wir auch nur das geringste Risiko eingehen, die Atmosphäre in Brand zu setzen? Tut mir Leid, Oppie, aber sollten wir die Wahl haben, wäre es wohl besser, uns in die Nazi-Sklaverei zu fügen.»

Oppenheimer nickt widerstrebend. «Das hier hat mich eine Menge schlaflose Nächte gekostet, Arthur, aber ich muss dir zustimmen. Wenn wir nicht hundertprozentig sicher sein können, dass Teller sich irrt, darf die Bombe keinesfalls gebaut werden.»

Ein Hauch von Traurigkeit liegt in Petrosians Stimme. «Ich verstehe Ihre Argumente, meine Herren. Ich würde wahrscheinlich auch so denken, wenn ich nicht unter den Nazis hätte leben müssen.»

2 Flesland Alpha

Das neue Millennium

In Gestalt eines kleinen, bebrillten, sanftmütigen Norwegers in einem überlangen Trenchcoat und mit einer Aktentasche hielten Tod und Zerstörung Einzug in Findhorns Büro in Aberdeen. Er behauptete, sein Name sei Olaf Petersen, und in verblichener Goldprägung wies seine Aktentasche auch die Buchstaben O.F.P. auf.

Anne streckte den Kopf zur Tür herein. Sie trug heute ihr Haar in Rot. «Fred, hier ist ein Mister Olaf Petersen.»

Den roten Ledersessel hatte man zu einem weit herabgesetzten Preis bei einer Auktion brandgeschädigten Hausrats erstanden, aber er wies jede Menge Beschlagnägel aus Messing auf, hatte viele Knitterfalten und verlieh dem kleinen Büro das dringend benötigte Flair von Opulenz. Petersen ließ sich hineinsinken und überreichte eine kleine Visitenkarte. Er betrachtete die Fotos, die die Bürowände bedeckten: Eisberge, Nordlicht, ein knuddeliger kleiner Eisbär, ein Eisbrecher, der allem Anschein nach auf einem Schneefeld gestrandet war.

Auf der Karte stand:

Olaf F. Petersen, Cand.mag., Siv.ing. (Tromsø)

Fiesland Field Centre

Norsk Advanced Technologies

«Kaffee?», fragte Findhorn, aber er spürte, dass dieser Mann kaum Neigung zu höflichem Vorgeplänkel hatte.

«Vielen Dank, aber ich habe nur sehr wenig Zeit. Die Company würde ein wenig Hilfe zu schätzen wissen, Doktor Findhorn.» Wie oft bei Skandinaviern war das Englisch des Mannes ausgezeichnet, und nur das Fehlen jeglichen regionalen Akzents wies daraufhin, dass es seine zweite Sprache war.

«Norsk und ich haben von Zeit zu Zeit Geschäfte abgewickelt.»

«Diese spezielle Aufgabe ist völlig anders als alles, was Sie bisher für uns erledigt haben. Es hat sich etwas ereignet. Die Angelegenheit ist dringlich und erfordert strengste Vertraulichkeit. Wir hoffen, dass Sie uns helfen können, obwohl wir uns so kurzfristig an Sie wenden.»

Findhorn dachte an die gähnende Leere im Terminkalender der kommenden Monate. Petersen sah ihn erwartungsvoll an. «Ich hatte auf ein paar Urlaubstage über Weihnachten gehofft.»

Petersen wirkte unzufrieden. «Ehrlich gesagt, ich bin enttäuscht. Sie wären der perfekte Partner für diesen Auftrag.»

Findhorn hielt es für besser, die abweisende Haltung nicht zu übertreiben. «Warum sagen Sie mir nicht, worum es geht?»

Petersen lächelte ein wenig und zog einen großen weißen Umschlag aus seiner Aktentasche. «Haben Sie einen Leuchttisch?»

«Natürlich. Hier entlang bitte.»

Dadurch, dass er die Tür mit «Wetter-Raum» gekennzeichnet hatte, hoffte Findhorn den Eindruck zu erwecken, dass sich entlang des Korridors statt der beiden Besenkammern und der Toilette noch weitere Räume mit Bezeichnungen wie «Schlammanalyse», «Kernprobenlaboratorium» oder gar «Simulation arktischer Umwelt. Eintritt verboten» befanden. Der Leuchttisch, ungefähr eins fünfzig mal eins zwanzig groß, nahm einen erheblichen Teil des Raums ein. Sie bahnten sich den Weg zwischen Pappkartons und Papierstapeln. Findhorn schaltete den Tisch ein und verdunkelte das Fenster mit einem schwarzen Vorhang. Petersen öffnete den Umschlag und zog ein Diapositiv hervor, das ungefähr dreißig Zentimeter im Quadrat maß. Die Beschriftung in einer Ecke sagte aus, dass es mit Genehmigung des National Ice Center zur Verfügung gestellt wurde und von einem DMSP-Infrarotsatelliten stammte.

Findhorn legte das Dia auf den Tisch. Unten links zeichnete sich außer an den Stellen, wo Seenebel die Umrisslinien verbarg, die Westküste Grönlands als grauweißer, gezackter Fleck ab. Jemand hatte die Grenze des Packeises mit einer gestrichelten Linie gekennzeichnet. Vereinzelt waren auch Eisberge zu erkennen. Kleine Pfeile, die nummeriert waren, wiesen auf sie hin.

«Fällt Ihnen etwas auf?», fragte Petersen.

Findhorn ließ den Blick über das Bild schweifen. «Eigentlich nicht.» Er deutete auf einen Eisberg vor dem Davy Sund, nahe der Grenze zwischen den grönländischen und internationalen Gewässern. «Außer vielleicht A-02 hier. Der ist recht groß.»

«Ungewöhnlich groß für die Ostküste. Die großen Tafelberge sind normalerweise westlich von Grönland zu finden. Sie brechen vom Petterman-, vom Quarayaq- oder dem Jungersen-Gletscher ab und treiben dann durch die Baffin Bay zur Newfoundland Bank.»

«Und wohin treibt dieser?»

«Er ist in die Ostgrönland-Strömung geraten. Mag sein, dass er Cape Farewell umrundet und sich zu seinen westlichen Cousins gesellt, er könnte jedoch auch in den Nordatlantik ausbrechen. Aber Größe und Abtrieb sind nicht das Problem, Doktor Findhorn. Sehen Sie genauer hin.»

Es hatte sich etwas Staub auf dem Dia angesammelt, direkt über dem großen Eisberg, und Findhorn pustete. Der Staub ließ sich jedoch nicht wegblasen und blieb auch an Ort und Stelle, als Findhorn leicht mit dem Finger darüber rieb. Der Doktor runzelte die Stirn.

«Versuchen Sie’s mit dem Mikroskop», schlug Petersen höflich vor.

Findhorn schwenkte das Mikroskop über das große Dia. Er hantierte an der Rändelschraube und stellte das Foto scharf.

Der Eisberg füllte das Format aus. Ein Muster gekräuselter Wellen markierte seine Drift im Ozean. Er war umgeben von einer Flottille kleinerer Schollen, nicht unähnlich einem Flugzeugträger inmitten von Segelyachten.

Findhorn schwenkte den vorderen Objektivhalter. Verwirrt runzelte er noch stärker die Stirn.

Die Staubflecken hatten sich in Rechtecke verwandelt, in von Menschen errichtete Bauten, die Hütten glichen. Weitere, kleinere Formen waren ringsum verstreut.

Er stellte das Mikroskop auf die höchste Vergrößerungsstufe ein und verstärkte die Intensität des Lichts, das durch das Glas nach oben abstrahlte. Und dann blickte er höchst verblüfft vom Mikroskop auf. «Aber das ist ja verrückt.»

