Nemesis - Bill Napier - E-Book

Nemesis E-Book

Bill Napier

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Beschreibung

Ein Millionen Tonnen schwerer Asteroid rast auf die Erde zu … Die westliche Welt hat Anlaß zur Sorge um die politische Situation in Rußland. Die CIA erhält Informationen über eine russische Weltraumoperation, die das Leben von 200 Millionen Amerikanern gefährdet. Sollte diese nicht rechtzeitig gestoppt werden können, sieht sich das Pentagon zu einem atomaren Erstschlag gegen Rußland gezwungen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Bill Napier

Nemesis

Aus dem Englischen von Kim Schwaner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Millionen Tonnen schwerer Asteroid rast auf die Erde zu …

Die westliche Welt hat Anlaß zur Sorge um die politische Situation in Rußland. Die CIA erhält Informationen über eine russische Weltraumoperation, die das Leben von 200 Millionen Amerikanern gefährdet. Sollte diese nicht rechtzeitig gestoppt werden können, sieht sich das Pentagon zu einem atomaren Erstschlag gegen Rußland gezwungen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Über Bill Napier

Bill Napier, geboren 1940 in Perth/Schottland, arbeitete nach Stationen in Edinburgh, Oxford und Rom am Observatorium von Armagh (Nordirland) und gilt in der internationalen Fachwelt als einer der führenden Asteroidenforscher. Er war unter den ersten Wissenschaftlern, die das Aussterben der Dinosaurier auf einen Kometeneinschlag zurückführten (mittlerweile eine weithin akzeptierte Erklärung). Im Sonnensystem kursiert bereits ein Komet, der nach ihm benannt ist: Napier 7096.

Inhaltsübersicht

Wir danken Herrn ...Die Gedichtzeile auf ...Teil I / American ShindigDer erste TagTag zweiTag dreiTeil II / Italian MasqueTag vierDer letzte TagTeil III / Mexican CarnivalCape CanaveralSeiner Majestät TreasuryJudge Dredd und die Engel der VerdammnisDer Situation Room, T minus 49 StundenDer Weg nach MexikoXochicalcoTinker Air Force Base, T minus 9 StundenDer WhirlpoolDer Situation Room, T minus 1 Stunde 30 MinutenDie HaciendaMexiko, die letzte StundeEinschlagDie Sonora-Wüste

Wir danken Herrn Dr. Gerhard Hahn vom Berliner Institut für Weltraumsensorik und Planetenerkundung für seine wissenschaftliche Beratung bei der Übersetzung.

Die Gedichtzeile auf Seite 158 stammt aus Percy Bysshe Shelleys Gedicht «Ozymandias», die deutsche Übersetzung ist folgendem Band entnommen: Alexander von Bernus (Hg.), Englische Lyriker: Percy Bysshe Shelley – Gedichte. Übertragen von Alexander von Bernus, Walter Schmiele, Rudolf Borchardt und Felix Braun, Heidelberg 1958 (Verlag Lambert Schneider)

Teil I

AMERICAN SHINDIG

shindig [?] 1. a dance, party or other affair. 2. shindy, a noisy disturbance; commotion

shindig [?] s.1. Slang ‹Schwof› m, Tanz(veranstaltung f) m; im weiteren Sinne (‹wilde›) Party. 2. shindy s. Krach m, Radau m

Der erste Tag

Verschleppung

Buachaille Etive Mor, Glencoe, Schottland. 0630 GMT

Irgend etwas.

Der junge Mann öffnete jäh die Augen. Die Erinnerung an den Traum verblaßte, und er starrte in die Dunkelheit, konnte sich nicht erklären, warum ihm das Herz bis zum Hals schlug.

Zuerst nahm er nur wahr, wie Zentimeter von seinem Gesicht entfernt die Leinenplane flatterte und der Wind um die Halteseile pfiff. Und dann war es wieder da, ein fernes Dröhnen, dumpf und drohend, das über den Geräuschen des Sturms an- und abschwoll. Verwirrt horchte er hinaus.

Dann dämmerte es ihm.

Lawine!

Er befreite sich in aller Eile aus seinem Schlafsack und zerrte hektisch an dem Seil, mit dem die Vorderseite des Sturmzelts zugezurrt war. Der Knoten war unauflöslich verheddert, das Geräusch wurde immer eindringlicher. Verzweifelt tastete er in der Dunkelheit nach einem Brotmesser, fand es, zerschnitt das Seil, klappte die Plane mit einem Schwung zurück und stürzte sich kopfüber in die dunkle Nacht.

Der Schneesturm traf ihn mit solcher Gewalt, daß es ihm den Atem raubte.

Einen panischen Moment lang dachte er daran, in die Dunkelheit zu rennen, aber dann fiel ihm wieder ein, wo er sich befand: auf einem Bergkamm direkt an einem Steilhang. Und das Tosen kam von unten aus der Senke.

Er hechtete zurück ins Zelt, tastete nach der Paraffinlampe und einer Schachtel Streichhölzer. Der Wind blies das Zündholz aus. Und das nächste und das nächste. Mit dem vierten klappte es dann, und er hängte die brennende Lampe an einen Aluminiumstab. Er sah sich um. Wie leuchtende Insekten taumelten Schneeflocken aus der Leere in den Lichtkreis, der das Zelt mit einem Radius von ungefähr zehn Metern umgab. Er konnte gerade den Rand des Kamms erkennen, knapp zwanzig Meter entfernt.

Ein Kegel bläulichweißen Lichts stieg aus der Senke auf, schwankte von links nach rechts, bevor er aus dem Gesichtskreis des Mannes verschwand.

Lawinen haben keine Scheinwerfer.

Die Beine des Mannes zitterten; ob vor Kälte oder Erleichterung, wußte er nicht. Der Lichtkegel schwenkte planvoll suchend auf und ab. Schnee tanzte im Strahl.

Ihm wurde plötzlich klar, daß ein Mann, der während eines Glencoe-Schneesturms nur Boxershorts trug, wahrscheinlich eine Lebenserwartung von ein paar Minuten hatte. Schon jetzt schmerzte sein ganzer Rücken in der eisig brennenden Kälte. Hastig griff er nach den Kordhosen und einem Pullover, zog sie an und schlüpfte in die Kletterstiefel. Er stolperte über die losen Senkel, rappelte sich wieder auf und stapfte durch den Tiefschnee an den Rand des Bergkamms über dem Lost Valley. Ihm wurde bewußt, daß er sich auch mit dem Pullover höchstens noch fünf zusätzliche Minuten erkauft hatte: Der Wind fuhr durch ihn hindurch wie eine Kettensäge durch Butter.

Der Lichtkegel richtete sich in die Höhe und kam näher. Er streifte suchend über die Berghänge. Plötzlich überflutete das Licht den Bereich um ihn herum. Der grelle Suchscheinwerfer strahlte in den Himmel und kam näher; das Getöse wurde ohrenbetäubend; der Boden vibrierte. Benommen nahm der Mann ganz kurz die wirbelnden Rotorblätter wahr, die direkt über ihn hinwegratterten. Ein gigantisches Insekt, ein gelbes Flugmonster, umkreiste ihn und sank dann hinab auf eine ungefähr dreißig Meter entfernte schräge Schneefläche. Es verschwand beinahe vollständig in dem Schneegestöber, das durch seine Rotoren aufgewirbelt wurde. Es versuchte, Halt zu finden, ließ davon ab, versuchte es nochmals, aber seine Landekufen schlitterten über den Schnee, und die Maschine rutschte gefährlich zur Seite weg und näherte sich einer Steilwand. Der Pilot gab auf und stieg wieder auf, über den Kopf des Mannes.

