Die Organisation  Flashback-Trilogie - Britta Keller - E-Book

Die Organisation Flashback-Trilogie E-Book

Britta Keller

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Beschreibung

Eine Organisation, die über Leichen geht und drei siebzehnjährige Männer, die in ihren Fokus geraten. Sie werden verraten, verschleppt und verfolgt. Dieses Buch enthält alle Bände der Flashback-Trilogie und ist ein Genregemisch aus Drama, Thriller und etwas Romantik für junge und junggebliebene Erwachsene ab 16 Jahren. Achtung Triggerwarnung Band 1 Verraten: Mason, der Sohn des amerikanischen Filmschauspielers Rouven Gardner, wird drei Wochen lang vermisst, bevor er eines Tages gefesselt und bewusstlos im Wald gefunden wird. Ihm fehlen jegliche Erinnerungen an diese Zeit, bis ihm die ersten Flashbacks die grausame Wahrheit verraten. Verfolgt von aufdringlichen Paparazzi, flüchtet er schließlich nach Montana. Auf der abgelegenen Farm seiner Verwandten versucht er sich zu erholen, doch die wiederkehrenden Erinnerungen bringen ihn an seine Grenzen. Unerwartet bekommt er Besuch von Luana, seiner besten Freundin, die seine Gefühlswelt zusätzlich durcheinanderbringt. Wird er je wieder ein normales Leben führen können? Band 2 Verschleppt:: Der siebzehnjährige Timo verschwindet kurz nach dem Tod seines Vaters spurlos. Jegliche Suche verläuft im Sand, bis sein Pate Michail, zwei Jahre später, einen Tipp erhält, der ihn nach Russland führt. Gemeinsam mit Sascha nimmt er den Wettlauf gegen die Zeit auf. Schaffen sie es, Timo trotz allen Schwierigkeiten, rechtzeitig zu finden oder lenkt sie das Knistern ab, das sich zwischen ihnen immer mehr entfacht? In derselben Zeit lebt der neunzehnjährige Mitja im Waisenhaus. Sein Leben gleicht einer Hölle, denn die Heimleiter kennen kein Erbarmen und vermitteln die Jugendlichen als Toy Boys. Nur sein Freund Maxim gibt ihm Halt, bis sich eines nachts alles verändert. Verraten ihm die beginnenden Flashbacks die Wahrheit über seine, im Dunkeln liegende, Vergangenheit oder sind es doch nur Träume, die ihm eine entsetzliche Wahrheit vorgaukeln? Timo und Mitja, zwei Jungen im Kreuzfeuer der Organisation oder ist alles anders als es zunächst erscheint? Band 3) Maxim kämpft sich bei illegalen Boxkämpfen von Sieg zu Sieg, doch die Organisation hat weitere Pläne mit dem Zwanzigjährigen und stellt ihn vor ein Ultimatum. Er sieht nur noch einen Ausweg, um dem Grauen zu entgehen. Kaum ist Timo bei seiner Mutter eingezogen, steht er vor neuen Herausforderungen. Flashbacks, die ihm den Schlaf rauben, und die Furcht vor der Organisation sind nur das eine Problem. Aufgrund seiner Sprachblockade ist er auf Michails Hilfe angewiesen, der mit eigenen Problemen und Sehnsüchten zu kämpfen hat. Wird er die Frau aus Russland wiedersehen, die ihm den Kopf verdreht hat? Als Mason in Timos Leben tritt, scheint das Chaos perfekt, oder kann ausgerechnet er ihm helfen? Band 3 der Flashback-Trilogie führt die Charaktere der vorigen Bände ein letztes Mal zusammen. Werden Timo, Maxim und Mason der Organisation endgültig entkommen oder müssen sie sich ihrem grausamen Schicksal beugen?

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Seitenzahl: 1169

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Flashbach-Trilogie

Sammelband

BRITTA KELLER

Die Autorin

Die Autorin wurde 1968 geboren und lebt mit ihrem Mann, die Kinder sind bereits ausgeflogen, und der Katze Charly im Bieler Seeland, nicht weit von der Hauptstadt Bern entfernt.

Von Beruf ist sie Detailhandelsfachfrau und liebt ihren Job im Lebensmittelhandel.

Vor fünf Jahren hat sie in einem Forum ihre ersten Kapitel der Öffentlichkeit vorgestellt, ehe 2015 ihr Debüt im Selbstverlag erschien.

In ihrer Freizeit leitet sie einen Samariterverein, liest sehr viel und reist gern, um neue Ideen für ihre Bücher zu finden.

Ihre bisher veröffentlichten Bücher:

Kos-Dilogie: New adult, Selfpublishing

Wiedersehen auf Kos-Laura und Lukas Ein Filmstar auf Kos – Luzia und Rouven

Von Liebe stand nichts im Reiseführer (Sammelband mit Bonusmaterial)

Jugend – Fantasy, Angelwing-Verlag

Eine unverhoffte Zeitreise – Rachels Tagebuch

Flashback-Trilogie, Romantik – Thriller

Flashback-Verraten

Flashback-Verschleppt

Flashback-Verfolgt

Meine Autorenseiten:

https://www.instagram.com/britta.keller.author/

https://www.facebook.com/BrittaKellerAutorin/

https://www.youtube.com/channel/UCG3gwWO_Mdb5ZolQnZTLfCA

https://twitter.com/B_KellerAutorin

Wichtige Charaktere der ganzen Trilogie

1

Mason

Ich hatte die Schnauze voll von dem oberflächlichen und arroganten Getue vieler meiner Mitschüler. Es machte mich richtiggehend krank, wenn sie andere mobbten, nur weil diese No-Name-Klamotten und Discounter Schuhe trugen.

Mehr als nur einmal hatte ich die verteidigt, die sich nicht dem Gruppendruck beugen wollten oder konnten, wenn sie wieder mal blöd angemacht wurden.

Ich trug zwar oft selbst Markenklamotten, weil ich die Qualität schätzte und mich gerne stylte, doch ich musste mir die Mehrkosten in der Boutique meiner Mutter verdienen, was ich völlig in Ordnung fand. Trotz des vielen Geldes, welches Dad als Schauspieler in Hollywood verdiente, wurden mein Bruder Scott und ich nicht verwöhnt. Dad konnte nämlich die selbstverliebten Kids mancher Schauspielerkollegen nicht ausstehen.

Seit ein paar Monaten war ich zum Pessimisten mutiert. Manchmal lag ich den ganzen Nachmittag auf dem Bett und grübelte vor mich hin. Es war schleichend passiert und das Gefühl, das alles beschissen war und nervte, wurde immer stärker. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, was mich wiederum noch mehr verunsicherte.

Meiner Familie erzählte ich nichts davon. Auch nicht meiner besten Freundin Luana, mit der ich sonst über alles sprach. Ich wollte niemanden mit meinen Problemen belasten. Das war nicht mein Stil.

Auch Julie, die sich mir jetzt fröhlich näherte, während ich bei meinem Spind der internationalen Schule wartete und gelangweilt die Schüler beobachtete, konnte mich nicht aufmuntern. Als ich sie kennengelernt hatte, war sie viel natürlicher und etwas scheu gewesen, was auch der Grund war, sie anziehend zu finden. Sie war ein angenehmer Lichtblick in der Menge der vielen Modepüppchen gewesen. Doch seit Lina, ihre frühere Freundin aus Paris, die Schule besuchte, hatte sie sich verändert.

Stirnrunzelt musterte ich Julie nun. Hatten wir noch etwas vor? Welchen Termin hatte ich verpasst? Sie war noch stärker geschminkt als üblich. Ihre Kleidung zu körperbetont und ihre weißblonden Haare auf dem Kopf zu einem Knoten gedreht.

Vor ein paar Tagen hatte sie sie bleichen lassen, was ich nicht verstehen konnte. Warum hatte ihr das natürliche Blond nicht mehr gereicht? Mir hatte es viel besser gefallen, aber weil ich sie nicht kränken wollte, hatte ich mich mit Kritik zurückgehalten.

Als sie nun vor mir stand, wollte ich sie wie üblich in den Arm nehmen und küssen, doch sie wich mir geschickt aus.

Gekränkt lehnte ich mich wieder an den Spind und verschränkte die Arme vor der Brust, damit sie meine Unsicherheit nicht bemerkte. »Gibt es ein Problem?«, fragte ich kühl. Sämtliche Muskeln spannten sich in meinem Körper an.

»Nein, alles in Butter. Gehen wir heute zu dir nach Hause? Dein Dad ist doch heimgekommen?« Ihre Stimme klang aufgeregt und ich ahnte bereits, was mich erwartete.

»Warum? Was willst du von ihm?«, fragte ich. Noch hoffte ich, mich zu täuschen.

In mir begann sich Wut zu regen, als sie mich nun doch an sich ziehen wollte, und ich wehrte sie ab. Ich war doch kein Spielzeug, zu dem sie greifen konnte, wann es ihr beliebte.

»Bist du nur mit mir zusammen, um mit ihm ein Selfie zu schießen, das du danach bei Instagram posten kannst?« Den Sarkasmus konnte ich nicht aus meinen Worten halten.

»Mason, natürlich nicht«, sagte sie mit ihrem französischen Akzent und lächelte gekünstelt, was mich endgültig auf die Palme brachte. »Es hat doch nichts mit dir zu tun. Ich mag dich und möchte dich nicht verlieren, aber warum sollte ich die Situation nicht ausnutzen, wenn sie mir auf dem Silbertablett präsentiert wird?« Sie klimperte mit ihren getuschten Wimpern. »Rouven hat viele Kontakte und er sieht superheiß aus. Ich wäre nicht abgeneigt, mich ihm erkenntlich zu zeigen, sollte er mir eine Rolle vermitteln.«

Wie bitte? Ich löste mich vom Spind und trat einen Schritt auf sie zu. »Verstehe ich dich richtig? Du willst mit meinem Vater ficken, damit er dir eine Rolle besorgt und danach wieder zu mir zurückkommen?", fragte ich und blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. Hitze begann sich vor Wut in meinem Körper breit zu machen. Entweder war sie vollkommen kaltblütig oder unfassbar dumm und naiv.