Olaf stimmte zu. «Eisberge schmelzen. Spalten sich. Schlagen um. Kein Mensch, der bei Sinnen ist, betritt einen Eisberg.»

«Aber …»

«Aber auf diesem hat man ein großes Lager errichtet.» Olaf beugte sich über den Leuchttisch und tippte mit einem kurzen Finger auf das Foto. «Ja, Doktor Findhorn, es ist verrückt. Diese kleinen unregelmäßigen Formen, die Sie erkennen. Das sind Menschen. Auf einem Eisberg, der jederzeit umkippen könnte.»

Findhorn stand auf. Das Licht vom Tisch, das nach oben schien, verlieh Petersen ein etwas unheimliches Aussehen, sodass er einem wahnsinnigen Wissenschaftler in einem alten Horrorfilm glich. Findhorn wurde etwas unbehaglich zumute. «Und was genau will Norsk nun von mir?»

Petersen ließ die gute Imitation eines Lächelns sehen. «Zuerst möchten wir, dass Sie zur nördlichsten Bohranlage in unserem Field Centre fliegen.»

«Norsk Flesland?»

«Ebenda. Dann möchten wir Sie von dort zur Norsk Explorer, unserem Eisbrecher, fliegen, der sich gegenwärtig ungefähr dreihundert Kilometer nördlich der Bohranlage befindet, eben noch in Reichweite eines Hubschraubers. Die Explorer wird Sie zu A-02 bringen, noch weiter nördlich. Wir möchten, dass Sie den Berg erklettern.»

Und da war es wieder, das altvertraute Gefühl, als würde sich ihm der Magen umdrehen. «Warum? Und warum ausgerechnet ich?»

Petersen lächelte noch immer, aber sein Blick war berechnend. «Vielleicht sollte ich doch den Kaffee trinken, den Sie mir angeboten haben.»

 

«Wie läuft’s denn so?»

«Okay, danke. Nur ein bisschen nervös.»

«Schon mal auf’ner Bohrinsel gewesen?» Der Mann hatte die Stimme gehoben, um Findhorns Ohrenschützer zu durchdringen.

Findhorn blickte hinaus über das dunkle Meer. In der Ferne schimmerten Lichter am Horizont. Der Hubschrauber flog direkt auf sie zu.

«Bin ich nicht.»

«Dachte ich mir. Was ham Sie für’n Job?»

«Bin nur ein Besucher.»

«Sie sind also nur ’n Besucher?»

Findhorn nickte. Die lodernden Lichter nahmen langsam Gestalt an. Als sich der Hubschrauber näherte, konnte er allmählich drei erleuchtete Giganten ausmachen, die Händchen haltend im Ozean wateten.

Der Brummie mochte nicht so recht aufgeben. «Nicht, dass es mich was angeht, natürlich, Sie wissen schon, was ich meine.»

Jetzt konnte Findhorn erkennen, dass ihre oberen Aufbauten mit Kränen und großen metallenen Christbäumen bewaldet waren. Da gab es Röhren und seltsame Auskragungen und winzige Männer auf Laufgängen und Plattformen. Die Arme, die die Giganten verbanden, erwiesen sich als Passagen. Es war eine Stadt auf Stelzen. Ihr niedrigstes Deck thronte dreißig Meter über dem Arktischen Meer: Die Ingenieure hatten eine riesige Flutwelle, wie sie sich einmal alle hundert Jahre auftürmt, vorsorglich in ihre Konstruktion einbezogen. Was jedoch die Eisberge betraf, hatten sie sich auf Statistik und Gebete verlassen. Gegen einen Zehn-Millionen-Tonnen-Berg hätte Norsk Flesland jedoch genauso gut aus Streichhölzern zusammengeklebt sein können.

«Ich bin beeindruckt», sagte Findhorn.

«Ja, das sollten Sie auch sein. Was Sie da sehen, ist höher als der Eiffelturm. Mit zehn Decks und drei Turbinen, die uns mit fünfundzwanzig Megawatt versorgen. Wir holen jeden Tag ’ne halbe Million Barrel Rohöl und dreihundert Millionen Kubikfuß Gas raus. ’ne halbe Meile Wasser ist zwischen Bohrplattform und dem Meeresboden, und das Bohrloch reicht durch fünfzehntausend Fuß Schlamm.»

Er ist dicht dran, dachte Findhorn. Sie bringen es auf sechshunderttausend Barrel am Tag, und sie haben sich durch achtzehntausend Fuß Sandstein aus dem Oberen Jura gebohrt.

«Aber Sie müssen wissen», eröffnete ihm der Mann, «bei all dieser Größe gibt es etwas, das mich in der Dunkelheit aufhorchen lässt, wenn Sie verstehen.»

«Ein großer Eisberg?»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Ein mikroskopisch kleiner Riss. Materialermüdung in einem Stelzenbein.»

«Welche ist denn Alpha?»

Der Mann beugte sich über Findhorn und zeigte mit einem nikotinverfärbten Finger. «Die Plattform in der Mitte, das ist Flesland Alpha, das Wohnquartier. Beta links hat die Bohranlage, und Delta rechts ist die Plattform für das Gas. Wir arbeiten in Schichten von zwölf Stunden. Man hat es lieber, wenn die Unterkünfte separat liegen. Ungefähr fünfzig Meter Korridor verbinden sie.»

«Wie ist denn die Arbeit auf einer Bohrplattform?»

«Norwegische Bohranlagen sind klasse. Auf Flesland Alpha zum Beispiel hat man alles, was man sich wünscht, angefangen vom Kino bis zur Sauna. Es gibt eine Sporthalle, Snooker, Ledersessel, Fahrstühle zwischen den Decks, Zimmer mit Bad, phantastische Verpflegung. Ist wie im Hilton. Nur die amerikanischen Bohranlagen im Golf können da mithalten, die haben obendrein auch noch das Wetter für Grillfeste. Die englischen Plattformen, die sind der reine Mist. Vier Mann auf einem Zimmer, zur Entspannung ein furzhässlicher Fernsehraum und Kantinenessen schlimmer als in der Autobahnraststätte.»

«Ich nehme an, Sie sind ein Brummie – aus Birmingham?», sagte Findhorn.

Der Mann reagierte aufgebracht. «Nein. Ich stamm aus dem Black Country, aus Doodley, hörn Sie das denn nicht? Da gibt’s einen großen Zoo.»

«Und was ist Ihr Job?», fragte Findhorn. Der Hubschrauber kippte langsam ab. Ein langer Pier ragte von der Delta-Plattform hinaus, und an seinem Ende flackerte eine Flamme im Wind. Sie warf einen schwachen orange Lichtschein auf den dunklen Ozean. Findhorn konnte Drehkräne ausmachen und gleißend erleuchtete Laufgänge sowie ein undurchschaubares Gewirr von Röhren. Dann sank der Hubschrauber einem achteckigen Heliport entgegen, und der Wind von den Rotoren kräuselte die Wasseroberfläche.

«Ich kümmer mich um die Molche.»

Findhorn entschied sich dagegen, um eine nähere Erläuterung des seltsamen Wortes zu bitten.

Eine gedämpfte Stimme ertönte aus der Sprechanlage. «Da draußen herrscht sehr starker Wind. Halten Sie Ihr Gepäck fest und gehen Sie besonders vorsichtig. Behalten Sie Ihre Ohrenschützer auf.»

Auf dem Deck drohte der Wind Findhorn umzuwerfen. Er war kalt und nass von Gischt. Ölgeruch hing in der Luft. Auf dem Hubschrauberlandeplatz wiesen Männer in Richtung einer Treppe. Findhorn folgte den Ölleuten mit ihren Reisetaschen und in ihren orangefarbenen Überlebensanzügen. Es ging Metalltreppen hinunter und einen kurzen Flur entlang. Hier war es warm. Vor einem Schalter, der mit Resepsjon gekennzeichnet war, bildete sich eine Schlange. Schwimmwesten mussten abgegeben werden, Schutzhelm und Stiefel mit Stahlkappen wurden entgegengenommen. Ausweise wurden gegen Kabinen- und Arbeitskarten ausgetauscht.