Eine spinnenähnliche Silhouette löste sich von der Seite der Maschine und sank langsam an einem schaukelnden Faden herab. Sie landete eine Armlänge entfernt im knietiefen Schnee und entpuppte sich als ein junger Flieger in khakifarbener Montur. Flt Lt A.W.L. Manley verriet die Schablonenschrift auf seinem Helm. «Dr. Webb?»

Webb starrte ihn verblüfft an und nickte.

«Sie kommen mit nach oben. Bitte schnell.»

St. Pierre de Montrouge, Paris. 0730 Central European Time

Fünfhundert Meilen südöstlich in Paris hatte sich der rauhe atlantische Sturm abgeschwächt, und der möglicherweise todbringende Blizzard war zu einem unfreundlichen naßkalten und böigen Wind geworden.

Ganz wie es seiner Gewohnheit entsprach, verließ der Professor pünktlich um 7 Uhr 30 seine Wohnung. Dunkle Wolken ballten sich über den Dächern, eine Zeitung wirbelte die Straße entlang, und eine einsame Taube hatte es auf einen Geschwindigkeitsrekord abgesehen; aber er war wohlgekleidet in Trenchcoat und Baskenmütze. Wie immer ging er zum zweihundert Meter entfernten Café Pigalle. Dort zog er seinen durchnäßten Mantel aus und setzte sich an den Marmortresen. Ohne auf seine ausdrückliche Bestellung zu warten, setzte ihm Monique zwei kleine Tassen mit starkem Espresso und ein Croissant mit Butter und Marmelade vor, das er verzehrte, während er die Pariser beobachtete, die in frühmorgendlicher Eile vorüberhasteten.

Um zehn Minuten vor neun machte er sich wie immer auf den Weg durch die Rue d’Alesia, sprang über die Rinnsteinbäche und wich den Bugwellen der Lastwagen aus. Er schlug an der Kirche St. Pierre de Montrouge eine andere Richtung ein und eilte zielstrebig der Sorbonne entgegen. Es gab für ihn nicht den geringsten Anlaß, den Mann zu beachten, der am Kiosk Zigaretten kaufte. Der Mann war untersetzt und bullig, hatte kurzgeschorene graue Haare. Sein Stiernacken war durch den hochgeschlagenen Kragen seiner durchnäßten Weste gegen den Regen geschützt. Ein Polizist stand neben dem Kiosk am Straßenrand, dem Professor den Rücken zugekehrt, und beobachtete durch den kleinen Wasserfall, der sich vom Schirm seiner triefenden Mütze ergoß, den Verkehrsfluß.

Als der Professor auf Höhe des Kiosks war, drehte sich der vierschrötige Mann plötzlich um. «Professor Leclerc?»

Verdutzt sah Leclerc dem Mann in die Augen, die keine Gefühlsregung zeigten. «Wer sind Sie?»

Aus dem Augenwinkel sah der Professor einen großen Citroën vorfahren. Dessen hintere Tür wurde geöffnet, und ein weiterer Mann stieg aus: dünn, schmallippig und mit tiefliegenden Augen. Plötzlich und ganz instinktiv bekam es der Professor mit der Angst zu tun.

«Bitte begleiten Sie uns, Professor.»

«Wieso? Was soll das?»

«Ich weiß nicht. Es geht um die nationale Sicherheit. Steigen Sie ins Auto.»

Leclerc dachte an ein Attentat und wollte davonrennen, doch kräftige Arme packten ihn und nahmen seinen Hals in einen schmerzhaften Klammergriff. Er wand sich in wütender Gegenwehr, und seine Baskenmütze fiel zu Boden, aber dann drehte ein weiteres Händepaar ihm den Arm auf den Rücken. Halb erstickt versuchte er zu schreien, während er auf den Rücksitz des Autos gestoßen wurde. Eingeklemmt zwischen zwei Männern, bekam Leclerc einen Arm frei und hämmerte gegen die Heckscheibe. Der Polizist wandte sich noch ein Stückchen weiter ab, kehrte dem Professor vollständig den Rücken zu. Der Fahrer gab Gas, schnitt einem Taxi den Weg ab. Der Mann am Kiosk ordnete seine Zeitungen, die Pariser hasteten vorüber, und der Polizist, von dessen glänzendem Cape das Wasser rann, warf die Baskenmütze in einen Papierkorb, ohne den Blick vom regenglitzernden Berufsverkehr zu lassen.

Baltimore, Maryland. Mitternacht

Der warme Ozean, der den atlantischen Sturm mit Kraft versorgte, lud seine Energie auch im hohen Norden des Planeten ab. Hier war die Luft von der Sonne abgewandt und der interplanetarischen Kälte ausgesetzt; hier reagierte sie auf die uralte Rotation der Erde und zirkulierte gegen den Uhrzeigersinn um das Nordpolarmeer: Ein gewaltiger Blizzard heulte über dem Packeis und den Seehunden, den Killerwalen und dem sonnenlosen Ödland.

Der Blizzard peitschte über den Pol, hinunter über Alaska und die Nordwestgebiete, fegte über tausend Meilen von Baffin Island hinweg und umheulte ein paar Jagdgruppen der Inuit, die ihn als Chinook kannten, eine feindselige Kraft, die in die Nasenlöcher hinauffuhr und auch noch die winzigsten Ritzen in den Schneebrillen fand. Der Blizzard war über der Provinz Quebec und dem Staat New York noch immer ein Blizzard, aber so weit entfernt vom ozeanischen Hitzemotor erstarb er langsam. Am Broadway und Times Square wirbelte dieser sterbende Schneesturm dennoch stark genug, um die Menschen, die spätabends aus den Theatern kamen, in die Wärme der Bars zu treiben und Verkehrspolizisten in verdrießliche Paranoia zu versetzen.

Bei der Überquerung der Großen Seen flaute der Wind rapide ab, bis er in Baltimore und Washington schließlich ganz erstarb. Jetzt rieselten die Schneeflocken sanft hinab auf schlafende Häuser, ein traditionelles Weihnachten begleitend, Bing Crosby, «Stille Nacht» und Christbäume, die hinter einer Million dunkler Fenster glitzerten.

In zumindest einem Vorstadthaus in Maryland war die Nacht jedoch weder still noch friedlich, und die Besitzerin hätte beim ausgelassenen Partylärm und der dröhnenden Tanzmusik fast das Läuten der Türglocke überhört. Widerstrebend löste sich Hilary Sacheverell von ihrem weißhaarigen, hochgewachsenen Tanzpartner und schlängelte sich zwischen den Gästen hindurch. Im Flur stieg sie über ein junges Paar, das an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. Sie öffnete die Tür, und in Erwartung später Ankömmlinge trat ein Lächeln auf ihre Lippen. Ein Schwall frostiger Nachtluft wehte um ihre entblößten Schultern, und sie fing zu zittern an.

Zwei Männer um Mitte Dreißig, einer weiß, einer schwarz. Fremde. Ihre Köpfe und dunklen Mäntel waren von Schnee gesprenkelt, als seien sie mit Flitterwerk verziert. Ein schwarzes Buick-Cabrio hatte sich irgendwie zwischen den Mercedes und Dodge hindurchgemogelt, die die Zufahrt verstopften. Ein dritter Mann, im Buick, durch die dunkle Windschutzscheibe gerade noch auszumachen. Die Frau war plötzlich alarmiert.

«Mrs. Sacheverell?» fragte der Schwarze.

Sie nickte voller Unbehagen.

«Ist Ihr Sohn da?»

«Welcher?»

«Wir suchen Dr. Herbert Sacheverell, Ma’am.»

«Herby ist hier», sagte sie. «Gibt es ein Problem?»

«Könnten wir ihn kurz sprechen?»

Eine gewisse Schärfe im Blick, eine professionelle Wachsamkeit. Ein Instinkt hielt sie davon ab, die Männer aus der eisigen Kälte hereinzubitten. «Warten Sie bitte einen Moment.»