»Mason, wirklich. Musst du so ordinär sein?«, fragte sie zickig. Ihre perfekt gezupfte Augenbraue hob sich.

Ich verdrehte die Augen. Es war nicht meine Art, aufbrausend zu werden, was sie auch wusste.

»Wie soll ich es denn nennen?«, fragte ich sie ironisch. »Genauso ist es doch. Leider kennst du meinen Vater schlecht. Er würde sich niemals an solchen Spielchen beteiligen. Dafür liebt er Mom zu sehr. Bist du selbst auf diese glorreiche Idee gekommen?« Ich hatte so eine Ahnung, auf welchem Mist das Ganze gewachsen war.

»Nein, es war meine«, antwortete ihre Freundin Lina, die gerade in diesem Moment in ihren Pumps auf uns zu gestöckelt kam. Topgestylt und geschminkt, als käme sie direkt vom Laufsteg. Wir konnten uns gegenseitig nicht leiden. Sie verkörperte alles, was ich hasste. Vor allem Arroganz und Falschheit. Was ihr Problem mit mir war, konnte ich noch nicht herausfinden. Ich tippte aber auf Eifersucht.

»Deine Freundin hat das Zeug zu einer großartigen Schauspielerin. Wieso sollte sie die Situation nicht zu ihrem Besten ausnutzen?«

»Du bist das Letzte!«, zischte ich und wandte mich an Julie. »Verpiss dich. Ich kann dich nicht mehr ansehen. Du ekelst mich an.« Ich spürte dabei, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Hoffentlich war mein Kopf nicht rot geworden.

Ich war ein Idiot. Wieso hatte ich es nicht wahrhaben wollen, dass sie sich immer mehr von Lina beeinflussen ließ?

Julie zog mich am Arm. »Bitte, sei doch nicht gleich eingeschnappt«, bettelte sie, »wir können doch darüber sprechen.«

Eingeschnappt? Ich konnte es nicht fassen. Sie verhielt sich so egoistisch.

»Lass mich los. Ich bin fertig mit dir«, erklärte ich ihr kalt und entriss ihr meinen Arm.

Als ich dann auch noch vereinzelt Handykameras der Mitschüler klicken hörte, verließ ich rasch das alte Schulgebäude. Diese Idioten sollten mir die Demütigung nicht anmerken. Wir hatten ihnen ein wahres Schauspiel geboten, das ich in meiner Wut nicht realisiert hatte und mir nun zuwider war.

Ich eilte durch die Altstadt zur Münsterplattform, unter den Bäumen entlang, an den grünen Holzbänken vorbei und lehnte mich kurze Zeit später über die tiefe Mauer, dessen rauer Stein sich, trotz des warmen Herbsttages, ganz kalt unter meinen Handflächen anfühlte.

Das war mein Lieblingsplatz hier in Bern. Die Aussicht auf die Flussschwellen, die Gärten des Münsters und die Häuserreihen des ältesten Quartiers von Bern – der Matte – war ein wunderbarer Anblick.

Ich beobachtete, wie die Aare, die unter der Altstadt durchfloss, entlang des Wehrs aufspritzte. Das leise Geräusch des rauschenden Wassers, das bis hier hinaufdrang, beruhigte mich etwas.

Die Tränen drängte ich zurück, auch wenn das Brennen in den Augen unerträglich war. Mein Stolz ließ es nicht zu, in der Öffentlichkeit zu weinen.

Ich war vieles gewohnt. Angebliche Freunde, die sich bei mir einschleimten, um an Selfies mit Dad heranzukommen, Autogrammwünsche oder Schwärmereien für ihn. Doch Julies heutiger Auftritt toppte sogar das Horror-Date, das ich im Frühjahr gehabt hatte.

Wir saßen damals in der Spaghettifactory, einem Italiener am Kornhausplatz. Den ganzen Abend hatte das Mädel mich mit Fragen über meinen Vater gelöchert. Erst war ich höflich geblieben und antwortete ihr, aber schließlich reichte es. So stellte ich mir kein Date vor – sicherlich nicht. Ich hatte das Handy gezückt und ihr die Wikipedia-Seite meines Dads gezeigt.

»Schau, hier und auf seiner Webseite findest du jede Menge Infos. Dazu brauchst du kein Date mit mir. Ich kann Besseres mit meiner Zeit anfangen.«

Ohne ein weiteres Wort hatte ich das Restaurant verlassen, gedemütigt und verletzt. Durch die Scheibe hatte ich noch das feuerrote Gesicht des Fangirls gesehen, was mich etwas über das unmögliche Date hinweggetröstet hatte.

»Hey Kleiner. Du siehst traurig aus. Alles klar bei dir?« Die rauchige Stimme mit osteuropäischem Akzent unterbrach meine Gedanken.

Irritiert sah ich auf und erkannte ein Pärchen, das sich direkt neben mir an die Mauer lehnte, ohne dass ich es bemerkt hatte. Die giftgrünen und streichholzkurzen Haare der Frau standen ihr wirr vom Kopf ab. Der Mann dagegen hatte eine Glatze. Beide waren in abgewetzten Hosen, Bikerstiefeln und Lederjacken unterwegs.

Sie musterten mich ebenso unverhohlen wie ich sie. Ein amüsiertes Lächeln überzog ihre schmalen Lippen. Ich fragte mich, was ihr durch den Kopf ging, aber ich hatte keinen Bock auf ein Gespräch und murmelte nur: »Ich bin okay, danke.« Dann wandte ich mich wieder von ihnen ab.

Die beiden schienen zu spüren, dass ich keinen Bock hatte, über meine Sorgen zu sprechen, und stellten keine weiteren Fragen. Als wäre nichts gewesen, holten sie je ein Bier aus einer mitgebrachten Kartonschachtel und tranken dieses unbekümmert. Die Blicke der Passanten, die sie abfällig musterten, interessierten sie nicht. Hier war ein solches Verhalten unerwünscht, nicht nur der vielen Touristen wegen.

Als die fremde Frau mir auch eins anbot, nahm ich es trotzdem dankend an. Sollte doch die Presse schreiben, was immer sie wollte. Langsam hatte

ich die Schnauze voll, ewig der brave Mason zu sein, auf dem alle herumtrampelten.

Während ich das erste Bier trank, war ich noch zurückhaltend, doch durch den Alkohol lockerte sich meine Verkrampfung etwas und wir kamen ins Gespräch.

Erst einmal stellten wir uns mit Vornamen vor. Meinen Nachnamen brauchten sie nicht zu wissen. Sie sollten mich als die Person wahrnehmen, die ich war. Nicht als Sohn meines berühmten Vaters. Sollten sie mich erkannt haben, erwähnten sie es nicht.

»Wir setzen uns auf die Bank dort hinten. Willst du dich uns anschließen?«, fragte mich Natascha auf einmal.

»Klar. Warum auch nicht?« Ich folgte Silvio und ihr mit dem zweiten Bier, das er mir vorher in die Hand gedrückt hatte. Unterdessen pfiff ich ebenso auf die kritischen Blicke der Plattformbesucher wie sie.

Natascha setzte sich neben mich und fragte: »Geht es dir jetzt besser? Du wirkst etwas entspannter.«

Silvio schubste sie. »Lass Mase doch in Ruhe. Du würdest einer Wildfremden auch keine Geheimnisse anvertrauen. Wahrscheinlich hat er Liebeskummer?« Dabei blinzelte er mir verschwörerisch zu.

»Ja, ich hatte Stress, aber das ist mein Problem. Ich möchte nicht darüber sprechen«, blockte ich ab.

»Kein Problem. Wir verstehen das«, antwortete Silvio.

»Seid ihr oft hier?«, fragte ich etwas freundlicher.

»Unsere Clique trifft sich mal hier, mal dort.«

Genauere Angaben machte er nicht, was ich verstand. Ich war nicht mitteilsamer. Wir genossen einfach das schöne Wetter und saßen faul auf der Bank herum. Ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart, obwohl sie nicht zu den Leuten gehörten, die ich sonst in meinem Umfeld hatte. Vielleicht mochte ich sie gerade deshalb.

Als ich mich nach einer Stunde verabschiedete, war ich etwas wackelig auf den Beinen. Normalerweise trank ich kaum Alkohol.

Glücklicherweise war niemand zu Hause, als ich heimkam, und ich konnte mich ins Zimmer verkrümeln.

Am nächsten Morgen hatte ich starke Kopfschmerzen, besuchte aber wie immer die Schule, damit niemand Fragen stellte.

Es wurde ein Spießrutenlaufen wegen meiner Sache mit Julie. Hämische und mitleidige Blicke folgten mir. Sobald ich einen Raum betrat, stoppten die Mitschüler ihre Gespräche, sodass mir klar war, über wen sie herzogen.

Als zu alledem auch noch Julie persönlich auftauchte, um mit mir über den gestrigen Streit zu sprechen, reichte es mir.

»Was willst du noch?«, pflaumte ich sie an.