Für Findhorn jedoch wurden die Regeln außer Kraft gesetzt. Der Plattformmanager, dessen stahlgraues Haar unter dem Helm hervorlugte, wartete schon. Wortlos nahm er ihn beim Arm und steuerte ihn an der Schlange vorbei. Findhorns Besuch auf Flesland Alpha durfte keine Spur hinterlassen.

 

Das Ding war so gigantisch, dass Findhorn anfangs dachte, seine Phantasie spiele ihm einen Streich. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Allzu leicht konnte man sich einbilden, im grauen Schneegestöber des Blizzards irgendwelche gar nicht vorhandenen Gebilde zu sehen. Aber dann rief der Steuermann: «Eisberg voraus!» Plötzlich war es keine Einbildung mehr, und Findhorn hörte sich «O mein Gott!» sagen.

Als er immer näher kam, erwiesen sich die weißen Türmchen und Zinnen des Disneyland-Schlosses als Gletscherspalten und Überhänge und alte Schmelzwassertunnel, so breit wie Autobahnen.

Auf der Brücke sahen Findhorn und Hansen durch die große Panoramascheibe mit ihren sirrenden Wischern zu, wie das Vorderdeck des Schiffs in die Wellentäler absackte und schwarzes Wasser und Schaum und Eisbrocken über das Deck gewirbelt wurden, bevor sie gegen die Brücke schlugen und an den Seiten hinabrannen. Davits, Lüftungsschächte und Reling waren von einer Eisschicht bedeckt, die einen guten Fuß dick war.

Die Sicht wurde immer schlechter. Der Kapitän, der das Funkgerät umklammert hielt, das ihn mit dem Maschinenraum verband, wirkte verbissen und gab sich wortkarg. Findhorn bemerkte, dass sein Blick immer wieder den Inklinationskompass streifte. Alle paar Sekunden kollidierten kleine Berge mit dem Schiffsrumpf und ließen ihn erdröhnen.

Findhorn hielt vergeblich nach einem Weg Ausschau, der die einschüchternde und leblose Wand des Kolosses hinaufführte. Die Klippen waren pockennarbig und doch glatt. Schräg abfallende Kämme markierten der Länge nach die Linien, bis zu denen das Wasser gereicht hatte. Mehr als haushohe Wellen schlugen erbarmungslos gegen den Fuß des Eisbergs. Nochmals sagte er: «O mein Gott!»

«Aye», stimmte Hansen zu. «Aber lieber Sie als ich.»

«Eis zweihundertfünfzig Meter», rief der Schuljunge. Sein Gesicht war fast ganz hinter der Abdeckhaube des Radars verborgen. Er hatte nur einen ganz leichten norwegischen Akzent und gab sich cool und unbekümmert. Ihn verriet höchstens das leichte Beben in der Stimme; das und die Art, wie er die Tischkante umklammerte.

«Sind Sie sicher, dass es der Richtige ist?»

Hansen grinste sadistisch. «Wir leben im Zeitalter des GPS, Mister. Aber es gibt noch eine Möglichkeit, es zu überprüfen.» Ein plötzliches Getöse schüttelte Findhorn wie eine Explosion. Sein Herzschlag setzte aus, und der Klang der Schiffssirene hallte von hundert unsichtbaren Eisbergen wider. Sie warteten.

«Würden Sie sich das mal ansehen?», rief Hansen aus.

Eine winzige Gestalt bewegte sich auf dem Gipfel des Eisbergs. Es handelte sich um einen Mann, der in dicke weiße Felle gehüllt war. Er begann wie wild zu winken.

«Ist das Watson oder Roscoe?», fragte Hansen.

«Zu weit entfernt, um ihn zu erkennen», erwiderte Findhorn.

Zu seinem unaussprechlichen Schrecken wurde er gewahr, dass der Berg ins Schwanken geriet. Die Eiswand, die vor ihnen lag, neigte sich langsam nach vorn. Entsetzt musste er mit ansehen, dass sie ihnen immer weiter entgegenkippte. Der Mann hätte eigentlich abstürzen müssen, um einem schmerzhaften Tod im eisigen Wasser tief unter ihm entgegenzufallen; stattdessen kletterte er in aller Eile wieder hinauf und war kurz darauf nicht mehr zu sehen. Eine schwarze Welle türmte sich vom Fuß des Berges auf und schwemmte Treibeis fort.

Als das Schiff die Windschattenseite erreichte, gab Hansen weitere Befehle, die Findhorn allesamt rätselhaft blieben. Der Kapitän zeigte nach vorn. «Dort ist Ihr Weg nach oben!»

Findhorn erkannte eine schmale Strickleiter, die von der geneigten Steilwand herunterhing und im tosenden Wasser endete. Kleine Eisbrocken und Schneebretter lösten sich von der Oberseite des Eisbergs und stürzten rund um die Leiter ins Meer. Donnerndes Echo hallte von den Bergen in der Nähe wider. Seine Kehle war ausgedörrt, und mittlerweile fühlte er sich vor Angst und Schrecken wie versteinert.

«Ich werd nicht näher ranfahren, denn einige von den Biestern haben einen breiten Unterwasserschelf. Und ich will nicht mehr Männer in Lebensgefahr bringen als nötig. Findhorn, klettern Sie da rauf. Machen Sie Ihren Job und bringen Sie Ihre Leute so schnell wie möglich da runter.»

Findhorn stand wie festgefroren da. «Schnell doch, Mann», fauchte Hansen, «bevor er sich auf den Rücken legt.» Ein praktisch denkender Mann, unser Kapitän, dachte Findhorn, der nicht viel von Glückwünschen oder ähnlichem Quatsch hält.

«Eis unter Wasser in dreißig Meter Entfernung, Kapitän. Reicht sehr weit runter.»

«Gut denn. Weiter fahre ich nicht.» Hansen ergriff ein Telefon, und in dem Moment erzitterte das ganze Schiff.

«Können Sie mich nicht näher ranbringen?» Findhorn sah auf die Wellengebirge zwischen ihnen und dem Eisberg. Das Schiff rauschte abwärts wie ein Fahrstuhl in freiem Fall, und die Angst verzerrte seine Stimme.

«Mister Findhorn, Sir. Strapazieren Sie nicht Ihr verdammtes Glück. Ich dürfte überhaupt nicht hier sein. Ich breche bereits Eisbrecher-Regel Nummer eins, und die lautet: Du kannst mit zwei von den dreien – Nebel, Sturm und Eis – fertig werden, aber wenn du alle drei auf einmal hast, sieh zu, dass du so schnell wie möglich wegkommst. Und ich werde auch nicht das Schicksal mit Regel zwei auf die Probe stellen: Komm einem Eisberg nie näher, als er hoch ist.» Hansen nickte über Findhorns Schulter: das Exekutionskommando, bestehend aus Leroy, dem Ersten Offizier aus Jamaika, und Arkin, dem rotgesichtigen Bootsmann, der einen Eispickel in der Hand hielt und wie ein Mörder dreinschaute.

«Ich hab so was schon erlebt», sagte Hansen. «Der wird sich demnächst auf den Rücken legen. Und wenn er umschlägt, dann geschieht das ohne Vorwarnung.»

Findhorn, dem es die Sprache verschlug, zog seine Fellkapuze hoch. Ein Matrose stieß die Tür gegen den Wind auf, und plötzlich tobte ein Schneesturm auf der Brücke. Der Mann grinste, als Findhorn an ihm vorbeiging.

