Nathaniel Wallich - Martin Krieger - E-Book

Nathaniel Wallich E-Book

Martin Krieger

0,0

Beschreibung

Gerade mal 21 Jahre alt war Nathaniel Wallich, als er 1807 von Kopenhagen aufbrach, um als Arzt in Dänisch-Ostindien zu arbeiten – seine wahre Leidenschaft galt jedoch von Beginn an dem Reich der Flora. Dabei bewies er ein solches Geschick, dass er schon bald den botanischen Garten in Kalkutta leitete, Forschungsreisen in die entlegensten Winkel Asiens und Südafrikas unternahm und zu einem der bekanntesten Pflanzenkundler seiner Zeit wurde. Der Historiker Martin Krieger skizziert das bewegte Leben eines großen Dänen mit norddeutschen Wurzeln auf der Grundlage seines Briefnachlasses. Dieser ist nicht nur für die Botanikgeschichte von großer Bedeutung, sondern bietet darüber hinaus einen sehr persönlichen Einblick in ein Stück erlebter Globalgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 516

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARTIN KRIEGER

NATHANIELWALLICH

Ein Botaniker zwischenKopenhagen undKalkutta

Erscheint in der Reihe »zeit+geschichte« der SparkassenstiftungSchleswig-Holstein als Band 46.

1. Auflage 2017

© 2017 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel / Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Marleen KrallmannGesamtherstellung: Wachholtz Verlag

E-ISBN 978-3-529-09255-8

Besuchen Sie uns im Internet: www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Ein Leben in Briefen

Kopenhagen

Als Chirurgus nach Dänisch-Ostindien

Serampore

Karrierebeginn in Kalkutta

Der Botanische Garten

Die Anfänge als Superintendent

Die botanischen Schätze Nepals

Auf der Suche nach Holz

Der Aufenthalt in London

Auf den Spuren des wilden Assam-Tees

Stille Jahre

Am Kap der Guten Hoffnung

Der lange Abschied

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Quellen und Darstellungen

Abbildungsnachweis

Personen- und Ortsregister

Ein Leben in Briefen

Am Neujahrstag 1848 saß ein alter, gesundheitlich angeschlagener Mann an seinem Schreibtisch in der 5 Gower Street im Londoner Stadtteil Bloomsbury. Vor ihm lag eine geradezu unüberblickbare Zahl an Briefen, die er in den hinter ihm liegenden Jahrzehnten erhalten oder selbst verfasst hatte. Er nahm sie noch einmal zur Hand – im Laufe der darauffolgenden Monate jeden einzelnen, denn er wollte sie in eine chronologische Ordnung bringen und einen Index erstellen. Etwa 4000 mögen es insgesamt gewesen sein. Hinter den Briefen tauchten schemenhaft Gestalten auf: Menschen, die jene Schreiben einst verfasst hatten, langjährige Weggefährten, Freunde, aber auch erbitterte Gegner. Viele von ihnen waren längst tot. Von elf im Jahre 1814 gemeinsam mit ihm ernannten Assistenzärzten der ehrwürdigen East India Company waren acht nicht mehr am Leben.

Der Mann am Schreibtisch war Nathaniel Wallich. Erst kürzlich hatte er seinen Ruhestand angetreten und war zu seiner Familie nach London gezogen. Geboren und aufgewachsen im dänischen Gesamtstaat, hatte er den größten Teil seines Erwachsenenlebens in Indien verbracht und als langjähriger Direktor des Botanischen Gartens von Kalkutta das Wissen um die indische Pflanzenwelt in bis dahin ungekannter Weise vermehrt. Bald schon erstreckte sich von seinem Garten aus ein wahrhaft globales Kommunikationsnetzwerk, das die Großen des Faches, aber ebenso heute längst vergessene Amateur-Forscher umfasste. Er war nicht der ingeniöse Entdecker oder Theoretiker. Als einer der großen globalen Vermittler im Reich der Flora der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß er gleichwohl eine unschätzbare Bedeutung.1 Als Wallich wieder nach Europa zurückkehrte, hatte sich die Welt verändert. Die Naturforschung war methodisch und theoretisch zu neuen Ufern aufgebrochen, und der Kontinent stand am Rande der Revolution.

Wer war Nathaniel Wallich? Heute ist er den wenigsten bekannt, allenfalls den Botanikern, Pharmazeuten oder Medizinern. Diese erinnert eine Zahl nach ihm benannter Pflanzen wie die Apostasia wallichii, Allium wallichii, Valeriana wallichii oder Rhododendron wallichii an seine Existenz. Schon unter den Zeitgenossen fiel das Urteil ambivalent aus. Viele waren auf seine Vermittlungsdienste angewiesen, und groß war die Freude, wenn wieder einmal eine Holzkiste mit getrockneten, gepressten, beschrifteten und sorgfältig verpackten Herbarpräparaten oder Sämereien Kopenhagen, London, Paris, München oder Hamburg erreichte. Manch einer hielt den Dänen nach einer persönlichen Begegnung für offen und warmherzig und war von seiner Gastfreundschaft beeindruckt. Dankbar waren auch seine Landsleute, die, im Zuge der Napoleonischen Kriege in Indien gestrandet, bei ihm Zuflucht fanden. Andererseits zeigte Wallich aber auch keine Scheu, sich durch ein allzu direktes Wort Feinde zu machen. Dass er im theoretischen wie philosophischen Urteil nicht mit Zelebritäten wie Alexander von Humboldt oder Robert Brown mithalten konnte, führte bisweilen zu abfälligen Urteilen. Das Verdikt des französischen Botanikers Victor Jacquemont aus dem Jahr 1829 war geradezu vernichtend: »A Danish botanist of ordinary talents, but who passes … for the first in the world ….«2 Jacquemont konnte es gar nicht wissen, denn während seines Besuches in Kalkutta war er dem Dänen überhaupt nicht begegnet. Es tut sich ein Spannungsverhältnis in der Beurteilung auf, das zu einer tieferen Beschäftigung einlädt.

