Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte - Martin Krieger - E-Book

Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte E-Book

Martin Krieger

0,0
33,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit Hunderten von Jahren ist die Ostsee das pulsierende Herz Nordeuropas, Nahrungsquelle und Urlaubsregion, Ort des Austauschs von Waren und Ideen, Schauplatz von Völkerwanderungen und von verheerenden Kriegen. Skandinavier, Polen, Balten, Russen und Deutsche treffen hier aufeinander und machen die Ostsee zu einem multikulturellen Begegnungsraum. Martin Krieger, Nordeuropahistoriker in Kiel, schildert diesen Kulturraum von der frühen Besiedelung bis heute, wobei er sich in den einzelnen Epochenkapiteln jeweils bestimmten sachlichen Schwerpunkten zuwendet: dem Heringsfang und dem Getreidehandel, der Christianisierung und der Ostkolonisation, der romantischen Malerei und dem Entstehen eines Nationalbewusstseins, der Landwirtschaft und der Holzindustrie, aktuellen Umweltproblemen und dem Tourismus.Eine souveräne und umfassende Darstellung mit zahlreichen farbigen Fotografien, Karten und historischen Abbildungen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 445

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Krieger

Die Ostsee

Raum – Kultur – Geschichte

Reclam

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: nalbach typografik, Silke Nalbach

Coverabbildung: Die Kreidefelsen auf Rügen / Ivoha / Alamy Stock Photo

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961459-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-11206-9

www.reclam.de

Inhalt

EinleitungIm Schatten des EisesDie Spur der FindlingeEis, Wasser und LandDie Ostsee entstehtDer imaginierte RaumDas Bild der Ostsee in der AntikeSpuren im MittelalterIm Blickfeld der NeuzeitFlint und BronzeDie Entdeckung der VorzeitDie Neolithische RevolutionDer Glanz der BronzeEine Welt im WandelDer gescheiterte ÜberfallIm Bann des EisensVon Sprachen und VölkernIm Zeichen der WikingerDer Buddha von HelgöDie Grundlagen des HandelsSkandinavische HandelsplätzeSlawische und baltische HandelsplätzeDie Anfänge von Königtum und StaatlichkeitGlaubensweltenIm Spannungsfeld zwischen Hanse und KönigsmachtEpochenschwellenDer Aufstieg der HanseHanseschiffeDie Gründung LübecksDie OstsiedlungDie dänische GroßmachtzeitDer Kampf um den HeringSchwedenAuf dem Weg nach RusslandZwischen Polen und dem Deutschen OrdenDie BacksteingotikDer Schwarze TodAn der Schwelle zur NeuzeitPining und PothorstDie Erfindung der VergangenheitDer Zerfall der Kalmarer UnionReformationDie Entstehung der GutswirtschaftDer Kampf um das Dominium Maris BalticiDie Ostsee und die WeltZwischen Krieg und AufklärungUnruhige ZeitenDie Stadt im SumpfSternstunden der GottorferSchwedenDie Entdeckung des hohen NordensAufklärung, Sprache und die Liebe zum VaterlandAgrarreformen und die Abschaffung der LeibeigenschaftDas Ende der polnischen StaatlichkeitGlänzende Zeiten und das Ende der alten OrdnungIdentität, Nation und die Anfänge der IndustrialisierungEine Hauptstadt für FinnlandZerfall im Zeichen des NationalitätenkonfliktesMit der »Caledonia« über die OstseeDas Meer der SehnsuchtDie Explosion von HeleneborgGleise des FortschrittsWirtschaftlicher AufbruchDie Belle ÉpoqueKriegshäfen und FlottenbauZwischen Autokratie und ParlamentarismusIm Schatten der WeltkriegeBrücken in den NordenKrieg und ParlamentarismusDie Revolution und der Verfall der russischen Herrschaft an der OstseeDie Kieler MatrosenZwischen den KriegenZweiter WeltkriegDer Kalte KriegBedrohungen und Chancen der ZukunftBedrohungenChancenAnhangAnmerkungenLiteraturhinweiseAbbildungsverzeichnis und BildnachweisZum AutorPersonenregisterRegister

Einleitung

Das Meer steht in der öffentlichen Wahrnehmung hoch im Kurs. Ein Urlaub ohne Wasser, Wellen und Strand ist für viele Menschen hierzulande undenkbar. Kultur- und Musikfestivals überbrücken Ozeane, indem sie Angehörige unterschiedlicher Sprachen und Religionen zusammenbringen. Für Medien, Wissenschaft und Ökonomie kann ein Meer einen einheitlichen Kommunikations-, Wirtschafts- oder Wissensraum darstellen, während es für die Politik ein Objekt internationaler Verträge ist. Ein wachsendes Umweltbewusstsein sorgt für einen immer kritischeren Blick auf die Bedrohung des Meeres durch die Abfälle der Zivilisation; die Öffentlichkeit fordert inzwischen eine nachhaltigere Nutzung maritimer Ressourcen. Aber auch die Geschichte der Meere zieht in immer größerem Maße das Interesse auf sich. Davon zeugen nicht zuletzt hochrangige Ausstellungen, Konferenzen, Forschungsvorhaben und eine breite Palette an anspruchsvoller Literatur über die Ozeane samt ihren Nebengewässern.

Die Geschichte eines Meeres jenseits der reinen Naturgeschichte zu schreiben, stellt dabei immer ein Wagnis dar. Denn es handelt sich doch in erster Linie um eine weitgehend leere Wasserfläche. Erst die Menschen, die es überqueren oder sich an seinen Rändern aufhalten, verleihen ihm Geschichtlichkeit mit all ihren Kontinuitäten oder Brüchen und schaffen auf diese Weise einen einheitlichen Erfahrungsraum. Es sind die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Meer, die ein solches Projekt lohnend machen.

Das gilt auch für die Ostsee – für ein zugegebenermaßen kleines Meer, das diese Bezeichnung auf den ersten Blick vielleicht überhaupt nicht verdient; denn es handelt sich um eine Wasserfläche von lediglich knapp 400 000 Quadratkilometern mit einer maximalen Tiefe von 459 Metern. Schon die benachbarte NordseeNordsee bringt es auf eine fast doppelt so große Oberfläche, ganz zu schweigen von Weltmeeren wie dem Atlantischen OzeanAtlantischer Ozean, der die Ostsee fast dreihundertmal fassen würde. Aber auch in anderer Hinsicht wird es schwierig, denn üblicherweise enthält ein Meer Salzwasser. Auch das trifft auf die Ostsee nicht uneingeschränkt zu. Zwar ist der Salzgehalt im Bereich der BelteBelte und des ÖresundesÖresund mit 2 Prozent recht ordentlich und kommt dem der Nordsee mit ihren 3,5 Prozent zumindest nahe. Ganz anders sieht es aber im Nordosten aus. An der Küste LapplandsLappland ist der Salzanteil mit 0,3 Prozent sehr gering, beinahe kaum mehr schmeckbar. Die Naturforscher haben entsprechend nicht ganz Unrecht, wenn sie die Ostsee leicht despektierlich als weltweit größte Ansammlung von Brackwasser bezeichnen.

Der Ostseestrand. Der menschenleere Ostseestrand in der Dämmerung ist Refugium und Sehnsuchtsort zugleich. Alles kommt auf den Standpunkt an. Können wir hierzulande den Sonnenaufgang über dem Meer genießen, so geht die Sonne am jenseitigen, östlichen Ufer über dem Wasser unter.

Auch die Frage, wo die Ostsee überhaupt aufhört und die Nordsee beginnt, trägt kaum zur Schaffung von Klarheit bei. Nicht einmal die internationalen Abkommen des 20. und 21. Jahrhunderts sind sich diesbezüglich einig. Mal wird das KattegatKattegat bis zur geografischen Breite der Nordspitze DänemarksDänemark hinzugezählt; ein anderes Mal fängt die Ostsee Hunderte Kilometer davon entfernt jenseits einer gedachten Linie zwischen DarßDarß und der Insel FalsterFalster an.

Was die Ostsee in unseren Augen dann aber doch zu einem Meer erhebt, sind ihre Wahrnehmung durch die Menschen und die historische Entwicklung, die in ihren Grundzügen doch ganz ähnlich verlief wie die Geschichte anderer Meere. Denn auch an die Ostsee grenzten in ihrer langen Geschichte ganz unterschiedliche Sprach- und Kulturräume, und stets konkurrierten die an ihren Küsten lebenden Mächte um die Vorherrschaft. Dabei ist die Ostsee immer ein Raum der Interaktion gewesen, ganz gleich, ob sich damit politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Austausch verbindet. Jene Faktoren verleihen ihr eine Offenheit und Weite, über die ein Binnensee nicht verfügt.