Es dauerte eine volle Minute, bis sie einen dürren Mann mittleren Alters mit dicken Brillengläsern und abstehenden roten Haaren aufgestöbert hatte, der zusammen mit dem Ellis-Weibsbild am Küchentisch saß. Eine fast leere Flasche Jim Beam stand zwischen ihnen. Das junge Mädchen hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Kinn in die hohlen Hände. Mit unverhohlener Bewunderung starrte es in Sacheverells blaue Augen. Davon angespornt, pries dieser die Vorzüge einer Cannabis-Legalisierung und zählte die wichtigsten Argumente unter Zuhilfenahme seiner Finger auf.

«Herby, zwei Männer für dich», sagte Mrs. Sacheverell und sah durch die Ellis hindurch. «Die wirken irgendwie offiziell. Bist du ungezogen gewesen?»

Herby schüttelte leicht verdattert den Kopf. Er stand bedachtsam auf, faßte die offene Küchentür ins Auge und steuerte dann übertrieben festen Schrittes darauf zu.

«Gefällt dir die Party?» fragte Mrs. Sacheverell.

«O ja, Mrs. S. Herby ist wirklich nett zu mir.»

«Sag mal, hast du schon ein Mittel gegen diesen großen Fleck an deinem Kinn gefunden?» fragte Mrs. Sacheverell und schürzte die Lippen zu einem Lächeln.

Das Lächeln wurde erwidert. «Ich benutze eine Creme. Die ist angeblich auch gut gegen Falten – ich werde sie Ihnen gelegentlich vorbeibringen.»

«Das wäre zu freundlich, meine Liebe. Trink nur schön weiter.»

Eine Minute später läutete die Türglocke abermals. Herb Sacheverell stand zwischen den beiden Männern. Seine Lippen waren zusammengepreßt, sein Gesicht sah bleich und angespannt aus. «Ich werde ein paar Tage fort sein. Dringende Angelegenheit.»

Sie blickte voller Besorgnis auf die Männer links und rechts von ihrem Sohn.

«Da ist doch was passiert. Wer sind diese Leute?»

«Mom, es ist alles okay. Nur eins. Es ist wichtig, daß du niemandem etwas sagst. Sollte jemand fragen – es sind Freunde aufgetaucht, und ich mache ein paar Tage Urlaub.»

Hilary Sacheverells Argwohn unterlag ihrem Sinn fürs Praktische. «Laß mich dir einen Koffer packen.»

«Dazu ist keine Zeit. Man wird sich um mich kümmern. Und jetzt muß ich weg.»

Hilary Sacheverell sah zu, wie der schwarze Buick die Zufahrt hinunterkurvte, auf der Straße beschleunigte und schnell davonfuhr. Sie fand den Weg zurück ins Wohnzimmer, ein starres Lächeln auf den Lippen.

Nordatlantik, 0650 GMT

«Sie haben den falschen Mann. Ich bin kein Arzt.»

«Das hier ist kein Rettungseinsatz. Wenn Sie Webb sind, werden Sie an Bord verlangt.»

«Was seid ihr überhaupt für Leute?»

«Wir haben nicht viel Zeit, Sir!» rief der Flieger.

«Zum Teufel mit Ihnen!» schrie Webb zurück.

«Sir, ich bin autorisiert, Gewalt anzuwenden.»

«Versuchen Sie das ja nicht. Autorisiert von wem?»

«Wir haben nicht viel Zeit, Sir.» Der Flieger trat einen Schritt vor. Webb wandte sich instinktiv um und wollte davonlaufen, erkannte aber angesichts des Schneegestöbers und der jenseits lauernden Dunkelheit augenblicklich, daß eine solche Aktion eine lebensgefährliche Torheit wäre. Verärgert hob er die Hände, um seine Kapitulation zu signalisieren, und pflügte dann durch den Schnee zurück zu seinem Zelt. Der Abstrahl des großen Rotors drohte es flachzulegen, und die Halteseile zerrten an den Heringen. Drinnen war der Lärm der flatternden Plane ohrenbetäubend, und die Paraffinlampe schaukelte bedrohlich. Papiere flogen im Zelt umher. Er sammelte sie ein, griff einen Laptop-Computer, machte die Lampe aus und stapfte dann wieder zurück zu dem Lieutenant, Papiere und Computer fest an sich gepreßt. Der Flieger wies in den weißen Schneesturm, und er rannte geradewegs hinein. Unter dem großen Rotor war der Abstrahl extrem heftig; es kam ihm vor, als würde er gefriergetrocknet. Der Flieger rief: «An mir festhalten!» und legte ihm Gurtwerk um. Dann lösten sich Webbs Füße vom Boden. Krampfhaft umklammerte er seine Papiere, als sich die Winde drehte und sie durch den böigen Wind aufwärts zog.

Ein Weihnachtsbaum, fest verschnürt und bereits mit Kugelschmuck versehen, lag der Länge nach in der Maschine. Ein halbes Dutzend Säcke mit dem Wort «Santa» in roten Lettern lag ebenfalls auf dem Boden. Zwei Zivilisten, zwischen fünfzig und sechzig, befanden sich im rückwärtigen Teil des Helikopters. Sie waren identisch gekleidet, trugen Kopfhörer, graue Parkas und hellgelbe Schwimmwesten. Webb erkannte einen von ihnen, mochte aber seinen Augen nicht trauen.

Der Flieger wies nach vorn, und er torkelte dorthin, ließ sich auf den Sitz hinter dem Piloten fallen, schnallte sich an und setzte die vor ihm hängenden Kopfhörer auf. Der nasse Pullover fühlte sich gräßlich auf der Haut an.

Der Pilot drehte sich um. Er hatte das rote Gesicht eines Jungen vom Lande und schien noch jünger als sein Navigator zu sein. Sein Helm wies ihn als W.J. Tolman aus, und «Bill T.» war auf den Rücken seiner Fliegermontur gedruckt.

Manley sagte: «Wir haben da draußen Windstärke acht, Mister. Eigentlich dürften wir gar nicht fliegen. Legen Sie also die Schwimmweste an.»

Webb sah nach draußen. Das Tageslicht gab sich alle Mühe, die Düsternis zu durchdringen. Er konnte gerade noch erkennen, wie jenseits der Klamm der Schnee horizontal gegen die Granitwände der Berge getrieben wurde. Die Kammlinie gegenüber war hinter sturmgepeitschten dunklen Wolken verborgen. Ihm wurde mulmig.

Der Pilot zog am Pitch, und die große Maschine stieg steil in die Höhe. Webb drehte sich der Magen um. Tolman sah über die Schulter. «Was hat’s mit diesem Trip auf sich? Sind Sie so was wie James Bond?»

Der Helikopter fing heftig zu bocken an. Webb sah hinunter und erkannte kurz sein Sturmzelt, einen winzigen schwarzen Fleck auf dem wuchtigen weißen Gipfel des Big Herdsman. Dann dröhnte die Maschine über das Lost Valley, und sie stiegen taumelnd zu den Three Sisters auf. Als die Maschine den Gipfel erreichte, wurde sie von der ungeminderten Wucht des Blizzards getroffen. Sie schlingerte und kippte zur Seite. Webb wurde gegen die Rumpfspanten geschleudert. «Heilige Maria, Mutter Gottes!» brüllte der Pilot. Dann hatte sich der Helikopter wieder aufgerichtet und stemmte sich, die Nase voran, in den rauhen Wind. Seine Scheibenwischer wedelten erfolglos gegen eine Wand aus Weiß, während eine andere Wand, eine aus reinem Granit, vorüberglitt.