Ziel dieser Biografie ist es, dem Leben Nathaniel Wallichs aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachzuspüren, um auf diese Weise die landläufigen Stimmen zu seinem Wirken und seiner Person zu hinterfragen und neu einzuschätzen. Sie will den Versuch unternehmen, sich dem langen, von biografischen Zäsuren, aber gleichzeitig von einem großen Maß an Kontinuität geprägten Forscherleben zu nähern. Zweifellos ist es in heutiger Zeit nicht mehr angemessen, von einer »klassischen« Biografie zu sprechen, wenn es ein solches Sujet je gegeben hat. Vielleicht ist der Begriff »holistisch« geeigneter. So soll es darum gehen, die vielen Einflussfaktoren, die Wallichs wissenschaftliches und persönliches Denken prägten, zu identifizieren und daraus seine Entscheidungen (oder auch Nicht-Entscheidungen) erklärbar zu machen.

Nur wenige Untersuchungen existieren über Wallich; in der Regel handelt es sich dabei um kurze biografische Skizzen, oder er findet Eingang in wissenschaftsgeschichtliche Überblicksdarstellungen. Den meisten ist gemein, dass sein Name in aller Regel mit einem bestimmten Attribut verbunden wird – einmal ist er »Green Imperialist«, ein anderes Mal »Capitalist«, um wiederum zum Vertreter des »Itinerant Empire« zu avancieren.3 Zweifelsohne sind diese Annahmen nicht falsch, beschreiben aber jeweils nur eine Facette eines vielschichtigen und ambivalenten Charakters, der sich zudem im für indische Verhältnisse auch noch recht langem Leben im Laufe der Zeit wandelte. Am ehesten trifft daher das Attribut von Edna Bradlow zu, die Wallich als »Man for all Seasons« bezeichnete.4

Eine Biografie über ihn zu schreiben stellt ein gewisses Wagnis dar, denn die überlieferten Quellen sind einseitig. Auch wenn Verwaltungsakten der britischen East India Company sowie Dokumente aus den Archiven Münchens, Leipzigs, Hamburgs, Kopenhagens oder Kapstadts ergänzend herangezogen werden können, bleibt die Hauptquelle doch seine Korrespondenz. Die heute im Central National Herbarium im Botanischen Garten Kalkuttas verwahrten Wallich-Briefe umfassen 33 Bände, wobei es sich fast ausschließlich um berufliche Korrespondenz handelt. Den größten Teil machen die an ihn gerichteten Schreiben aus. Der Briefnachlass enthält aber auch Konzepte von ihm selbst verfasster Nachrichten; zudem nutzte er seit etwa 1840 Karbonpapier, sodass aus späteren Lebensjahren viele Durchschriften originaler Briefe aus seiner Hand erhalten sind. Verfasst sind die meisten davon in englischer Sprache, aber auch dänische, deutsche und französische Dokumente finden sich in nennenswertem Umfang.5

Wallich nahm die Briefe mit Eintritt in den Ruhestand von Kalkutta mit nach England, ließ diese binden und fertigte einen Teilindex an. In seinem Testament bestimmte er kurz vor dem Tod seinen langjährigen Weggefährten Robert Brown als deren Hüter und Sachwalter. Später gelangten die Briefe in den Botanischen Garten von Kew, von wo aus sie 1887 oder 1888 nach Indien zurückgebracht wurden.6 Viele davon befinden sich heute in einem bedauerlichen Zustand, auch wenn sie seit einiger Zeit sicher in Stahlschränken verwahrt werden. Die noch von ihm selbst veranlassten Bindungen sind weitgehend zerstört. Das Papier vieler Briefe ist durch Tintenfraß, aufgebrochene Faltstellen oder durch die Unbilden des Klimas stark beschädigt, wovon besonders die ihm aus Deutschland zugesandten Schriftstücke betroffen sind. Die Datierung lässt nicht immer eindeutig erkennen, welche Briefe welchem Band zuzuordnen sind. Dennoch ist zu konstatieren, dass der Briefnachlass von Nathaniel Wallich mehr oder weniger komplett erhalten ist.

