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Für viele Menschen ist Online-Dating inzwischen die wichtigste Art, jemand kennenzulernen. Doch es herrscht Frust: "Online-Dating ist kaputt", so die Klage der Nutzer von Tinder, Bumble und Co. Was sind die Ursachen? Dieses Buch wirft einen Blick hinter die Kulissen des Marktes für Online-Dating. Es zeigt, warum viele Versprechen niemals aufgehen können, warum die scheinbar unendliche Vielfalt an möglichen Partnern eher Problem als Lösung ist und warum User am Ende häufig allein und unglücklich bleiben. Es zeigt außerdem, welche Risiken für Nutzer drohen können, wenn es dann doch mal klappt mit einem "Match", und wie man sich schützen kann. Es liefert Wege aus der "Online-Dating-Falle", die jeder von uns gehen kann.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DIE ONLINE-DATING-FALLE:
THOMAS KÖHLER
Warum Tinder und Co nicht die Lösung sind – und wie Sie trotzdem glücklich werden
Copyright 2025:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Gestaltung Cover: Maja Hempfling
Gestaltung, Satz und Herstellung: Maja Hempfling
Vorlektorat: Christoph Landgraf
Korrektorat: Merle Gailing
Druck: CPI books GmbH, Leck, Germany
ISBN 978-3-68932-007-2
eISBN 978-3-68932-006-5
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VORWORT
01 EINE KLEINE GESCHICHTE DES „DATINGS“
Partnersuche – eine Entscheidung für die ganze Familie
Die Antike nach Ovid
Mittelalter und Minnesang – Ritterlichkeit als Prinzip
Das Bürgertum der Neuzeit und die romantische Liebe
Dating – eine Erfindung der modernen Großstadt?
Von Inseraten und Partnervermittlern – die Kommerzialisierung der Partnersuche
Das chinesische Modell – globale Kulturen und ihre Vorstellungen von Partnerbeziehungen
Was wir vom Adel lernen können
02 WER MIT WEM – WEN WIR WÄHLEN, WENN WIR DIE WAHL HABEN
Es funktioniert nicht mehr: Ehe, Familie und Kinder in der westlichen Welt
03 DATING IM DIGITALZEITALTER – DIE TECHNOLOGIEBRANCHE UND DIE MENSCHLICHE SEHNSUCHT
„Computer Nr. 3“ – die Vordenker des Online-Datings
Die Zeit vor dem Internet
Meet oder Match? Start-ups entdecken den Partnermarkt
Von der Liebes-Checkliste zum „Wisch und Weg“ – die Entwicklung des Online-Datings bis heute
Warum die Partnersuche online nicht funktioniert
„Always On“ – zwischen Online-Shopping und Social Media
Wisch und weg – das Ende des Vielleicht
Im Netz der Lügen
Vorsicht Falle – „Ick“-Listen als Attraktionstöter
Jenseits von Dating: Internetpornos, OnlyFans und die KI-Freundin
Es geht auch ohne Partner
04 UNGLÜCK ALS GESCHÄFTSPRINZIP – EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN EINER VERSCHLOSSENEN BRANCHE
Zu viel Auswahl – gibt es das?
Geld oder Liebe – die Konzerne hinter den Dating-Apps
„Alle 11 Minuten verliebt sich …“ – warum die Rechnung nicht aufgehen kann
Vom Missverhältnis der Geschlechter zur Like-Rate – die Mathematik hinter den Apps
Das „dumme Männer, schlaue Frauen“-Problem
Attraktivität ist auch nur eine Zahl
Wenn Unglück zur Geschäftsgrundlage wird
Suchtfaktor Dating-Apps?
500 Euro pro Monat? Warum auch Spitzengebühren keinen Erfolg garantieren können
„Entwickelt, um gelöscht zu werden“ – warum das neueste Dating-App-Werbeversprechen nicht aufgehen kann
„Du schreibst zuerst …“ – warum „Frauen machen den ersten Schritt“ als Alternative gescheitert ist
Traue keinem Vergleichsportal
Shadow-Banning – gibt es das bei Dating-Apps?
05 NICHTS FÜR SCHWACHE NERVEN – ONLINE-DATING ALS GRENZERFAHRUNG
Online-Dating als unverbindlicher Freizeitspaß
Die Erfindung des Ghostings
Haben Sie auch Dating-Burn-out?
Sprechen Sie „Dating“: Fachbegriffe, die man kennen sollte
Risiko Online-Dating
Was im Internet passiert, bleibt im Internet … Eine Warnung an die eigene Zukunft
Fakeprofile und verhaftete Gründer: Warum viele Online-Dating-Plattformen zu unethischem Verhalten neigen
06 DIE ZUKUNFT DES ONLINE-DATINGS
Die illustre Welt der Online-Dating-Coaches
Dating-Assistant
Künstliche Intelligenz automatisiert das Dating
Online-Dating als staatliche Aufgabe
Avatar trifft Avatar – digitale Assistenten und Dating
Schöne neue Dating-Welt?
Wege aus der Dating-Falle
Sinnvoll mit Dating-Apps umgehen
Eine neue, faire Dating-App – geht das?
Bring dein Tinder-Match – Events von Online-Dating-Firmen
Vom Wanderdate zum Run Club
Dating-Fallen frühzeitig erkennen
Leg das Handy weg
Die Wiederentdeckung der realen Welt
Was unser soziales Umfeld für uns tun kann …
Schlusswort
Endnoten
Viele gute Geschichten fangen im Badezimmer an. Möglicherweise hat auch die aktuell weltweit führende Plattform für Online-Dating, Tinder, von einer solchen Badezimmer-Story entscheidend profitiert. In jenem Fall berichtete der US-Nachrichtensender CNBC von der Erfindung des „Swiping“, dem zentralen Merkmal der meisten modernen Dating-Apps:
„Der Heureka-Moment für Tinder-Mitgründer Jonathan Badeen kam, als er aus einer heißen Dusche stieg, nachdem er vergessen hatte, den Ventilator im Bad einzuschalten. ‚Als ich herauskam, war der Raum besonders beschlagen. Ich wischte den Spiegel sauber, aber innerhalb einer Minute war er wieder beschlagen. Ich wischte ihn ein zweites Mal sauber, nur wischte ich diesmal in die andere Richtung. Ich sah ein vertrautes Gesicht, das mich in dem klaren Streifen des Spiegels, den meine Hand gerade abgewischt hatte, ansah‘, sagt Badeen. Badeen ging ins Büro und wies das Team an, mit der Entwicklung der Swipe-Funktion zu beginnen.“1
Ob sich das Ganze genauso wie hier beschrieben zugetragen hat, wissen wir nicht. Aber die „Wisch und weg“-Funktion hat nicht nur das Online-Dating revolutioniert, sondern steht heute – mehr als ein Jahrzehnt nach dem Start von Tinder – als Symbol für jene Veränderung in unserem Alltag: hin zum Smartphone als Universalwerkzeug.