Ihre Geschichte lässt sich auf zweierlei Weise erzählen. So geht es einerseits um die Menschen auf dem Meer, d. h. um die Seefahrt, die Nutzung der maritimen Ressourcen und um die Herrschaft auf dem Wasser. Andererseits interessiert uns aber auch das sie umschließende Land, auf dem die Menschen leben, das bewirtschaftet wird und auf dem sich die Schaltzentralen von Wirtschaft und Politik befinden. Beide Bereiche – Meer und Hinterland – nehmen in großem Maße Einfluss aufeinander. Dieser ist ganz unmittelbar im eigentlichen Küstenbereich, also an den Stränden, in den Häfen oder an den Flussmündungen zu spüren, kann aber auch sehr weit ins Hinterland reichen. In diesem Sinne ist eine Meeresgeschichte auch eine Beziehungsgeschichte zwischen Hinterland und Gewässer. Mithin erscheint es oft sinnvoller, nicht von einem Meer, sondern von einem Meeresraum zu sprechen, der die Wechselwirkung zwischen Land und Wasser widerspiegelt.

Daneben spielt die Tatsache, dass ein Meer und die es umgebenden Länder niemals nur eine physische, mit dem Metermaß zu begreifende Einheit darstellen, sondern gleichzeitig das Produkt der menschlichen Vorstellungswelt sind, eine mindestens ebenso große Rolle. So stellen wir uns die tiefblaue, nach Urlaub duftende Ostsee des Sommers ebenso wie das bewegte, graue, eisige Wasser des Winters vor und versuchen gleichzeitig, uns ein Bild von den Ländern jenseits des Horizontes zu machen. Unsere persönliche, oft mit Erinnerungen oder Gefühlen verknüpfte Anschauung verbindet sich mit Gehörtem und Gelesenem zu einem Produkt unserer Imagination. So wie wir uns heute das Meer vorstellen, haben sich auch einzelne Personen, aber ebenso ganze Gesellschaften in der Vergangenheit ein Bild davon gemacht.

Mancher Gelehrte hat sich an der Definition eines solchen physisch wie durch die Wahrnehmung determinierten Meeresraumes versucht. Die berühmteste stammt vielleicht von dem französischen Historiker Fernand BraudelBraudel, Fernand, der in den 1940er Jahren in seinem Werk Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. anhand bestimmter Kriterien den Mittelmeerraum definierte – etwa anhand der saisonalen Migration der Hirten, der geografischen Verbreitung des Olivenbaumes oder des zyklischen Wandels des Wetters im Laufe der Jahreszeiten. Für die Ostsee lässt sich hingegen anhand von Migrationsbewegungen oder einer einzigen Pflanze kein eindeutiger Vegetations- und Kulturraum definieren. Zu groß sind die regionalen Unterschiede zwischen Nord und Süd; aber auch die Ähnlichkeiten zwischen einigen direkt an die Ostsee grenzenden Regionen und weiter entfernten Ländern in Mittel- oder Osteuropa sind zu stark. Insofern ist jegliche Definition ein wenig willkürlich, auch wenn die Gebote der Plausibilität gewisse Kriterien nahelegen.

Der Ostseeraum von einem Satelliten der NASA aus fotografiert.

In diesem Sinne lässt sich die Ostsee in unterschiedlicher Weise definieren. Versuchen wir zunächst den Raum anhand der Landkarte einzugrenzen. Physisch gliedert sich die Ostsee in mehrere Teilwasserflächen, die voneinander teils durch extrem flache Meeresgegenden, teils durch Inseln getrennt sind. Im Norden liegt der Bottnische MeerbusenBottnischer Meerbusen, der in zwei Gebiete zerfällt – in die BottenwiekBottenwiek im äußersten Norden sowie in die BottenseeBottensee. Beide sind durch das Flachwassergebiet des sogenannten KvarkenKvarken voneinander getrennt. Die Bottensee grenzt im Süden wiederum an die kleinere ÅlandseeÅlandsee und östlich davon an das finnische Schärenmeer. Jenseits davon liegen die Westliche und die Östliche GotlandseeGotlandsee sowie ganz im Osten der FinnischeFinnischer Meerbusen und südlich davon der Rigaische MeerbusenRigaischer Meerbusen. Im Südwesten wird die GotlandseeGotlandsee von der BornholmseeBornholmsee, der ArkonaseeArkonasee und der BeltseeBeltsee gesäumt. Bereits im Übergangsbereich zur Nordsee liegt das salzhaltige Kattegat.Kattegat

Landseitig wird das Meer im Norden von der sogenannten Nordkalotte begrenzt, die gemeinhin unter der Bezeichnung LapplandLappland bekannt ist. Südöstlich davon liegt die finnische Tiefebene und südwestlich das allmählich in Richtung des Gebirges der Skanden ansteigende SchwedenSchweden. Im Südosten und Süden erstrecken sich die weiten Tief- und Hügelländer des Baltikums, PolensPolen und NorddeutschlandsDeutschland. Dort sind auch die Mündungen der weit nach Mittel- oder Mittelosteuropa reichenden Flüsse OderOder, WeichselWeichsel, MemelMemel und DünaDüna zu finden. Die Kimbrische HalbinselKimbrische Halbinsel, auf der ein Teil DänemarksDänemark und Schleswig-Holstein liegen, trennt mit ihren Heide- und Moorlandschaften die Ost- von der Nordsee. Zum Ostseeraum gehören aber auch Inseln – von den zahllosen kleinen Schären über mittelgroße Inseln wie FehmarnFehmarn oder BornholmBornholm bis zu den großen wie GotlandGotland, ÖlandÖland oder SaremaaSaremaa. SeelandSeeland und FünenFünen bilden geradezu eine Barriere gegenüber der NordseeNordsee und sind lediglich durch die vergleichsweise schmalen Meeresstraßen des Kleinen und Großen Beltes sowie des ÖresundesÖresund voneinander und vom benachbarten Festland getrennt. Mit den Åland-InselnÅland-Inseln verfügt die Ostsee ebenso über ein größeres, in sich geschlossenes Archipel.

Als problematischer erweist sich die Betrachtung der politischen Landkarte, die sich allein in den vergangenen beiden Jahrhunderten erheblich verändert hat. Im Norden liegen die Länder SchwedenSchweden und FinnlandFinnland. Am östlichen Ende des Finnischen MeerbusensFinnischer Meerbusen befindet sich um Sankt PetersburgSankt Petersburg einer der beiden russischen Anteile der Küstenregion; bei dem anderen handelt es sich um das Kaliningrader Gebiet, einen Teil des einstigen OstpreußenPreußen. Dazwischen erstrecken sich mit EstlandEstland, LettlandLettland und LitauenLitauen die drei baltischen Republiken. Im Süden liegen PolenPolen, die deutschen Küstenabschnitte von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-HolsteinDeutschland sowie DänemarkDänemark.

Das war in der Vergangenheit aber bei weitem nicht so. Denn lange Zeit stellten RusslandRussland und Polen überhaupt keine Ostseemächte dar, wohingegen sie sich während anderer Epochen machtvoll zum Meere hin öffneten. Finnland gehörte die meiste Zeit zu Schweden, ein Jahrhundert lang aber auch zu Russland. Erst seit 1917 ist es souverän. Die baltischen Staaten sind beinahe zur selben Zeit entstanden, befanden sich später aber jahrzehntelang in der Gewalt der SowjetunionSowjetunion. Polen erhielt 1918 nach langer Zeit seine Unabhängigkeit zurück. Auf der anderen Seite gab es Gemeinwesen, die heute längst verschwunden sind: An erster Stelle ist der Ordensstaat zu nennen, der sich über Ostpreußen sowie das heutige Estland und Nordlettland erstreckte. Vielleicht lässt sich auch die Hanse in diesem Zusammenhang anführen, von der die Historiker bis heute nicht genau wissen, ob es sich um einen festen Städtebund oder eher um ein lockeres, interessengeleitetes Netzwerk handelte. Allein diese knappen Anmerkungen verdeutlichen die Notwendigkeit, sich von den heutigen staatlichen Verhältnissen zu lösen und zu versuchen, sich in die politische Topografie vergangener Zeiten hineinzuversetzen.

Die Frage nach dem Beginn der in diesem Buch zu erzählenden Geschichte der Ostsee führt zu den Quellen. Denn dort, wo keine Zeugnisse von den Aktivitäten der Menschen berichten, gibt es in der landläufigen Wahrnehmung auch keine Geschichte. Traditionell sind die historischen Wissenschaften stark von der Nutzung schriftlicher Dokumente abhängig. Sind keine vorhanden, wurde die Untersuchung der Vergangenheit anderen Disziplinen wie der Ur- und Frühgeschichte überlassen. Längst sind solch traditionelle Fachgrenzen aber überwunden, und historische Quellen finden durch die Forschungen der Archäologie Bestätigung, werden andererseits bisweilen aber auch von ihnen in Frage gestellt. In jedem Falle laden gerade die Ostsee und die sie umgebenden Länder mit ihrer Fülle nicht nur an schriftlichen, sondern auch an archäologischen Dokumenten zu interdisziplinären Betrachtungen ein. Das ist umso nötiger, da eine Fixierung auf die Schriftlichkeit im Norden Europas Probleme aufwirft; denn diese Region wurde für europäische Verhältnisse recht spät alphabetisiert.