Die Schreiben geben Auskunft über die Praktiken der wissenschaftlichen Kommunikation und des Pflanzenversands, über die Generierung von Patronage und wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, aber auch über das Denken und die Lebenspraxis eines Botanikers zwischen Kopenhagen und Kalkutta in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daneben enthalten sie viele weitere Informationen: Inwieweit wurden einheimische Intellektuelle oder Arbeitskräfte einbezogen? Welche Rolle spielte die Amateur-Sammlerin? Aber auch: Wie lange dauerte der Briefversand zwischen Kopenhagen und Kalkutta 1815, wie lange 1845 nach dem Einzug der Dampfschifffahrt? Wo war Wallich an einem ganz bestimmten Tag im Jahre 1821 in Nepal? Seine akribischen Eingangsvermerke geben auch darüber Auskunft und ermöglichen auf diese Weise die genaue Rekonstruktion so mancher Reiseroute. Er selbst war ein fleißiger Schreiber, der die an ihn gerichteten Briefe oft sofort beantwortete. Dabei war seine Handschrift nicht immer die beste. Mit steigendem Lebensalter wurde sie fliegender und undeutlicher – eine Tatsache, der er sich selbst allzu sehr bewusst war, wie er einmal aus Allahabad an einen Freund in Kalkutta schrieb: »… prepare yourself with patience & spectacles ….«7

Ein Leben mit Hilfe von Briefen zu rekonstruieren bedeutet gleichzeitig deren Wirkungsgeschichte zu untersuchen. Denn jene dienten nicht allein der Informationsvermittlung zwischen Absender und Empfänger, sondern ihr Wirkungskreis spannte sich deutlich über eine solch begrenzte Interaktion hinaus. So wurden aus ihnen gewonnene Informationen an Dritte weitergereicht, wie auch Informationen von Dritten in sie Eingang fanden. Gerade in der Zeit vor der Entstehung der großen botanischen Fachzeitschriften spielte der Austausch aktueller fachlicher Themen in Briefen eine ganz zentrale Rolle. Die größte Wirkung erreichte ein Schreiben, wenn es ganz oder in Auszügen publiziert wurde. Die auf diese Weise entstehenden Netzwerke waren multinational, multidirektional und erreichten auch jene Länder, die kaum formale Interessen in Übersee vertraten. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass ein ganz erheblicher Anteil des Austauschs unabhängig davon informell erfolgte. Es sind gerade die direkten, mündlichen Kontakte, die sich als besonders fruchtbar erweisen konnten, im zeitlichen Rückblick aber ungleich schwerer zu fassen sind.

Der Ausgangspunkt dieser Studie ist die breite Debatte der vergangenen Jahrzehnte über die wissenschaftliche Durchdringung der kolonialen Welt. In immer größerem Maße wurde dabei die Naturforschung als elementarer Bestandteil kolonialer Staatlichkeit begriffen, wobei gerade der Botanik als Leitwissenschaft eine ganz zentrale Rolle zukam. Denn nur wer über die Holzressourcen eines Landes, über Nahrungsmittel und Heilpflanzen Bescheid wusste, dem gelang es, ein Land in seiner ganzen gesellschaftlichen Tiefe und räumlichen Ausdehnung zu durchdringen. Pionierarbeiten wurden hier von Richard Grove8 mit seinem »Green Imperialism« sowie mit den Untersuchungen von David Arnold9 und Michael Mann10 geleistet. Mittlerweile existiert darüber hinaus eine Fülle an Überblicks- und Detailstudien und eine ebenso große Zahl an methodisch-theoretischen Betrachtungen.11 Dieses Buch kann und will nicht einen Beitrag zur weiteren Theoriebildung leisten, gleichwohl will es Kontexte aufzeigen und zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Themenfeld einladen.

Kopenhagen

Herkunft

Noch herrschte Frieden in Dänemark. Der Kanonendonner der Schlacht auf der Kopenhagener Reede und die zerstörerischen Brandbomben, die 1807 auf die dänische Hauptstadt niederregnen sollten, lagen in weiter Ferne. Eines Morgens im Oktober 1800 begab sich ein junger Mann auf den Weg durch den Norden Kopenhagens. Sein Heim befand sich in der Adelgade. Von dort aus waren es nur wenige Schritte zum Rosenborg-Schloss und zum Amalienborg-Platz, an dem die königliche Familie seit einiger Zeit residierte. Um die von dort ausgehende Norgesgade lag die Friedrichstadt mit ihren schnurgeraden Straßen und den schmucken Stadtpalais. Etwas zurückgesetzt fand sich eine der wohl prominentesten Bauruinen der Stadt: Seit 1770 ruhten die Arbeiten an der Frederikskirke; Gras und Gebüsch überwucherten das halbfertige Gotteshaus, dessen Fertigstellung noch fast ein Jahrhundert auf sich warten ließ. Schon hatte Nathaniel das Ziel erreicht: die fast am Ende der Norgesgade gelegene Chirurgische Akademie (Tafel XI oben).