Webb starrte hinaus. Sein Kleinmut war in Entsetzen umgeschlagen. Unten tauchten weiße Highland-Gipfel auf, verschwanden wieder in dunklen, tief treibenden Wolkenfetzen. Und dann flogen sie über Loch Linnhe und den Sound of Mull hinweg, nahmen Kurs hinaus über einen Ozean aus weiß aufschäumender Milch. Die Wellen auf dieser Milch brandeten in steter imposanter Folge auf, sie waren mehr als haushoch.

Der Pilot wandte sich wieder um. «Ich war heute abend mit einer Krankenschwester verabredet», sagte er vorwurfsvoll. «Möpse wie Melonen und für alles zu haben. ’nen dämlichen James Bond auf geheimer Mission kann ich gar nicht brauchen. Übrigens werden Sie von Ihren ‹Smersh›-Kumpanen erwartet.»

Der junge Mann wankte ins Heck der Maschine. «Haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche, Webb?» fragte der Astronomer Royal und zündete sich eine Sherlock-Holmes-Pfeife an. Er saß angeschnallt an einem kleinen runden Tisch, der im Metallboden verschraubt war. Seinen blauen Augen war nicht abzulesen, was hinter ihnen vorging, und soweit Webb beurteilen konnte, war auch der Mann auf dem Stuhl neben ihm kein minderbemittelter Bauernlümmel. Er ließ sich auf einen gegenüberliegenden Sitz fallen und schnallte sich an.

«Das ist der Bursche», sagte der AR.

«Walkinshaw», sagte der Fremde. Er wirkte wie ein Schulrektor, Brille mit Halbmondgläsern auf einem grauen Totenschädel. Sein Handschlag war der eines Beamten: besonnen, vorsichtig, knapp. Der Helikopter hatte sich gefangen und flog zügig, wenn auch windgerüttelt ungefähr zweihundert Meter über den großen Wellen. Der Staatsbeamte warf einen Blick nach vorn zu den Fliegern. Sie trugen auch Kopfhörer.

«Ich nehme an, Sie fragen sich, was hier vorgeht, Webb», sagte der Astronomer Royal und schraubte den Verschluß von einer Feldflasche.

«Diese Frage ist mir durchaus durch den Kopf gegegangen, Sir Bertrand», sagte Webb ärgerlich. «Ich bin schließlich gerade verschleppt worden.»

«Übertreiben Sie nicht. Die Sea King transportiert uns nach Skye.»

«Skye?»

«Skye. Wo man Walkinshaw und mich absetzen wird. Sie fliegen jedoch weiter nach Island.»

«Island?»

«Webb, spielen Sie doch bitte nicht den Papagei. Mir wurde mitgeteilt, daß wir nur zwanzig Minuten haben, um Sie zu instruieren. Sechs davon sind bereits verstrichen.» Ein zweites Zündholz flammte auf, und Webb wartete, während der Astronom Seiner Majestät weitere Rauchschwaden produzierte. «Vater hat davon eine Unze am Tag geraucht und ist neunzig geworden. Walkinshaw hier ist von Gott weiß welcher Abteilung des Außenministeriums. Webb, wir haben ein Problem.»

«Einen Moment, Sir Bertrand. Tut mir leid, Ihren Weihnachtsurlaub zu unterbrechen, Dr. Webb.» Walkinshaw deutete mit einem Kopfnicken auf die mit handschriftlichen mathematischen Gleichungen bedeckten DIN-A4-Blätter, die der Mann noch immer unwillkürlich an sich preßte. «Obschon Sie sich ja anscheinend im Arbeitsurlaub befinden.»

«Wird mir nun jemand mitteilen, was hier vor sich geht?» sagte Webb. Er zitterte, und zwar durch das Zusammenwirken von Schock, Furcht, Zorn und Kälte. Er faltete die Papiere zusammen und schob sie in seine Gesäßtasche.

«Da wären zuerst ein paar Formalitäten. Nummer eins.» Walkinshaw lehnte sich vor und reichte eine kleine Plastikkarte hinüber. Webb hielt sie unter das nächste Fenster. Ein Polaroidfoto des Beamten, auf dem er aussah wie ein Bestattungsunternehmer, war über einer unleserlichen Unterschrift plaziert. Neben dem Foto befand sich eine Erklärung:

W.M. Walkinshaw, Dienstgrad Sechs, dessen Foto und Unterschrift hier angrenzen, ist von der Regierung Seiner Britischen Majestät im Außen- und Commonwealth-Ministerium, Abteilung Informationsanalyse, angestellt.

Webb nickte argwöhnisch und gab die Karte zurück.

«Und Nummer zwei.» Der Staatsbeamte griff abermals in seine Aktenmappe und überreichte Webb einen Bogen Papier. «Ein E. 24, reine Routine. Wenn Sie nur hier unterschreiben würden.»

Der Astronomer Royal öffnete den Reißverschluß seines Parkas. «Ist heiß hier drinnen», sagte er und hielt Webb einen Stift entgegen. Der ignorierte ihn und las:

OFFIZIELLES SCHWEIGEGEBOT

 

Zu unterschreiben von Mitgliedern von Regierungsabteilungen bei Ernennung und, wenn erwünscht, von Nicht-Beamten, sobald sie erstmalig Zugang zu regierungsamtlichen Informationen erhalten.

 

Ich wurde auf die Vorschriften des Offiziellen Schweigegebots, die auf der Rückseite dieses Dokuments aufgeführt sind, hingewiesen, und ich bin mir der schwerwiegenden Konsequenzen, die eine Verletzung dieser Vorschriften zur Folge hätte, uneingeschränkt bewußt.

Webb spürte, daß sich ihm die Nackenhaare sträubten. Auf der Rückseite las er, wenn irgendeine Person, die in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle irgendein geheimes offizielles Codewort, Paßwort, eine Skizze, einen Plan, eine Vorlage, einen Artikel, eine Notiz, ein Dokument oder eine Information hat, die sich auf einen geheimen Ort bezieht oder an ihm benutzt wird oder auf eine Sache an einem solchen Ort verweist oder die in Zuwiderhandlung dieses Gesetzes gemacht oder erlangt wurde oder die ihr vertraulich von einer Person, die in Diensten Seiner Majestät steht, zugetragen wurde oder die sie erlangte oder zu der sie Zugang erhielt dank ihrer Position als eine Person, die in einem Vertragsverhältnis im Namen Seiner Majestät steht oder stand, oder als eine Person, die unter einer Person angestellt ist oder war, welche ein solches Amt oder einen solchen Vertrag innehat oder – hatte, diese weiterverbreitet … oder benutzt … oder behält … oder es versäumt, damit fürsorglich umzugehen, oder sich dergestalt verhält, daß sie die Sicherheit der Skizze, des Plans, der Vorlage, des Artikels, der Notiz, des Dokuments, des geheimen offiziellen Codeworts oder Paßworts oder der Information gefährdet, dann macht sich diese Person eines Vergehens schuldig.

Er gab es zurück, ohne unterschrieben zu haben.

Der Astronomer Royal machte keine Anstalten, seinen Ärger zu verhehlen; seine Zähne verbissen sich unüberhörbar auf dem Mundstück der Pfeife. Er steckte den Stift wieder in die Innentasche und warf Walkinshaw einen kurzen Blick zu.

Tolmans Stimme ertönte scharf über die Kopfhörer: «Absolutes Rauchverbot! Machen Sie sofort die Pfeife aus!» Sir Bertrand paffte ungerührt weiter, der Helikopter füllte sich mit blauem Dunst. Die Worte sorgfältig wählend, sagte er: «Die Amerikaner befürchten, daß ein Asteroid heimlich auf Kollisionskurs mit ihrem Land gebracht worden ist.»

Webb starrte ihn an und empfand plötzlich einen leichten Schwindel. Er hatte Mühe, das Gesagte zu erfassen. «Was? Sie sprechen da vielleicht von einer Million Megatonnen.»