In diesem Sinne wollen wir uns also auf einer möglichst breiten Quellengrundlage auf eine Reise durch die lange Geschichte des Ostseeraumes begeben, die mit der Herausbildung erster Gesellschaftsstrukturen beginnt und in der Gegenwart des digitalen Zeitalters endet. Ich möchte nach Brüchen in der historischen Entwicklung, vielmehr aber noch nach Kontinuitäten suchen, die sich zwischen der Vorgeschichte und dem 21. Jahrhundert aufzeigen lassen. Dabei steht der Mensch in seiner Beziehung zum Meer und zum umliegenden Land im Mittelpunkt. Inwieweit gelang es ihm, sich an diese besondere Umwelt anzupassen? Inwieweit nutzte er das Wasser, an welcher Stelle erlangte er die politische oder militärische Gewalt darüber? In welchen Fällen überdehnte er seine Macht und zerstörte damit seine Lebensgrundlage? Die Fülle des zu erzählenden Stoffes verhindert dabei allerdings eine enzyklopädische Herangehensweise. An vielen Stellen muss die Darstellung verkürzt ausfallen, bisweilen müssen Beispiele für das Ganze herhalten.

Nach einer Betrachtung der Entstehung von Ostsee und der sie umgebenden Landschaften geht es aber zunächst um die Raumvorstellung: Wie stellten sich die Menschen in der Antike und im Mittelalter jenes Meer vor und wann entstand ein modernes kartografisches Bild davon? Anschließend schauen wir uns die einzelnen prähistorischen und historischen Epochen an. Dabei gilt es stets eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu beachten. Nur selten trat nämlich der Ostseeraum im Gesamtzusammenhang in Erscheinung; viel häufiger war er im Gegenteil strukturell tief gespalten. Epochenbegriffe deuten hier also lediglich die behandelten Zeiträume an, sollen diese aber nicht wertend zusammenfassen. So trieben in der Wikingerzeit auch die Slawen Handel, und im Zeitalter der Aufklärung wurde neben geistigen Höhenflügen auch so manch nur wenig aufgeklärtes Wort verfasst. Und nicht jeder Staat war im Zeitalter des Absolutismus so absolut verfasst, wie man meinen könnte. Manches hatte im Südwesten seinen Schwerpunkt, anderes wieder in einem »Ostelbien« oder hoch im Norden, in LapplandLappland.

Den Beginn des chronologischen Überblicks macht die Bronzezeit. Diese brachte an der Ostsee erstmals eine weit über die eigene Region hinausstrahlende materielle Kultur hervor, die in Europa ihresgleichen suchte und der allenfalls zeitgleich existierende Zivilisationen am östlichen Mittelmeer gleichkamen. Schon vor Jahrtausenden wurde dabei das Meer zu einem gemeinsamen Erfahrungsraum. Die kulturelle Einheitlichkeit der Bronzezeit wich um etwa 500 v. Chr. der größeren Vielfalt der Eisenzeit. Was die Eisenzeit für ein Verständnis der Geschichte des Ostseeraumes so wichtig macht, ist die Tatsache, dass sich in ihrem Jahrtausend allmählich die ethnische Vielfalt herauszubilden begann, die die Region bis heute prägt. Am Ende einer langen Entwicklung brach eine neue Blütephase an, die gemeinhin unter der Bezeichnung »Wikingerzeit« bekannt ist. Dennnoch bedeutet dieser Begriff viel mehr als die bloßen Handels- und Beutezüge südskandinavischer Gemeinschaften. Ein dichtes Handelsnetz ließ die einzelnen Regionen auf das engste zusammenrücken. Auch die Idee einer einheitlichen Königsherrschaft und das Christentum verbreiteten sich ganz allmählich.

Auch wenn ihr Charakter nicht eindeutig zu fassen ist, gab sie doch einer ganzen Epoche den Namen: die Hanse. Die Hansezeit war aber nicht nur durch die Vorherrschaft einer Handelsorganisation geprägt. Denn neben der Hanse, und nicht selten auch in direktem Konflikt mit ihr, festigten sich die mittelalterlichen Staaten, allen voran DänemarkDänemark, SchwedenSchweden und im Osten der Staat des Deutschen Ordens. Ebenso ist jene Zeit mit der Entdeckung eines neuen Baustoffs verbunden: mit dem Backstein. Neben den architektonischen Glanzleistungen der Gotik stand bald aber eine der tiefsten Krisen, die Europa einschließlich der Ostsee je gesehen hatte. Denn die Mitte des 14. Jahrhunderts war die Zeit des »Schwarzen Todes«, und es sollte nicht bei diesem einen großen Pestausbruch bleiben.

Bald nach 1500 wurde die gesamte Region mit dem Beginn der Frühen Neuzeit von schleichenden, aber nicht minder gewaltigen Umwälzungen erfasst. Die Gedanken der Reformation verbreiteten sich mit großer Geschwindigkeit. Als von ebenso epochaler Bedeutung erwies sich die Herausbildung der Gutswirtschaft in Ostelbien. Mit ihr integrierte sich der südliche und südöstliche Teil der Region zunehmend in eine frühmoderne Weltwirtschaft, deren Kapitalzentren im westlichen Europa lagen. Die gewinnbringende Produktion von Getreide in sehr dünn besiedelten Landstrichen erhöhte gleichzeitig den Druck auf diejenigen, die es mit ihrer Hände Arbeit anbauten. Und so entwickelte sich in der Zeit der ostelbischen Gutswirtschaft auch die Leibeigenschaft. Zeitgleich festigte sich der frühmoderne Staat. Staatlichkeit bedeutete im Ostseeraum aber nicht nur die Stärkung der fürstlichen Macht zu Lande, sondern viel mehr noch die Dominanz auf dem Wasser. Bald schon bildete der Kampf um die maritime Herrschaft, um das sogenannte Dominium Maris Baltici, eine Grundkonstante des 16. und 17. Jahrhunderts mit seinen oft ineinander übergehenden, langen Kriegen an und auf dem Meer. Gleichzeitig eröffneten sich mit der Festigung der Territorialstaaten aber auch ganz neue Horizonte für den kommerziellen Austausch.

Den Abschluss der ereignisreichen Frühen Neuzeit bildete das 18. Jahrhundert, das gemeinhin als das Zeitalter der Aufklärung bekannt ist. Aufklärung bedeutete im Norden in erster Linie Reformabsolutismus. Die mächtigen Fürsten versuchten ihre Einkommensgrundlagen durch ehrgeizige Reformprojekte zu fördern. Deren sichtbarster Ausdruck ist die Debatte um die Abschaffung von Leibeigenschaft und Sklaverei. Aufklärung bedeutete gleichzeitig eine Blüte der Wissenschaft, die oftmals im Dienste des Staates stand. Immer stärker widmete man sich dabei der Erforschung des hohen Nordens. Hatte LapplandLappland lange Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle gespielt, wurde es im Zuge der Ausbreitung neuer Ideen stetig interessanter.

Wie über weite Teile des übrigen Europa brachen auch über den Ostseeraum um 1800 gänzlich neue Kräfte herein. Förmlich als Naturgewalt erfassten die Napoleonischen Kriege die Region und sorgten für die Herausbildung einer gänzlich neuen politischen Landkarte. Noch nachhaltigere Folgen hatte das Aufkommen der Nationalitätenfrage. Zeitgleich gewann der im übrigen Europa seit Tacitus’ Zeiten als rau und wenig einladend beschriebene Norden ein neues Maß an Attraktivität. Dazu trugen nicht zuletzt die sich stetig verbessernden Reisemöglichkeiten bei. Im Zuge der Industrialisierung entwickelte sich die Infrastruktur immer schneller. Bald schon durchzogen Schienenstränge das Land, und Eisenbahnfähren überquerten das Meer. In den Werften entstanden immer größere Schiffe; gerade SchwedenSchweden produzierte auch Dynamit, Kugellager und bald schon Flugzeuge.

Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren in gleicher Weise von einem wirtschaftlichen Aufbruch wie vom Ersten Weltkrieg geprägt. Als neue, souveräne Staaten wurden FinnlandFinnland, EstlandEstland, LettlandLettland und LitauenLitauen geboren. Auch die Technisierung schritt voran. Nun waren es die Brücken, die einzelne Regionen enger zusammenrücken ließen. Durch den Brückenbau ließen sich zugleich die schlimmsten Folgen der Weltwirtschaftskrise überwinden. Jener steht somit indirekt auch für ein besonderes Modell, das sich in der Zwischenkriegszeit in Schweden und in DänemarkDänemark herausbildete: den Wohlfahrtsstaat.