Dabei war Tinder mit dem Start im Jahr 2012 bei Weitem nicht der erste Anbieter von Online-Dating, aber durch die Fixierung auf das Smartphone die erste „Immer-dabei-Lösung“ und die erste, die das ortsbasierte Suchen für heterosexuelle Nutzer erlaubte. Denn die App Grindr, die viele Funktionsweisen von Tinder vorwegnahm, ging bereits einige Jahre vorher – 2009 – an den Start und ist bis heute die reichweitenstärkste mobile Anwendung für Homosexuelle und Bisexuelle. Grindr war der Pionier für ortsbasierte Handy-Dating-Dienste.
Auch wenn die homosexuelle Subkultur ganz klar der Trendsetter für Dating auf dem Smartphone und die Kernfunktion der Umkreissuche war, fokussieren wir uns in diesem Buch ausschließlich auf heterosexuelles Dating und die Folgen für Männer und Frauen. Zu groß sind die Unterschiede im Kennenlernen, Daten und Zusammenkommen, zu unterschiedlich die Vorstellungen und Wünsche und zu wenig Ahnung bringe ich als Autor mit von jenem Verhalten jenseits meiner eigenen „Hetero-Bubble“.
Wir leben in besonderen Zeiten. Fragt man Historiker und schaut man in die Geschichtsbücher zu der Frage „Wer mit wem?“, so kommt fast immer eine eindeutige Antwort. Die romantische Liebe, so wie wir sie kennen, wäre eine reine Erfindung der Neuzeit und über die Geschichte der Menschheit hinweg wären wir erst vor wenigen Generationen frei geworden in der Wahl unserer Partnerbeziehungen. Das stimmt im Großen und Ganzen, zumindest, wenn es um die abendländische Kultur geht. Wer sich nun darüber beklagen mag, wie schwierig das alles ist mit Dating und vor allen Dingen mit Online-Dating, der sei daran erinnert, was die Alternative sein könnte: arrangierte Partnerschaften und Ehen, wie sie auch heute noch in vielen Kulturkreisen üblich sind. Für die meisten Leserinnen und Leser dürfte es eine absurde Vorstellung sein, dass die Eltern oder Verwandten den Partner oder die Partnerin auswählen.
Doch die heute übliche eigenständige Partnerwahl ist nicht vollständig von externen Einflüssen frei. Die Erwartungen des eigenen sozialen Umfelds sorgen für gedankliche Leitplanken, aus denen die meisten Menschen nicht ausbrechen können oder wollen. Als wäre die Aufgabe noch nicht anspruchsvoll genug, bringt das Social-Media-Zeitalter neue Erfahrungen und liefert einen neuen Rahmen für Online-Dating in seinen verschiedensten Formen. Nach anfänglicher Euphorie kriselt es hier gerade massiv und schon ist in den Medien vom „Dating-App-Burn-out“ die Rede und davon, dass sich Nutzer im großen Stil von den noch vor wenigen Jahren gehypten digitalen Plattformen abwenden.
Doch so einfach ist es nicht. Ähnlich wie Google, Instagram oder WhatsApp sind Tinder, Bumble oder Parship längst fester Bestandteil im Leben der meisten Menschen in der Altersklasse 18+. In Deutschland hat etwa knapp ein Drittel aller jungen Menschen ab 18 Jahren bereits mindestens einmal ein Dating-Profil angelegt2 und praktisch jeder kennt Paare, die sich im Internet gefunden haben. Anders gesagt: Am Online-Dating kommt man kaum noch vorbei. Für viele von uns entwickelt sich daraus eine Art Hassliebe ob des gefühlten Kontrollverlustes. Wie wir mit diesen digitalen Erfahrungen umzugehen lernen und wie wir ein Stück weit die Kontrolle über unser Dating-Leben zurückbekommen können, hängt auch davon ab, wie gut wir verstehen, was „da draußen“ am Dating-Markt wirklich los ist. Denn das Bild, das in den Medien gezeichnet wird, ist vielfach geprägt von den PR-Aktivitäten der großen Plattformen und steht auffällig oft im Gegensatz zu unserem persönlichen Erleben.
Wie so oft hilft auch hier ein Blick in die Geschichte, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft aktiv zu gestalten, zumindest ein wenig. Daher fangen wir zunächst mit einer kleinen Zeitreise an, bevor wir uns den aktuell drängenden Problemen mit den großen Dating-Anbietern im Detail widmen.
Eigentlich ist es ganz einfach. Über weite Teile der Menschheitsgeschichte waren Liebe und Partnerwahl kein „großes Ding“, zumindest nicht für die Betroffenen, denn das eigene familiäre Umfeld regelte das. Die passende Partnerin oder der passende Partner wurde von den eigenen Angehörigen identifiziert und inspiziert. Nach erfolgreichem Austausch mit der Familie des potenziellen Partners wurden die Konditionen festgelegt und der „Deal“ besiegelt. Widerstand zwecklos.
So richtig viel gab es ja nicht zu suchen, denn das mögliche Zielgebiet im Vor-Digitalzeitalter war in dörflichen Strukturen auf ein paar Dutzend Familien und ein paar Hundert Personen im eigenen Dorf und in den Nachbardörfern beschränkt. Unterschiede gab es bestenfalls bei der Frage, wer wem zahlungspflichtig war. Ob ein Brautpreis, die berühmten „30 Kamele“, zu entrichten war oder – quasi als Gegenteil davon – eine Mitgift anstand. Mitgift bedeutet, die Eltern der Braut sorgen dafür, dass ihre Tochter mit materiellen Gütern in die Ehe geht. Die Aussteuer – ein anderes Wort für Mitgift – war in ländlichen Regionen vielfach bis ins Detail geregelt, von der Bettwäsche bis zum Porzellangeschirr reichte die Bandbreite. Teilweise halten sich derartige Traditionen in anderer Form bis heute, etwa bei der Frage, wer die Hochzeit finanziert.