«Webb, mir ist klar, daß Sie mich nur für einen Lakaien des Establishments halten. Sogar ich kann jedoch eine Masse mit dem Quadrat ihrer Geschwindigkeit multiplizieren.» Sir Bertrand stieß einen kleinen metallenen Stopfer in seine Pfeife. «Die Amerikaner haben ihre NATO-Alliierten – die Ostblock-Partner natürlich ausgenommen – gestern spät in der Nacht informiert, und das Außenministerium hat heute morgen um vier Uhr meine Unterstützung erbeten. Aber wie Sie wissen, sind Asteroiden nicht mein Feld.»

«Ein derartiger Asteroid würde den halben Planeten verwüsten. Das muß ein Irrtum sein.»

«Schön wär’s.»

«Welcher Asteroid?»

«Sie mißverstehen da etwas», sagte der AR. «Man stellt sich vor, daß Sie uns darauf die Antwort geben.»

Webb versuchte zu begreifen, was ihm gerade mitgeteilt worden war. Der AR und der Staatsbeamte beobachteten ihn aufmerksam. «Na schön, Sie haben mir einen Schreck eingejagt. Was Sie verlangen, ist aberwitzig. Es wäre einfacher, eine Nadel im Heuhaufen zu finden.»

«Nichtsdestoweniger muß es schnell geschehen. Die Amerikaner werden einen Weg finden müssen, ihn abzulenken.»

«Sie müssen doch Informationen über ihn haben.»

Der AR schüttelte den Kopf. «Nicht die geringsten. Wir können nur sagen, daß er sich zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft am amerikanischen Himmel als ein Meteor von höllischer Intensität manifestieren wird.»

«Ein Asteroideneinschlag in Nordamerika könnte zweihundert Millionen Menschen den Tod bringen. Angenommen, ich habe keinen Erfolg oder treffe eine falsche Identifizierung? Die Verantwortung kann ich nicht übernehmen.»

«Es gibt aber sonst niemanden. Und ich würde einen respektvolleren Ton begrüßen.»

Webb spürte, daß sein Mund trocken wurde. «Tut mir leid, Sir Bertrand, aber sobald ich ja sage, stecke ich in Gott weiß was … Suchen Sie sich jemand anderen.»

In beißendem Tonfall erwiderte der Astronomer Royal: «Ich weiß, es klingt heutzutage höchst abwegig, Webb, aber da gibt es eine Kleinigkeit: die Verpflichtung gegenüber der Menschheit.»

«Nun mal langsam. Ich habe mich zu einem bestimmten Zweck zur Glen Etive begeben.» Er tippte auf seine Gesäßtasche mit den Papieren. «Hören Sie. Ich stehe da kurz vor einer Entdeckung. Ich denke, ich kann etwas Substanz in die allgemeine Relativität bringen. Sie wissen, sie ist nur Phänomenologie, ohne Grundlage in physikalischer Theorie, und daß Sacharow mutmaßte …»

Jetzt klang der Astronomer Royal eisig. «Sie wurden instruiert, keine Zeit mit spekulativen theoretischen Erwägungen zu verschwenden.»

«Zufällig habe ich nun mal Urlaub und versuche mich zur Abwechslung mit wahrer Wissenschaft. Sie haben ein Problem mit einem Asteroiden? Suchen Sie sich jemand anderen, der sich darum kümmert.»

Der Astronomer Royal nahm die Pfeife aus dem Mund. In ungläubigem Zorn verzog er das Gesicht. Er wollte etwas sagen, aber Walkinshaw hob rasch die Hand. «Bitte, Bertrand.» Der Beamte neigte den Kopf, als wolle er nachdenken. Dann beugte er sich vor, um den Motorlärm zu übertönen. «Dr. Webb, ich möchte mich dafür entschuldigen, daß wir so melodramatisch vom Himmel herabgestiegen kamen, aber Tatsache ist, daß wir uns in einem Wettrennen mit einem Asteroiden befinden, das wir nicht verlieren dürfen.» Der Helikopter kippte zur Seite, und Webb klammerte sich an den Tisch. Er spürte, daß sein Gesicht grau geworden war. «Die Amerikaner versuchen, ein kleines Team zusammenzustellen, das sich der Sache annimmt. Man hat ausdrücklich eine britische Beteiligung gefordert. Wir wissen nicht, wann es zu dem Einschlag kommen wird, aber es muß doch wohl klar sein, daß keine Zeit zu verlieren ist. Wir müssen Sie sofort nach New York bringen. Wie Sir Bertrand sagt – es gibt sonst niemanden in diesem Land.»

Jetzt endlich schüttete der AR eine schwarze Flüssigkeit in den Plastikdeckel der Feldflasche. Webb nahm den Becher und nippte an dem warmen Tee. Sein Magen schlug einen Salto, anhaltende Übelkeit stellte sich ein. «Wer hat den Asteroiden abgelenkt?»

Der Staatsbeamte schwieg.

«Es ist nicht ohne Risiko, stimmt’s?» Webb sah Walkinshaw durchdringend an, aber der Mann hatte die Miene eines Pokerspielers aufgesetzt.

Der AR wandte sich an Walkinshaw. «Dieser Trip ist die reine Zeitverschwendung», sagte er verächtlich. «Lassen Sie die Sea King umkehren. Ich hole Phippson vom University College in London.»

«Phippson? Den Idioten?» fragte Webb voller Erstaunen.

Der AR wartete.

«Aber der Mann ist doch absolut inkompetent.»

Der AR räusperte sich.

«Er könnte in dunkler Nacht nicht mal den Vollmond finden!»

Der AR stopfte den Tabak fester in seine Pfeife. Ein spöttisches Grinsen umspielte seine Lippen.

«Verdammt sollen Sie sein, Sir Bertrand», sagte Webb.

Sir Bertrand nahm die Pfeife heraus, entblößte seine Zähne und gab eine Reihe lauter abgehackter Grunzer von sich, wobei seine Schultern sich im Rhythmus hoben und senkten. Webb blies eine nikotingeschwängerte Atemwolke entgegen. Er trank den Rest Tee in einem großen Schluck und gab dann dem triumphierend grinsenden Astronomer Royal den Becher zurück.

Walkinshaws Augenlider senkten sich vor Erleichterung. «Sehr schön. Das Vaterland ist dankbar und so weiter und so fort. Nun, die schnellste Route von hier verläuft über den Pol. Nach diesem Briefing», Walkinshaw warf einen Blick auf seine Uhr, «das in vier Minuten beendet sein muß, wird man uns an einem ruhigen Strand nahe den Cuillins absetzen. Sie werden direkt zum Flughafen von Reykjavik weiterfliegen. Dort werden Sie einen British-Airways-Flug nach New York nehmen. Es ist die schnellste Verbindung aus diesem gottverlassenen Land, die wir finden konnten.»

Er zog einen lederfarbenen Umschlag aus einer Aktenmappe. «Ihr Ticket, einige Dollar, eine American-Express-Karte, derer Sie sich bedienen können, und ein Paß.»

«Woher haben Sie mein Foto?»

«Sie würden staunen, und dazu um vier Uhr heute morgen. Sie sind Mister Larry Fish, ein Goldschmied. Eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß unfreundlich gesinnte Augen die Reiseaktivitäten von Asteroiden-Leuten beobachten sollten. Was wissen Sie über Gold, Webb?»

Die Sea King verlor schnell an Höhe, und Webbs Magen hob sich gegen sein Zwerchfell.

«Im Periodensystem Ordnungszahl neunundsiebzig, nicht wahr? Das am wenigsten reaktive Metall, geht jedoch mit Quecksilber eine Legierung ein.»