Trotz aller Versuche, die Neutralität zu bewahren, glitt auch die Ostseeregion in den verheerenden Zweiten Weltkrieg. Während sich SchwedenSchweden über die sechs Kriegsjahre hinwegrettete und teilweise sogar davon profitierte, wurden alle übrigen Länder direkt in den Konflikt hineingezogen. Das Meer selbst wurde wieder einmal Schauplatz von Kämpfen, in viel größerem Maße aber noch von oft tödlich endenden Flüchtlingstransporten und von Massenmord gegen Kriegsende.

Auf den Zweiten Weltkrieg folgte unmittelbar der Kalte Krieg. Wie noch niemals in der langen Geschichte der Region zuvor war die Ostsee vier Jahrzehnte lang durch den Eisernen Vorhang geteilt. Neue Herausforderungen waren und sind nach dem Ende des Kalten Krieges zu bewältigen. Wieder rückten die an das Meer grenzenden Länder enger zusammen. Handel, kultureller und politischer Austausch intensivierten sich im Zeichen der europäischen Integration erneut. Auch am Ostseeraum gingen darüber hinaus die Digitalisierung ebenso wie wachsende Umweltprobleme nicht spurlos vorüber. Am Ende liegt das kleine Meer mit seinen zahllosen Inseln ruhig wie eh und je vor uns – als offener Raum des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Austausches. Vielleicht noch nie zuvor hat die Ostsee eine so lange Periode des Friedens erlebt – eine Tatsache, die den heutigen Entscheidungsträgern Augenmaß und Verantwortung auferlegt.

So manche Idee zu diesem Band entstand während langer Spaziergänge am Ostseestrand der Eckernförder BuchtEckernförder Bucht. So verleugnet diese Veröffentlichung auch den Standpunkt des Verfassers nicht, der von den Stränden Schleswig-Holsteins aus nach Osten und Norden blickt. Ein besonderer Dank gilt meinem Team am Lehrstuhl für die Geschichte Nordeuropas der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, insbesondere Herrn Tobias Delfs, Herrn Florian Jungmann, Frau Jessica Kunze, Frau Christin Maichrzack, Frau Alexandra Nørgaard, Frau Vivien Specht und Frau Alessa Timm. Dank schulde ich in mindestens ebenso großem Maße dem Reclam Verlag für die vorzügliche Betreuung und das exzellente Lektorat. Ebenso danke ich meinen so geduldigen wie kritischen Zuhörerinnen und Zuhörern, die im Rahmen einer Vorlesung eine erste Version des Textes zu hören bekamen. Dieses Buch ist dem Gedenken an Olja und Otto von Kori gewidmet, für die ein Leben ohne Ostsee, gleich ob im Osten oder Westen, nicht vorstellbar war.

1

Im Schatten des Eises

Die Spur der Findlinge

Die Natur und die darin eingebetteten menschlichen Lebensformen waren stets auf das engste miteinander verbunden. Nur wer weiß, wo sich die fruchtbarsten Böden, die ergiebigsten Fischgründe und die zuträglichsten klimatischen Bedingungen befanden, kann verstehen, weshalb sich die Entwicklung von Kultur, Wirtschaft und politischer Organisation auf ganz bestimmte Gegenden konzentrierte und wieso es nur unweit davon entfernt vielleicht ganz anders aussehen konnte. Immer war der Mensch in seiner Geschichte gezwungen, sich optimal den ihn umgebenden natürlichen Bedingungen anzupassen. Er lernte seine Umwelt genau kennen, nutzte die greifbaren Ressourcen, veränderte damit aber auch die Natur; bisweilen zerstörte er sie. Diese Tatsachen gelten auch und in besonderer Weise für den Ostseeraum, in dem sich trotz einer teils rauen Natur und harter klimatischer Bedingungen schon vor Jahrtausenden hochentwickelte Gesellschaftsformen herausbildeten.

Dabei stellt jene Region die jüngste vom Menschen bewohnbare Gegend Europas dar. In einer Zeit, in der die frühen Einwohner des heutigen SpanienSpanien oder FrankreichFrankreich mit ihren Höhlenmalereien bereits kulturelle Höchstleistungen vollbrachten, lag der gesamte Nordosten des Kontinents noch unter einer dicken Eisdecke begraben. Erst später taute diese ab und öffnete den Raum für Jäger, Sammler und schließlich für sesshafte Bauern, Fischer und Handwerker. Auch wenn sie mittlerweile fast gänzlich verschwunden ist, prägt die gestaltende Kraft des Eises nach wie vor nicht nur die Geschichte, sondern bestimmt auch in erheblichem Maße bis in die Gegenwart die Nutzung von Land und Meer und damit das Leben der Menschen. Noch heute ist das weite Hinterland des Meeres von den Spuren der letzten Eiszeit gezeichnet. Flache Ebenen lösen Hügelzüge, Täler, Seen und Moore ab; überall finden sich weit über das Land verstreute Steine – die erratischen Blöcke, wie der Geologe die Findlinge bezeichnet. Dass diese Steine sowie die Formen der Hügel und Täler aber etwas mit einer das Land vor langer Zeit heimsuchenden Eismasse zu tun hatten, blieb den Menschen bis vor zwei Jahrhunderten verborgen.

Johan Thomas Lundbye, Ein Grabhügel der Vorzeit, Öl auf Leinen, 1839. Bis heute prägen die Großsteingräber der Jungsteinzeit den südlichen Ostseeraum. Majestätisch thronen viele von ihnen auf den höchsten Hügelkuppen und zeugen gleichermaßen von der schöpferischen Kraft des Eises wie der der frühen Bewohner des Nordens.

Bereits um 1200 wurden die teils riesigen, rundgeschliffenen Steinblöcke, die sich in großer Zahl meist auf Hügelkuppen, von wem auch immer sorgsam zu Hünengräbern aufgeschichtet, fanden, vom dänischen Historiker Saxo GrammaticusSaxo Grammaticus (ca. 1160 – nach 1208) erwähnt. Als Saxo über die gewaltigen Denkmäler staunte, hatten die Menschen die herumliegenden, etwas kleineren Feldsteine schon längst als kostbares Baumaterial entdeckt und in ihren Alltag integriert. In rohem oder behauenem Zustand wurden aus ihnen etwa romanische Kirchen mit ihren charakteristischen Säulenportalen und Taufbecken errichtet, wie sie heute noch allenthalben das Land prägen. Später fiel auf, dass die Findlinge gerade in der sonst felsenarmen Gegend des südlichen Ostseeraumes aus Steinarten bestanden, die dort im festen Grund überhaupt nicht vorkamen. Bei der enormen Größe einiger Exemplare war rasch klar, dass diese nur von Riesen oder Trollen dorthin getragen worden sein konnten, wenn sie nicht gar der Teufel in Person gezielt geworfen hatte. Legenden schossen aus dem Boden, wie etwa eine mancherorts erzählte Geschichte, wonach es der Teufel besonders auf die Kirchtürme abgesehen habe. Im bei KielKiel gelegenen Städtchen GettorfGettorf traf er nicht besonders gut. Er verfehlte den Kirchturm, der sich zwar neigte, aber nicht umfiel. Stattdessen landete der »Teufelsstein« in etwa 6 Kilometern Entfernung auf einem Acker, wo er sich als größter Findling Schleswig-Holsteins von immerhin 180 Tonnen Gewicht auch heute noch befindet.

Der Teufelsstein bei Gettorf. GettorfDas Eis transportierte unzählige, teils tonnenschwere Felsblöcke über Hunderte von Kilometern. Von der Natur geschliffen und bisweilen mit Gletscherschrammen versehen, prägen sie die Moränengebiete um die Ostsee.

Es sollte kein Zufall sein, dass später gerade dort eine ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Steinen begann, wo jene zuhauf zu finden waren: in den Alpen, im Norden Europas und in SchottlandSchottland. In Zeiten der Aufklärung erschienen die alten Geschichten von Riesen oder Trollen immer unglaubwürdiger, und die Gelehrten machten sich seit dem 18. Jahrhundert Gedanken, ob jenes bemerkenswerte Phänomen nicht vielleicht auch natürliche Ursachen haben könne. Die Plutonisten, die ohnehin der Meinung waren, sämtliches Land sei vulkanischen Ursprungs, glaubten an vulkanische Eruptionen, mit denen die Steine förmlich aus dem Boden gespien worden seien. Dazu passten auch die sogenannten Toteislöcher als vermeintliche Vulkankrater sehr gut. Diese meist kreisrunden, kraterförmigen Vertiefungen waren aber in Wirklichkeit dort entstanden, wo sich lange nach dem Ende der Eiszeit Eisblöcke im Untergrund erhalten hatten und erst später abtauten, was zur Absenkung des Bodens führte.