»Ich möchte mich entschuldigen. Gib mir bitte noch eine Chance.«

»Wie bitte?« Ungläubig starrte ich in ihre blauen großen Augen. Glaubte sie wirklich, aus uns könnte noch etwas werden? »Dein Verhalten ist unentschuldbar. Lass mich zukünftig in Frieden.«

Wie gestern versuchte sie mich am Arm zurückzuhalten, als ich weggehen wollte. »Mason, du kannst mich nicht verlassen. Bitte. Es hat doch sonst zwischen uns gestimmt«, flehte sie.

»Lass mich los!«, herrschte ich sie an.

Mein bedrohlicher Tonfall ließ sie sofort handeln. Dann drückte sie auf die Tränendrüsen, um mich umzustimmen.

»Spar dir das für einen Dümmeren auf und verzieh dich. Zwischen uns ist es aus«, stoppte ich das Geheule in energischem Tonfall.

Weil sie stehenblieb und mich traurig ansah, ging ich einfach davon. Erneut flüchtete ich nach der Schule zur Aussichtsplattform. Auch Natascha und Silvio hielten sich wieder dort auf.

»Hey. Du siehst aber wütend aus. Hast du immer noch dasselbe Problem?«

»Ja, ich habe echt keinen Bock mehr. Meine Mitschüler und meine Ex gingen mir den ganzen Tag auf den Wecker.« Mehr brauchten sie nicht zu wissen. Sie fragten auch nicht weiter, was ich an ihnen schätzte. Die beiden respektierten meine Zurückhaltung.

»Lass dich nicht verrückt machen. Wir gehen zur Aare herunter. Auf der anderen Seite gibt es ein paar Plätze, bei denen wir ungestörter sind. Komm doch mit.«

Ich folgte ihnen also die Fricktreppe hinunter zu einem versteckten Platz am Ufer, wo wir uns auf einen Stein setzten.

Natascha hielt mir ihren Joint hin, den sie kurz zuvor angezündet hatte. »Möchtest du einen Zug nehmen? Das wird dich etwas beruhigen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich steh nicht drauf.« Das Bier, das mir Silvio stattdessen anbot, nahm ich hingegen gerne an. Ich war noch immer wütend. Vor allem auf die Abgebrühtheit von Julie. Werde ich je an eine Frau geraten, die nicht auf meinen Dad aus ist?

»Wie du willst. Du kannst es dir ja überlegen.«

»Ne, schon gut. Das Bier reicht mir völlig.«

Silvio lachte. »Er hat seine Prinzipien. Das finde ich gut.«

Auch heute reichte es ihnen aus, mit mir abzuhängen, ohne viel zu quatschen. Sie drängten mir kein Gespräch auf.

Nach mehreren Flaschen Bier machte ich mich wackelig auf den Heimweg. Es waren doch eine oder zwei zu viel gewesen.

Zu Hause gab es Zoff. Dad roch an mir. »Hast du getrunken? Du stinkst wie ein Bierfass.«

»Hey mach doch keinen Stress. Es war nur eine Flasche. Oder zwei.« Während des Schuhausziehens musste ich mich am Garderobenschrank festhalten, um nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Mir drehte sich der Kopf vom vielen Alkohol.

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Dad durchbohrte mich mit einem strengen Blick aus seinen stahlblauen Augen. »Es scheint auch nicht das erste Mal zu sein. Die Presse schreibt bereits über dich.«

Was? Dad hielt mir eine Zeitschrift unter die Nase. Auf dem Bild sah man mich mit einem Bier in der Hand.

Mason Gardner betrunken auf der Münsterplattform.

Bereits sein Vater, der Hollywoodstar Rouven Gardner, hatte früher ein Alkoholproblem. Schlägt der bisher unauffällige Mason nach seinem Dad?

Ich runzelte die Stirn und wollte über die verleumderische Presse lästern, als mir Dad das Wort abschnitt.

»Bist du verrückt, Mase? Du ruinierst deinen guten Ruf.« Sein Tonfall war lauter geworden. Seine Stirn hatte sich gerunzelt.

»Es wird nicht mehr vorkommen«, erwiderte ich genervt. Ich meinte damit nicht den Alkohol, sondern, dass ich mich nicht mehr beim Trinken ertappen lassen würde. Die ewigen Vorschriften reichten mir.

»Na hoffentlich«, motzte Dad, bevor ich gereizt in meinem Zimmer verschwand und die Tür hinter mir zuschlug, denn ich wusste, er konnte das auf den Tod nicht ausstehen.

Am darauffolgenden Freitag fuhr ich nach einem heftigen Streit mit Luana und dem dadurch abgebrochenen Filmabend erneut zur Aare hinunter, wo ich diesmal nur Natascha antraf.

»Hey Mase. Alles cool?« Sie klang aufrichtig interessiert, zog mich an der Hand zu sich herunter und umarmte mich, ehe ich mich neben sie auf den Stein setzte.

»Nö.« Ich erzählte ihr von dem Streit mit meiner besten Freundin. »Das macht mich gerade richtig fertig.« Tief in meinem Inneren war mir klar, dass ich am Streit schuld war, aber weshalb musste Luana denn so überreagieren?

»Och, die wird sich bestimmt wieder beruhigen. Sonst hast du immer noch mich«, versuchte mich Natascha aufzumuntern. Sie hielt mir den Joint hin, den sie rauchte. »Komm schon. Nimm einen Zug. Das Bisschen wird dich nicht gleich süchtig machen, aber ungemein entspannen.«

Nach einigem Zögern gab ich nach. Scheiß auf meine Bedenken. Ich wollte nur einmal das ganze Elend vergessen. Ich brauchte diesen Kick jetzt. Es würde kein zweites Mal vorkommen. Das schwor ich mir.

Langsam zog ich an der Tüte und bekam natürlich postwendend einen Hustenanfall. Natascha schmunzelte und streichelte mir zärtlich mit dem Handrücken über die Wangen, ehe sie ihre Lippen plötzlich fest auf meine drückte. Etwas überrascht, aber trotzdem freudig, erwiderte ich den Kuss. In meinem Magen entstand ein warmes Gefühl. Es breitete sich in mir aus und vertrieb für wenige Minuten die Wut, die sonst in mir herrschte.

Wir trafen uns ab da regelmäßig zu zweit oder zu dritt. Ich merkte, dass mich das Kiffen vom Grübeln abhielt, und steckte mein ganzes Taschengeld in das Marihuana oder in Bier, statt ins Mittagessen oder in Markenklamotten. Wer brauchte die schon?

Je öfter mich die Mitschüler nervten und meine Familie mich wegen meines neuen Lebenswandels ausschimpfte, desto sturer blieb ich dabei. Sie konnten mich alle kreuzweise.

2

Luana

Schauspielersohn spurlos verschwunden.

Seit Sonntag, 2. Oktober 2016 ist Mason Gardner, Sohn des weltbekannten Schauspielers Rouven Gardner, als vermisst gemeldet. Zuletzt wurde der siebzehnjährige, ein Meter siebzig große, schlanke Junge am Samstagnachmittag in der Nähe des Bärengrabens in Bern gesichtet. Er trug bei seinem Verschwinden schwarze Cargohosen sowie eine Lederjacke in derselben Farbe und Arbeiterstiefel. Die Haare sind dunkelbraun, die Augen hellbraun. Hinweise können bei jeder Polizeistelle hinterlegt werden.

Diese Vermisstenanzeige kannte ich mittlerweile auswendig, weil ich sie gefühlte hundertmal gelesen hatte. In Facebook, in der Tagespresse und im Fernsehen.

Aus diesem Grund suchte ich mit Alex und Scott, der seinem Bruder wie ein Zwilling glich, Masons liebste Aufenthaltsorte ab. Wir liefen auf dem Aareweg am Fluss entlang. Vor uns lag unser geliebtes Marzili, die Badeanstalt mit direktem Zugang zur Aare. Hier hatten wir im Sommer bei sonnigem Wetter oft die Freizeit verbracht.

Heute Abend hatte ich aber keinen Blick für meine Umgebung. Der Fluss, der jetzt neben uns braun und schnell vorüberfloss, kam mir düster vor. Über uns thronte das imposante helle Parlamentsgebäude aus Sandstein mit seinen kupferverkleideten Kuppeln.

Der Oktober zeigte sich von der rauesten Seite. Ein kühler Wind wehte uns um die Nase, sodass ich den Kaschmirschal enger zog. Meine langen schwarzen Locken steckten unter der Kapuze des Anoraks. Die Füße in warmen Stiefeln. Trotzdem fror ich, innerlich und äußerlich. Überall lagen bunte Blätter auf dem Gehweg herum oder wehten im frischen Wind davon. Das farbige Laub erinnerte mich wieder an meinen besten Freund, der den Herbst so liebte. Als Kinder hatten wir oft Laub gesammelt, getrocknet und die dürren Dinger auf Papier geklebt. Alles kam wieder hoch. In den Wochen vor Masons Verschwinden war eine Menge geschehen und ich fragte mich, ob es einen Zusammenhang zu seinem Verschwinden gab. Unsere langjährige Freundschaft bekam Anfang September ihren ersten Riss. Wir trafen uns, wie so oft, im Keller seines Elternhauses, um einen Film anzusehen. Ich erinnerte mich auch heute noch zu gut an diesen Abend.

Mason las die Beschreibungen, der von mir mitgebrachten Blu-ray-DVDs stirnrunzelnd durch und warf sie Stück für Stück in die Stofftüte zurück. Bei jeder gab er einen blöderen Kommentar ab. Von »Nein, geht gar nicht« bis »Was für eine Scheiße, das sind ja nur Liebesfilme« durfte ich mir alles anhören.