Seit Generationen hatten die Wallichs begabte Ärzte hervorgebracht. Und auch Nathaniel war auf dem Weg, um sich in der Chirurgischen Akademie zum Wundarzt ausbilden zu lassen. Als jener aber das erste Mal sein Elternhaus in Richtung Norgesgade verließ, mögen weder er selbst noch seine Angehörigen auch nur geahnt haben, dass er keine 17 Jahre später als international bekannter Botaniker zum Direktor des ehrwürdigen Botanischen Gartens von Kalkutta ernannt werden würde. Noch war nicht absehbar, dass sich für ihn die Napoleonischen Kriege als Katalysator einer einzigartigen Karriere herausstellen würden.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Wallichs in Kopenhagen nicht unbekannt. Mehrere Haushalte existierten unter diesem Namen, obwohl sich die Familie hier kaum mehr als eine Generation zuvor niedergelassen hatte. Woher sie ursprünglich stammte, ist nicht mehr genau feststellbar.12 Spätestens zu Beginn des 16. Jahrhunderts finden wir in Worms eine Familie Walch oder Wallich, die zur Elite der dortigen jüdischen Gemeinschaft zählte. Der erste eindeutig identifizierbare Vorfahr ist der 1587 gestorbene Moses Abraham, der sich durch sein Amt als Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Worms auszeichnete.13

Ein aus derselben Stadt stammender Joseph ben Meir Wallich promovierte einige Jahre später in Padua im Fach Medizin.14 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts tauchten Angehörige gleichen Namens in Frankfurt am Main, Bonn, Koblenz und Metz auf. Als Arzt und Rabbiner lebte bis zu seinem Tode 1691 ein Moses David in Trier, und 1747 wurde der in Heidelberg graduierte Solomon Emmanuel Arzt in Mainz. Zur Koblenzer Linie zählte Emanuel Wolfgang, der erste jüdische Arzt, der 1783 an der Universität Jena promovierte.15

Wann und auf welche Weise die Familie schließlich nach Hamburg gelangte, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Feststellbar ist aber, dass die norddeutschen Wallichs keine Ärzte waren, sondern dem Kaufmannsberuf nachgingen. Von Beginn an hatten sie dabei an den dichten kommerziellen Netzwerken zwischen Hamburg, Altona und der dänischen Hauptstadt teil. Vermutlich stellte der 1731 gestorbene Abraham den ersten Vertreter des Wormser Zweigs dar, der sich in Hamburg niederließ. Dessen Enkel Daniel Jechiel war der bekannteste seiner hier lebenden Nachkommen. Er betätigte sich in der Elbmetropole als Edelsteinhändler, Bankier und Hoffaktor des Mecklenburger Herzogshauses, brachte es zu einem beträchtlichen Vermögen und war zudem Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde. Als erster Angehöriger erwarb er einen dänischen Schutzbrief, der ihm auch in Dänemark den Handel ermöglichte.16

Daniel Jechiel hinterließ keine überlebenden Söhne; Nathaniels Großvater, der in Hamburg geborene Lazarus Wulff, ging aus der Ehe von Jechiels Nichte Fromet mit Wolff Wallich hervor.17 Lazarus Wulff verließ Hamburg und ging als erster Angehöriger dauerhaft nach Kopenhagen, um dort als Kaufmann zu wirken. Auch er erhielt einen königlichen Schutzbrief, stand in geschäftlichem Kontakt mit der dänischen Asienkompanie und machte mit dem Schatzmeister Heinrich Carl Schimmelmann Geschäfte. Lazarus Wulff war mindestens zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe mit Frode, geb. Oppenheim, ging Wulff Lazarus als eines von mindestens elf Kindern hervor.18

Obschon sich die Wallichs in ihrer mehrhundertjährigen Geschichte im Südwesten des Heiligen Römischen Reiches vor allem als Mediziner einen Namen gemacht hatten, lag der Beweggrund auch für die Übersiedlung nach Kopenhagen ausschließlich im Handel. Hierfür bot die dänische Hauptstadt in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts alle Möglichkeiten. Für viele dänische Kaufleute herrschten glänzende Zeiten. Noch leitete die weise Hand Andreas Peter Bernstorffs die Außenpolitik. Dessen oberste Prämisse hieß Neutralität. Auf Nord- und Ostsee und auf den Weltmeeren segelten in der Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Revolutionskriege reich beladene Schiffe unbehelligt unter dem neutralen Danebrog und fuhren üppige Gewinne ein. Dänemark besaß in der Karibik, in Afrika und in Asien Kolonien; aber auch Schleswig-Holstein, Norwegen, Island und Grönland zählten unter dem Dach der Oldenburger Dynastie zum Gesamtstaat.19

Das wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum der dänischen Unionsmonarchie lag unbestritten in Kopenhagen. Als kundiger Chronist legte der Bibliothekar und Literaturprofessor Rasmus Nyerup im Jahre 1800 eine Beschreibung der dänischen Hauptstadt vor, die einige Zeit später auch in deutscher Sprache erschien.20 Voller Überschwang lobte der aus Fünen stammende Gelehrte den multinationalen Kosmos der nordischen Metropole: »In Kopenhagen ist alles vereinigt, was man in andern Staaten zerstreut in mehreren Städten suchen muss. Kopenhagen ist eine Haupt- und Residenzstadt, der Sitz des beträchtlichsten Handels des ganzen Landes, die Hauptfestung des Reichs. Hier ist die einzige Universität zweier Königreiche; hier ist die Flotte und das Seearsenal; alle Manufakturen und Fabriken sind hier concentrirt; hier ist die Kunstakademie und das Theater; – mit einem Worte: Alles Merkwürdige und Interessante, das Dänemark aufzuweisen hat, findet man in Kopenhagen.«21 In der dänischen Hauptstadt bildete sich also die multinationale Monarchie mit den Kaufleuten, Kulturschaffenden, Studenten, Gelehrten und Staatsbediensteten aus allen Teilen des Reiches ab.22 Nyerup stellte zudem heraus, dass sich Kopenhagen seit dem Herrschaftsantritt König Christians VII. im Jahre 1766 stark verändert habe. Besonders hob er die Neugründung wissenschaftlicher Einrichtungen, etwa der Veterinärschule, des Naturkundemuseums und des Botanischen Gartens, hervor. Dieser war 1788 durch die Zusammenlegung des königlichen Gartens und des Medizinalgartens der Universität beim Schloss Charlottenborg hinter dem Kongens Nytorv gegründet worden. Auch die blühende Gewerbeproduktion trage in Form der Porzellanmanufaktur und der Tuchfabrik das Ihre zum geschäftigen Gesicht der Stadt bei. Kopenhagen sei grün und hell; allenthalben würden Alleen gepflanzt, und es gebe jetzt eine gute Straßenbeleuchtung.23