Durch den Vergleich von Gesteinen unterschiedlicher Regionen kam man der Lösung des Rätsels näher. Denn um 1760 fiel es Forschern aus Mecklenburg und Pommern auf, dass die in ihrer Heimat zu findenden Arten mit solchen aus dem viel weiter nördlich gelegenen Schweden vollkommen identisch seien. Der aus Vorpommern stammende Friedrich von Arenswald (1735 – ca. 1807)Arenswald, Friedrich von stellte schließlich fest, er halte es für »sehr wahrscheinlich, wo nicht gar gewiß, daß die pommerischen und mecklenburgischen Versteinerungen, grossentheils, wo nicht gar alle, in SchwedenSchweden und zwar im gothischen Reiche zu Hause gehören.« Auch eine Erklärung hatten die Forscher aus Norddeutschland bald zur Hand. So seien die Steine mit einer katastrophenartigen Flut oder Schlammlawine vor sehr langer Zeit von einem Ort an den anderen gespült worden.

Vermutlich der Erste, der das Eis im Verdacht hatte, war der schwedische Mineraloge und Bergbauingenieur Daniel Tilas (1712–1772)Tilas, Daniel. Der universal gebildete Tilas hatte auf zahlreichen Reisen bis in den hohen Norden Schwedens, NorwegensNorwegen und RusslandsRussland umfangreiche Informationen über Art und Gestalt der dortigen geologischen Formationen gesammelt. Vermutlich führte ihn die Beobachtung von in Berggletschern eingeschlossenen Steinen zu der Theorie, dass die Findlinge dereinst mittels treibender Eisschollen vom nördlichen zum südlichen Ende der Ostsee transportiert worden sein könnten.

In den 1780er Jahren führten Beobachtungen in den Schweizer Alpen immerhin zu der Vermutung, dass nicht Vulkane, Flut- und Schlammwellen oder treibende Eisschollen, sondern die Gletscher selbst für die Verteilung der Findlinge verantwortlich gewesen seien. Im Norden fand diese Idee aber zunächst kaum Anhänger. Im Jahre 1808 konnte der schwedische Mediziner und Botaniker Göran Wahlenberg (1780–1851)Wahlenberg, Göran, der sich während einer Lapplandreise sehr ausführlich mit der dortigen Landschaft beschäftigt hatte, immer noch an die herkömmliche Katastrophentheorie glauben, wonach ein gewaltiger Vulkanausbruch dereinst die Gegend mit den Fremdkörpern überhäuft habe.

Erst der Däne Jens Esmark (1763–1839)Esmark, Jens entwickelte in den 1820er Jahren die Schweizer Eismodelle weiter. Esmark hatte an den Bergakademien von KongsbergKongsberg und FreibergFreiberg studiert und auf seinen Reisen die deutschen, polnischen und ungarischen Mittelgebirge kennengelernt. 1814 wurde er Professor für Mineralogie an der jungen Universität von Christiania, dem heutigen OsloOslo. In Anlehnung an die in der Schweiz entwickelten Ideen kam er zu dem Ergebnis, dass die hoch in den Bergen zu findenden Gletscher Norwegens vor langer Zeit während einer Phase des Temperaturrückganges bis hinab auf Meeresniveau gereicht haben müssen. Aufgrund einer Wiedererwärmung hätten sich die nunmehr abschmelzenden Eismassen in Richtung Meer in Bewegung gesetzt und Gletscherschutt von oben nach unten mit sich geführt. Laut dieser Drifttheorie musste es also das abschmelzende und abrutschende Eis gewesen sein, das für den Transport der Findlinge verantwortlich war. Die eingeschlagene Richtung stimmte; in Wirklichkeit war es lediglich genau umgekehrt.

Am Ende war es internationale Gemeinschaftsarbeit, die zur Herausbildung einer modernen Eiszeittheorie führte. Eine maßgebliche Rolle kam dabei Mitte der 1830er Jahre dem schweizerisch-amerikanischen Zoologen und Geologen Louis Agassiz (1807–1873)Agassiz, Louis zu. Erstmals von einer »Eiszeit« sprach der Heidelberger Botaniker und Geologe Karl Friedrich Schimper (1803–1867)Schimper, Karl Friedrich. Da die Theorie anfangs umstritten war, dauerte es weitere Jahrzehnte, bis sich die Vorstellung von einer Abkühlung der Erde und der damit verbundenen Vereisung vor sehr langer Zeit in der Wissenswelt durchsetzte. Heute ist bekannt, dass es nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Eiszeiten gegeben hat.

Eis, Wasser und Land

Das Eis stellte zweifellos die wichtigste landschaftsprägende Kraft im Ostseeraum dar; aber es war nicht die einzige. Um die Entwicklung des Meeres und der es umgebenden Landschaften zu verstehen, müssen wir zunächst in eine sehr ferne geologische Periode lange vor dem Anbruch der letzten Eiszeit zurückgehen. Denn der größte Teil des festen Untergrundes entstand deutlich vor den Eiszeiten in einer sehr frühen Phase der Erdgeschichte, als es noch keine Tiere gab – im sogenannten Präkambrium. So zählt der größte Teil der Ostseeregion zwischen NorwegenNorwegen, MittelschwedenSchweden und der Halbinsel Kola, das sogenannte Fennoskandien, zu den ältesten geologischen Formationen weltweit. Demgegenüber ist der äußerste Südwesten deutlich jünger.

Bereits vor zwei Milliarden Jahren begannen Kräfte zu wirken, die für die heutige Gestalt Fennoskandiens mitverantwortlich sind. Aus dem flüssigen Magma im Erdinneren heraus bildeten sich fester Granit und Gneis. Diese wurden im Laufe Hunderter von Jahrmillionen von Sedimenten der Erdzeitalter des Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Trias und Jura überlagert. Zunächst lagen der Granit und die darauf befindlichen Sedimentschichten waagerecht übereinander, doch dann wurde der Untergrund im westlichen Teil Fennoskandiens vor etwa 400 Millionen Jahren durch die Kollision zweier Erdplatten angehoben. Im schwedisch-norwegischen Grenzgebiet entstand so das Gebirge der Skanden. Dabei wurden die Gesteinsschichten im Westen nach oben in eine Schräglage gedrückt und fallen seitdem nach Osten hin ab. Die tiefste Stelle liegt im Bereich des heutigen Bottnischen MeerbusensBottnischer Meerbusen. Jenseits davon steigt der Grund in Richtung FinnlandFinnland wieder an. Durch Erosion entstanden dort, wo das einzelne Sediment am stärksten aufgeworfen wurde und über die Erdoberfläche ragte, Abbruchkanten, die heute beispielsweise an der Westküste GotlandsGotland und ÖlandsÖland deutlich sichtbar sind. Insgesamt bildet Fennoskandien also gleichsam eine durch Abbruchkanten gegliederte Wanne, deren westliches Ende mit den Skanden höher liegt als der sich in Finnland befindliche östliche Rand. Fennoskandien grenzt im Südwesten an einen geologisch schwächeren Streifen, der sich von PolenPolen über BornholmBornholm und das südliche SchwedenSchweden bis an die Nordspitze DänemarksDänemark erstreckt. Dort bricht der Granit gleichsam in den Untergrund weg. Das südlich davon gelegene Gebiet ist von deutlich jüngeren Sedimenten geprägt.

Im Vergleich mit dieser sehr alten geologischen Frühgeschichte stellt die jüngste Folge an Eiszeiten ein eher kurzes Phänomen dar, ganz zu schweigen von der bislang lediglich einen Augenblick währenden Nacheiszeit. Vor etwa 110 000 Jahren begann die vorerst letzte, nach dem Fluss WeichselWeichsel benannte Eiszeit. Mit einem Rückgang der Durchschnittstemperaturen sammelte sich zunächst westlich des heutigen Bottnischen MeerbusensBottnischer Meerbusen im nördlichen SchwedenSchweden immer mehr Schnee an, der im Sommer nicht mehr abtaute, sondern zu Eis zusammengepresst wurde. Eis stellt dabei keine starre Masse dar, sondern reagiert dynamisch auf sich ändernde physikalische Bedingungen. Auf Grund des stetig wachsenden Druckes durch das eigene Gewicht geriet die Eismasse in Bewegung und dehnte sich schließlich jährlich um bis zu 150 Meter aus. Vor etwa 20 000 Jahren war das Vereisungsmaximum erreicht. Ein bis zu zwei Kilometer dicker, eisiger Panzer erstreckte sich von IrlandIrland über den größten Teil GroßbritanniensGroßbritannien, Teile NorddeutschlandsDeutschland, DänemarkDänemark, NorwegenNorwegen, das nördliche PolenPolen und das Baltikum bis hinauf zum Weißen MeerWeißes Meer. Alles war von Eis bedeckt. Eine Ostsee existierte nicht.

Mit den immer weiter vordringenden Gletschern wurden unvorstellbar große Mengen an Schutt und Geröll aus dem Herzen Skandinaviens in die Außenregionen des Eispanzers transportiert. Diese lagerten sich später beim Abschmelzen ab und bilden vielerorts bis heute eine Schicht von Steinen. Als Feldsteine müssen sie Jahr für Jahr von den Äckern entfernt werden, woraufhin sie sich am Rande der Feldwege auftürmen. Besonders viel Schutt wurde am äußersten Ende der Gletscher in Form von Hügelketten, den Endmoränen, zusammengestaucht. Die langgestreckten Gletscherzungen der letzten Eisvorstöße hobelten zudem tiefe Rinnen in den Untergrund.