An Deck war das Getöse überwältigend. Von eisverkrusteten Kabeln und Drähten, die oben an den Masten befestigt waren, ertönte ein schrilles Pfeifen. Der Schnee schmerzte wie spitze Nadeln. Das Schiff begann plötzlich zu schlingern. Aufgewühlte schwarze See rollte dem Deck entgegen. Findhorn verlor das Gleichgewicht und griff nach einem dick vereisten Geländer. Leroy bekam ihn am Umhang zu fassen und zog ihn hoch. Sie kraxelten über das Deck. Arkin führte sie an und verwandelte sich sehr bald in einen Schneemann.

Auf der Leeseite machten sich vier Matrosen, die wie Eskimos gekleidet waren, an den Stützen zu schaffen, die mit der Motorbarkasse verbunden waren. Zwei von ihnen hämmerten wie wild auf dickes Eis. Arkin kletterte an Bord, und Findhorn merkte, dass eine unbestimmte Anzahl von Händen ihn ebenfalls in das Boot hievte. Dann packte er voller Schrecken die Seitenwand, als es von einer Winde in die Höhe gehoben wurde und dadurch das Schlingern des Schiffs nur umso stärker zu spüren war. Die «Zodiac» prallte aufs Wasser, und Arkin öffnete die Sicherheitsschäkel, die schnell zu lösen waren. Dabei wäre er beinahe ins Wasser gefallen.

Hier unten auf Meereshöhe waren die Wellen gigantisch. Eine türmte sich drohend über ihnen auf. Sie hatte eine geradezu hypnotische Wirkung auf Findhorn. Er sah sie immer näher kommen und argwöhnte, jetzt müsse er sterben. Stattdessen hob die Welle das Boot nach oben wie ein schneller Fahrstuhl und drohte es gegen den eisernen Rumpf des Eisbrechers zu schmettern; aber dann lenkte Arkin das kleine Boot schnell nach oben und über den Wellenkamm in Richtung des Eisbergs. Der schien nicht mehr weiter zu kippen, richtete sich aber auch nicht auf. So dicht an den kochenden Wellen wirkte das Wasser ölig. Es war von einer dünnen Schicht aus Eiskristallen bedeckt, und Raureiffetzen füllten Findhorns Lungen und durchdrangen die Schichten seiner wärmenden Schutzkleidung. Die Gischt und der Schnee, die gegen sein Gesicht peitschten, verursachten schneidende Schmerzen.

«Wolln Sie sich die Strickleiter schnappen?», rief Leroy, dessen Gesicht sich pechschwarz gegen sein weißes Fellcape abzeichnete. Arkin steuerte um eine Eisscholle herum, die doppelt so groß war wie das Motorboot.

Findhorn betrachtete die großen Wellen, die mit Donnergetöse gegen die Eisbergwand schlugen. Wenn sie zu dicht heranfuhren, würde das Boot in Stücke geschlagen werden. Das Eis der Klippe sah hart wie Stahl aus. Zu entsetzt, um zu sprechen, nickte er nur.

Die Strickleiter baumelte in der Nähe einer großen Höhle. Drinnen war das Wasser relativ ruhig. Arkin tuckerte mit ihnen in die Richtung. Aus dieser Nähe wirkte der Berg monströs. Zischend ließ das schmelzende Eis Blasen uralter Luft frei. Findhorn kam es vor, als führen sie in den offenen Schlund eines lebendigen Wesens. Als sie in die Höhle gelangten, brodelte das eisige Salzwasser unter ihnen, schlug mit Macht gegen die Bergwand und ergoss sich über sie. Arkin packte die Ruderpinne mit beiden Händen. Dann wurde das Boot in die Höhe gehoben.

Leroy rief: «Eisplattform hebt sich! Nichts wie weg!»

Ein grässliches Zischen war zu hören, als der sich hebende Berg Wasser und Luft ansaugte. Die See kochte. Arkin, dessen Augen vor Angst weit aufgerissen waren, jagte den Motor hoch und schwang die Ruderpinne herum. Als sie unter dem überhängenden Eis hervorrasten, schrammte die Strickleiter an der Bootswand entlang, und in einem Anfall reinen Wahnsinns hechtete Findhorn danach. Er ergriff eine Holzsprosse und schwang benommen unter den Überhang zurück. Das Boot raste ungehindert davon. Der Lärm war furchtbar. Er kletterte aufwärts, wagte nicht hinunterzuschauen. Aber dann zog ihn der Berg aus dem Mahlstrom hinauf. Eis hagelte auf ihn herab, und ein faustgroßer Klumpen traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Er kletterte wie von Sinnen, verzweifelt darauf versessen, dem zischenden Ungeheuer zu seinen Füßen zu entrinnen.

Als er fünfzig Meter zurückgelegt hatte, fasste er den Mut, einen Blick nach unten zu werfen. Arkin hatte die «Zodiac» aus dem Gefahrenbereich um den Eisberg manövriert. Kleine bleiche Gesichter sahen zu ihm hinauf. Der Schnee wurde wieder dichter, und die Norsk Explorer war nur in schemenhaften Umrissen zu erkennen. Er dachte daran, was er soeben getan hatte, und schon begann sein gesamter Körper zu zittern.

Er blickte nach oben. Die Strickleiter endete ungefähr zwanzig Meter über ihm, wo sie an glänzenden Kletterhaken aus Metall befestigt war, die man ins Eis geschlagen hatte. Dahinter befand sich ein Wulst, ungefähr einen Meter breit und früher mal die Wasserlinie, und darauf stand ein bärtiger Mann. Findhorn, dessen Herz hämmerte, kletterte den letzten Meter der Strickleiter hinauf. Er packte die Hand durch den Handschuh ganz fest und merkte, dass er auf ein flaches Stück rauen Eises gezogen wurde, bis er einen Mann mit abgehärmtem und besorgtem Gesicht vor sich sah, dessen von Eis bedeckter grauer Bart mindestens fünf Tage alt war. Kleine kalte Augen musterten ihn durch die Schneebrille. Buster Watson: Findhorn kannte ihn von einem halben Dutzend internationaler Kongresse. Ein penetranter kleiner Egozentriker.

«Gott sei Dank», rief der Mann gegen den Wind. «Wo, zum Teufel, bleiben Sie denn, Findhorn?»

«Wir können froh sein, es bei diesem Wetter überhaupt geschafft zu haben. Was ist mit Ihrem Funkgerät passiert?»

«Wir haben fast alles verloren, als das verdammte Ding kalbte.»

Sie haben das Funkgerät verloren, aber nicht die Hütten?

Dann rief Watson: «Bewegen Sie sich, wir haben nur sehr wenig Zeit.» Tief in den Wind gebeugt, führte er sie auf einem flachen Plateau von ungefähr fünfzig Meter Breite über den Berggipfel. Im Schneetreiben erkannte Findhorn heftig flatternde Zelte und schneeverwehte Hütten. Ein verankerter silberner Ballon zerrte horizontal an seiner Leine und schlug aufs Eis. Sie kamen an einem Sonarturm vorbei, der vom Wind gepeitscht wurde und kleine Zwitschertöne in die Atmosphäre abfeuerte. Die gesamte Anlage sah unzweifelhaft nach einer arktischen Wissenschaftsstation aus.

Nur der Standort war verrückt.

Jetzt kamen sie an den verkohlten Ruinen einer Hütte vorbei. Eine Rußspur markierte die Windrichtung zum Zeitpunkt des Feuers. Langsam neigte sich das Plateau. Watson ging voran zu einer rechteckigen Hütte, die ungefähr sechs Meter lang war: einer von Findhorns Staubflecken. Ein Schwall warmer Luft traf sie, als Watson die Tür gegen den fauchenden Wind öffnete. Drinnen hämmerte ein Generator. Er war mit tief reichenden Stahlbolzen im Eis befestigt. Es roch nach Dieseltreibstoff. Vom Generator ging ein glänzendes schwarzes Kabel aus. Es war auf dem Eis befestigt und verschwand in einem gut einen Meter breiten Schacht.