Nathaniel Wallich wurde in eine Zeit der Blüte, aber auch großer Umbrüche innerhalb der damals etwa 1800 Köpfe zählenden jüdischen Gemeinschaft der Stadt hineingeboren. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts allmählich wahrnehmbare Erneuerungstendenzen standen im Zusammenhang mit der aufklärerischen Haskala-Bewegung um Moses Mendelssohn in Deutschland. Zum wichtigsten Mittel eines engen Kreises jüdischer Reformer bei der Durchsetzung ambitionierter, aufklärerischer Bildungs- und Lebensideale zählte die enge Kooperation mit der weltlichen Obrigkeit. Seit 1788 war es Juden offiziell gestattet, an der Universität Kopenhagen den Doktorgrad zu erwerben; und 1792 sowie 1795 setzte die dänische Regierung Kommissionen ein, die sich trotz inneren Widerstands der Modernisierung der jüdischen Gemeinschaft widmeten.24

Die Pressefreiheit brachte andererseits Unruhe mit sich. Auch Nathaniel sollte einmal die antijüdische Agitation des aus Deutschland stammenden Theologen und Justizrats Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldeck am eigenen Leibe zu spüren bekommen, der beinahe seine Karriere in Indien verdorben hätte. Ihren Höhepunkt erreichte die Stimmungsmache in der stark von deutschen Stimmen geprägten »Judenfehde« (»Jødefejden«) in der Zeit um 1810. Die Früchte einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung sollten denn auch erst geerntet werden, als Wallich schon längst in Ostindien lebte. So wurde am 18. August 1814 eine königliche Resolution erlassen, die gemeinhin die etwas irreführende Bezeichnung »Freiheitsbrief« trägt, de facto aber immerhin eine partielle Emanzipation der jüdischen Gemeinschaft in Dänemark mit sich brachte.25

Adelgade

Inmitten der Stadt lebte die zum jüdischen Mittelstand zählende Familie von Wulff Lazarus Wallich und seiner Gemahlin Hannah, geborene Jacobson. Deren Hochzeit hatte im August 1778 stattgefunden; und das erste Kind, Aaron, wurde 1779 geboren, als der Vater 24 und die Mutter 21 Jahre alt waren.26 Aaron – der später den christlichen Vornamen Arnold führte – sollte als Künstler Karriere machen. Zwischen 1798 und 1803 studierte er an der Kopenhagener Kunstakademie und brach anschließend zu einer Romreise auf. Eine gewisse Bekanntheit würde er schließlich nach Rückkehr über Paris 1809 mit der Schaffung einer Theaterdekoration für das Schauspiel »Et Fængsel« erlangen. Seit 1814 wirkte Aaron dauerhaft als Bühnenmaler am Königlichen Theater. Verheiratet war er mit seiner Cousine Frederikke. Drei Jahre nach Aarons Geburt kam Tochter Nanine auf die Welt, und am 28. Januar 1786 konnten die Wallichs inmitten des Winters die Geburt eines zweiten Sohnes feiern, der den aus dem Hebräischen abgeleiteten Namen Nathaniel, das Gottesgeschenk, erhielt. 1787 wurde dem Paar schließlich die Tochter Promethe geboren, die vermutlich in jungen Jahren starb. Zum Haushalt gehörte weiterhin ein Dienstmädchen.27

Mehrmals zog die Familie um. Einige Zeit lebte sie am Nytorv, 1787 finden wir sie in der Frederiksberggade, drei Jahre später am Gammel Strand, ehe sie in die Adelgade zog. So gut wie keine Informationen sind über das Leben und den Alltag der Wallichs überliefert. Vom Vater hatte Wulff Lazarus den Beruf des Kaufmanns ererbt. Während Lazarus Wulff in größerem Umfang am internationalen Handel beteiligt gewesen war, wissen die Quellen zu ihm selbst nichts dergleichen zu berichten. Immerhin firmiert der Jüngere im Volkszählungsprotokoll von 1787 als königlich privilegierter Kaufmann, wird also ebenso wie seine Hamburger Vorfahren im Besitz eines königlichen Schutzbriefs gewesen sein.28