Das alte Rom ist in vielerlei Hinsicht prägend für unsere Kultur. Viele Vorstellungen, die antike Philosophen geäußert haben, sind bis heute bedeutend für die Art und Weise, wie wir unsere Welt verstehen. Spannend ist daher, wenn wir einen Einblick bekommen in die ganz private Lebenswelt. Vor dem Hintergrund dieses Buches spielt der römische Dichter Ovid eine besondere Rolle. Und das bis heute. Im Jahr 2 nach Christus erschien sein Werk „Ars amatoria“ als Lehrgedicht und es ist weit mehr als eine „Sammlung von Beischlaftechniken“, als die das Buch, das heute noch gern genutzter Lesestoff in Schulen mit Lateinunterricht ist, oftmals verunglimpft wird.
Es liefert nämlich einen seltenen Einblick in das Liebesleben im alten Rom und gibt – und das ist für uns besonders interessant – Tipps für das Kennenlernen. Ganz ohne Online-Dating, es ist aber doch in vielerlei Dingen aktuell, denn Ovid gibt Tipps, wo man am besten Frauen kennenlernen kann (im Theater, beim Zirkus oder bei Gastmählern) und wie man am besten ein Gespräch mit der Sitznachbarin anfangen kann (indem man ihr das Sitzpolster zurechtrückt, ihr Luft zufächelt oder die Enden des Kleids aus dem Staub hebt). Er warnt dabei vor zu viel Alkoholkonsum, denn dieser könnte das Urteilsvermögen beeinträchtigen, und stellt fest, dass es vor allen Dingen Selbstvertrauen braucht und Kreativität: „Kunst steuert Schiffe, die mit Segel und Ruder angetrieben werden, Kunst lenkt leichte Wagen, Kunst muss auch Amor lenken.“3
Eine aktuelle deutsche Übersetzung ist für wenige Euros bei Reclam unter dem Titel: „Ovid: Die Kunst der Liebe“ erschienen. Die amüsante und bis heute empfehlenswerte Lektüre beschreibt jedoch nur einen kleinen Teil dessen, was die römische Gesellschaft ausgemacht hat. Der lockere Lebenswandel war nur für wenige in der Gesellschaft möglich, denn im römischen Reich standen – durchweg im frühen Alter – arrangierte Ehen hoch im Kurs mit einer klaren Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Angehörige der höchsten Gesellschaftsschichten – Senatoren und Ritter – waren per Gesetz verpflichtet zu heiraten. Mindestens drei Kinder pro Ehe war das staatlich vorgegebene Ziel. Immerhin: Die römische Frau durfte sich, da sind sich Historiker einig, in der Gesellschaft recht frei bewegen und eben auch an den von Ovid genannten Theater- und Zirkusaufführungen teilnehmen.
Bereits unmittelbar nach Erscheinen waren die Verse von Ovids „Ars amatoria“ ein veritabler Erfolg in der römischen Gesellschaft und sollen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der Dichter wenige Jahre später in eine römische Kolonie ans Schwarze Meer verbannt wurde. Zensur auf Römisch. Es sollte noch Hunderte von Jahren dauern, bis das „Dating“ in der Form, wie es Ovid beschreibt, wiederkehrte. Ovids „Ars amatoria“ ist aber bis heute lesenswert.
„Minnesang ist eine Form der Liebeslyrik, die im hohen Mittelalter gepflegt und von Sängern mündlich vorgetragen wurde. Es handelt sich um eine literarische Ausdrucksform des Adels. Die Zeit des Minnesangs dauerte ungefähr von 1150–1300.“4
Der Minnesang muss häufig als Beleg dafür herhalten, dass es so etwas wie Dating schon lange vor der heutigen Zeit gab. Und in der Tat war – historisch betrachtet – das Mittelalter eine Zeit der Veränderungen, auch und gerade im Verhältnis zwischen der Kirche und ihren prägenden Moralvorstellungen einerseits und weltlichen Ideen anderseits. Doch beim Minnesang (oder Minnegesang) von einer Frühform des Datings zu sprechen, wäre grundfalsch. Denn in dieser sich im Mittelalter entwickelnden Kunstform geht es praktisch immer um die Idealisierung einer unerreichbaren Liebe. Praktische Erfüllung ist – mehr oder weniger – ausgeschlossen. Geblieben ist von jener Zeit aber eines: die Vorstellung von Ritterlichkeit. Und daran dürfen wir uns vielleicht wieder einmal erinnern, mehr als 800 Jahre später, gerade wenn es beim Online-Dating manchmal heiß hergeht.
Die Idee von der romantischen Liebe ist eine Vorstellung, die erst mit dem Aufkommen des Bürgertums wirkliche Verbreitung fand. Als Idee war romantische Liebe natürlich bereits vorher in der Welt, aber blieb meistens Literatur und endete zudem meist tragisch, wie etwa bei „Romeo und Julia“, dem 1597 von William Shakespeare veröffentlichten zeitlosen Drama um Liebende, die nicht zueinanderfinden können.
Das darin behandelte Motiv der unerfüllten oder unerfüllbaren Liebe taucht immer wieder in der Geschichte auf – auch bereits lange vor Shakespeare. Es lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Doch „Romeo und Julia“ war vor allen Dingen eines: Literatur. Substanziell verändert haben sich die Verhältnisse erst lange nach Shakespeare. Treibend für diese Entwicklung waren – neben dem Aufstieg des Bürgertums – in erster Linie Autoren der sogenannten Romantik, Ende des 18. Jahrhunderts. Gefühle standen plötzlich im Mittelpunkt: „Freundschaft ist eine Verbindung für die Erde, Liebe für die Ewigkeit“, schreibt etwa Friedrich Schlegel (1772 bis 1829) und trägt dazu bei, dass die Liebesheirat langsam zur Norm wird. So ganz ohne Nutzenabwägungen geht es jedoch auch nicht. So findet sich das Konzept der „vernünftigen Liebe“, die die Gefühle betont, aber materielle Vor- und Nachteile berücksichtigt.5 Man könnte auch sagen: Gefühl trifft Realitätssinn. In gewisser Weise ist diese Vorstellung bei vielen Menschen bis heute das Vorbild für das Zusammenkommen der Geschlechter.
Wer hat’s erfunden? Zumindest was das Wort „Dating“ angeht, ist diese Frage einfach zu beantworten: George Ade war es. Als Kolumnist der US-Zeitung Chicago Record schrieb er als Erster vom „Date“. Und das im Jahr 1896. Drei Jahre später sprach er in seiner Geschichte „The Fable of the Slim Girl Who Tried to Keep a Date that was Never Made“ von einer jungen Dame, die eine Art Buchführung ihrer Herrenkontakte vor der Hochzeit in ihrem Tagebuch machte.