Watson streifte seine Pelzkapuze nach hinten und nahm die Schneebrille ab. «Wir haben mit einer Dampfsonde angefangen. Das Loch, das sie hinterlassen hat, diente als Orientierung für einen großen Gopher. Er hat sich dann in die Tiefe geschmolzen.»

Findhorn stand nervös am Rand des Schachts. An der Seitenwand leuchteten im Abstand von jeweils zehn Metern nackte Glühbirnen, und eine lange Aluminiumleiter verjüngte sich bis zu einem Lichtpunkt in der Tiefe. «Wie tief reicht der Schacht?»

«Dreihundert Fuß.»

«Was?»

«Ja. Unter Meereshöhe. Sie zuerst.»

3 Berg

Die Sprossen waren von glattem, hartem Eis überzogen, und wegen der Dornen unter seinen Sohlen war Findhorn gezwungen, seinen Stiefel erst von der Sprosse zu lösen, bevor er ihn auf diejenige darunter setzen konnte.

In einer Tiefe von ungefähr zwanzig Fuß war das Fauchen des Blizzards nur noch ein Flüstern. Bei vierzig Fuß herrschte eine Grabesstille, die nur von dem metallischen Klappern der Stiefel auf den Leitersprossen und von Watsons pfeifendem Atem durchbrochen wurde. Der Mann schien es sehr eilig zu haben, und seine Stiefel kamen Findhorns Kopf manchmal bis auf wenige Zentimeter nahe.

Aber dann, bei ungefähr sechzig Fuß, hörte Findhorn allmählich neue Geräusche. Sie kamen von unten und setzten sich aus diversen Komponenten zusammen. Da gab es etwas wie ein stoßweise auftretendes Zischen. Da war etwas, das nach menschlichen Stimmen klang. Aber hauptsächlich war da ein gelegentliches Dröhnen, so tief, dass man es fast körperlich spürte.

Die Leiter schwang langsam hin und her wie ein Pendel. So ungefähr alle zwei Minuten. Findhorn dachte, er könne den Schwingungsrhythmus nutzen, um die Tiefe des Eisbergs zu ermitteln, und begann im Kopf mit der Berechnung, aber ein neuerliches tiefes Dröhnen ließ die Zahlen davonstieben wie Krähen nach dem Flintenschuss eines Farmers. Ein paar Sekunden nach dem Dröhnen wurde ein Schwall kalter Luft den Tunnel hinaufgeblasen. Der Berg atmete.

Im Schein der Lampen tief unten sah Findhorn, dass der Tunnel sich leicht krümmte und die Leiter verschwand. Nach zweihundert Fuß Abstieg war das Zischen sehr laut, und gelegentlich hörte man das Rattern einer Kettensäge. Und dann, ungefähr dreihundert Fuß tief, öffnete sich der Schacht. Findhorn sprang auf das flache Eis am Ende eines kleinen Tunnels. Watson drängte sich an ihm vorbei und ging tief gebückt voraus, bis sich ihnen ein erstaunlicher Anblick bot.

Die Höhle war fünfzig oder sechzig Fuß breit und ebenso hoch. Wie eine Filmkulisse war sie von grellblauen Scheinwerfern erleuchtet, von denen einige auf hohen Stativen standen. Vier Männer leiteten dampfend heißes Wasser aus einem dicken weißen Schlauch, der an einen zweiten Generator angeschlossen war, in einen Tunnel. Sie waren in dichten Nebel gehüllt, der aus der Tunnelmündung drang. Zwei weitere schaufelten Eismatsch in einen großen Trichter, der am Generator angebracht war. In der Enge der Höhle war der Lärm ohrenbetäubend. Findhorns Ankunft erregte großes Aufsehen. Jubel brach los, ebbte aber ab, als sich der Boden weiter neigte.

Findhorn dachte: Wir befinden uns unter dem Arktischen Ozean. Er kämpfte gegen einen Anflug panischer Klaustrophobie.

Mit einer Handbewegung wies Watson auf das Ausmaß der Höhle. «Wir haben das hier mit Heißwasserkanonen ausgeschachtet.» Einer der Männer näherte sich und schwang dabei seine Kettensäge. Im seltsamen Licht der Höhle sah er aus wie ein Kobold aus Grimms Märchen. Er hatte das faltige Gesicht eines starken Rauchers und leckte sich aus lauter unbewusster Furcht die Lippen. «Was läuft denn so?», fragte er mit hartem Dublin-Akzent. «Na, kommen wir jetzt endlich raus aus diesem verfluchten Sarg?»

Findhorn wandte sich an Watson. «Wie lange geht das hier schon so?»

«Seit er gekalbt hat. Es wird immer schlimmer. In der vergangenen Stunde hat er sich um weitere fünf Grad geneigt. Hören Sie, ich möchte noch in den Genuss meiner Pension kommen. Können wir also weitermachen?»

«Wo ist Roscoe?»

«Wie ich schon sagte, es hat einen Unfall gegeben.»

Unter den gegebenen Umständen fragte Findhorn nicht weiter nach.

«Hier entlang. Hören Sie, wir haben nicht viel Zeit.» Die Furcht in Watsons Stimme war ansteckend. Er führte Findhorn zum Ende der Höhle. Sie kamen an einer hohen senkrechten Wand vorbei, die einen fünfzehn Zentimeter breiten Riss aufwies, der vom Boden bis zur Decke reichte. Als Findhorn diesen Riss erreichte, traf ihn ein starker, eisiger Windstoß. Zu seiner Überraschung und zu seinem Schrecken führte ein weiterer Tunnel vom Ende der Höhle tiefer hinab in die Eingeweide des Eisbergs. Man hatte grobe Stufen aus dem Eis gehackt. Watson starrte hinunter. Findhorn hätte sich beinahe geweigert, weiter zu folgen, denn ihn ergriff etwas wie Panik.

Das tiefe rhythmische Dröhnen ertönte aus diesem zweiten Tunnel. In gewissen Abständen hatte man lange Metallstäbe verschieden tief ins Eis getrieben. Grelle Lampen leuchteten an den Enden der Stäbe, und das Eis schimmerte von innen heraus in einem leuchtenden Aquamarin. Jede Lampe hatte um sich herum einen kleinen Bereich Eis geschmolzen, und das Schmelzwasser rann an den Stäben entlang und tropfte auf den eisigen Boden, sodass eine tückische, fast spiegelglatte Oberfläche entstand.

Aber der blaue Gletscher war keinesfalls lupenrein. Steine, Felsbrocken, Kies und Staub waren in seinem Inneren verteilt. In einer Entfernung von ungefähr fünfzig Fuß bildeten sie in ihrer Gesamtheit eine optische Barriere, die einer Mauer glich. Ungefähr dreißig Fuß tief ins komprimierte Eis und noch immer in Reichweite der starken Bogenlampen waren größere und dunklere Formen eingebettet. Eine von ihnen war als Propeller zu erkennen, dessen Flügel nach hinten gebogen waren. Dahinter, gerade noch sichtbar, befand sich ein schartiger Rumpfteil, und erstaunlicherweise war das Glas in einem seiner Fenster noch unbeschädigt. Zwei lange Kabelstränge schlängelten sich in die Dunkelheit.

Ein Mann stand mit dem Gesicht zum Eis. Als Findhorn näher kam, drehte er sich um. «Admiral Dawson, Forschungsbüro der US-Navy. Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?»

«Ich komme nur mal vorbei. Dachte, ich könnte Ihnen das Leben retten oder so.»

Der Eisberg richtete sich auf.