Im Kopenhagener Elternhaus lernten Nathaniel und seine Geschwister ein modernes, aufgeklärtes und am Nutzen für das weltliche Gemeinwohl orientiertes Judentum kennen. Was der Großvater an kaufmännischem Erfolg vorweisen konnte, galt für den Vater hinsichtlich des gesellschaftlich-intellektuellen Diskurses um die Reform der jüdischen Gemeinschaft. So veröffentlichte Wulff Lazarus 1795, als der Sohn Nathaniel neun Jahre alt war, eine Schrift unter dem programmatischen Titel »Forslag til Forbedring i den Jødiske Menigheds Forfatning i Kjøbenhavn« und erläuterte in deren Vorwort seine reformerischen Ziele. Es gehe um nichts anderes als darum, die Lebensumstände »einer unglücklichen Nation« zu verbessern und deren Kultur und Glückseligkeit voranzubringen.29

Den Kindern gab Wulff Lazarus aber nicht allein eine aufklärerische Lebenshaltung mit auf den Weg, sondern auch den Sinn für das gesellschaftliche Ganze. Nicht gegenüber einer angenommenen jüdischen Nation sei man verpflichtet; denn in Dänemark kenne man nur eine Nation, und zwar die Dänische.30 Die Sozialisation des noch in Norddeutschland geborenen Vaters fand also auch über eine nationale Neuverortung statt. Dass ebenso Nathaniel eher von einem dänischen denn von einem multinational-gesamtstaatlichen Nationsverständnis geprägt war, sollte gegen Lebensende sehr deutlich werden. Während des Bürgerkriegs in Schleswig-Holstein 1848–1850 fühlte und äußerte er sich dezidiert dänisch. Zu den abtrünnigen Kielern pflegte er keinen Kontakt.

Die jüdische Gemeinschaft legte großen Wert auf eine möglichst gute Ausbildung ihrer Söhne. Aus einer anonymen Streitschrift der 1790er Jahre wird ersichtlich, aus welchen Inhalten die herkömmliche Ausbildung bestand: Neben dem Studium des Hebräischen und des Deutschen wurde aus dem Talmud und verschiedenen geistlichen Kommentaren gelesen. Hingegen lernten die jüdischen Jungen traditionellerweise, zumindest der Theorie nach, weder Schreiben noch Rechnen sowie keine anderen praktischen Fertigkeiten, die während einer späteren weltlichen Ausbildung von Nutzen für sie sein würden.31 Im Wallich-Haushalt hatte man sich demgegenüber ganz aufklärerisch-weltlichen Erziehungsidealen verschrieben. Dem Vater gelang es, schon früh die künstlerische oder die naturwissenschaftliche Begabung der Kinder zu erkennen und sie entsprechend ihrer Anlagen zu fördern. Zweifellos fand ein Gutteil der Ausbildung demnach nicht im Umfeld der jüdischen Gebetshäuser, sondern im elterlichen Haus unter den Augen des Vaters statt. Dabei vollzog sich trotz des Bekenntnisses zum Dänischen ein Teil der Erziehung in deutscher Sprache, wie es im damaligen Kopenhagen nicht ungewöhnlich war. Zeit seines Lebens beherrschte Wallich das Deutsche gut, und er zeigte sich stets als Connaisseur deutscher Literatur.32

In der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 1794 brach über die dänische Hauptstadt die erste einer Reihe von Katastrophen herein, die vermutlich auch den wohlbehüteten Nathaniel und seine Geschwister jäh aus ihren Kindheitsträumen riss: Das königliche Schloss Christiansborg brannte. Von niemandem bemerkt, war das Feuer wohl schon nachmittags in den Gemächern des regierenden Kronprinzen Friedrich ausgebrochen. Über die große Zahl an verborgenen Hohlräumen und Ofenrohren breitete sich der Brand rasch aus und entwickelte sich schließlich zu einem alles verheerenden Inferno. Rasmus Nyerup wusste über die sich unter den Kopenhagenern zeigende Hilfsbereitschaft gegenüber dem Königshaus zu berichten: »Auch bey dieser traurigen Veranlassung zeigten die Einwohner Kopenhagens ihren Muth und ihre treue Ergebenheit für das Königl. Haus. Mit ausserordentlicher Anstrengung und seltener Uneigennützigkeit, ja selbst mit Lebensgefahr wurden viele Kostbarkeiten gerettet. Gegen zwanzig Menschen fielen, ohne Rettung, in die Flammen, als Opfer ihres thätigen Diensteifers.«33 Die Residenz blieb unbewohnbar, und die königliche Familie fand in einem Adelspalais am Amalienborg-Platz eine neue Bleibe.

Noch schlimmer sollte es knapp anderthalb Jahre später kommen. So entstand am 5. Juli 1795 auf dem Gammelholm erneut ein Feuer, das sich dieses Mal innerhalb kurzer Zeit auf mehrere Gebiete der Altstadt ausdehnte. Schließlich stand etwa ein Viertel der damaligen Hauptstadt in Flammen. Etwa 5000 Menschen wurden vorübergehend obdachlos – darunter auch eine erhebliche Zahl an wohlhabenden Bürgern. Insgesamt fielen dem Feuer 934 Häuser zum Opfer. Auch das Haus eines Onkels von Nathaniel brannte lichterloh.34

Schon wenige Jahre später konnte Nyerup berichten: »Die von seinen Ruinen auferstandene Hauptstadt tritt, wie der Vogel Phönix aus seiner Asche, in einer verjüngten und verherrlichten Gestalt hervor.«35 Spätestens 1800 war auch vor den Toren der Stadt für alle sichtbar, dass eine neue Zeit angebrochen war. Seit jenem Jahr erinnert die Freiheitssäule an die Aufhebung des Schollenbandes als eine der wirklich großen Errungenschaften dänischer Reformpolitik.