Unabhängig vom Begriff ist die Vorstellung vom zwanglosen Kennenlernen von Männern und Frauen wohl mit der Industrialisierung entstanden. Junge Frauen zogen in die Städte, um Arbeitsstellen anzunehmen, und hatten jenseits des Einflusses der Eltern Gelegenheiten, jemanden kennenzulernen.6 Aus dieser Zeit soll auch die ungeschriebene Regel stammen, dass Männer bei Dates bezahlen, denn Frauenjobs waren zu jener Zeit erheblich schlechter bezahlt, eine Arbeiterin erhielt um 1900 nur etwa die Hälfte des Verdienstes eines Mannes.7
Der wirtschaftliche Aufschwung von Bars und Restaurants in den Städten geht mit der Entwicklung der Dating-Kultur einher.
Auch heute noch sind viele Frauen in Berufen tätig, die schlechter bezahlt werden als viele Tätigkeiten, die typischerweise von Männern ausgeübt werden, wenngleich sich die wirtschaftlichen Verhältnisse langsam angleichen. Die Vorstellung, dass der Mann beim Date zu zahlen habe, hält sich aber hartnäckig – in Deutschland und vielen anderen Ländern.
Eine besonders starke Formalisierung des Datings sahen wir lange Zeit in den USA. Dort wurden nicht selten bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen bei einem ersten, zweiten oder gar dritten Date erwartet – bis hin zum Heiratsantrag nach ein bis drei Jahren.
Natürlich weiß im Prinzip jeder von uns, was Dating ist. Eine besonders schöne Definition hat – wie so oft – Wikipedia: „Dating dient dazu, einen potenziellen Partner kennenzulernen und in Erfahrung zu bringen, ob die eigenen Absichten (Menschen kennenlernen, einen Kumpel, einen echten Freund oder einen Partner fürs Leben finden) mit denen des anderen übereinstimmen, also um zu entscheiden, ob man mehr Zeit mit dem anderen verbringen möchte. Dating bedeutet, dass man mit dem Betreffenden ein bis zwei Stunden z. B. bei einem Restaurantessen oder einer sonstigen Freizeitaktivität verbringt. Falls die Begegnung für beide Seiten erfreulich verläuft, kommt es zu einem zweiten Date usw. In der Frühphase ist es akzeptabel, mehrere Partner parallel zu daten. Viele Dates entwickeln sich im Laufe der ersten Wochen zu einer Liebesbeziehung fort.“8
Dem ist grundsätzlich wenig hinzuzufügen. Aber wie kommt man nun zu einem allerersten Date, wenn man nicht gerade jemandem zufällig über den Weg läuft oder Freunde, Bekannte oder Familie einem den Erstkontakt ermöglichen? Ein bewährter Weg sind Kontaktanzeigen.
„Ein honnettes Frauenzimmer ledigen Standes und guter Gestalt, sucht einen guten Doctor oder Advocaten ledigen Standes.“ Mit diesen Worten suchte 1738 eine heiratswillige Dame einen Ehepartner. Nach allem, was wir heute wissen, war es wohl die erste deutsche Kontaktanzeige.9 Wir wissen jedoch leider nicht, ob es irgendwann „gefunkt“ hat mit dem dringend gesuchten „Doctor“ oder „Advocaten“ oder wie diese Geschichte überhaupt ausgegangen ist.
Wir wissen lediglich, dass in Großbritannien ein knappes halbes Jahrhundert früher eine erste Kontaktanzeige erschienen ist: Ein „30 Jahre alter Gentleman würde sich gern mit einer guten jungen Dame verheiraten, die ein Vermögen von circa 3.000 Pfund hat, und er wird sich damit zufriedengeben.“10 Die erste Engländerin, Helen Morrison, schaffte es mit den Worten „Suche jemanden Netten, um mein Leben mit ihm zu verbringen“, eine Kontaktanzeige zu schalten. Es war ihr gelungen, 1727 den Herausgeber des Manchester Weekly Journal zu überreden, die Anzeige überhaupt zu drucken. Über eine Antwort, die sie bekam, war sie jedoch überhaupt nicht glücklich, denn diese kam vom lokalen Bürgermeister und der sorgte dafür, dass Helen für vier Wochen in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde.11
Die spannende Erkenntnis daraus ist, dass bis heute weiter gilt: Wenn Männer und Frauen beim Dating das Gleiche tun, ist das noch lange nicht genauso akzeptiert. Ebenso gelten oder zumindest galten wohl andere Regeln für „das eine Prozent“, die Gruppe, die damals der Adel war. In einem Inserat im München Journal im Jahr 1841 suchte etwa ein 70-jähriger Baron eine Frau „zwischen 16 und 20 mit guten Zähnen und kleinen Füßen“.12 Heute käme uns das nicht nur seltsam vor, sondern würde wohl auch gravierende rechtliche Folgen haben – Stichwort Mindestalter –, doch damals schien das ganz normal.
Partner-Anzeigen erscheinen bis heute, auch wenn seit dem Aufkommen von Dating-Portalen und Dating-Apps deren Erscheinen in Zeitungen dramatisch zurückgegangen ist. Noch vor 20 Jahren fand man in großen Zeitungen umfangreiche Beilagen für Immobilien, Fahrzeuge, Arbeitsvermittlung und eben „Eheanbahnung“ oder „Partnerschaften“, wie diese Rubriken gern genannt wurden. Besonderes Merkmal dieser Anzeigen war und ist in einigen Fällen noch die Chiffre-Anzeige. Interessenten, die sich auf eine Anzeige melden, mussten und müssen an eine Redaktionsadresse schreiben, unter Berufung auf eine Anzeigen-Chiffre-Nummer. Klingt komisch, ist aber so. Wenig überraschend ist auch, dass es bereits zu jener Zeit immer wieder Probleme gab.
Die ehemalige Vizepräsidentin des Gesamtverbandes der Eheanbahnungen und Partnervermittlungen e. V. (GDE), Gisa Lange, klagte etwa vor mehr als 30 Jahren in einem Beitrag im FOCUS13, hier wie folgt zitiert: „Viele Frauen, die auf Chiffre-Anzeigen antworten, stellen fest, dass die kontaktfreudigen Herren, obwohl selbst verheiratet, ein billiges Schäferstündchen suchen. Jede zweite Frau klagt über Telefonterror. Mein Fazit lautet deshalb: Bei Privatanzeigen gibt es keinen Schutz.“ Ob das heute noch gilt, hätte ich gern selbst beim Verband nachgefragt. Aber die Organisation gibt es nicht mehr, die Website g-d-e.de ist verwaist, die letzte bekannte Telefonnummer ist nicht erreichbar und im Vereinsregister findet man den GDE nur noch unter „gelöscht“.