Wie aus heiterem Himmel fluchte Watson los. «Dieser verfluchte Wahnsinnige will, dass wir hier bleiben, bis der Berg umkippt. Schaffen Sie uns hier fort, Findhorn.»

Findhorn deutete auf die dunklen Formen. «Was ist das?»

«Eine Yak-10. Ein leichtes sowjetisches Flugzeug aus den fünfziger Jahren.»

Mit einer Reihe schartiger Einschusslöcher seitlich am Rumpf.

«Was beabsichtigen Sie, Admiral?»

«Wir waren dabei, uns bis zum Kabinenbereich vorzuarbeiten. Noch eine Stunde, und wir hätten es geschafft, aber so, wie das hier läuft, bleibt uns wohl keine Stunde mehr. Das Sonar zeigt an, dass sich noch weitere Rumpfteile dort im Dunkeln befinden. Und ein Flügel. Und da Sie schon da sind, sollten Sie sich das hier mal ansehen.»

Der Eisberg neigte sich langsam in die entgegengesetzte Richtung. Es war minus zwanzig Grad kalt, aber auf Watsons Gesicht standen die Schweißtropfen.

Findhorn folgte Admiral Dawson in den abschüssigen Tunnel und hielt sich dabei an einem roten Nylonseil fest, das als Geländer diente. Watson schloss sich ihnen an. Der Tunnel wurde schmaler und immer steiler. Ganz kurz kam sich Findhorn vor wie in einer Grabkammer innerhalb einer Pyramide, und als sie immer weiter hinabstiegen, spürte er, dass sich seine Nerven zum Zerreißen spannten. Aber dann, ungefähr hundert Fuß tiefer, blieb Dawson bei einem hell leuchtenden blauen Licht stehen. Man hatte die Lampe ein paar Fuß tief ins Eis getrieben. Dampf stieg zischend von ihr auf und zog in Schwaden durch den Schacht.

Findhorn wischte eine Schicht Reif weg, sodass sich durchsichtiges blaues Eis zeigte. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, was er sah.

Der Leichnam war schon teilweise mumifiziert. Die Verdunstung hatte wenig mehr übrig gelassen als ein Skelett, das von glattem weißem und hart aussehendem Fleisch bedeckt war. Teile des Fleisches hatten sich in eine dunkle wachsähnliche Substanz verwandelt. Der Leichnam war zum Teil verstümmelt. Teile der Arme waren abgerissen, und das Fleisch hatte sich mehr oder weniger von den Knochen gelöst. Die Kleidung war zum größten Teil weggerissen. Die Bauchdecke war geöffnet, und die Gedärme, die noch überraschend intakt waren, sahen aus, als bestünden sie aus braunem Pergament. Er war nicht weiter als einen Fuß von einem Gesicht entfernt, das die Größe eines Suppentellers hatte. Eine dunkle Substanz war aus dem Schädel gequetscht worden, und die Gletscherwanderung innerhalb von fünfzig Jahren hatte sie fächerförmig ausgebreitet, sodass sie bis außerhalb des Lichtkreises reichte, der die Bogenlampe in einem Radius von ungefähr sechs Fuß umgab. Ein Auge war erkennbar blau; das andere, vermutete Findhorn, befand sich wahrscheinlich auf der Rückseite des zerschmetterten Gesichts. Zähne hatten die lederne Haut durchstoßen, und die Kinnlade war seitlich weggehobelt. Die Nase war bis hinunter zum klaffenden Mund eingedrückt. Die zerrissenen Reste eines grauen Anzugs waren zwischen dunkleren Materialbrocken verstreut.

Findhorn starrte stumm auf das scheußliche Antlitz. Er bildete sich ein, dass das blaue Auge zurückstarrte.

«Auf dem Pilotensitz befindet sich ein weiterer Leichnam», sagte Dawson. «Doch an den kommen wir absolut nicht ran.»

«Warum konnten die denn nicht weiter oben im Gletscher abstürzen?», beklagte Watson.

Findhorn spähte ins Eis. Von einem rechteckigen schwarzen Teil ungefähr vier Fuß tief im Eis ging ein metallisches Glitzern aus. «Was ist das?»

«Das, worum es hier geht, Kumpel», sagte Dawson. «Als wenn Sie es nicht wüssten!»

Der Berg hatte aufgehört, beängstigend abzukippen. Aber das eisige Monstrum hatte sich auch noch nicht wieder aufgerichtet.

Findhorn sagte: «Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen sich davonmachen, und lassen Sie mir eine Kettensäge da.»

Watson verschwand um eine Ecke und kehrte mit dem Kobold zurück. Der Ire rutschte fast den Tunnel hinunter. In seiner freien Hand schwenkte er eine Kettensäge, die aussah wie die Schere eines großen Krebses. Watson deutete mit seiner Taschenlampe aufs Eis, und ohne zu zögern, machte sich der Mann an die Arbeit. Im engen Tunnel war der Lärm ohrenbetäubend, doch die Säge fraß sich sehr schnell in die Wand, und Eisbrocken stoben durch den Tunnel.

«Schaffen Sie Ihre Männer hier raus, Watson», wiederholte Findhorn.

Der Berg bewegte sich wieder, aber er pendelte sich nicht ein, sondern die Neigung wurde immer stärker. «Heilige Mutter Gottes, er kippt endgültig», jammerte Watson. Seine Augen waren vor Schreck geweitet.

Der Mann aus Dublin war bis zu den Ellbogen im Eis. Der Tunnel hatte sich ausgerichtet und kippte langsam zur anderen Seite ab.

Jetzt war der Mann mit der Kettensäge bis zu den Schultern im Eis.

Ein mächtiges Dröhnen war zu hören, tief und furchtbar laut. Der Berg erzitterte. Watson rief: «Was für eine Scheiße ist das?»

Findhorn glitschte zur Haupthöhle zurück, die inzwischen unter ihnen lag. Eine Wand war aufgerissen. Der Spalt war jetzt einen ganzen Fuß breit, und vor seinen Augen weitete er sich mit einem grässlichen Knarren. Männer befanden sich am Schachteingang, schlugen und stießen um sich, weil sie die Leiter erreichen wollten. Er lief zurück zum Seitentunnel und zog sich an dem roten Nylongeländer hoch.

«Alle Mann von Bord!», rief er. Seine Stimme bebte vor Angst. Aber Dawson stieß den Iren weiter vorwärts.

Der trat hektisch um sich und wand sich aus dem Eis. Sein Gesicht war grau. «Mistdreck, ich bin hier weg», sagte er heiser. Und schon rutschte er aus, landete mit einem Schreckensschrei auf dem Rücken und rutschte den Tunnel hinunter. Die Kettensäge schlitterte ihm voraus.

«Geben Sie mir Ihren Eispickel», fuhr Dawson Findhorn an und packte das Nylonseil.

«Seien Sie kein Narr, Admiral. Er bricht auseinander. Also raus da.» Aber Dawson ergriff den Pickel mit seiner freien Hand und beugte sich in den Schacht. Er hackte wie besessen. Findhorn, der das Nylonseil mit beiden Händen umfasste, wartete und stand Höllenqualen der Ungeduld und Angst aus.

Ein weiteres Dröhnen. Plötzlich schlingerte der Berg.

«Er kippt!», schrie Findhorn.

Der Admiral zerrte an etwas. «Holen Sie mich raus! Schnell!»