Das Studium an der Chirurgischen Akademie

Das Jahr 1800 spielte auch für den jungen Nathaniel eine ganz besondere Rolle, denn im Alter von gerade einmal 14 Jahren wurde er an der Chirurgischen Akademie in der Norgesgade immatrikuliert.36 Zweifellos waren es die Eltern, die entschieden, den jüngeren Sohn nicht den Kaufmannsberuf erlernen, sonden ihn in die Fußstapfen der südwestdeutschen Vorfahren treten zu lassen. Nicht unwahrscheinlich ist es auch, dass Wallich schon in jungen Jahren im aufgeklärten Elternhaus seine Liebe zur Naturforschung entdeckt hatte. Diese stellte im damaligen Kopenhagen eine junge Disziplin dar, die bis dahin kaum an der Universität gelehrt wurde. Vielmehr bildete sie einen Gegenstand von Amateurforschern wie des Oberhofmarschalls Adam W. Hauch, der über eine international bekannte Sammlung an physikalischen Apparaten verfügte. Oder jene wurde von Medizinern betrieben, etwa im Herausgeberzirkel der Zeitschrift »Physikalsk-oeconomisk og medicochirurgisk Bibliothek for Danmark og Norge«.37 Erst später sollte mit Hans Christian Ørsted ein großer Stern der Naturforschung über Kopenhagen aufsteigen.

Ein Brotberuf musste erlernt werden, der Nathaniels Interessen nach Möglichkeit entsprach. Die Wahl fiel aber nicht auf ein Medizinstudium an der Universität, sondern auf die Ausbildung zum Wundarzt an der Chirurgischen Akademie, die ihrerseits ein Kind der Aufklärung und des Reformabsolutismus darstellte. Mit der Gründung jener Institution zeitgleich mit dem Wiener Josephinum war ein ganz neuer Weg bei der Professionalisierung des Arztberufes beschritten worden. Traditionell hatte die Ausbildung der Ärzte in den Händen der medizinischen Fakultäten der Universitäten gelegen. Hier war jene aber eher theorielastig und konzentrierte sich hauptsächlich auf die inneren Krankheiten. Für die äußeren Leiden und Verletzungen war noch lange Zeit der Barbier zuständig. Medizinisches Wissen wurde in aller Regel in lateinischer Sprache publiziert, die die Barbiere meist nicht verstanden. Daneben konnte der Kranke die schlecht oder überhaupt nicht ausgebildeten Quacksalber aufsuchen.38

Bereits in der ältesten erhaltenen dänischen Medizinalordnung von 1619 wurde deutlich zwischen einem universitär ausgebildeten Mediziner und den Bartscherern, Apothekern, Bruchschneidern und Quacksalbern unterschieden. Allein ersterem war es gestattet, innerlich wirkende Medikamente zu verabreichen. Die Vorschläge, Bartscherer in bestimmten Kursen gemeinsam mit Ärzten auszubilden, verhallten ungehört. Es war ein langer Weg, ehe am 22. Juni 1785 in Kopenhagen die königliche Chirurgische Akademie gegründet wurde. Zwei weitere Jahre vergingen, bis die Akademie in das repräsentative, vom königlichen Bauinspektor Peter Meyn errichtete Gebäude in der Norgesgade direkt neben dem Friedrichs-Hospital einziehen konnte. Die Gründung bedeutete einen beträchtlichen Professionalisierungsschub; zudem war eine feste Anstellung als gut besoldeter öffentlicher Wundarzt in der Monarchie fortan fast nur noch über ein Studium dort zu haben. Dieses war sehr praktisch angelegt; gleichwohl hatten die Studenten in einzelnen Fächern auch akademische Lehrveranstaltungen an der Universität sowie am Botanischen Garten zu absolvieren (Tafel XI unten).39

Als Nathaniel mit seinem Studium begann, zeichnete sich bereits die große außenpolitische Krise am Horizont ab, die auch den Betrieb an der Chirurgischen Akademie in Mitleidenschaft ziehen sollte. Noch im Mai 1800 zählte die Matrikel insgesamt 64 Studenten; ein halbes Jahr später war nicht einmal mehr die Hälfte eingeschrieben. Stammten im Frühjahr 20 Kandidaten aus dem Heiligen Römischen Reich jenseits des Herzogtums Holstein, so waren es nunmehr nur noch fünf. Es ist zu vermuten, dass der Rückgang der Studierendenzahl insbesondere aus Deutschland mit der immer bedrohlicher werdenden politisch-militärischen Lage in Europa zu tun hatte. So hatte Napoleon im Sommer 1800 in der Schlacht von Marengo über die Österreicher gesiegt und damit die Briten ihres einzigen noch auf dem Kontinent verbliebenen ernstzunehmenden Verbündeten beraubt. Aber auch Dänemark geriet nach Bernstorffs Tod mit seiner stetig aggressiver werdenden Außen- und Finanzpolitik unter Ernst Schimmelmann zunehmend in gefährliches Fahrwasser.40