Unabhängig davon waren Chiffre-Anzeigen eine ernst zu nehmende Konkurrenz für Partnervermittlungen, ebenso wie später Online-Dating. Bis heute gibt es seriöse und weniger seriöse Partnervermittler, doch wie bei Chiffre-Anzeigen ist deren Blütezeit längst vorbei.
Die chinesische Vorstellung von Partnerwahl ist ganz anders als die unsrige und sie ist gnadenlos. Besonders wenn es um junge Frauen geht. „Wer mit spätestens 27 keinen Ehemann hat, gilt in der Volksrepublik als ‚Sheng nu‘ – ein Begriff, der sonst mit Essensresten in Verbindung gebracht wird und so viel wie ‚übrig gebliebene Frau‘ bedeutet. [...]
In China gibt es zwar rund 30 Millionen mehr männliche als weibliche Singles unter 30 Jahren, die meisten von ihnen leben jedoch als Bauern auf dem Land. In Großstädten wie Peking oder Shanghai ist das Verhältnis umgekehrt: Dort leben mehr alleinstehende Frauen, die oft Karriere machen.“14
Ebenso wie in unserer westlichen Welt haben erfolgreiche chinesische Frauen Probleme, adäquate Partner zu finden, auch wenn in den meisten Regionen Männerüberschuss herrscht. Das Thema „Sheng nu“ ist Dauerthema in chinesischen Medien und bereits 2011 machte ein Musikvideo einiger junger Chinesinnen Furore, das sofort viral ging. Es generierte 1,5 Millionen Abrufe binnen der ersten 48 Stunden auf Youku – dem chinesischen Gegenstück von YouTube15 –, und das nur mit dem Klagen ob der beschriebenen Unzulänglichkeiten datingwilliger chinesischer junger Männer:
„Wenn du nicht einmal so fähig bist wie ich
Verlass dich nicht auf mich, ich bin nicht deine Mutter
Du hast kein Auto, du hast kein Haus
Erwarte nicht, dass du eine Schönheit ins Bett bekommst
[...]
Ein Mann sollte schließlich wie ein Mann sein
Ohne Auto, ohne Haus, vergiss es, eine Braut zu finden“.
Ein eher simpler, aber deutlicher Text und bezeichnend für das, was das aktuelle China insbesondere in den großen Städten gerade ist, eine extrem wettbewerbsorientierte Gesellschaft, in der jeder gegen jeden kämpft. Wer kann da schon gewinnen?
In diesem gelebten Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne gibt es keinen einfachen, klaren Weg. Nicht nur in den ländlichen Regionen des Riesenreichs, auch in den Großstädten des Landes ist Partnerwahl daher immer noch eine Beschäftigung für besorgte Eltern.
Der Stadtpark – der Marktplatz der Liebe
Jeden Samstag und Sonntag ab 17:00 Uhr ist die Hölle los auf dem Heiratsmarkt in Shanghai. Seit rund 20 Jahren treffen sich im sogenannten People’s Park im Herzen der Metropole, in der rund 29 Millionen Menschen wohnen, Eltern, um einen geeigneten Partner oder eine geeignete Partnerin für ihren Nachwuchs zu finden.
Alter, Größe, Beruf, Einkommen, Bildung, Familienwerte, chinesische Tierkreiszeichen und Persönlichkeitsmerkmale werden dafür auf Zettel geschrieben, die öffentlich ausgehängt werden. Eltern tauschen sich dort mit anderen Eltern aus, um herauszufinden, ob der Nachwuchs vielleicht zueinander passen könnte. Neben der freien Zone bringen sich auch Heiratsvermittler in Stellung. Die Vielzahl der Angebote ist sortiert, etwa nach Geburtsjahrgängen oder besonderen Merkmalen wie Scheidung, muslimischer Glauben et cetera. Professionelle Vermittler verlangen meist nur von Frauen beziehungsweise deren Eltern Geld und erklären dies mit dem Überschuss an heiratswilligen Frauen in China.16 Shanghai ist längst kein Einzelfall mehr. Diese Art des Heiratsmarktes findet sich in verschiedensten chinesischen Metropolen wieder, immer in einem Park und immer mischen die Eltern mit. In gewisser Weise sind es die großen Städte, die hier die treibende Kraft sind und die traditionelle Familienfindung neu erfinden. Denn anders als im Dorf kennt man eben nicht jede andere Familie und weiß, wie ehetauglich deren Nachwuchs ist. Eltern müssen daher zusätzliche Anstrengungen unternehmen, damit das auch klappt mit der guten Partie.
Herzblatt auf Chinesisch
Man stelle sich vor, man ist ein junger Chinese und zum ersten Mal im Fernsehen – mit Vater und Mutter in einer Dating-Show – und muss sich dann vor 200 Millionen Zuschauern von Papa anhören, bei einer idealen Partnerin käme es vor allem auf die häuslichen Fähigkeiten an, während Mama die Kandidatin ablehnt – weil zu alt.17
Klingt nach Albtraum, ist aber ein Erfolgsformat im chinesischen Fernsehen und zeigt sehr deutlich, wie abhängig die Partnerfindung bis heute von den Vorstellungen der Eltern geblieben ist. Dass die infrage kommende Partnerin dann gern jemanden „mit Auto und Eigentumswohnung“ hätte – geschenkt. Auch das ist typisch für China, ein Land, in dem sich eine ganz neue Mittelklasse gebildet hat, die in vielen Dingen den westlichen Vorbildern nacheifert und die gerade in urbanen Räumen sehr viel Wert auf Statuskonsum legt.
Der Preis der Liebe
Bei rund 48.000 Euro (380.000 Yuan) liegt nach inoffiziellen Berichten aus dem Reich der Mitte der vom Bräutigam aufzubringende Brautpreis in der „teuersten“ Provinz Jiangxi.18 Inoffiziell deswegen, weil das Gesetz seit Langem bereits die Zahlung von Geld oder Überreichung von Geschenken in Zusammenhang mit der Heirat verbietet. In ländlichen Regionen Chinas ist die Zahlung eines Brautpreises jedoch weiterhin üblich. Eine teure Hochzeit – für typischerweise rund 30.000 Euro – kommt noch obendrauf und sorgt dafür, dass die Partnerwahl des Nachwuchses die Familie an die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit und manchmal darüber hinaus bringt. Klar, dass man da genau hinsieht, wen man sich ins Haus holt.