Ein drittes gewaltiges Krachen ertönte vom Haupttunnel her. Findhorns Füße verloren den Halt. Er schlug schwer aufs Eis und stürzte in die Höhle. Dabei überschlug er sich. Der Spalt war jetzt sechs Fuß breit, und er schlitterte ihm entgegen. Kisten, Lampen, Bohrgeräte, Kettensägen und Männer rutschten unkontrolliert der Öffnung entgegen. Wasser brandete den Schacht hinunter und riss Männer mit sich. Die Lichter gingen aus. In der Finsternis stieß jemand einen schrillen Schrei aus. Findhorn, der auf dem Rücken rutschte und immer schneller wurde, ohne etwas tun zu können, spürte, wie ein eiskalter Windhauch an ihm vorüberrauschte. Das Geschrei war jetzt über ihm und wurde leiser, als käme es von einem Mann, der in die Höhe schoss. Von unten ertönte ein tiefes und ohrenbetäubend lautes Krachen wie von einer Explosion. Anfangs nahm er nichts anderes wahr, aber schließlich wurde ihm klar, dass es vom Wasser stammte, das in einen Hohlraum schlug. Er befand sich jetzt schon fast in freiem Fall.

Und dann spürte er, wie eine Riesenhand ihn von unten in die Höhe stieß, als beschleunigte der Tunnel himmelwärts. Eis riss eine schmerzende Wunde in seine Stirn, und ein Lichtfleck über ihm vergrößerte sich schnell. Einen Augenblick später hatte sich das immer näher kommende Grau aufgehellt, und fahles Tageslicht strömte in eine Gletscherspalte, und dann war er draußen und fünfzig Meter hoch, flog im Bogen durch die Luft und ruderte hilflos mit den Armen. Er konnte gerade noch ein winziges Boot sehen, aus dem ihn zwei entsetzte Gesichter anstarrten, und dahinter die umnebelten Umrisse des Eisbrechers. Das Bild beherrschte jedoch eine massige, von Eisbrocken übersäte schwarze Welle, ein bösartiges lebendiges Wesen, das größer war als das Schiff, und in den Sekunden, in denen er dem arktischen Wasser entgegenwirbelte, wusste Findhorn, dass er gleich sterben würde.

4 Findhorns Traum

Findhorn konnte sich in allen Einzelheiten an seinen Tod erinnern. In erster Linie fand er jedoch, dass es dämlich war, so zu enden.

Sie hatten beim Lunch im El Greco’s ziemlich gebechert, Hazel, Bruce und er. Der spada war erstklassig gewesen (ohne Sauce, perfekt gegrillt). Sie hatten den Matsumo-Vertrag diskutiert und waren übereingekommen, dass er einen erstaunlichen Profit versprach. Bei Kaffee und Ouzo hatten sie – ohne dass er es hören konnte – ihre Überlegungen zur Attraktivität von Kontos alias «Bonkos» angestellt, dem hässlichen griechischen Besitzer mit dem roten Ferrari und der schier endlosen Reihe von «Zuckerpuppen», wie Bruce sie neidvoll nannte.

Draußen vor dem Restaurant hatte Hazel Findhorn etwas zugerufen, als er, beschwipst vom Wein, auf die Straße trat. Ihm blieb nur ein Sekundenbruchteil, Hazels erschrecktem Blick zu folgen, bevor ihn der Leyland-Laster anfuhr, seinen Schädel auf das harte Londoner Straßenpflaster schmetterte. Einen kurzen Augenblick später zermalmte ein wuchtiges Rad seinen Brustkorb.

Der Herzmonitor sendete sein Mikrowellensignal, und als der Krankenwagen den Eingang der Notaufnahme von St. John’s erreichte, warteten die Geier schon darauf, dass sein Tod offiziell bestätigt wurde. Der Unfallarzt schüttelte den Kopf über Findhorns eingedrücktem Brustkorb, und nach einer eilig hingekritzelten Unterschrift wurde der Leichnam ganz schnell dem Team überstellt. Auf dem Weg über die Mall wurde er in dessen verplombtem grauem Transporter auf einen Tisch geschnallt. Mit einer Vielzahl von Skalpellen und einer kleinen Säge wurde Findhorns Kopf abgetrennt. Als sie in Haymarket einbogen, wurden die Blutgefäße am Körper abgebunden, um den Blutfluss zu stillen. An einer roten Ampel wurden, während Touristen und Büromädchen vor ihnen die Straße überquerten, Findhorns Halsschlagadern mit Schläuchen verbunden, und man ersetzte das Blut in seinem Kopf durch eine sehr kalte Flüssigkeit. Am Piccadilly und die Regent Street hinauf wurde sein Kopf in eine Folie gewickelt und umgekehrt in einen Behälter mit flüssigem Stickstoff gelegt, wodurch der Transporter kurzzeitig von aufsteigendem Eisnebel erfüllt wurde, den man jedoch durch einen Entlüfterstutzen auf die belebte Straße ableitete. Nachdem man den Metalldeckel des Behälters fest verschlossen hatte, wurde warme Luft in den Transporter gepumpt, und die Mitglieder des Teams entledigten sich ihrer Operationsmasken, ihrer Schutzbrillen und ihrer blutigen Handschuhe. Sie entspannten sich. Jemand öffnete eine Thermosflasche; Zigaretten wurde angesteckt, und über dem kopflosen Kadaver wandte sich das Gespräch dem bevorstehenden Spiel zu. Der Transporter fuhr mit hoher Geschwindigkeit der M1 entgegen. Sein Ziel war ein weiträumiges, anonymes Landhaus, das versteckt in Buckinghamshire lag.

All das sah Findhorn wie von oben, von einer Kamera im Dach des Transporters.

Da gab es einen Tunnel, und alles, was je gewesen war oder sein würde, war eingebettet in seine Wände, und er bewegte sich durch den Tunnel auf ein winziges Licht zu, das dessen Ende markierte, und das Licht wurde größer und größer, bis er sich in einem strahlend weißen Raum wiederfand. Er wachte auf, vermochte sich jedoch nicht zu bewegen. Die Kälte ließ sich mit nichts vergleichen, was er je erlebt hatte, und verursachte heftigste Schmerzen. Irgendwo im Hintergrund war ein sanftes Pulsieren, ähnlich dem Fließen von Blut in seinen Ohren. Der Raum hatte weder Wände noch eine Decke. Er war weiß und eiförmig. Nirgendwo war eine Lichtquelle zu entdecken, und doch war er hell erleuchtet wie ein Operationssaal. Eine Tür wurde aufgeschoben, und schweigend trat eine Krankenschwester ein, die um die zwanzig war. Sie beugte sich über ihn. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

«Ich habe es geschafft», sagte er, aber mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande.

«Gerade noch.» Ihre Stimme klang überraschend grob.

«Wie lange bin ich tot gewesen?»

«Eine sehr lange Zeit. Sehr lange.»

«Habe ich einen Körper?»

Sie lächelte. Es war ein sonderbares, mechanisches Lächeln. Ihre Lippen kräuselten sich fast zu einem Halbkreis. «Natürlich. Das Klonen ist eine uralte Kunst. Sie sind jetzt dreißig, physiologisch in perfektem Zustand. Das wird in alle Ewigkeit so bleiben. Und Ihr Verstand wurde optimiert. Nach den Maßstäben Ihres Jahrhunderts sind Sie ein Supermann.»

«Hat jemand überlebt, den ich kenne?»

«Nein. Die Gehirnkonservierung war zu Ihren Zeiten sehr ungewöhnlich. Das macht Sie zu einem höchst seltenen Exemplar. Wir haben unsere Pläne mit Ihnen.»

«Pläne?» Beklommenheit erfasste ihn.

Wieder dieses sonderbare Lächeln. Aus der Nähe hatte man den Eindruck, dass mit ihren Augen etwas nicht stimmte. Sie hatten eine seltsame Form. «Haben Sie erwartet, die Ewigkeit im Paradies zu verbringen?»

«Diese Kälte. Können Sie mich davon befreien? Warum kann ich mich nicht bewegen?»

«Wie ich schon sagte: Wir haben unsere Pläne mit Ihnen. Die Kälte gehört dazu.»