Ich wurde immer genervter. »Geht’s noch? Was hast du für ein Problem?«

»Lu! Echt jetzt. Hast du keinen einzigen Actionstreifen gefunden? Das hier ist nur Müll.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was soll das, Mase? Das ist ungerecht. Heute bin ich dran. Du kannst das nächste Mal wieder auswählen.«

Er sah mich mit vorgestrecktem Kinn herausfordernd an. Ein spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen. Meine Entrüstung schien ihn höchstens zu amüsieren. So hatte er mich noch nie behandelt.

»Mir ist egal, ob du dran bist. Wir suchen uns einen interessanteren Film im Web oder wir fahren in die Stadt. Es ist ohnehin öde, ständig vor der Glotze zu hocken.«

Er stellte es so hin, als würden wir nie etwas anderes tun, obwohl es seine Idee gewesen war, einen Film zu schauen. Ihm einen enttäuschten Blick zuwerfend, nahm ich meine Stofftüte in die Hand, um mich auf den Heimweg zu machen. Heute hatte es keinen Sinn mehr, weiter mit ihm zu diskutieren.

Daraufhin wirkte er doch unsicher und hielt meinen Beutel fest. »Wo gehst du hin? Wir könnten zusammen ein Bier trinken gehen. Ich kenne da ein paar coole Typen.«

»Nein. Dazu habe ich keinen Bock. Du hättest sagen können, dass du lieber ausgehen möchtest. Dann wäre ich gar nicht erst hergekommen.«

»Spielst du jetzt die Beleidigte, weil es nicht nach deinem Kopf geht? Du kannst so eine Zicke sein.«

»Hast du einen Knall? Wie sprichst du mit mir?«, regte ich mich noch weiter auf, packte meinen Kram zusammen und verschwand ohne einen Abschied. Was war nur in ihn gefahren? So kannte ich ihn nicht.

Wir stritten öfters mal und vertrugen uns dann meist nach kurzer Zeit. Diesmal jedoch war alles anders. Mason meldete sich nicht mehr und blockte sogar meine Anrufe ab, als ich den ersten Schritt zur Versöhnung tun wollte.

Ein paar Tage vor den Herbstferien kam mein sechzehnjähriger Bruder Alex von einem Besuch bei Scott zurück. Sein besorgtes Gesicht gefiel mir nicht. Deshalb hielt ich ihn auf dem Weg in sein Zimmer auf.

»Du siehst beunruhigt aus. Was ist los?« Ich ahnte, was ihn bedrückte. Bei den Gardners war im Moment die Hölle los.

Er atmete tief aus und sagte leise: »Ich soll mit Scott und Rouven auf den Campingausflug, den sie eigentlich mit Mason zusammen machen wollten.«

»Warum du und nicht Mason?«

»Mason darf nicht mit, weil er immer wieder die Schule schwänzt und sich betrinkt.«

Ich keuchte entsetzt auf. Warum zerstörte er sein ganzes Leben? Mason war doch immer ein super Schüler gewesen. Nur Mathe hatte er gehasst.

»Luana, ich habe ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Mason hat sich so lange darauf gefreut. Ich habe es Rouven auszureden versucht, aber er blieb dabei.«

»Dem kannst du nichts ausreden. Du weißt, wie stur er sein kann.« Ich seufzte. In dieser Hinsicht war sein Vater nicht besser als Mason. »Geh mit und genieß es«, riet ich ihm.

»Meinst du wirklich? Das wird mir Mason nicht verzeihen.« Alex sah mich mit seinen stahlblauen Augen hoffnungsvoll an.

»Alex, es ist nicht dein Fehler. Mason wird das sicher einsehen. Auch, wenn es etwas länger dauern sollte.«

»Dann werde ich das Angebot annehmen. Irgendwann wird er hoffentlich wieder auf die Füße kommen.«

Das hoffte ich auch. Ich wuschelte ihm durch seine nach hinten gestylte Haare, was er ausnahmsweise zuließ. Er war zu sehr von seinem Problem abgelenkt.

»Ich bin echt traurig, dass ausgerechnet Mason abstürzt. Das hätte ich niemals erwartet«, gestand er mir.

Ich verstand ihn. Mir erging es nicht besser. Unsere beiden Familien waren eng miteinander verbunden. Meine Eltern waren auch Masons Paten. Wir waren untereinander so gut befreundet, als wären wir verwandt. Mason und Scott bedeuteten uns so viel, als wären wir Geschwister.

Ich verstand nicht, was in meinem Freund vorging. Wenn er nur mit mir sprechen würde, könnte ich vielleicht auf ihn einwirken.

Ich nahm mir vor, ihn zu Hause abzufangen, um mit ihm zu sprechen. Doch es kam anders.

Am Tag darauf kam ich gerade aus dem Coffeeshop im Bahnhof, da bemerkte ich ihn und seine neue Freundin, von der ich vorher noch nie gehört hatte.

Mason saß auf der runden, roten Bank, die am allgemeinen Bahnhofstreffpunkt stand. Ein Mädchen mit kurzen giftgrünen Haaren saß auf seinem Schoß und knutschte mit ihm.

Sein ungewohnter Anblick entsetzte mich. Mason hatte nichts mehr mit dem früheren, stets gepflegten Jungen zu tun.

Genau wie die Frau auf seinem Schoß trug auch er eine zerrissene Cargo-hose aus dunklem Stoff, die wohl einmal mit einem Camouflagemuster bedruckt gewesen war. Halboffene Militärstiefel und die schwarze Lederjacke vervollständigten die Kluft. Masons kinnlangen Haare wirkten ungewaschen und hingen ihm seitlich ins Gesicht. Vorher hatte er sie immer stylish nach hinten geföhnt und die Seiten kurz geschnitten.

Als ich zögerlich zu ihnen trat, hob die junge Frau anzüglich eine der gepiercten Augenbrauen und musterte mich aus geröteten Augen, die dick mit Kajal umrandet waren.

»Hast du uns gerade angestarrt?«

»Lass sie, Natascha. Das ist Luana«, tadelte Mason sie mit angespannter Miene und zog sie näher an sich heran. Dann wandte er sich mir zu. »Wolltest du was von mir?« Sein humorloses Grinsen verlieh seinem kantigen Gesicht einen arroganten Anblick.

»Nein, weshalb sollte ich das?«, gab ich trocken zurück. »Ich ging nur Kaffee holen und habe euch zufällig entdeckt.«

»Ach so. Dann kannst du ja wieder abzischen. Mein Freund hat keine Zeit für dich. Wir haben noch was vor.« Ihr schmales Gesicht verzog sich verächtlich.

»Natascha, das reicht! Luana hat dir nichts getan.« Mason stellte die magere Frau auf den Boden, kam zu mir und zog mich am Arm von ihr weg. Seine Freundin warf ihm einen empörten Blick zu, was mich etwas versöhnte, aber die Freude währte nur kurz.

»Lu, es ist besser, wenn du uns in Ruhe lässt. Sie und ich sind erst seit einer Weile zusammen und Natascha ist äußerst eifersüchtig. Das ist nichts Persönliches.«

»Na und? Ich wollte nur eben Hallo sagen, um nachzusehen, wie es dir geht. Anrufen konnte ich nicht. Das wird sie doch wohl verkraften?«, verteidigte ich mich genervt und rollte die Augen. Ich fragte mich, ob ich in Zukunft überhaupt noch eine Chance auf ein persönliches Gespräch bekam.

»Ich brauchte etwas Abstand, hatte zu viel Stress«, behauptete er.

»Wenn du das sagst. Übrigens, interessanter Stil, den du jetzt trägst.« Es klang arroganter als geplant, was mir ein verächtliches Schnauben von Natascha einbrachte. Sie war an seine Seite getreten und fasste Mason besitzergreifend um die schlanke Hüfte, bevor sie ihn hart auf den Mund küsste.

»Habt ihr genug gequatscht? Mase, sieh doch, wie oberflächlich diese Puppe ist. Ich bin echt froh, dass du auf mich gehört hast und nicht mehr wie ein wandelndes Modelabel herumläufst.«

Wow, was für eine Zicke. Die hatte wohl einen Knall in der Schüssel. Ich war kaum geschminkt. Nur einige meiner Kleider stammten aus Luzias Edelboutique. In der Freizeit trug ich Jeans und Shirts, aber ich kam gerade von der Arbeit im Büro eines Frachtunternehmens. Warum ließ sich Mason das gefallen?

»Ich style mich so, wie es mir passt und nicht, wie du es mir vorschreibst«, schnauzte er seine Freundin an.

Natascha warf ihm einen verletzten Blick zu. »Hey, komm mal wieder runter. Wir sollten endlich abdüsen. Die Jungs warten.«

»Ja. Lass uns verschwinden.« Er warf mir noch ein kurzes »Tschüss« zu und dann verschwanden die beiden aus dem Bahnhof.

Am Tag danach rief er mich unerwartet an. Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Mase?«, meldete ich mich zurückhaltend.

»Störe ich gerade?«, fragte er.

»Nein, ich bin am Büffeln. Was willst du?«

»Ich habe noch Tickets und gehe heute Abend zum Eishockeyspiel. Kommst du mit?«

Eine Sekunde hielt ich inne und legte den Stift nieder. »Warum? Kann sie dich nicht begleiten? Ich bin nicht dein Lückenbüßer.«

»Luana. Bitte. Ich wollte dich einladen. Als Entschuldigung wegen unseres Streits.« Er hörte sich etwas befangen an.

»Echt?«, fragte ich überrascht. »Gestern hast du noch klargestellt, dass ich dich in Ruhe lassen soll. Ich blicke nicht ganz durch.«

»Ich habe mit Natascha gesprochen. Du brauchst also nicht die Beleidigte zu spielen. Ich habe dich sogar verteidigt«, antwortete er in zunehmend verärgertem Tonfall.