Walkinshaw ließ diese Antwort auf sich wirken und sagte dann mit tonloser Stimme: «Lassen Sie sich unter keinen Umständen während der Reise auf eine Unterhaltung mit irgend jemandem ein.»

«Unfreundlich gesinnte Augen», sagte Webb. Er hatte das Gefühl, vor Angst gelähmt zu sein. «Es ist also ein Risiko damit verbunden?»

«Aber nicht doch», sagte Walkinshaw emotionslos.

«Und wenn es doch Probleme gibt?»

«Haben nie von Ihnen gehört. Sie sind ein Wirrkopf.»

«Eine in bestimmten Kreisen ohnehin verbreitete Ansicht», erwiderte Webb und sah den Astronomer Royal dabei vielsagend an. Der AR starrte unbeeindruckt zurück.

Das langgezogene Rückgrat der Cuillins war von niedrigen Wolken verborgen, die schnell vom Atlantik hereintrieben. Sie traten hinaus in den Schneeregen. Fünfzig Meter entfernt stand auf dem schwarzen Sand sprungbereit ein dunkles Insekt. Es war größer als ein Haus und besaß mysteriöse Auswüchse, eine Reihe von Fenstern entlang seiner dunklen Seite und zwei riesige Zwillingsrotoren, die Wasserspiralen in den Wind schleuderten. Der Sand unter dem Sikorsky kräuselte sich, und die Sea King war plötzlich nur noch ein Kinderspielzeug.

Webb starrte bestürzt auf das Monstrum.

Walkinshaw rief: «Die Air Force wird dafür sorgen, daß Sie in Reykjavik Ihre Maschine erreichen. Unterschreiben Sie die Kreditkarte als Larry Fish. Sämtliche Ausgaben müssen nachgewiesen werden, aber Sie dürften sie wahrscheinlich gar nicht benötigen.»

«Warum bekomme ich sie dann?»

«Eine Vorsichtsmaßnahme», lautete die vieldeutige Antwort. «Soweit ich informiert bin, kennen Sie das Goddard Institute am Broadway. Man erwartet Sie dort um diese Zeit. Nun ja – wie ich gehört habe, kann man die Sonne in polaren Breiten übertölpeln. Hat was mit der Erdumdrehung zu tun, aber wir bezahlen ja Leute wie Sie dafür, über derartige Dinge Bescheid zu wissen, nicht wahr, Bertrand?»

«Was ist mit meinem Zelt?»

«Webb», erwiderte der AR, bemüht, unerschöpfliche Geduld zu demonstrieren. «Haben Sie eigentlich die Situation richtig erfaßt? Zur Debatte stehen hier weder Ihre wissenschaftliche Forschung noch Ihre offenkundige Flugangst noch gar das Schicksal Ihres vermaledeiten Zelts. Auf dem Spiel steht das Überleben des Westens. Die Luftwaffe Seiner Majestät stellt im Chinook die benötigte Flugausrüstung bereit, und der Astronom Seiner Majestät wird persönlich Ihr Zelt abbauen und es in Ihr Büro zurückschaffen.»

«Man wird mich im Institut vermissen», wandte Webb ein.

«Den Teufel wird man tun!» brüllte der Astronomer Royal. «Niemand weiß, was Sie den lieben langen Tag in dem verdammten Kellergeschoß treiben. Jedenfalls haben Sie die Nachricht geschickt, daß Sie Ihren Urlaub verlängern. Meine Sekretärin versteht sich auf Unterschriften.»

«In den Apparat steige ich nicht!» rief Webb schließlich, wußte aber, daß er es tun würde.

«Finden Sie einfach den Asteroiden, Webb», schrie der Astronomer Royal zurück. «Und zwar schnell! Und keinen Ton über die Sache!»

***

Der klirrend kalte Regen trieb in das faltenzerfurchte Gesicht des Astronomer Royal, er verdrehte die Augen himmelwärts, als der mächtige Helikopter aufstieg und sich gen Meer neigte. Er schaute ihm hinterher, sah ihn immer kleiner werden und dann hoch in den Wolken verschwinden.

Walkinshaw schaute besorgt drein. «Bertrand, sind Sie sich auch sicher? Was für ein Mann ist das, der Weihnachten allein auf einem Berg verbringt und im Schneesturm Berechnungen anstellt?»

«Ein Eremit natürlich. Und als sein Direktor kann ich ihn nur als Alptraum bezeichnen.»

«In welcher Hinsicht?»

«Er ist rastlos, höllisch schwer unter Kontrolle zu halten. Braucht eine Frau, wenn Sie mich fragen. Er weicht immer wieder von den etablierten Pfaden der Forschung ab und versteigt sich in kosmologische Spekulationen. Heutzutage gibt es für solche Sachen keinen Etat, und außerdem versteht niemand so ganz genau, was er eigentlich im Sinn hat. Er verfolgt seine Ideen jedoch mit großem Überschwang und Zielstrebigkeit.»

«Familie?»

«Darüber weiß ich nur wenig. Nur daß er aus einer großen und armen Familie ohne jeden akademischen Hintergrund stammt.»

«Dann verstehe ich ihn», erklärte Walkinshaw. «Eine große Familie mit wenig Intimsphäre wird ihn anregen, sich seinen eigenen Privatsektor zu erfinden, eine Welt, in der er Tagträumen nachhängen kann. Daher die kosmologischen Spekulationen. Und der Zwang, mit Geschwistern zu konkurrieren, wird ihn veranlassen, seine Ziele mit Entschlossenheit zu verfolgen. Geben Sie noch außergewöhnliche Intelligenz hinzu, und dann haben Sie diesen Mann.»

Tiefe Skepsis verdunkelte das Gesicht des AR: «Sehr hübsch, Walkinshaw, wie beschlagen Sie doch sind. Ich darf doch nicht annehmen, daß Sie sich neben der Amateurpsychologie auch noch aufs Handlesen verstehen?»

«Seine offenkundige Weltfremdheit hat denselben Ursprung. Es gibt keine große Genialität ohne einen Anteil Wahnsinn. Das stammt von Seneca, nicht von mir. Dennoch bin ich besorgt, Bertrand. Wir brauchen hierfür einen Spieler mit Teamgeist, keinen eigensinnigen Exzentriker.»

Der Astronomer Royal lächelte leicht mürrisch. «Mit dem Problem werden sich, fürchte ich, unsere amerikanischen Vettern plagen müssen. Schließlich haben sie ihn ja gewollt. Ja, sie waren in der Tat sehr hartnäckig.»

Das Goddard Institute, New York

Draußen vor dem warmen Kennedy-Terminal trieb eine Böe eisiger Luft Webb die Tränen in die Augen, ließ seine Ohren schmerzen und seine Knöchel frieren. Er stellte fest, daß die Royal Air Force ihn mit einem winddurchlässigen Anzug ausgerüstet hatte. Ein Mann mit Kosakenmütze bediente eine seltsame vibrierende Maschine, die schmutzgeäderten Schnee von der Straße aufsaugte und ihm entgegensprühte. Der Morgenhimmel war von einem bedrohlichen Mattgrau. Webb steuerte auf den Flughafenbus zu, aber zwei Männer, gegen die Kälte wohlig vermummt, tauchten aus dem Hintergrund auf und stellten sich ihm in den Weg. «Mister Fish? Ich bin Agent Doyle vom FBI, und das ist mein Kollege Agent O’Halloran. Entschuldigen Sie, daß wir unsere Marken nicht in aller Öffentlichkeit zeigen. Würden Sie uns bitte folgen?»

Webb nahm auf dem Rücksitz eines unauffälligen Buick mit dunkel getönten Scheiben Platz. Im Auto war es herrlich warm. Agent O’Halloran lenkte es stumm über die Brooklyn Bridge in Richtung Zentrum. Hier und da rissen die Wolken auf, und ein Stück kristallblauen Himmels war zu sehen. Auf dem Broadway fuhren sie weiter nördlich bis an den Rand von Black Harlem. Aus Delis und Coffee Shops strömten angenehme Gerüche. Am Straßenrand türmte sich der Schnee, und der Atem der Fußgänger gefror in der bitteren Kälte zu Dunstfahnen.