Langsam wurde Findhorn von einem unbestimmten Grauen erfasst. So hatte er sich seine Auferstehung ganz und gar nicht vorgestellt, dies war nicht die Welt, die er vorzufinden erwartet hatte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. «Sie sind nicht real, oder? Ein Hologramm.»

«Hologramm», wiederholte sie. Ein winziger Moment des Zögerns. «Hologramm. Ja, ich verstehe, eine Erfindung Ihres Jahrhunderts.» Findhorn meinte, eine Spur von Belustigung zu entdecken, fast schon Spott. «Nein, Mister Findhorn, ich bin kein Hologramm.»

«Aber Sie existieren nicht wirklich.» Ein neuerlicher Schrecken. «Ebenso wenig wie ich. Sie senden Impulse in mein Gehirn. Nichts von alledem hier ist real.»

«Was haben Sie denn erwartet? Ewig lebende Menschen, die nach Lebensraum hungern und Reichtümer begehren? Nein, schon vor sehr langer Zeit haben Maschinen alles organische Leben verdrängt. Dennoch halten wir noch immer ein lebendiges Gehirn für sehr nützlich, wenn wir eines finden können.»

Findhorn malte sich plötzlich einen Computer aus, der irgendwo stand und Träume in Gehirne fütterte, die in einem riesigen automatisierten Lagerhaus aufbewahrt wurden. Reine Wirtschaftlichkeit. Viel einfacher, Gehirnzellen zu kitzeln, als lebendige, nach Lebensraum hungernde und Reichtümer begehrende Menschen wieder zu erschaffen, die niemals sterben.

Das Pulsieren wurde lauter. Es erinnerte an einen Schiffsmotor. Die Kälte steckte ihm in den Knochen. Sie verursachte grässliche Schmerzen. «Hören Sie, so hab ich es mir nicht vorgestellt. Das hier will ich nicht bis in alle Ewigkeit.» Unter Schmerzen holte er Luft und kam zu einem Entschluss. «Es war ein Fehler. Bitte schalten Sie mich ab. Lassen Sie mich sterben.»

Die Lippen kräuselten sich abermals zu einem perfekten Halbkreis. Die Augen taten es dem Mund nach. Sie beugte sich über ihn, und zum ersten Mal sah Findhorn etwas Langes, Dünnes und Metallisches in ihrer Hand. «Tut mir Leid. Den Wunsch kann ich Ihnen nicht erfüllen.»

 

«Was hat er gesagt?»

«Er kommt zu sich.»

«Ich sage es dem Kapitän.»

Findhorn öffnete die Augen. Im Erste-Hilfe-Raum war es warm. Die Kälte, die Findhorn spürte, kam von innen. Er lag unter einer Schicht von Decken, ohne sich bewegen zu können. Ein sanftes, stetiges Pulsieren kam vom Schiffsmotor unter ihm. Leroy, dem die Dreadlocks in die Stirn hingen, beugte sich über ihn. Seinem Blick war Besorgnis abzulesen. Jetzt, da sich der Albtraum der Unsterblichkeit verflüchtigte, brachte Findhorn ein Flüstern heraus: «Leroy, Sie sind wunderschön.»

Die Besorgnis des Ersten Maats wich einem breiten Grinsen. «Da sollten Sie erst mal meine Schwester sehen.»

Hansens bärtiges Gesicht erschien an der Tür. «Dachte schon, Sie seien abgekratzt.»

«Was ist geschehen?»

Leroy trat beiseite, um in dem winzigen Raum dem Kapitän Platz zu machen. «Wie wär’s jetzt mit ’ner schönen heißen Suppe?»

«Die könnte ihn umbringen», sagte Hansen. «Würde den Kreislauf durcheinander bringen und seinen Hirnstamm mit eisigem Blut überschwemmen. Also lieber lauwarm.»

Als der Erste Offizier gegangen war, wandte sich Hansen an Findhorn. «Wir haben sie.»

Findhorn, zum Sprechen zu schwach, nickte nur.

«Sie war in einem Eisblock. Sie haben ihn entdeckt, als er mit Watson rauskam. Man hat euch zuerst an Bord geholt und danach den Eisblock gesucht. Hat eine halbe Stunde gedauert, ihn im Treibeis zu finden.»

«Und?»

«Jetzt befindet sie sich im Schiffssafe. Der Admiral scheint der Meinung zu sein, sie sei sein Eigentum. Bei allem Respekt bin ich ganz anderer Ansicht. Wenn sie im Wasser gelandet ist, handelt es sich um Bergungsgut.»

Hansen zog seine Pfeife hervor und machte sich daran, sie mit teerigem schwarzem Tabak zu stopfen. «Sie kam uns teuer zu stehen. Der Eisberg ist glatt in zwei Teile zerbrochen. Watson, Dawson und Sie kamen aus seiner Mitte hervorgeschossen wie aus einem Kanonenlauf. Drei Männer aus Watsons Team kamen nie wieder zum Vorschein, vier sind ertrunken. Sieben Tote.»

Findhorn entsann sich. «Mein Gott.»

«Aye. Und drei weitere starben auf dem Berg, bevor wir hier ankamen, aber unsere amerikanischen Gäste sind bemerkenswert wortkarg, was das betrifft. Die Polizei von Leith wird sie deswegen zur Verantwortung ziehen.» Der Kapitän schaffte es zu sprechen, obwohl er gleichzeitig seine Pfeife anzündete. In dieser Kunst war er offenbar sehr versiert. «Leroy verdanken Sie Ihr Leben. Watson, dieser Admiral und Sie waren die Einzigen, die man erreichen konnte, und Sie drohten allesamt unterzugehen. Leroy kommt also zuerst Ihnen zu Hilfe, aber die Pelzklamotten sind im Wasser tonnenschwer. Danach kümmert er sich um den Admiral. Als Arkin und er ihn schließlich rausgezogen haben, ist Watson nicht mehr zu finden.»

Findhorn versank wieder in seinen Träumen.

 

Der Geruch von gebratenem Fisch zog in den Erste-Hilfe-Raum. Von unten war das Pochen lauter und schneller geworden. Fahles arktisches Licht schien durch ein Bullauge herein. Das Schiff rollte durch die schwere See, und jedes Mal, wenn es einen Wellenkamm erreichte, sah Findhorn Eisberge auf dem Meer verteilt wie Schiffe einer Armada. Also hatte Hansen wahrscheinlich Kurs nach Westen eingeschlagen, um dem Packeis auszuweichen, und war gleich hinter der Insel Jan Mayen nach Süden abgedreht. Doch es gab noch immer Treibeis. Wahrscheinlich hatten sie noch nicht siebzig Grad Nord erreicht.

Findhorn wand einen Arm unter den Decken hervor und streifte sie dann eine nach der anderen ab. Er setzte sich auf, und etwas Schwierigeres war ihm in seinem ganzen Leben wohl noch nicht gelungen. Seine Armbanduhr, die auf dem Tisch neben ihm lag, ging noch und zeigte 7 Uhr 15 an. Das musste wohl abends sein, denn Bratfisch war wohl sogar für diese kosmopolitische Besatzung eine Abendmahlzeit. Achtzehn Stunden lang war er ohne Bewusstsein gewesen. Seine Blase drohte zu platzen.

Mit erleichterter Blase und in einem übergroßen Pullover aus Aranwolle, Jeans und Turnschuhen erschien er am Eingang zur Messe. Er stemmte sich gegen das Schlingern des Schiffs.

«Sie verdammter Irrer», hieß Hansen ihn willkommen. «Wieso sind Sie denn auf?»

«Mir ist nach Leroys roter Erbsensuppe.»

Leroy verschwand. Als man Findhorn dabei behilflich war, sich zu setzen, fing er einen Blick des Dubliners auf. «Was ist mit Roscoe passiert?»