Dating-Apps in China
Tantan, Jimu, Momo und Soul – so heißen die bekanntesten Dating-Apps in China. Mehrere Hundert Anbieter konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Paarungswilligen. Denn es ist in China keineswegs so, dass, nur weil arrangierte Ehen und Brautpreise noch weit verbreitet sind, moderne Formen der Partnersuche im Riesenreich nicht bereits parallel dazu existieren. Spannend: Die Ähnlichkeiten einiger Apps zu westlichen Vorbildern wie Tinder (eine App, die in China gesperrt ist) sind frappierend. Ebenso spannend ist, dass viele chinesische Onlinenutzer eher Anwendungen bevorzugen, die eine Art sozialen Austausch vor das Kennenlernen schalten. Wichtig ist: Die meisten Plattformen fokussieren sich auf das Gründen von Partnerschaften, die Suche nach Kurzzeit-Beziehungen oder One-Night-Stands ist verpönt, zumindest offiziell.
Normalerweise bekommt man von chinesischen Online-Dating-Seiten als Nicht-Chinese wenig mit. Eine seltene Ausnahme bildet Jiayuan.com, eine Dating-Website, die zumindest zeitweise die reichweitenstärkste Plattform in China war. Gegründet wurde sie von Gong Haiyan (auch Rose Gong genannt). Im Jahr 2003 war Gong 27 Jahre alt, Single und unzufrieden mit den damals verfügbaren Online-Partnervermittlungsdiensten. Sie nahm die Sache selbst in die Hand und gründete die Partnervermittlungsseite Jiayuan („Wunderbares Schicksal“), um Frauen wie ihr zu helfen. Und sie lernte innerhalb von drei Monaten über diese Website ihren Mann kennen. So will es zumindest die Gründungslegende des Unternehmens. Ähnlich wie bei der im Vorwort vorgestellten Geschichte über den beschlagenen Badezimmerspiegel haben viele Unternehmen aus PR-Gründen solche mehr oder weniger glaubwürdigen Geschichten. Ob diese Geschichten dann im Einzelfall stimmen, lässt sich nicht nachprüfen. Zweifel sind aber stets angebracht, denn wie wir noch sehen werden, nehmen viele Unternehmen der Branche es nicht so genau mit der Wahrheit, wenn es den eigenen wirtschaftlichen Erfolgen dient.
Aber zurück zu unserer Gründerin Gong Haiyan und dem, was über ihr Wirken dokumentiert ist: In einem Interview mit dem Magazin Business Insider verriet sie 2012 einiges über ihre Erkenntnisse aus damals fast zehn Jahren Erfahrung als Gründerin und CEO der seinerzeit führenden chinesischen Dating-Website (mehr als 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzer).19 Die beliebteste Frau sei demnach der „traditionelle, engelsgleiche Typ“. Viele Männer suchten nach Frauen mit „großen Brüsten und schlanker Figur“. Zudem stellte sie fest: „Am häufigsten werden Frauen gesucht, die Lehrerinnen oder Krankenschwestern sind, da die Männer glauben, dass diese Frauen ihre Kinder gut erziehen und versorgen können.“ Sie sah steigende Anforderungen chinesischer Männer an potenzielle Partnerinnen. Ihr Fazit: „Die wichtigsten Kriterien, nach denen Frauen auf unserer Website suchen, sind die Körpergröße eines Mannes, sein Gehalt und ob er ein Auto oder ein Haus besitzt oder nicht. Wenn die Anforderungen der Frauen niedriger wären, hätten wir sicherlich eine höhere Erfolgsquote. Heutzutage ist es sehr schwer, Frauen in China zufriedenzustellen.“20
Ihr Fazit passt also genau zu jenem viral gegangenen Lied über die Vorstellungen junger Frauen in China, von dem zu Beginn des Kapitels die Rede war. Jiayuan wurde übrigens 2015 von einer Tochterfirma, Baihe.com, einer anderen chinesischen Dating-Website, übernommen: für 252 Millionen US-Dollar.21
Baihe geht auch – wiederum typisch für China – von Eheschließung als Ziel für die Plattform-Nutzung aus. Die Nutzer von Baihe.com müssen ihre echten Namen verwenden und werden ermutigt, Informationen wie ihren Vermögensstatus und ihre Ausbildung anzugeben.22
Seit 2015 können Nutzerinnen und Nutzer auch ihren „Credit Score“ angeben. „Das Aussehen eines Menschen ist sehr wichtig“, lässt sich der Vizepräsident von Baihe, Zhuan Yirong, zitieren. „Aber es ist wichtiger, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das Vermögen des Partners garantiert ein komfortables Leben.“23Baihe.com ist dazu eine Partnerschaft mit „Sesame Credit“ eingegangen.24 „Sesame Credit“ (oder „Zhimane Credit“) ist ein Angebot der Finanzabteilung des chinesischen Riesenkonzerns Alibaba, der gleichzeitig Daten für das chinesische Modell des „Social Scoring“ liefert. Hier wird das Wohlverhalten der Bürgerinnen und Bürger überwacht, dazu zählen Äußerungen auf Social Media oder verspätetes Zahlen von Steuern und Abgaben. Fällt dieser „Social Credit Score“ unter einen bestimmten Wert, so können bestimmte Leistungen verweigert werden. Ein Flugzeug besteigen oder auch nur einen Schnellzug nutzen, ist dann nicht mehr drin. Klingt für unsere Ohren mehr als gruselig, ist aber eine Art gesellschaftlicher Konsens in China. Ob und inwieweit diese Art von Informationen auch in den Credit Score fließen, der dann auf der eigenen Dating-Profil-Seite steht, ist nicht ganz klar. Sesame Credit bestreitet das.24 Doch ein seltsames Gefühl bleibt.
Die Technologie, die wir einsetzen, mag global gleich sein. Auch in China unterscheiden sich die eingesetzten Technologien im Grunde wenig von denen, die wir in der westlichen Welt und anderswo auf dem Planeten nutzen. Das „Wie“ jedoch ist grundlegend anders. Gerade vor dem Hintergrund der in China noch starken Traditionen wirkt das für uns manchmal befremdlich. Ob wir etwas davon lernen können, davon später mehr.