Ich überlegte einen Moment, entschied mich dann nachzugeben. Unserer Freundschaft zuliebe. Ich hoffte naiverweise auch, ihm ins Gewissen reden zu können.

»Okay, ich komme mit. Treffen wir uns um 19.00 Uhr vor dem

Stadion?«

»Super. Ich hoffe, dir macht es nichts aus, wenn noch zwei Kumpels mitkommen?« Er klang wieder glücklicher, sogar etwas aufgekratzt.

»Sind sie so drauf wie Natascha?«, fragte ich ihn enttäuscht, da meine Idee, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen, dadurch nicht aufging. Warum konnte er nicht mit mir alleine dorthin gehen?

»Hör zu, ich verstehe, warum du sauer bist, aber ich kann Natascha nicht ändern.«

»Nein, aber sie verändert dich«, erklärte ich ihm. Das machte mich traurig, was sich auch in meiner Stimme bemerkbar machte.

»Lu. Unsere Beziehung geht dich nichts an. Die Jungs sind übrigens echt cool drauf.«

Wir werden ja sehen, dachte ich verstimmt.

»Wenn du immer noch mitkommen willst, sehen wir uns heute Abend.«

»Ja, ich komme mit. Bis dann.«

»Bye, bis dann.«

Der Abend wurde ein Desaster. Es begann damit, dass mich der sonst überpünktliche Mason über eine Viertelstunde warten ließ. Kurz bevor es mir zu blöd wurde, trudelte er endlich locker und bereits angeheitert ein. Die Augen glasig und gerötet.

Seine neuen Kumpels trugen denselben Kleidungsstil wie Mason und waren kahlrasiert. Hoffentlich kam Mason nicht auch noch auf die Idee, ihnen mit der Frisur nachzueifern.

Einer der beiden, vermutlich der Ältere, trug seitlich am Hals ein Tribaltattoo und schien um die dreißig Jahre alt zu sein. Der andere, etwa Mitte zwanzig, musterte mich anzüglich aus dunkelbraunen Augen. Auch seine Pupillen waren erweitert. Warum gab sich Mason mit solchen Typen ab? Mir waren sie unheimlich.

Zur Begrüßung umarmte mich Mason wie üblich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Entsetzt fiel mir auf, Mason roch nicht nur nach Bier, sondern auch nach Gras. Diesen süßen Geruch fand ich schon immer eklig.

Rasch löste ich mich von ihm und verzog das Gesicht, aber er realisierte das nicht einmal.

»Luana, das sind Mike und Silvio«, stellte er die Männer mit verwaschener Stimme vor.

Als mir Silvio auf die Pelle rücken wollte, wich ich schnell aus, was mir einen beleidigten Blick des Verschmähten einbrachte. Mike dagegen nickte mir nur zu und checkte mich aus gletscherblauen Augen amüsiert ab. Dann lehnte er sich arrogant an die Wand und schaute provozierend auf seine Uhr. Großgewachsen, muskulös, aber nicht aufgepumpt, sah er besser aus, als ihm guttat. Ich hatte solche Typen noch nie gemocht.

Silvio ignorierte mich danach das ganze Spiel über, was ich leider von Mike nicht behaupten konnte. Er zwinkerte mir immer wieder belustigt zu, als er meine verärgerten Blicke zu Mason bemerkte. Der benahm sich völlig unmöglich.

»Das war hoher Stock! Bist du blind, du gestreifter Idiot da unten!«, schrie er.

»Du hast wohl deine Lizenz im Lotto gewonnen!«, setzte Silvio noch eins drauf. So ging es die meiste Zeit über weiter. Ich schämte mich zu Tode und verabscheute ihre primitiven Sprüche, die sie auch über die gegnerischen Fans abließen. Früher wäre Mason ein derartiges Verhalten niemals eingefallen.

In der Pause schlängelten wir uns durch die Fans, die Treppe hinunter, zu den Getränkeshops und den Tischen. Mike war sonst wo im Stadion verschwunden.

»Ich gehe Bier holen. Sirup haben sie leider keinen für deine Kleine. Was nimmt sie?«, stänkerte Silvio und lachte.

»Die Kleine verzichtet«, gab ich verächtlich zurück.

»Ui, sie kann aber fies austeilen«, spottete er und ging in Richtung des Getränkestands.

Mason sah mich grimmig an. Das reichte mir. Wütend stellte ich mich vor ihn und hielt ihn am Arm fest. »Was ist los mit dir? Du betrinkst dich und kiffst jetzt sogar.«

»Hey. Sei etwas lockerer, Lu! Du bist so spießig. Bleib das nächste Mal besser zu Hause.« Er sah mich aus geweiteten Pupillen an und entzog mir abrupt seinen Arm.

»Schon vergessen? Du hast mich eingeladen.« Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen ansammelten, aber ich schluckte sie stolz herunter.

»Flennst du etwa gleich? Nimm dir doch ein Beispiel an Natascha. Die ist voll cool und nörgelt nicht die ganze Zeit an mir herum. Ich wollte unserer Freundschaft noch eine Chance geben, aber echt, ich weiß nicht, warum.«

»Wie edel. Danke. Ich verzichte, wenn du dich weiterhin wie ein Idiot verhältst. Ach, vergiss es, du checkst in deinem zugedröhnten Zustand eh nichts mehr. Ich gehe nach Hause.«

»Dann verpiss dich doch, du Spaßbremse.« Er wandte sich bereits ab und schlenderte zu Silvio, der mit dem Bier zurückkehrte. Als krönenden Abschluss prostete er mir noch zu und lachte.

Ich kehrte ihnen den Rücken und lief beinahe in Mike, der von irgendwo herkam.

Er musste meine Tränen bemerkt haben, die jetzt doch flossen. Sachte hielt er mich an beiden Armen fest, damit ich nicht stürzte. »Was ist denn los, Kleines? Hattet ihr Streit?« Er sah zu Mason und dann wieder zu mir.

»Das geht dich überhaupt nichts an«, brachte ich heraus, riss mich von ihm los und rannte aus dem Stadion. Ich wusste, dass ich ihm gegenüber ungerecht reagiert hatte, aber das war mir in diesem Moment egal.

Masons Anruf am Tag danach nahm ich nicht entgegen und blockte seine Nummer. Er konnte mir gestohlen bleiben.

Am Montag, eine Woche später, hörte ich unabsichtlich und völlig schockiert den Schluss eines Telefonats zwischen Ma und Luzia mit.

»Wie bitte?« Ma keuchte auf. Ihre braunen Augen wirkten entsetzt. »Seit wann ist Mason verschwunden?«

Verstört sah ich sie an. Sie stellte das Handy auf Lautsprecher, damit ich mithören konnte.

»Gestern Abend kam er nach einer Geburtstagsparty nicht nach Hause«, erzählte Luzia mit rauer Stimme und schniefte.

»Scott erwähnte, Mason habe angeblich bei Nino, einem Klassenkameraden übernachtet«, informierte ich sie.

»Ja, aber er sollte gestern Abend heimkommen, denn wir hatten ihm verboten, weiterhin während der Woche wegzugehen. Von ihm fehlt jegliche Spur.« Ich hörte ein Rascheln und dann einen Schluchzer. »Wir haben bei Nino angerufen. Mason war nie bei ihm. Er hat uns knallhart angelogen.« Luzia konnte vor lauter Weinen kaum mehr sprechen.

»Wurde die Polizei bereits informiert?«, erkundigte sich Ma sachte.

»Ja, schon gestern. Sie durchkämmen die Gegend mit Spürhunden. Wir haben sämtliche Klassenkameraden angerufen, aber niemand weiß Bescheid, wo Mason sein könnte. Angeblich hatte er keinen guten Draht zu seinen Mitschülern.«

Das hatte ich gewusst und mich deshalb gewundert, warum er bei Nino sein sollte. Doch ich verstand sein Verhalten eh nicht mehr.

»Die Polizei spricht sogar von einer möglichen Entführung. Mason ist wegen Rouvens Bekanntheit ein geeignetes Opfer. Bei uns sitzt ein Team der Kriminalpolizei, für den Fall, dass sich ein Erpresser meldet.«

Doch es traf weder ein Brief noch ein Telefonat mit einer Geldforderung ein.

Heute, drei Wochen später, blieb nur noch eine kleine Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen.

Diese war unsere einzige Motivation, beinahe jeden Abend unterwegs zu sein. Die Chance, ihn lebend zu finden, wurde immer kleiner. Keiner von uns glaubte noch an ein freiwilliges Wegbleiben von Mason. Etwas musste geschehen sein. Die Tränen liefen vor lauter Kälte und Trauer unentwegt über meine Wangen.

»Luana, wir werden ihn finden«, versuchte mich Alex zu trösten. Er legte seine kräftigen Arme um mich. Mein Bruder war bereits jetzt größer als ich. Sonst glich er mir sehr. Er hatte die gleichen grünen Augen und schwarzen Haare. Nur das Gesicht war kantiger als meins und natürlich seine Frisur.

Luzia hatte ich in unserem Telefonat eine Kurzversion über Masons neuen Freunde erzählt, damit die Polizei nach den drei Personen fahnden konnte. Vielleicht war er bei ihnen. Doch auch sie blieben unauffindbar. Niemand wusste, wo sie wohnten.

Auf einmal klingelte mein Handy. Ich zog es aus meiner Jacke und sah auf das Display. Schnell nahm ich das Gespräch an. »Pa?« In diesem einen Wort schwang gleichzeitig Angst und Hoffnung mit.

»Wo seid ihr?«, fragte er mit heiserer Stimme. Sofort bekam ich ein schlechtes Gefühl. Die beiden Jungs blickten mich ängstlich an.