Adolf Friedrich Vollmer, Landschaft in Holstein, Öl auf Leinen, 1827. Eis, Wetter und Vegetation schufen im Laufe der Jahrtausende eine heimelige Moränenlandschaft, die der Hamburger Maler Vollmer im Geiste des frühen Realismus im Bild einfing. Auch heute noch lockt sie viele Touristen, etwa in die Holsteinische Schweiz.

Vor etwa 16 000 Jahren wurde es wärmer, und das Eis begann abzuschmelzen. 2000 Jahre später war DänemarkDänemark eisfrei, und noch einmal 500 Jahre darauf auch das südliche SchwedenSchweden. Tief unter dem tauenden Eis schuf das Schmelzwasser sogenannte Tunneltäler mit steilen, heute noch deutlich erkennbaren Rändern. Durch mächtige Gletschertore trat das Wasser von dort aus ins Freie. Jenseits davon lagerten sich riesige, vom Schmelzwasser mitgeführte Sandmassen ab. Trichterförmig erstrecken sich diese sogenannten Sander von den Gletschertoren an der äußersten Kante der Endmoränen landeinwärts – erkennbar an der kargen Vegetation oder heute vor allem an den zahlreichen Kiesgruben. Das Schmelzwasser strömte schließlich durch die flachen, breiten Urstromtäler weiter in Richtung des Atlantischen OzeansAtlantischer Ozean. Feinste Staubpartikel wurden südwärts weit jenseits der Urstromtäler über das Land geweht, setzten sich schließlich am Nordrand der Mittelgebirge ab und bildeten dort die fruchtbaren Lössböden.

Zwischen der sich zurückziehenden Eisfront und dem festen, etwas höher gelegenen Land entstand in den tieferen Bereichen Fennoskandiens eine immer größer werdende Süßwasserfläche: der Baltische Eisstausee, der schließlich einen großen Teil des heutigen Ostseebeckens sowie den RigaischenRigaischer Meerbusen und den Finnischen MeerbusenFinnischer Meerbusen umfasste. Von den späteren Inseln existierten damals allein BornholmBornholm und vielleicht ein Teil GotlandsGotland.

Diesseits des Baltischen Eisstausees wandelte sich das freigewordene Land. Auf der ursprünglich kahlen Fläche breitete sich allmählich eine Tundravegetation aus. Die ersten Pflanzen waren Kräuter; bald schon tauchten aber auch kleine Sträucher wie Heidekraut, Weiden und Zwergbirken auf. Das weite grüne Land bot immer mehr Tieren eine Lebensgrundlage. In den nun wärmeren Sommern zog es große Rentierherden nordwärts. Die Rentiere lockten allmählich auch eine weitere Spezies in die Region, die sich dort mindestens 100 000 Jahre lang nicht hatte blicken lassen: den Menschen. Dieser brachte bereits Techniken mit, um hochentwickelte Steinwerkzeuge für die Jagd herzustellen. Jene frühen Bewohner repräsentieren in der Archäologie die letzte Phase der europäischen Altsteinzeit, das sogenannte Jungpaläolithikum.

Seit den 1920er Jahren tauchten bei archäologischen Grabungen im bei HamburgHamburg gelegenen AhrensburgAhrensburger Tunneltal zahlreiche Pfeilspitzen und Schaber aus Flintstein sowie Harpunen und Äxte aus Rentiergeweih, aber auch anderes Gerät aus Rentierknochen auf. Als besonders ergiebig erwies sich der Fundplatz von StellmoorStellmoor. Dort hatten in der Weichsel-Eiszeit Rentierjäger gelebt, die ihre Abfälle und überflüssiges Gerät in einem nahegelegenen See entsorgt hatten. Die ältesten Fundschichten zeichnen sich vor allem durch die lediglich auf einer Seite eingekerbten Pfeilspitzen aus, die charakteristisch für die Jäger der sogenannten Hamburger Kultur sind. Jene Hamburger Jäger erwiesen sich als hochmobil und passten sich den jeweiligen Jagdbedingungen hervorragend an. So gelangten sie bis auf die Kimbrische HalbinselKimbrische Halbinsel und in das südliche SchwedenSchweden.

Ganz zu Ende war die Weichsel-Eiszeit aber noch nicht. Die Rentierjäger konnten lediglich eine kürzere, etwa eintausendjährige Wärmephase genießen, bevor ein allerletzter Kälteeinbruch folgte. Mit diesem verschwanden die Hamburger wieder, wurden aber von anderen Kulturstufen abgelöst, die sich anhand ihrer Steingeräte voneinander unterscheiden lassen. In der Archäologie sind jene als Federmesser-, Ahrensburger- und Bromme-Kultur bekannt.

Vor etwa 11 700 Jahren setzte schließlich ein auffallend starker Temperaturanstieg ein. Zwar haben sich seitdem die Wintertemperaturen kaum verändert, doch die Sommer wurden nun deutlich wärmer. Die Weichsel-Eiszeit war endgültig vorbei. Noch existierte eine riesige Gletscherfläche weiter im Norden, aber das Abschmelzen beschleunigte sich stark und erreichte in einigen Regionen einen durchschnittlichen Wert von etwa 500 Metern jährlich. Vor 11 000 Jahren war das mittlere Schweden eisfrei. Nacheinander bildeten sich in Nachfolge des Baltischen Eisstausees nun drei weitere Gewässer heraus, die aber nur bedingt die direkten Vorläufer der heutigen Ostsee darstellen. Sie unterschieden sich durch den Wasserstand, Salzgehalt sowie durch ihre Verbindung zum Atlantischen OzeanAtlantischer Ozean voneinander.

Der Schmelzprozess hatte über die Jahrtausende weitreichende Auswirkungen, denn ein sehr großer Teil des auf dem Globus vorhandenen Wassers war zunächst als Eis gebunden. Der Spiegel des Eisstausees lag während der Weichsel-Eiszeit um etwa 120 Meter niedriger als derjenige der heutigen Ostsee. Auch der größte Teil der heutigen NordseeNordsee war dementsprechend Festland, während das spätere GroßbritannienGroßbritannien über das sogenannte Doggerland mit NorddeutschlandDeutschland, der Kimbrischen HalbinselKimbrische Halbinsel und SüdschwedenSchweden verbunden war. Mit dem Abschmelzen des Eises stieg der Meeresspiegel weltweit an, und die Nordsee bildete sich allmählich heraus.

Die Entstehung der Ostsee (ca. 12 300 – 7000 v. Chr.)

Gleichzeitig stieg aber auch der Wasserspiegel des Baltischen Eisstausees, womit sich dessen Fläche immer mehr vergrößerte. Eine schmale Abflussrinne, durch die zunächst nur wenig Wasser ausströmte, bildete sich vermutlich im Bereich des heutigen ÖresundesÖresund heraus. Etwas später entstand beim heutigen VätternseeVätternsee, der damals unmittelbar südlich der Eiskante lag, eine neue Abflussrinne, aus der anfangs immer noch wenig Wasser in den Ozean strömte. Vor etwa 10 300 Jahren öffnete sich dort ganz in der Nähe aber eine neue, nun wesentlich breitere Rinne. Innerhalb kürzester Zeit muss es zu einem dramatischen Abfluss von Süßwasser gekommen sein, so dass der Wasserstand des Baltischen Eisstausees um etwa 25 Meter absank. Die neue Verbindung zwischen beiden Gewässern verbreitete sich immer mehr, und es entstand im heutigen MittelschwedenSchweden die etwa 150 Kilometer breite sogenannte NärkestraßeNärkestraße.

Lange Zeit war der Baltische Eisstausee ein Süßgewässer. Das sollte sich erst ändern, als bald nach der Öffnung der Närkestraße Atlantik und Stausee ungefähr die gleiche Höhe aufwiesen. Jetzt strömte nicht mehr Süßwasser in Richtung Westen, sondern es kam in umgekehrter Richtung zu einem Austausch: In immer größerem Umfang gelangte nun Salzwasser in den Baltischen Eisstausee. Auch wenn der Salzgehalt des Wassers insgesamt gering blieb, veränderte sich damit doch die Fauna. Süßwasserlebewesen starben teilweise aus, während salzliebende Meerestiere das Gewässer für sich als Lebensraum entdeckten. Dazu zählte auch eine Muschel namens Portlandia arctica, die auch unter ihrem historischen Namen Yoldia arctica firmiert. Aus ihrem Namen leitet sich die Bezeichnung für das neue, nun salzhaltige Gewässer ab: Aus dem Baltischen Eisstausee wurde das Yoldiameer.