Man glaubt es kaum, aber Österreich war einmal ein Weltreich. Na ja, fast, denn zwischen circa 1430 und 1570 schaffte es die Dynastie der Habsburger über mehrere Generationen, überwiegend durch eine geschickte Heiratspolitik, eine riesige Macht in Europa zu werden. Wichtigstes Mittel dabei: der Nachwuchs. Die jungen Erzherzoge und Erzherzoginnen wurden dazu in jungen Jahren, manchmal schon im Kindesalter, mit Mitgliedern anderer Dynastien oder auch mit Angehörigen der eigenen weiteren Familie vermählt. Von Mitspracherechten bei der Partnerwahl ist nichts bekannt. Übrigens: Kaiser Maximilian I. (geboren 1459) gilt als erfolgreichster Anwender dieser Partnerwahl-Methode: Burgund, Spanien, Böhmen und Ungarn wurden mit den Hochzeiten Maximilians I., Philipps des Schönen und Ferdinands I. für die Dynastie gewonnen.
„Felix Austria nube“
Geblieben ist vom einstmals riesigen Reich der Habsburger wenig, aber der Spruch „Felix Austria nube“ („Glückliches Österreich, heirate“) erinnert bis heute daran. In der Langform lautet dieser übrigens: „Bella gerant alii, tu felix Austria nube.“ („Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate.“) Eine Strategie, die nicht nur Österreich verfolgte und die allemal sympathischer ist, als – wie damals durchaus üblich – die Nachbarländer durch Kriege zu unterwerfen.
Die Prinzessin und der Fitnesstrainer
Doch die Zeiten ändern sich. Orientiert man sich an den Schlagzeilen der Klatschpresse, dann hat auch in Adelskreisen inzwischen die Liebe gesiegt. Wer erinnert sich nicht an Prinzessin Victoria von Schweden, die ihren Fitnesstrainer Daniel Westling nicht nur geliebt, sondern auch geheiratet hat. Aber da kann ja auch nichts schiefgehen, wenn dessen Ex-Freundin (Maria Ekman, ein schwedisches Model) in der führenden Zeitung des Landes nur Positives über ihn zu sagen weiß: „Er ist nett, höflich und wohlerzogen. Ein perfekter Freund, der sich um einen kümmert. Er ist so liebenswürdig, man kann nichts Schlechtes über ihn sagen …“25
Traumhaft, fast so wie im englischen Königshaus, wo ein Prinz inzwischen mit einer Schauspielerin verheiratet ist. Die Details der Liebe zwischen Prinz Harry und Meghan Markle sind Legende und von so herausragender internationaler Bedeutung, dass es auf der deutschen Wikipedia-Website einen ausführlichen Artikel gibt – nur über die Hochzeit des Lieblingspaars der Klatschspalten. Fast 2.000 Wörter haben die freiwilligen und unbezahlten Autoren des Online-Lexikons darauf verwendet. Das spricht für das große Interesse an dieser doch eher ungewöhnlichen Paarung.26
Doch auch wenn Fälle wie dieser immer wieder Schlagzeilen machen, sie sind die große Ausnahme. In Adelskreisen wie in Königshäusern wird meist immer noch geheiratet wie früher: Von adäquatem Stand soll es doch bitte sein. Ob es im Einzelfall die wahre Liebe ist, muss offenbleiben. Ein Problem mit zu viel Auswahl – wie beim Online-Dating mit seiner quasi unendlichen Liste möglicher Partnerinnen und Partner – hat man in Fürstenhäusern jedenfalls nicht. Übrigens: Macht und Einfluss – nach der „Methode Habsburg“ – gewinnt man heute ohnehin kaum noch, vielleicht kann man ein paar Ländereien zusammenlegen, aber ein paneuropäisches Reich formen, das ist Geschichte.
Schönheit vergeht, Hektar besteht
Ist das Thema „Nutzbeziehung“ damit nun durch? Nicht so schnell. Denn in ländlichen Gebieten in Süddeutschland hält sich hartnäckig – und nicht ohne Grund – die Redensart „Schönheit vergeht, Hektar besteht“. Das spielt dann nicht nur bei „Bauer sucht Frau“ eine naheliegende Rolle, sondern ist auch in anderer Form immer wieder zu beobachten. Wenn etwa der Münchener Baulöwe die Tochter eines Ministers ehelicht, mag eine erhoffte Einflussnahme auf die hohe Politik durchaus die Partnerwahl ein wenig mitbeeinflusst haben.
Zu dieser Art von Auswahlentscheidungen und anderen möglichen Motiven für die Partnerwahl gibt es mehr im nächsten Kapitel.
Der Volksmund sagt: „Gegensätze ziehen sich an“, aber auch: „Gleich und Gleich gesellt sich gern.“ Was stimmt denn nun?
Wer jemals versucht hat, wirklich zu verstehen, was das Gegenüber für einen anziehend macht, gerät nicht selten auf Abwege. Für fast jede Meinung lässt sich eine passende Studie oder – schlimmer noch – ein YouTube-Video finden, das nicht nur vorgibt, die alleinige Wahrheit zu kennen, sondern auch den Weg zum Paarungserfolg. Zigtausende Videos zum Thema mit Millionen von Abrufen zeigen vor allen Dingen eines: Es fehlt an Orientierung. Überall.
Und diese Verwirrung fängt früh an, sehr früh, nämlich im Kleinkindalter. In der aktuellen öffentlichen Debatte wird mit Hingabe darüber gestritten, ob männliches und weibliches Verhalten – wenn es denn so etwas gibt – erlernt oder angeboren ist. Während die eine Position von einem „unbeschriebenen weißen Blatt“ bei einem Kleinkind ausgeht und die ganze Entwicklung in der Erziehung sieht, ist die Gegenposition die der Evolutionsbiologie, die hinter jeder menschlichen Handlung eine jahrtausendelange Erfahrung unserer Vorfahren verortet. Mann und Frau als Opfer der Biologie? Na, ich weiß nicht.
Die Wahrheit – wenn es denn eine Wahrheit gibt – liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Auch wenn die Vertreterinnen und Vertreter der extremen Positionen das gar nicht so gern hören wollen, denn deren schlichtes Weltbild gerät damit unter die Räder. Und das kann schon einmal zu heftigen Reaktionen führen.