Sie hielten vor dem Goddard Institute. An dessen anonymem Eingang gab es weder ein Schild noch sonst ein Symbol, das von NASA-Zugehörigkeit gekündet hätte. Webb stieg aus dem Wagen. Auf der anderen Straßenseite dröhnte Rap-Musik aus einer Stereoanlage hinter einem Fenster im ersten Stock. Eine Schlachtreihe schwarzer Kinder kam bedrohlich auf ihn zugeschossen, teilte sich jedoch in letzter Sekunde, um sich hinter ihm mit erstaunlicher Präzision wieder zu formieren. Die Stereoanlage verstummte auf einen Schlag, und die Skateboarder fegten um die Ecke. Ihre Ghettoblaster plärrten. Die Limousine fuhr davon.

«Mister Fish, guten Morgen. Wir haben Sie schon erwartet», sagte der stämmige schwarze Wachmann am Empfang fröhlich. «Erster Stock, da drüben ist der Fahrstuhl.»

Im ersten Stock gab es eine Tür, an der ein Blatt Papier mit der Aufschrift «Nicht eintreten» befestigt war. Webb klopfte, und ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Der Raum war trostlos und fast unmöbliert, bis auf einen grünbezogenen Tisch mit vielen Notizblöcken und Wasserkaraffen. Vier Leute saßen um den Tisch. Der schlanke Mann mit kurzgeschorenen Haaren und hellblauen Augen, der die Tür geöffnet hatte, schüttelte Webb die Hand. «Willkommen in New York, Dr. Webb», sagte er. «Setzen Sie sich, und dann legen wir los.»

Webb setzte sich und sah sich am Tisch um. Leichter Geruch von Zigarrenrauch hing in der Luft. Webb meinte, darüber hinaus noch etwas Saures riechen zu können, vermochte es jedoch nicht zu identifizieren. Drei der Gesichter kannte er, die anderen Männer waren ihm fremd.

Noordhofs Tonfall war ungezwungen, aber doch bestimmt. «Zuerst, meine Herren, eine kleine organisatorische Angelegenheit. Das hier ist ein USAF-Projekt, und von jetzt an stehen Sie alle unter meiner Leitung. Die Europäer eingeschlossen, und zwar mit Einverständnis Ihrer jeweiligen Regierung. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?» Er sah sich am Tisch um.

«Okay. Da wir jetzt alle anwesend sind, erlauben Sie mir, daß ich Sie einander vorstelle. Beginnend zu meiner Rechten, haben wir Herbert Sacheverell vom Sorel Institute in Harvard.» Ein ungefähr vierzigjähriger Mann, dessen rote Haare wie Igelstacheln vom Kopf abstanden, mit fettiger Haut und einem schmutzigen schwarzen Stirnband, nickte der versammelten Gruppe zu. «Dr. Sacheverell ist unser Spitzenmann für Asteroiden.» Ogottogott, dachte Webb, Amerikas Antwort auf Phippson: Wer hat diesen großmäuligen Clown bloß ins Team gebracht? Sacheverells Gesichtsausdruck gab das Kompliment zurück.

«Neben ihm haben wir Jim McNally, Direktor der NASA.» McNally, ein schlanker Mann um die Fünfzig mit schütterem Haar, gekleidet in einen Straßenanzug mit leicht exklusivem Touch, lächelte und sagte «Hi».

«Das amerikanische Kontingent wird vervollständigt durch Wilhelm Shafer. Was kann man schon über einen Hippie mit anderthalb Nobelpreisen sagen?»

Man brauchte nichts zu sagen: Seine ruhelosen grauen Augen verrieten deutlich Shafers ungeheure Intelligenz. Er war wie McNally um die Fünfzig. Er trug ein kupferfarbenes T-Shirt, das mit einem Buddha-Bildnis verziert war, und hatte sein langes graues Haar mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz gebändigt. Er grinste und nickte Leclerc und Webb zu. Die Teilnahme des ehrfurchtgebietenden Willy Shafer unterstrich für Webb fast mehr als jede Predigt des Astronomer Royal, wie kritisch die Lage war.

«Lassen Sie mich unsere beiden europäischen Partner zu meiner Linken vorstellen. Oliver Webb, der noch verschnaufen muß, ist unser britischer Asteroiden-Mann. Neben ihm haben wir André Leclerc. André weiß besser als jeder andere im Westen, was der ehemalige Sowjetblock in der Raumfahrt zu leisten vermag.» Ein großer, hagerer Mann mit roter Fliege und einem graumelierten Spitzbart lächelte und verbeugte sich zur Tischmitte.

«Und ich bin Colonel Mark Noordhof. Ich weiß das eine oder andere über Raketen-Technologie.»

«Wer braucht denn die Briten?» fragte Sacheverell und starrte dabei Webb mit unverhohlener Feindseligkeit an. «Wir verfügen hier in den Staaten über alles nötige Know-how.»

«Das hat zum Teil politische Gründe», sagte Noordhof. «Ein Angriff auf Amerika ist auch ein Angriff auf die NATO. Wenn wir Montag einen Volltreffer kassieren, könnten die Russen am Dienstag Europa überrollen. Aber von entscheidender Bedeutung ist, daß wir hierfür die besten Leute brauchen.»

Sacheverells Augen, winzig hinter den dicken Brillengläsern, blickten unvermindert wütend. «Webb ist eine schlechte Wahl.»

Noordhof fügte hinzu: «Und Sicherheitserwägungen. Klar haben wir zivile Experten wie Sand am Meer, aber was ist, wenn sie auf einmal scharenweise verschwinden? Wir können das hier nicht handhaben wie das Manhattan-Projekt. Also beschränken wir uns auf die minimale Anzahl, aus einem weitverzweigten Netz zusammengestellt. Klein, aber fein – so will es der Präsident. Schön, kommen wir also zur Sache.»

Noordhof holte eine Zigarre hervor und spielte mit dem Cellophan. Er fuhr fort: «Meine Instruktionen kommen vom Präsidenten. Ich habe ein Team zu führen, das den Asteroiden findet, voraussagt, wo und wann er einschlägt, wenn überhaupt, den Schaden durch den möglichen Impakt einschätzt und feststellt, ob der Asteroid zerstört oder abgelenkt werden kann. Ich bin direkt dem Verteidigungsminister Nathan Bellarmine unterstellt. Der wiederum informiert den Präsidenten, den DCI und die Vereinigten Stabschefs über unsere Erkenntnisse. Sämtliche Ressourcen dieser Leute stehen uns zur Verfügung, und die sind ziemlich eindrucksvoll. Wenn Sie die Sechste Flotte auf dem Michigansee haben wollen, bitten Sie darum, und Sie werden erhört werden.»

«Suchet, und wir werden finden», sagte Shafer. «Hoffe ich.»

«Machen Sie sich eines klar», sagte Noordhof. «Das hier ist keine beschauliche akademische Konferenz. Es ist ein Wettrennen, und der Siegerpreis ist das Überleben. Wir verfügen über keinen Präzedenzfall zu dieser Situation. Es gibt keine Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen könnten. Wir müssen uns sukzessive unsere eigenen Regeln schaffen. Hat jemand etwas dazu anzumerken?»

«Ich bin gerade erst aufgestanden», sagte Webb. «Woher wissen wir, daß ein Asteroid auf die Vereinigten Staaten gelenkt worden ist?»

«Darauf möchte ich im Augenblick nicht eingehen.»