Seit der Entstehung der Närkestraße war der Norden zweigeteilt: SchonenSchonen und das mittlere SchwedenSchweden besaßen eine Verbindung mit dem Festland im Süden, während das allmählich eisfrei werdende FinnlandFinnland und ebenso die norwegische Westküste eingeklemmt zwischen Wasser und Eis lagen. Von der schwedischen Westküste existierten nur einige Inseln. Aber auch dort breiteten sich schließlich die Nachkommen der altsteinzeitlichen Jäger aus. Verwandt mit der Ahrensburger Kultur sind die Meeresküstenbewohner der sogenannten Hensbacka- und Fosna-Kulturen. Beide waren bereits um das Ende der letzten Eiszeit in der Lage, große Wasserflächen mit Booten zu überwinden; sonst hätten sie nicht die Närkestraße überqueren und sich im Bereich der westschwedischen Inseln, des Oslofjords und an der norwegischen Westküste niederlassen können. Allein auf den damaligen schwedischen Inseln wurden mehrere hundert weitgehend küstennahe Siedlungsplätze der Hensbacka-Menschen entdeckt. Erstmals entstanden im Norden nun also maritime Gesellschaften, die sich sicher auf dem Meer bewegten und damit eine bis heute reichende Tradition begründeten. Die üppigen Fischgründe des KattegatsKattegat dürften für einen stets gut gedeckten Tisch gesorgt haben.

Eng mit den frühen Küstengesellschaften des nördlichen NorwegenNorwegen sind die ersten Bewohner FinnlandsFinnland verwandt, die sich dort vor etwa 8000 Jahren niederließen. Auch die Angehörigen der sogenannten Suomusjärvi-Kultur, die sich im Süden Finnlands herausbildete, suchten die Nähe zum Wasser. Ein spektakulärer Fund gelang den Archäologen mit der Entdeckung eines Fischernetzes aus jener Kultur, das deutlich das enge Band der Menschen mit dem Wasser und seinen Ressourcen belegt.

Immer wärmer wurde es nicht nur durch den allmählichen Anstieg der Durchschnittstemperaturen in der nördlichen Hemisphäre, sondern auch dadurch, dass das wärmere Wasser des Golfstromes nun die südöstlichen Gebiete der entstehenden NordseeNordsee erreichte. Das hatte auch Auswirkungen auf das Klima weiter im Osten. Die Tundra zog sich mit den Rentierherden immer weiter in Richtung Norden zurück, während sich in der Zeit des Yoldiameeres von Süden her der Wald ausbreitete. Erste Wälder hatten sich am Nordrand der Alpen gebildet, drangen dann immer weiter in nördliche Richtung vor, ehe sie fast die Südkante des abschmelzenden Eises erreichten. Zunächst dominierte die Birke, die aber bald von der Kiefer abgelöst wurde.

Lapporten. Majestätisch ruht das Trogtal der sogenannten Lappenpforte über der kargen, hochgelegenen Tundra im schwedisch-norwegischen Grenzgebiet.

Der Klimawandel begünstigte schließlich die Ausbreitung der Hasel. Die Paläobotaniker vermuten, dass es vielleicht der wandernde und Wintervorräte anlegende Mensch selbst war, der maßgeblich an der vergleichsweise raschen Ausbreitung jener Pflanze beteiligt war. Auf jeden Fall dürften die Nüsse einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Ernährung ausgemacht haben. Zeitgleich hielt im Osten des Baltikums und FinnlandsFinnland aber auch die aus den russischen Ebenen kommende Fichte ihren Einzug.

Mit der dichter werdenden Bewaldung änderten sich die Überlebensstrategien der Menschen um das Yoldiameer. Der Wald verdrängte die kleinen Gruppen jungpaläolithischer Rentierjäger endgültig, bot seinerseits aber Raum für neue Lebensformen, die für die mittlere Steinzeit, das Mesolithikum, charakteristisch sind. Vor allem waren die Menschen nun nicht mehr gezwungen, im Winter die eiskalte Tundra zu verlassen, denn der Wald bot ihnen ganzjährig Überlebensmöglichkeiten. Der Speiseplan wurde dank der Waldfrüchte und neuen Tierarten wie Rotwild oder Wildschwein immer vielfältiger. Vor allem aber spielte der Fisch als Nahrungsmittel eine erhebliche Rolle. Wie Untersuchungen von mesolithischen Menschenknochen in DänemarkDänemark belegen, wurde dort Eiweiß zu einem ganz überwiegenden Teil in Form von Fischen und Muscheln zu sich genommen. Davon zeugen auch die meterdicken Muschelschichten, die die Küstenbewohner der sogenannten Ertebølle-Kultur den Archäologen am LimfjordLimfjord und anderswo hinterlassen haben. Die Menschen des Mesolithikums waren aber nicht nur begabte Fischer, sondern sie entwickelten auch ihre handwerklichen Fertigkeiten weiter. Die zunächst sehr groben Steingeräte wurden filigraner, und erstmals wurden Gefäße aus Keramik hergestellt. Aus Zähnen und Knochen schufen die Bewohner des Nordens Schmuck; und auch der Bernstein fand Eingang in die materielle Kultur.

Lebten die Meeresküstenbewohner der mittleren Steinzeit lange genug, so konnten sie im Laufe einiger Jahrzehnte in den nördlichen Bereichen des Yoldiameeres eine merkwürdige Beobachtung machen: Denn immer mehr zog sich das Wasser zurück. Wo einst Meer gewesen war, erstreckte sich nun festes Land. Die Siedlungsplätze mussten immer wieder in größeren Abständen an die neue Küstenlinie verlagert werden. Tatsächlich begann sich das Land mit dem Rückzug des Eises zu heben. Der Wasserspiegel und das sich hebende Land stiegen schließlich im hohen Norden förmlich um die Wette.

Ursprünglich hatte das Gewicht des Eises während des Maximums der Weichsel-Eiszeit das Land um den Bottnischen MeerbusenBottnischer Meerbusen tief in das elastische Erdinnere gedrückt. Insgesamt sank der Norden des heutigen Ostseeraumes dabei ab. Mit dem Abtauen setzte wiederum eine Gegenbewegung ein, die sich in der Zeit des Yoldiameeres beschleunigte. Sie hält bis heute an und hat bislang für eine Landhebung von bis zu 285 Metern etwa im östlichen Norrland gesorgt. Stetig tauchte neues Land aus dem Wasser auf, besonders markant in der Gegend um StockholmStockholm, im südwestlichen FinnlandFinnland und an den finnischen Küsten des Bottnischen Meerbusens, deren Gefälle sehr gering ist. Die Karelische Landenge stieg aus dem Wasser, ebenso ÖlandÖland, ein weiterer Teil GotlandsGotland und SaremaaSaremaa. Deutlich ist der Landanstieg auch noch im Übergangsraum zur NordseeNordsee zu beobachten. Am OslofjordOslofjord betrug er im Laufe der letzten 6000 Jahre immerhin 150 Meter.

Das Land rückte auf diese Weise vor, flachere Buchten verlandeten, Inseln wurden Teil des Festlandes. Moore entstanden da, wo einstige Meeresflächen vom Meer abgeschnitten wurden und als Binnengewässer schließlich verlandeten. Zahllose, einst unter dem Wasser liegende Felsbuckel wurden sichtbar und bildeten in einigen Küstenabschnitten als sogenannte Schären breite Inselgürtel. Dort ist nicht immer leicht zu entscheiden, wo das Land endet und das Meer beginnt. Bis heute stellen die Schären und noch mehr die unter Wasser liegenden Untiefen eine Gefahr für die Schifffahrt dar. Andererseits bedeuten sie aber auch einen einzigartigen Schutz des dahinterliegenden Landes vor Wind und feindlichen Angriffen, was die Gründung von Städten begünstigte.

Schärenküste. Die Schären galten der Schifffahrt oft als gefährliches Hindernis, boten dem dahinter liegenden Land aber in gleicher Weise Schutz.

Auch das Yoldiameer ist nur ein indirekter Vorläufer unserer Ostsee. Denn vor etwa 9500 Jahren verlandete die Närkestraße wieder, und die Zufuhr von Salzwasser wurde unterbrochen. Allmählich setzte sich erneut das Süßwasser durch, und der Wasserstand stieg. Dieses Mal steht eine Schnecke für den Namen des neuen Gewässers Pate: Nach der Süßwasserschnecke Ancylus fluviatilis trägt der Nachfolger des Yoldiameeres den Namen Ancylussee. Dessen Wasserstand lag wiederum höher als derjenige der NordseeNordsee und des dahinter liegenden Ozeans. Einen Abfluss gab es zunächst im Bereich des heutigen Göta Älv durch MittelschwedenSchweden. Schließlich stieg aber Mittelschweden durch die Landhebung so weit an, dass auch diese Verbindung unterbrochen wurde. Am Ende überwog seit dem fast endgültigen Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher aber der Anstieg der Ozeane die Landhebung. Vor etwa 9000 Jahren kehrten sich die Strömungsverhältnisse daher wieder einmal um: kein Süßwasser strömte mehr in Richtung Westen, sondern Salzwasser drang in den Ancylussee ein. Es dauerte Jahrhunderte, ehe sich das Salz im gesamten Bereich des Gewässers verbreitet hatte. Erneut musste sich die Tierwelt völlig umstellen. Nun wurde das Gewässer aber endgültig zum Meer. Das neue, namengebende Leittier war eine im Salzwasser lebende Schnecke, von der die Forscher den Namen Litorinameer ableiten, das vor etwa 7500 Jahren voll entwickelt war.