Wenn Sie sich also so richtig aus der Gesellschaft ausgestoßen fühlen wollen, erwähnen Sie eher beiläufig in linken Intellektuellenkreisen, dass es ja eigentlich Mutter Natur ist, die alles für uns regelt, und schauen Sie, was passiert. Oder besser nicht. Vielleicht lesen Sie auch erst einmal weiter, denn wir versuchen, uns dem Thema vorsichtig und unideologisch zu nähern. Ironischerweise helfen uns später Statistiken von verschiedenen Online-Diensten dabei, denn eines ist sicher: Menschen lügen häufig bei klassischen Befragungen, gerade weil sie vor dem Interviewer nicht unangenehm auffallen wollen. Habe ich „lügen“ geschrieben? Ich meinte natürlich „schönfärben“, denn ein wahrer Kern findet sich fast immer, wenn man weiß, wonach man suchen muss.
Werden Menschen – Männlein wie Weiblein – jedoch in ihrem Tun beobachtet und wissen nicht, dass sie beobachtet werden, dann sieht man jenes Verhalten, das dem „in der freien Wildbahn“ am nächsten kommt, und kann wirklich Schlussfolgerungen ziehen. Nicht immer ist das, was man dabei findet, besonders schmeichelhaft, gerade wenn es um das „Paarungsverhalten“ geht, aber da müssen wir nun gemeinsam durch, wenn wir wirklich verstehen wollen, wie Dating im Online-Zeitalter funktionieren kann.
Eine wunderbare Quelle für solche „Erste-Hand-Informationen“ war der Blog des US-Dating-Portals OkCupid. „War“ deswegen, weil die Beiträge irgendwann allesamt gelöscht wurden. Wie gut, dass das Internet-Archiv diese für uns konserviert hat, denn sonst wüssten wir nicht, dass Männer wie Frauen sich gern beim anderen Geschlecht attraktiver darstellen. Männer machen sich zum Beispiel größer, als sie sind (im Schnitt fast 5 cm), und geben an, mehr zu verdienen als im realen Leben. Frauen hingegen mogeln schon mal ein paar Pfunde beim eigenen Gewicht weg.
Das kommt wenig überraschend, meinen Sie? In der Tat, und es stützt die These, dass der Mensch, wenn er sich unbeobachtet fühlt, eben gern optimiert und dass dies ein fester Bestandteil der Suche nach „Mr. oder Mrs. Right“ ist. Doch dazu später mehr – zunächst zurück zu den echten Basics. Wie immer in diesem Buch ganz ohne erhobenen Zeigefinger, sondern nur mit dem, worauf es wirklich ankommt: den Fakten.
Was die Biologie sagt und die Statistik weiß
Es ist kompliziert, so viel steht fest. Und natürlich könnte man nun mit den Schultern zucken und sich auf die volkstümliche Erkenntnis „Wo die Liebe hinfällt“ zurückziehen. In der Tat gibt es vieles, was bis heute nicht messbar oder verstanden ist. Aus dem Blickwinkel dieses Buches gibt es aber zu der Frage „Wer mit wem“ einige Einflussgrößen, die durch wissenschaftliche Untersuchungen renommierter Forscher belegbar sind und die dem viel zitierten Zufall oder der ebenso oft genannten „Liebe auf den ersten Blick“ zumindest einen Rahmen geben. Einige der Ergebnisse dieser Untersuchungen fallen dabei unangenehm auf, denn sie liefern Erkenntnisse, die herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen widersprechen. Wenn Sie sich also – wie man so schön sagt – leicht „triggern“ lassen von Erkenntnissen, die Ihrem Weltbild widersprechen könnten, dann überblättern Sie am besten die folgenden Seiten und lesen erst im nächsten Kapitel weiter. Alle anderen sagen bitte hinterher nicht, sie wären nicht gewarnt worden.
In seinem 2012 erschienenen Buch „Dataclysm: Who We Are (When We Think No One’s Looking)“ geht der Autor – ein Gründer einer Dating-Plattform – im Detail auf Fragen der Attraktivität ein. Eine Schlüsselfrage ist, wie attraktiv Männer und Frauen ihr Gegenüber einschätzen, wenn es um das Alter geht. Frauen finden Männer ihrer eigenen Altersklasse am attraktivsten, bis etwa 40 Jahre, danach werden etwas jüngere Männer als attraktiver empfunden. So weit, so wenig überraschend. Ganz anders sieht es bei Männern aus. Denn diese finden – unabhängig vom Lebensalter – Frauen Anfang 20 am attraktivsten.27
Eine weitere wesentliche und vielleicht die wichtigste Erkenntnis aus seinem Buch: Nutzer einer Dating-Plattform bewerten Aussehen und Persönlichkeit in der gleichen Weise. Das heißt, ist das Gegenüber optisch attraktiver, so wird auch die Persönlichkeit positiver eingeschätzt.28 Optik als „Proxy“ für die Persönlichkeit bei Dating-Apps? Das klingt furchtbar oberflächlich und zeigt bereits jetzt eines der wichtigsten Probleme, die wir mit Online-Dating haben. Dennoch, diesen Gedanken sollten wir uns genau merken, denn er wird noch wichtig werden.
Die „Disneyfizierung“ der Liebe
Ist unser Verhalten evolutionär bedingt oder erlernt? Darüber tobt in der Wissenschaft bis heute eine Debatte, in der praktisch jede Position von und zwischen den beiden Extremen irgendwo von irgendwem vertreten wird.
Die Vorstellung, dass der Mensch ein Opfer seiner Gene ist und gar nicht anders kann, als Jahrtausende alte mentale Programme abzuspulen und sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten, ist vermutlich genauso falsch wie die Vorstellung, dass jedes Verhalten ein soziales Konstrukt ist und beliebig erlernt und in der Folge auch umgelernt werden kann. Dies gilt auch für die Unterschiede im Verhalten zwischen Mann und Frau. Das zeigt sich gerade beim Dating immer wieder, Jahrzehnten des Feminismus zum Trotz. Anders gesagt: Die evolutionsbiologische Vorstellung, dass Frauen bei der Beziehungssuche Eigenschaften wie Stärke, Sicherheit und Stabilität bevorzugen, um die Überlebenswahrscheinlichkeit des Nachwuchses zu erhöhen, ist ebenso diskussionswürdig wie die, dass Männer nur auf ein attraktives Äußeres fixiert sind, weil das Fruchtbarkeit verspricht.
Klar ist auch, dass beide Geschlechter alles andere als immun sind gegen die Prägungen, die sie im Laufe des Erwachsenwerdens durch ihr Umfeld erfahren, etwa die Vorstellung von der romantischen Liebe, von der wir wissen, dass sie erst ein paar Hundert Jahre alt ist. Dafür prägte der Hamburger Paartherapeut Eric Hegmann 2018 in seinem TEDx-Talk „The Disneyfication of Love“ das schöne Wort von der „Disneyfizierung“29