«Was sind die politischen Implikationen? Besteht ein Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die Rote Armee?» fragte Leclerc in gutem pariserischen Englisch.

«Das wissen wir nicht.»

«Wir brauchen einen Ansatzpunkt, was den zeitlichen Aspekt betrifft», sagte Sacheverell. «Es könnte Stunden, Wochen, Monate, Jahre dauern, bis der Asteroid einschlägt.»

Ein Rauchring löste sich von Noordhofs gespitzten Lippen. «Wir haben fünf Tage, den Asteroiden zu identifizieren und eine effektive Ablenkungsstrategie auszuarbeiten. Jetzt ist Montag morgen. Freitag um Mitternacht läuft die Frist ab.»

Sacheverell lachte ungläubig. «In Gottes Namen …»

Noordhof fuhr fort. «Und ich bin autorisiert, folgendes zu sagen: Sollte es uns nach Ablauf der fünf Tage nicht gelungen sein, den Asteroiden zu identifizieren, wird das Weiße Haus seine Politik an der Maßgabe ausrichten, daß er vor seinem Einschlag keinesfalls zu finden sein wird. Ich denke, man kann mit Gewißheit davon ausgehen, daß die angesprochene Politik extrem aggressiv sein dürfte.»

Shafer sagte ruhig: «Ich vermute, der Colonel will uns sagen, entweder finden wir den Asteroiden bis Freitag um Mitternacht, oder das Weiße Haus wird mit einem nuklearen Vergeltungsschlag antworten.»

Im Raum wurde es still. Sacheverell erblaßte, McNally lief puterrot an, und Leclerc blies die Wangen auf. Noordhof lehnte sich zurück und paffte entspannt an seiner Zigarre. Blaue Rauchschwaden kräuselten sich in die Höhe. Webb war plötzlich wieder übel.

«Teilen wir also die Aufgabenbereiche auf. Punkt eins. Unsere Dienstherren möchten wissen, was geschieht, wenn der Asteroid einschlägt. Wer von Ihnen Eierköpfen will das übernehmen?» Noordhof sah sich am Tisch um.

«Ich schätze, darum kann ich mich kümmern», sagte Sacheverell. «Hört sich nach einem umfangreichen Computer-Job an, und im Sorel haben wir die Hardware.»

«Einverstanden?» fragte Noordhof Webb, und der nickte. Das Problem war bereits von Experten beharkt worden; Sacheverell konnte nicht viel Unheil anrichten, wenn er darauf angesetzt wurde.

«Punkt zwei. Angenommen, wir entdecken den Asteroiden auf seinem Anflug. Was können wir dagegen unternehmen?»

«Das ist ein bereits gelöstes Problem», sagte McNally. «Schon vor einigen Jahren, als es noch ein reines Gedankenspiel war, hat sich die NASA auf Anweisung des Kongresses damit beschäftigt. Was auch immer wir tun, es wird beinhalten, daß wir was hochschicken und ihn abknallen.»

«Moment mal – wie abknallen?» fragte Shafer schneidend.

«Natürlich mit Kernwaffen.» McNally schien verdutzt.

«Ich hab da Einblick gehabt, kenne auch die Ergebnisse des Livermore-Workshops zur Verteidigung des Planeten und die Air-Force-2025-Studie. Nichts als Theorie. Was meinen Sie denn, was Sie da abschießen, Dr. McNally? Einen Haufen Rasierschaum oder einen gigantischen Nickel-Eisen-Kristall? Setzen Sie Nuklearwaffen ein, dann radieren Sie uns vielleicht mit einem Hagelsturm aus Felsbrocken aus. Wir müssen das Ding ablenken, ohne es in Stücke zu sprengen. Wie wollen Sie das bewerkstelligen, ohne seine innere Beschaffenheit zu kennen?»

«Es war doch nur ein Vorschlag», nörgelte McNally.

«Willy, Jim, stimmen Sie sich über die Problematik ab, wie mit dem Asteroiden umzugehen ist, sollten wir ihn denn finden. Ich werde uns Zugang sowohl zu den geheimen Lawrence-Livermore-Berichten als auch zu dem öffentlichen Bericht verschaffen. Dann bliebe Punkt drei: Wo ist dieses Ding? Möchte sich jemand äußern?»

«Ich könnte eine Liste von Kandidaten erstellen», sagte Webb, dem noch immer leicht übel war. «Und sie überprüfen. Wir bräuchten dazu Weitwinkelteleskope.»

«Wie das UK-Schmidt?» warf Sacheverell ein.

«Das hat man eingemottet. Ich denke eher an Supernova-Suchteleskope, zum Beispiel eine schnelle Hewitt-Kamera mit einem CCD. Die Australier haben eine in Coona.»

«Colonel, das ist beispielhaft dafür, wie diese Typen mit Sicherheitserwägungen umgehen», sagte Sacheverell. «Die Zeit an diesen Maschinen ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Man kann nicht einfach in etablierte Observationsprogramme einbrechen, ohne daß die Leute dort einen Höllenaufstand machen.»

«Schon mal von Wartungszeiten gehört?»

«Zügeln Sie sich, meine Herren», sagte Noordhof. «Warten Sie, bis Sie sehen, was wir aufgeboten haben.»

Sacheverell sagte: «Was immer Sie aufgeboten haben mögen, Colonel, unsere Chancen, diesen Brocken innerhalb von fünf Tagen zu identifizieren, sind gleich Null. Besonders wenn Webb die Suche leitet.»

«Himmelherrgott noch mal, sagen Sie so was nicht.» Noordhof drückte erregt seine Zigarre aus.

Webb sagte: «Große Sorgen macht mir, daß diese Dinger meistens unsichtbar sind. Er könnte aus Sonnenrichtung auf uns zukommen, und in dem Fall werden wir ihn erst dann bemerken, wenn er einschlägt.»

Noordhof schenkte sich Wasser aus einer Karaffe in einen Becher und trank einen Schluck, befeuchtete seine trockenen Lippen. Kleine Falten der Anspannung zerfurchten sein Gesicht, als er Webbs Information abwog. Er sagte: «Geben wir dem Monster einen Namen.»

«Ich schlage Nemesis vor», sagte Sacheverell. «Nach der griechischen Göttin der Zerstörung.» Es wurde beifällig genickt.

Noordhof sagte: «Nemesis. Guter Name. Ich muß Ihnen sagen, daß keine Chance besteht, ihn durch konventionelle Techniken der Nachrichtenbeschaffung zu identifizieren. Es kommt allein auf uns an.»

«Viele Umlaufbahnen dürften für die Russische Föderation unerreichbar sein, trotz ihrer Energia-Trägerrakete», sagte Leclerc. «Vielleicht können Doktor Webb und ich kooperieren.»

«Ich habe in Oxford Programme, die helfen könnten», sagte Webb.

Noordhof nickte knapp. «Sie werden über Möglichkeiten verfügen können, diese mittels FTP herüberzuholen. Jetzt, meine Herren, machen wir uns auf nach Arizona. In La Guardia wartet bereits eine Gulfstream auf uns. Und von nun an werden Sie Freigeister sich allesamt hübsch im Zaum halten. Keine Straßenspaziergänge, keine Telefonate, keine E-Mails an Kollegen. Sollten Sie das für paranoid halten, bedenken Sie folgendes: Wenn die russische Führung erfährt, daß wir von Nemesis Kenntnis haben, kann sie sich ausrechnen, daß ihr ein nuklearer Vergeltungsschlag droht. Und daher wird man zuerst zuschlagen, um die eigenen Verluste zu minimieren.»

Shafer vervollständigte die Logik: «Nur – da wir wissen, daß sie so denken, werden wir noch zuerster losschlagen müssen.»

Noordhof nickte abermals. «Ein unbedachtes Wort von irgend jemandem hier könnte einen Atomkrieg auslösen.»