»Auf dem Aareweg, unterhalb der Kirchenfeldbrücke.« Ich stellte das Gerät auf laut, damit die beiden mithören konnten.

»Kommt ins Inselspital. Rouven hat einen Anruf der Kripo erhalten. Mason wurde in einem Waldstück gefunden.«

Mein Puls raste vor lauter Angst und ich sah meinen Begleitern an, ihnen ging es genauso. Ich brachte es kaum über die Lippen, die drängendste Frage zu stellen. Doch ich musste es wissen. »Lebt er?«

»Sein Zustand ist kritisch. Mehr Details sind mir nicht bekannt. Ich warte beim Haupteingang auf euch.«

Kritisch hieß, er lebte. Erleichtert atmete ich aus, doch meine Stimme zitterte noch immer. »Quatsch, bleib bei Rouven. Er wird dich jetzt brauchen. Wir werden euch schon finden. Sie bringen Mason sicher in die Notaufnahme«, schlug ich seinen Vorschlag aus. Dann verabschiedete ich mich.

Ich weinte vor Erleichterung und hatte doch Angst, dass Mason es nicht überstehen könnte. Auch Alex und Scotts Augen glitzerten verdächtig und wir umarmten uns, ehe wir uns auf den Weg machten.

Schnell liefen wir den gewundenen schmalen Frickweg hinauf, der nach oben zur Kirchenfeldbrücke führte. Oben keuchte ich wie verrückt, was die Jungs kurz zum Lachen brachte. Die beiden trieben sehr viel Sport und waren kaum außer Atem.

Etwa zweihundert Meter entfernt, gleich neben dem Zytgloggeturm, befand sich eine Tram-Haltestelle. Von hier fuhren wir bis zum Bahnhof, bei dem wir auf eine andere Linie umsteigen mussten. Ich schaute nach draußen, aber ich sah kaum die eng aneinandergereihten Sandsteinhäuser im alten Stadtteil, die mit Lauben versehen waren. Ich achtete nicht auf die modernen Bürokomplexe, die sich nach dem Bahnhof aneinanderreihten. Ich sah nur Mason vor mir, wie wir uns zuletzt getrennt hatten. Erneut musste ich mit den Tränen kämpfen.

Eine halbe Stunde später betraten wir das hohe Gebäude des Inselspitals, das zugleich als Uniklinik diente.

Scott erkundigte sich beim Personal der Notaufnahme nach seinem Bruder, woraufhin sie ihm den Weg zeigten.

Sobald wir den Wartebereich betraten, standen Pa und Ma auf und kamen uns entgegen. Sie sorgten sich sehr um Mason. Er war in der letzten Zeit unser Hauptthema gewesen. So wunderte es mich nicht, sie beide enorm angespannt zu sehen.

Mit Luzia und Rouven sprach ein Polizist. Scott lief zu seinen Eltern und seine Mutter zog ihn stumm an sich. Obwohl er schon fünfzehn war, ließ er sich über die Haare fahren, was er sonst wie die Pest hasste.

»Wisst ihr schon mehr?«, fragte ich mit leiser Stimme. Es fühlte sich an, als würde mir ein Kloß im Hals stecken.

»Mason war nicht bei Bewusstsein, als sie ihn einlieferten. Er wird noch untersucht.«

Wir setzten uns hin und warteten händehaltend auf Neuigkeiten.

Helle Möbel und Pflanzen versuchten dem kargen Raum etwas Freundlichkeit zu vermitteln, doch das half wenig, damit wir uns wohler fühlten. Dazu waren wir vor lauter Sorge um Mason zu abgelenkt. Mein Magen fühlte sich wie verknotet an.

Vor einer der Türen stand Morrison. Tiefe Sorgenfalten zeichneten die Stirn des fünfundvierzigjährigen Sicherheitschefs der Gardners. Nachdem sich der Polizist von Masons Familie verabschiedet hatte, schritt Rouven kurz zu ihm. Ich verstand nicht, worüber sie sprachen, aber beide machten ein ernstes Gesicht.

Erst nachdem er zurückehrte, stand ich auf, ging zu Luzia und Rouven und umarmte sie.

»Danke, dass ihr euch all die Abende unserer Suche angeschlossen habt.« In Rouvens markantem Gesicht, das eine ältere Ausgabe seiner Söhne war, zeigten sich die Spuren der letzten Wochen. Dunkle Schatten unter den Augen und Sorgenfalten um den Mund ließen auf lange Nächte schließen. Genauso bei Luzia, die sich immer wieder die Tränen abwischte, welche ihr über die Wangen liefen. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie im Bob trug, waren etwas zerzaust, und sie war ungeschminkt, was in der Öffentlichkeit selten vorkam.

»Das war doch selbstverständlich. Was hat denn die Polizei gesagt?«, erkundigte ich mich mit stockender Stimme. Ängstlich sah ich sie an.

»Ein Fußgänger, der mit seinem Hund unterwegs war, hat ihn bewusstlos in einem Waldstück, etwas oberhalb des Spitals, gefunden. Er lag bloß in Unterwäsche und in einer Tarndecke eingewickelt da. Mason ist völlig unterkühlt und liegt jetzt im Schockraum.« Luzia konnte kaum weitersprechen und stockte. »Masons Hände und Füße waren mit Seilen gefesselt. Die Verbrecher haben ihn mit Stofftüchern geknebelt und ihm die Augen verbunden. Sogar die Haare wurden ihm abrasiert.«

Wieder begann sie zu weinen und Rouven zog sie näher an sich.

»Was?« Ich schlug mir die Hände vor den Mund und starrte die beiden mit großen Augen an. Mein Herz blieb beinahe stehen. Was hatten die noch alles mit meinem Freund angestellt?

Wir mussten uns eine weitere halbe Stunde gedulden, bis sich ein Arzt zeigte. Ein älterer Herr im weißen Kittel kam aus dem Raum, in dem Mason lag, und trat zu Rouven und Luzia.

»Guten Abend, sind Sie die Eltern von Mason Gardner?«, fragte er. Luzia und Rouven bejahten in freundlichem Tonfall.

»Mein Name ist Jürg Obrist. Ich bin der diensthabende Arzt und bin für Ihren Sohn zuständig.«

»Das hier sind meine Frau Luzia, unser Sohn Scott und Lukas Berger mit Familie. Mein Name ist Rouven Gardner«, erklärte mein Pate.

»Ist das dort Ihr Angestellter?« Dabei zeigte er auf den Leibwächter.

»Ja, Mr Morrison ist mein Sicherheitschef. Er und seine Crew werden den Raum unseres Sohnes abwechselnd bewachen. Gemäß der Polizei ist Mason in großer Gefahr, sobald die Entführer von seinem Überleben erfahren. Ich denke, dies sollte kein Problem für Sie darstellen.«

»Es ist etwas ungewohnt, aber unter den Umständen verständlich.«

»Wie geht es Mason? Können wir jetzt zu ihm?«, fragte Luzia.

»Ich möchte mich vorher kurz mit Ihnen beiden unterhalten. Folgen Sie mir bitte in mein Büro.«

»Natürlich, gerne«, antworte Rouven, obwohl ihm die Ungeduld anzusehen war.

Nach einer Viertelstunde kehrten sie zurück. Beide wirkten noch blasser als zuvor und erzählten uns die Neuigkeiten.

»Mason wurde mit Drogen betäubt, welche die Ärzte mit einem Gegenmittel zu neutralisieren versuchen. Auf jeden Fall hatte er unwahrscheinliches Glück. Er wird gleich auf die Intensivpflegestation verlegt, wo sie ihn weiterhin engmaschig beobachten können.«

»Dürfen wir zu ihm?«, fragte ich besorgt. Die ganze Warterei und Ungewissheit zehrte an meinen Nerven.

»Die Familie darf abwechselnd rein. Wir müssten uns erkundigen, ob sie es dir auch erlauben«, erklärte mir Rouven.

»Sag doch, du seist seine Verlobte«, meinte Scott augenzwinkernd. »Das klappt in Filmen immer.«

»Scott, also wirklich«, tadelte ihn Luzia. »Wir werden freundlich nachfragen.«

Es war nicht so einfach, das Personal zu überzeugen.

»Luana wird nur ganz kurz reingehen. Mason ist wie ein Bruder für sie«, erklärte Luzia der Pflegefachfrau. »Wir übernehmen die Verantwortung.«

Die Frau sah nicht überzeugt aus. »Ich werde Doktor Obrist fragen.« Dann war sie schon weg. Ich dachte bereits, sie käme nicht mehr zurück, als die Frau endlich um die Ecke des Flurs bog.

»Sie dürfen zu ihm, aber bleiben Sie nur ein paar Minuten. Der Junge braucht Ruhe.« Sie sah mich streng an. Was dachte sie denn von mir? Ich war doch kein Kind mehr.

Mason lag still und bleich da. Am Körper klebten mehrere Elektroden, die die Vitalwerte kontrollierten. Aus einem Infusionsbeutel tropfte eine Flüssigkeit durch den Zugang in seiner Hand. Seine Wangen wirkten eingefallen und der kahle Kopf verschlimmerte das abgemagerte Aussehen noch zusätzlich. In seinem Mund steckte ein Schlauch, mit dem man ihn beatmete. Eine dicke Decke lag über seinem Körper.

Ich fasste seine rechte Hand. »Mase, ich vermisse dich. Komm schon, du sturer Esel. Kämpfe. Du schaffst das.«

Er gab keinen Laut von sich.

Plötzlich begann es zu piepen. Lämpchen leuchteten auf und mehrere Personen stürzten zu ihm.