Das Klima blieb mild, und das Litorinameer fror im Winter im Südwesten kaum mehr zu. Das offene Wasser sorgte nun ganzjährig für einen Temperaturausgleich, so dass sich in den Küstenregionen des Südwestens ein eher maritimes Klima mit höheren Niederschlagsmengen herausbildete. Gerade im Hinterland der dortigen Küsten wurden die Wachstumsbedingungen für Laubgehölze immer günstiger. Bald breiteten sich Eichen aus, während die Kiefer, aber auch die Birke, zunehmend verdrängt wurden. Vor 7000 Jahren hatte sich im Südwesten, aber auch in Teilen FinnlandsFinnland, der Laubwald endgültig durchgesetzt. Hoch im Norden dagegen blieben Birke und Nadelbäume vorherrschend, dort bildete sich aus Kiefern, Fichten und Tannen der boreale Nadelwald.

Christian Ernst Bernhard Morgenstern, Buchen, Öl auf Papier, 1828. Der norddeutsche Maler Morgenstern, der an der ehrwürdigen Kunstakademie KopenhagenKopenhagen studiert hatte, ließ sich in seinen Landschafts- und Naturdarstellungen von der üppigen Vegetation auf der Insel SeelandSeeland inspirieren.

Während sich das Meer im Norden zurückzog, überflutete es im Süden immer weitere Landstriche. Aus dem einst festen Landgebiet zwischen der heutigen polnischen Südküste, SüdschwedenSchweden und der Kimbrischen HalbinselKimbrische Halbinsel bildete sich eine vielfältige Insellandschaft heraus, die den Küstenbewohnern der mittleren Steinzeit eine üppige Nahrungsgrundlage bot. Auch die einstigen Mündungsdeltas der großen Flüsse im Süden fielen dem Wasseranstieg zum Opfer. Schließlich wurden auch die von den letzten Gletscherzungen der Eiszeit ausgeschliffenen Täler am Rande der Endmoränen überflutet. Es entstanden an der Ostküste der Kimbrischen Halbinsel die heutigen Förden, auf Dänisch: Fjorde. Deren Enden befinden sich heute meist weit im Landesinneren. An diesen Stellen gründete sich im Umfeld der fruchtbaren Endmoränengebiete eine Kette von Hafenorten.

Die Ostsee entsteht

Vor etwa 5000 Jahren kam der Anstieg des Wasserspiegels im Süden zum Stillstand, um seit dieser Zeit nur noch um höchstens ein bis zwei Meter zu schwanken. Allmählich wurde aus dem Litorinameer die heutige Ostsee. Das Wasser begann im Süden die nun direkt vor den Küstenlinien liegenden Moränen abzuwetzen. Während die größeren Steine meist am Strand liegen blieben, war der feine Sand schnell ein Spielball der Wellen. Durch die Ablagerung von Sand bildeten sich infolge der Meeresströmung zunächst parallel zum Strand verlaufende Strandwälle. An deren Ende, dort, wo die Küste etwa am Anfang einer Bucht oder Förde ins Land zurückweicht, konnten die Ablagerungen sich bis weit ins Wasser hinein aufschichten.

Johan Thomas Lundbye, Dänische Küstenlandschaft, Öl auf Leinen, 1843. Markant erheben sich an den Küsten vielerorts die durch Erosion angenagten Moränen, wie etwa hier im Bereich des Roskildefjords. An ihrer Unterkante lassen sich Fossilien aus einer längst vergangenen Vorzeit finden.

Frisches Haff. Unter der kargen Vegetation der Nehrung verbergen sich die angespülten und angewehten Sandmassen. Das Haff selbst stellt ein von der Ostsee weitgehend abgetrenntes Binnengewässer dar.

Manche dieser sogenannten Höfts oder Haken wuchsen bei geringeren Wassertiefen immer weiter in die Bucht hinein, bis diese bisweilen als Haff ganz vom Meer abgeschnitten war. Der Haken wurde auf diese Weise zur Nehrung, hinter der ein Binnengewässer entstand. Ausgeprägte Haken finden sich vor Oder- Oderund WeichselmündungWeichsel, Nehrungen gibt es an den Küsten Mecklenburgs, auf RügenRügen, vor allem aber im ehemaligen OstpreußenPreußen und in LitauenLitauen. Die Ostseeküste tendiert im Süden also dazu, ihren Verlauf durch natürliche Sandanspülungen zu begradigen, weshalb die daraus entstehende Uferform als Ausgleichsküste bekannt ist.

Kurische Nehrung. Die längste und ohne Zweifel beeindruckendste Nehrung wird heute durch die Grenze zwischen LitauenLitauen und dem Kaliningrader Gebiet geteilt.

Charakteristisch für die Ostsee ist der im Vergleich zum Litorinameer wieder etwas geringere Salzgehalt, der zudem sehr unterschiedlich ausfällt und nach Nordosten hin deutlich abnimmt. Im hohen Norden friert das Brackwasser winters regelmäßig zu, was nicht nur Auswirkungen auf die Schifffahrt, sondern auch auf das Klima hat. Denn physikalisch wirkt die Eisoberfläche hinsichtlich der Abstrahlung von Wärme wie festes Land. Daher herrscht im Norden trotz der Allgegenwart des Meeres eher ein kontinentales Klima.

Nur wenige Tierarten sind an jene speziellen Lebensbedingungen angepasst. Während das Ostseewasser für die meisten Seefische einen zu geringen Salzgehalt aufweist, ist dieser für Süßwasserfische zu hoch. Daher ist das Meer mit nur 52 Tierarten durch eine große Artenarmut gekennzeichnet, während im benachbarten KattegatKattegat bereits um die 1500 Arten leben. Fast alle Wasserlebewesen sind irgendwann einmal aus dem NordatlantikAtlantischer Ozean eingewandert und haben sich im Laufe der Zeit an die besonderen Lebensbedingungen angepasst. Das gilt etwa für Dorsch, Scholle, Hornhecht, Hering und Sprotte, aber auch für einige wenige Robbenarten. Insgesamt sind die meisten Fische kleiner und wachsen langsamer als ihre Artgenossen in Atlantik oder NordseeNordsee. Auch die Fortpflanzung kann durch den geringen Salzgehalt beeinträchtigt sein, so dass sich die Bestände zum Teil allein durch Zuwanderung aus dem salzhaltigeren Wasser des Ozeans regenerieren können.

Die besondere Entstehungsgeschichte der Ostsee führte am Ende zu dem visuellen Eindruck des Reisenden, bei dem stets von nahen Küsten und zahllosen Inseln geprägten Gewässer handele es sich im Grunde eher um einen großen Binnensee denn um das offene Meer. Diese Empfindung teilte auch der preußische Geologe Leopold von Buch (1774–1853)Buch, Leopold von, der im Jahre 1806 auf dem Schiff von KielKiel nach KopenhagenKopenhagen fuhr: »Die Ostsee, welche wir durchfahren hatten, ist doch kaum mehr als ein Landsee. Denn sie hat hier gar nicht die Tiefe, die man einem großen Meere zutraut.« Dass sich aber auch die klügsten Gelehrten vom friedlichen Äußeren täuschen lassen konnten und dass sich die Ostsee bei bestimmten Windlagen gefahrvoll auftürmen kann, erfuhren die Küstenbewohner freilich immer wieder am eigenen Leibe.

So bewegt sich der Wasserspiegel bei starkem Wind gleichsam wie der Inhalt einer Badewanne. Bei heftigem Westwind wird das Wasser von der norddeutschen und süddänischen Küste in Richtung Osten weggedrückt; dreht der Wind anschließend rasch in umgekehrte Richtung, so drängt jenes mit umso größerer Macht zurück an die Küsten im Südwesten. Da die Ausgänge zur NordseeNordsee vergleichsweise schmal und flach sind, können sie die zurückwallenden Wassermassen nicht aufnehmen, so dass diese mit umso größerer Gewalt in die Förden der südlichen Kimbrischen HalbinselKimbrische Halbinsel drücken. In solchen Situationen kann die meist friedlich scheinende Ostsee eine geradezu tödliche Wucht erlangen.

Die Quellen berichten von starken Überschwemmungen etwa in den Jahren 1694 und 1836. Besonders heftig sollten es die Schleswig-Holsteiner aber am 12. und 13. November 1872 zu spüren bekommen. Seit den ersten Novembertagen hatte ein heftiger Wind aus westlichen Richtungen geweht. Doch dann drehte er unvermittelt auf Nordost und wuchs sich am 12. November zu einem regelrechten Orkan aus. Besonders schlimm erwischte es das tief am Ende einer schmalen, trichterförmigen Bucht gelegene EckernfördeEckernförde