Erschrocken wich ich zurück. Ich trat in die hinterste Ecke des Zimmers, um niemanden zu behindern und presste meine Faust auf den Mund, um nicht vor Angst zu schreien.

Doktor Obrist blickte auf den Monitor. »Kammerflimmern!«, rief er. »Wir reanimieren!«

Ein Intensivpfleger begann mit der Herzdruckmassage, während eine Fachperson den Defibrillator einstellte und Pads an Masons Oberkörper anbrachte.

Plötzlich hieß es: »Alle weg vom Patienten. Achtung, Schock wird abgegeben!« Nachdem alle einen Schritt auf die Seite getreten waren, gab der Intensivpfleger den ersten Stromstoß ab. Danach wurde er erneut reanimiert und beatmet.

Mir schien es wie eine Ewigkeit, bis Herr Obrist endlich Entwarnung gab. »Wir haben ihn wieder!«

Das Personal hatte mich vergessen. Eilig verließ ich den Raum und setzte mich draußen zu meiner Familie auf einen Stuhl. Meine Knie waren weich wie Gummi und zitterten. Solche Szenen im Fernsehen zu sehen, war bereits krass, aber in echt und wenn der beste Freund auf der Kippe des Todes stand, war es beängstigend. Mir war übel vor Sorge. Tränen liefen über meine Wangen.

Zwei Tage bangten wir um Masons Leben, ehe er endlich stabil war und in ein Einzelzimmer verlegt wurde. Während dieser Zeit erlitt er noch einen zweiten Herzstillstand. Ich schaffte es nicht, ihn ein weiteres Mal zu besuchen. Die Angst, das erneut zu erleben, war zu groß.

3

Mason

Warum roch es hier nach Moder und Feuchtigkeit? Dazu fror ich auch noch erbärmlich. Wo zur Hölle befand ich mich? Verstört versuchte ich, mich umzusehen, doch ich war blind. Ich wollte mich aufsetzen, doch meine Arme und Beine gehorchten mir nicht. Ich schrie vor Panik auf, doch kein Laut verließ meine Lippen.

Schweißnass erwachte ich aus dem Albtraum, aber die Alternative war kaum besser. Irgendetwas steckte in meinem Hals. Panisch streckte ich die Hände zum Mund, um das Ding zu entfernen, aber ich wurde daran gehindert.

»Pscht, Schatz. Beruhige dich!« Jemand streichelte mir sanft über die Wange und hielt meine Hände fest. Ich entzog mich abrupt, bis ich realisierte, dass mir die Stimme bekannt vorkam. Da öffnete ich die Augen, aber ich hatte das Gefühl, dass ein Kilo Sand meine Lider beschwerte. Blinzelnd blickte ich in ein helles Licht, das mich blendete. Erleichtert, dass ich überhaupt sehen konnte und der Albtraum nicht der Wirklichkeit entsprach, drehte ich das Gesicht zur Stimme und erkannte beruhigt, dass meine Mutter neben dem Bett stand. Sie hielt mir die Hände fest, bis jemand oberhalb meines Kopfes zu mir sprach:

»Herr Gardner, ich erlöse Sie jetzt von dem Tubus. Dann werden Sie sich gleich besser fühlen.«

Ich sah nach oben, von wo mich ein junger Mann anlächelte.

Es war ein ekliges, aber doch befreiendes Gefühl, als das Ding herausgezogen wurde. Ein paarmal musste ich heftig husten. Dann flüsterte ich: »Mom?« Doch schon im nächsten Moment verlor ich den Kampf gegen die Müdigkeit und schlief wieder ein.

Beim nächsten Erwachen wurde ich freundlich angesprochen. »Herr Gardner. Bitte erschrecken Sie nicht. Wir verlegen Sie jetzt in ein Einzelzimmer.«

Einzelzimmer? Erschrocken krallten sich meine Hände in die Decke und ich öffnete mühsam die Augen. Eine junge Frau blickte mich beruhigend an. Verstört sah ich mich um. Wo war ich? Seit wann hatte mein Bett Räder? Die Leute trugen hier Morgenmäntel oder Trainingshosen. Irgendetwas störte mich an der Situation, aber in meinem Kopf herrschte absolute Leere und ich schloss die Augen wieder. Ich war viel zu müde. Später würde ich darüber nachdenken.

Als ich erneut erwachte, stand neben dem Bett eine ältere Frau, die an einem Infusionsbeutel herumnestelte. Infusionsbeutel? Schlagartig war ich hellwach. Jetzt checkte ich erst richtig, was los war. Warum zur Hölle lag ich in einem Krankenhausbett?

Mein Blick schweifte über den Holzboden zu einem Tisch mit drei Stühlen und einem hohen Schrank. Neben dem Bett stand ein Korpus mit einem Telefon. Wenn auch freundlich, es sah eindeutig nach einem Krankenhauszimmer aus.

»Herr Gardner. Schön, dass Sie wach sind. Mein Name ist Jennifer Friedmann vom Inselspital.«

»Warum liege ich hier?«, krächzte ich. Mein Hals fühlte sich so trocken wie die Wüste Sahara an.

»Vor zwei Tagen wurden Sie als Notfall eingeliefert.«

»Warum? Was ist passiert?«, wollte ich wissen und versuchte, mich aufzurichten.

»Sie erinnern sich an gar nichts?«, fragte die Frau behutsam und musterte mich mit einem besorgten Blick.

Ich schüttelte den Kopf, was ein immenser Fehler war. Stöhnend ließ ich mich wieder in die Kissen fallen.

»Haben Sie Schmerzen?«

»Ja, überall. Mein Kopf scheint gleich zu platzen. Meine Glieder fühlen sich an, als würden sie auseinandergerissen. Solche Schmerzen hatte ich zuletzt, als ich an der Grippe erkrankt war.«

»Ich werde den Arzt informieren.«

»Danke, ich würde auch gerne etwas trinken, wenn das möglich ist.«

»Sicher. Ich komme gleich wieder", versprach sie freundlich.

Die Frau – ich hatte mir ihren Namen nicht gemerkt – verließ kurz das Zimmer und kehrte mit einem Glas Wasser, das sie auf den Korpus stellte, und einem weiteren Infusionsbeutel zurück. Den verband sie mit dem gesteckten Zugang an meiner Hand. Anschließend fuhr sie das Oberteil des Bettes etwas hoch und hielt mir das Glas mit dem Strohhalm hin.

Erleichtert trank ich ein paar Schlucke, ehe sie das halbvolle Glas wieder zurückstellte.

In diesem Augenblick betrat mein Vater das Krankenzimmer. Ich musterte ihn bestürzt. Warum sah er denn so elend aus?

»Mase, du bist endlich wach«, sagte er in erleichtertem Tonfall und drückte mich fest an sich. Er redete auf Englisch mit mir, wie er es meistens tat. In emotionalen Momenten sowieso.

Die Pflegefachfrau räusperte sich. »Ich werde Sie jetzt mit Ihrem Vater allein lassen. Läuten Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen. Die Schmerzen sollten bald nachlassen.« Dann verließ sie das Zimmer.

Ich erwiderte Dads Umarmung. »Weshalb liege ich hier?«, fragte ich unsicher.

Was ich von ihm erfuhr, haute mich beinahe aus den Socken. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich ihn an. Ich war drei Wochen verschwunden gewesen? Mein Traum war real. Jemand hatte mich unter Drogen gesetzt und im Wald entsorgt.

Ich begann vor Übelkeit zu würgen und Dad hielt mir rasch die Schale vor das Gesicht, aber nichts kam heraus. Matt legte ich mich wieder ins Kissen, fühlte mich, als hätte mich ein Bus überrollt.

Ich verstand rein gar nichts. Wer sollte das getan haben? Und wieso? In meinen Erinnerungen suchte ich nach Antworten. Da war doch eine Partyeinladung gewesen. Was war geschehen? War ich dort überhaupt aufgetaucht?

So sehr ich mich auch anstrengte, ich wusste keine einzige Antwort auf all diese Fragen. Verzweifelt schloss ich die Augen.

»Dad, wieso kann ich mich an nichts erinnern?« Meine Stimme hörte sich schrill an. Angst ließ mein Herz rasen.

»Das kann ich dir nicht sagen. Es kann sein, dass du dich selbst vor einer Überforderung schützt. Du wirst erstmal mit dem Entzug klarkommen müssen.«

»Entzug?« Ich riss die Augen auf. »Weshalb denkst du, dass ich einen Entzug durchmache, Dad? Ich bin doch wegen etwas Gras und ein paar Bier kein Junkie!« An die Zeit mit Natascha erinnerte ich mich noch. Ich merkte, wie mein Vater zusammenzuckte.

»Die Ärzte haben in deinem Blut verschiedene Drogenrückstände gefunden«, antwortete er mit belegter Stimme.

»Ich würde doch nie zu Heroin oder so was greifen.« Ich klammerte mich an der Decke fest, obwohl ich schwitzte.

Trotz meiner Worte war ich unsicher und fragte mich, ob ich wirklich schwach geworden war und zu härteren Sachen gegriffen hatte. Schließlich hatte ich mir auch geschworen, niemals zu kiffen. Ein Entzug würde die Glieder- und Kopfschmerzen erklären. Bei manchen kam auch Ameisenkribbeln dazu, aber sowas spürte ich nicht. In der Schule hatten wir über die Nachwirkungen von Drogen gesprochen und ich hatte auch ein Referat über Heroin verfasst. War ich tatsächlich so unfassbar dumm, dass ich alle Bedenken über den Haufen geworfen hatte? Aber daran würde ich mich doch erinnern.

Dad musste mir meine Furcht ansehen und drückte tröstend meine Hand. »Ich vermute eher, dass dir das Zeug verabreicht wurde, ohne dass du etwas dagegen tun konntest. Du hast dich schließlich auch nicht selbst gefesselt und in den Wald gelegt«, meinte er in ironischem Tonfall, was mich normalerweise zum Lachen bringen würde, wenn es mir nicht so dreckig gehen würde.

Die Unwissenheit machte mich verrückt, aber er hatte recht. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein. Eine Erinnerung, die ich wohl in mir drin festhielt.

»Mase«, unterbrach Dad meine Gedanken. »Sollte die Erinnerung zurückkehren, dann rede bitte mit uns, damit wir dir helfen können. Wir sind immer für dich da.« Er umarmte mich erneut, was mir sehr guttat. Eine Weile hielt ich mich an ihm fest. Das brauchte ich. Ich war völlig durcheinander.

»Verrätst du uns bei Gelegenheit auch, was dich überhaupt so weit getrieben hat, mit dem Zeug anzufangen? Wir konnten es kaum fassen, dass ausgerechnet du, der immer fest auf dem Boden stand, abgestürzt bist.« Er löste sich von mir und sah mit ernstem Blick auf mich hinunter.

Ich schluckte schmerzhaft. »Ich hielt es nicht mehr aus, Dad. Wenn ich Bier trank, oder später auch kiffte, konnte ich alles vergessen, was in der Schule ablief.«

Sein Blick wurde traurig. »Weshalb hast du mit niemandem von uns geredet? Wir waren doch immer da, wenn jemand von euch ein Problem hatte.«

»Es hätte doch nichts geändert.« Ich verdrehte die Augen. »Du bist nun mal ein weltbekannter Schauspieler. Der Sohn eines Stars zu sein, ist ab und zu echt beschissen.«

»Wie meinst du das?« Er sah mich schockiert an. »Was war in der Schule los?«

Wollte er das jetzt wirklich hören? »Die einen Mitschüler verachten mich, weil mir die anderen in den Arsch kriechen. Du ahnst nicht, was ihnen alles einfällt, um an Unterschriften oder sogar an dich selbst heranzukommen«, verriet ich ihm spöttisch. Ich konnte es selbst nicht fassen, dass ich ihm das alles erzähle. Mein geschwächter Zustand musste daran schuld sein oder vielleicht musste ich die schwere Last endlich loswerden, damit es mir besser ging.

Dad seufzte. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig und aufdringlich Fans sein können, aber dass sich sogar deine Mitschüler so verhalten, finde ich zum Kotzen."

Ich begann hysterisch zu lachen. »Du hast ja keine Ahnung, wie sehr.« Ich erzählte ihm von der Geschichte mit Julie und den anderen Dates. »Weißt du, wie es sich anfühlt, immer nur mit dir in Verbindung gebracht zu werden? Nur interessant zu sein, weil ich dein Sohn bin? Es tut verdammt weh. Ich will doch nur als eigener Mensch wahrgenommen werden«, antwortete ich in bitterem Tonfall.

Dad schlug die Hände vors Gesicht, ehe er mich nach ein paar Minuten mit geröteten Augen ansah. »Oh, mein Gott, Mase. Es tut mir schrecklich leid. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr du unter meinem Status leidest. Wären wir informiert gewesen, hätten wir dir helfen können. Eine andere Schule oder eine Weile Privatunterricht hätte dir manches erspart.«

»Ich schämte mich, Dad«, unterbrach ich ihn. Konnte er sich nicht ausmalen, wie schwierig das alles für mich gewesen war? »Nicht mal mit Luana habe ich darüber geredet. Ihr erzähle ich sonst alles.«

Als ich an sie dachte, erinnerte ich mich mit Schrecken, dass ich unsere jahrelange Freundschaft mit Füßen getreten hatte. Unter Umständen redete sie nie mehr mit mir. Ich war so ein Idiot.

»Luana hätte dich sicher verstanden und wir auch. Bitte, komm das nächste Mal zu einem von uns, ehe du dich mit Menschen wie Natascha einlässt.«

Überrascht sah ich ihn an. »Du weißt von ihr?«

»Sei Luana deswegen nicht böse. Sie hat das nur verraten, weil sie die Hoffnung hatte, dich über sie zu finden. Aber es brachte nichts. Die Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Hat sie dir das Gras angeboten?«

Ich nickte und erzählte ihm zögerlich von ihr und den Jungs.

»Sei ehrlich, Mase. Das sind doch keine Freunde, wenn sie dich zu Alkohol und Drogen verleitet haben. Ich hoffe, dass du in Zukunft die Hände davonlässt.«

Wenn das so einfach wäre … »Ich weiß nicht, ob ich dazu stark genug bin.« Nervös knetete ich die Decke und schloss verschämt die Augen.

»Du wirst das schaffen. Wir glauben an dich.« Dad sprach in durchdringendem Tonfall auf mich ein und strich mir immer wieder über den Rücken. Leider wusste ich allzu gut, wie es vor meinem Verschwinden gewesen war. Nach jedem Flash war zwar das schlechte Gewissen gekommen - ich hatte genau gewusst, dass ich falsch handelte, und mir jedes Mal geschworen, dass es das letzte Mal sei - doch dann begann ich wieder zu grübeln und musste mich mit dem Spott in der Schule auseinandersetzen.

Die Entzugserscheinungen wie unmäßiges Schwitzen und Nervosität hatten das Übrige dazu beigetragen, sodass ich immer wieder schwach geworden war. Natascha hatte mich allzu gern mit Marihuana versorgt, solange ich brav bezahlt hatte. Nicht dass es mein Verhalten entschuldigte. Ich schämte mich jetzt für meine Schwäche. Ich konnte es jedoch nicht mehr ändern und hoffte, dass ich nicht wieder in Versuchung käme. Hier war ich erst einmal sicher vor einer weiteren Dummheit.

Etwas anderes irritierte mich aber.

»Dad. Du sagtest, niemand habe Lösegeldforderungen gestellt. Das finde ich seltsam.« Wieso hätte mich sonst jemand entführen sollen?

»Wir auch, Mase. Wir verstehen es nicht, aber das Wichtigste ist, dass du in Sicherheit bist und wieder gesund wirst.« Eine Träne rollte über seine Wange. »Wir haben uns sehr um dich gesorgt. Die Zeit, in der du vermisst wurdest, war für jeden von uns die Hölle. Wir suchten dich überall. Auch die Jungs und Luana.«

Ein Hoffnungsschimmer erfasste mich. Vielleicht würde sie mir eines Tages verzeihen. Eine Weile war es still im Raum. Langsam spürte ich, wie ich müde wurde. Das Gespräch hatte mich erschöpft. Ich kämpfte, um die Augen offen zu halten, aber es war vergeblich.

Als ich wieder aufwachte, war ich allein im Zimmer. Immer noch konnte ich mich an nichts erinnern und die Schmerzen machten mich verrückt. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Mein Magen fühlte sich an, als brannte er. Ächzend richtete ich mich auf. Meine Blase drückte. Ich musste unbedingt aufs Klo. Also zog ich die Decke von den Beinen und erschrak über deren Zustand. Von meinen früheren Muskeln war nicht mehr viel übrig. Ich hatte bereits vor meinem Verschwinden keinen Sport mehr getrieben. Dann die drei Wochen, die ich wer weiß, wo verbracht hatte, und anschließend die x Tage im Krankenhaus. Meine Beine sahen nicht mehr so aus, als würde ich damit überhaupt noch laufen können.

Langsam rutschte ich an den Rand des Bettes und versuchte, aufzustehen. Vor Anstrengung zitterte mein ganzer Körper und ich musste mich am Bett festhalten, um nicht zu Boden zu fallen.

Bestürzt ließ ich mich wieder auf die Matratze sinken und drückte mehrmals die Klingel.

Frau Friedmann, die ins Zimmer eilte, erfasste die Situation sofort. »Herr Gardner, wollten Sie etwa selbst aufstehen? Sie sind noch zu geschwächt.« Sie sah mich dabei kopfschüttelnd an.

»Ich muss unbedingt aufs Klo, aber ich schaffe es nicht allein.« Meine Hilflosigkeit machte mich wütend.

»Ich begleite Sie ins Bad und warte, bis Sie fertig sind, aber erst mal befreie ich Sie von der Infusion.«

Sie zog mir den Schlauch der leeren Infusionsflasche vom Handgelenk. Der Zugang steckte aber noch. So musste ich wenigstens keinen Ständer außer meinem mitschleppen, dachte ich ironisch, ehe ich realisierte, was sie gesagt hatte. Mein Denken war noch etwas verzögert.

»Sie wollen zugucken?«, fragte ich entsetzt. Peinlicher ging es wohl nicht mehr.

»Keine Angst. Ich bleibe im Zimmer, während Sie auf dem Klo sitzen. Rufen Sie einfach, wenn Sie fertig sind. Inzwischen mache ich Ihr Bett.«

»Wie beruhigend«, murmelte ich, ehe ich langsam mit ihrer Hilfe aufstand.

Im ersten Augenblick wurde mir schwindlig und ich krallte mich an ihrem Ellbogen fest, doch dann schlurfte ich wie ein hochbetagter Mann durch den Raum. Das Bad war nicht sehr geräumig und bestand aus einer Dusche, einem behindertengerechten WC und einem Waschbecken, das gleich gegenüberstand. Nachdem ich mich endlich erleichtert hatte, wollte ich mir die Hände und das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Ich fühlte mich schmutzig. Hoffentlich konnte ich bald duschen. Also zog ich mich am Handgriff hoch und hielt mich am Waschbecken fest. Als ich in den Badzimmerspiegel sah, erstarrte ich.