Im Oktober 1800 waren nur noch 29 Kandidaten an der Chirurgischen Akademie immatrikuliert, darunter Nathaniel als der bei weitem Jüngste. Die Studenten kamen aus allen Teilen der dänischen Monarchie. Elf stammten aus Dänemark selbst – darunter sechs aus Kopenhagen. Den nächstgrößeren Anteil machten die Studenten aus Schleswig aus. Aus dem Herzogtum Holstein stammten mit zwei Personen ebenso viele Kandidaten wie aus Norwegen. Jeweils ein Eleve war von dänischen Eltern auf der Karibikinsel St. Thomas und in Indien geboren. Damit bildete die Studentenschaft ein buntes Kaleidoskop des dänischen Gesamtstaats. Wenige andere Kandidaten stammten aus Mecklenburg, Pommern, Danzig und Thüringen.41

An der Chirurgischen Akademie kam Wallich in Kontakt mit der schmalen medizinischen und botanischen Forscherelite Dänemarks. Zunächst hörte er bei den Professoren Abildgaard und Viborg Vorlesungen in Chemie, Mineralogie und Botanik. 1801 begann er mit dem Studium der eigentlichen Chirurgie, wozu der Besuch von Lehrveranstaltungen in den Fächern Chirurgie, forensische Medizin, Geburtskunde, Anatomie, Physiologie, Chemie, Toxikologie, Materia Medica und Diätetik zählten. Bald schon durfte er seine ersten Sporen in der medizinischen Praxis verdienen: So verzeichnet ihn die Matrikel der Chirurgischen Akademie im Jahre 1803 als »Volonteur« beim benachbarten Frederiks-Hospital.42

Wallich entwickelte früh eine Neigung zum Fach Botanik, das nicht an der Akademie selbst, sondern am Botanischen Garten der Universität gelehrt wurde. Ein solches Interesse war zu jener Zeit unter Medizinern nicht ungewöhnlich, denn die genaue Kenntnis der Heilpflanzen stellte eine zwingende Notwendigkeit für die Ausübung des Berufs dar. Die Botanik stand seit dem 18. Jahrhundert in Europa in großer Blüte und hatte das Interesse zahlloser Ärzte und Amateurgelehrter auf sich gezogen. Aus aller Welt trafen exotische Pflanzen in den botanischen Gärten der Kolonialmächte ein. Forscher wie Tournefort, Jussieu oder von Haller bemühten sich darum, die in immer größeren Zügen bekannte europäische und außereuropäische Pflanzenwelt zu beschreiben und in einem einheitlichen System zu klassifizieren. Eine wichtige Wegmarke stellte die von Carl von Linné geschaffene binäre Nomenklatur dar. In seinem Werk »Systema Naturae« von 1735 entwickelte Linné zudem anhand des von ihm beschriebenen Sexualsystems ein Klassifikationsschema, wonach er die Pflanzen in Phanerogamen (Blütenpflanzen) und Kryptogamen (sich ohne Blüte vermehrende Pflanzen) einteilte. Die weitere Einteilung der Phanerogamen ergab sich für ihn allein aus der Zahl, Länge und Gestalt der Staubblätter und Stempel der Blüte. Nicht in Betracht kamen andere, offensichtlichere Merkmale, wie die Gestalt der Blüten, Blätter oder Früchte. Entsprechend gilt Linnés Ordnung heute als »künstliches System«, dem seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit der Entwicklung eines »natürlichen Systems« eine starke Konkurrenz erwuchs.43

Dänemark selbst fand erst spät Anschluss an die sich globalisierende Pflanzenkunde, und die dortige Botanik konzentrierte sich in erster Linie auf die Untersuchung der heimischen Flora. Medizinprofessoren an der Universität Kopenhagen lehrten das Fach en passant, wie etwa der kränkelnde Christen Friis Rottbøll. Den ersten Impuls zu einem allmählichen Aufschwung lieferte das 1761 von König Frederik V. initiierte Forschungsund Publikationsprojekt einer »Flora Danica«.44 Allmählich wuchs in diesem Umfeld eine junge Generation international vernetzter Linné-Schüler heran. Die drei bedeutenden Pflanzenforscher Martin Vahl, Jens Wilken Hornemann und Frederik Ludvig Holbøll befreiten schließlich den Gesamtstaat aus dem botanischen Dornröschenschlaf und bildeten ihrerseits einen ausgewählten Kreis junger, begabter Linné-Enkel aus.

Der weit über die Grenzen Dänemarks hinaus angesehene Norweger Martin Vahl war der Doyen der modernen Pflanzenforschung im Gesamtstaat. Nach dem Studium in Kopenhagen hatte er eine Zeit lang in seiner norwegischen Heimat botanisiert. Anschließend studierte er fünf weitere Jahre bei Carl von Linné, nahm an dessen Privatlektionen teil und kam als überzeugter Linné-Schüler nach Kopenhagen zurück. Ohne feste Anstellung war er zunächst als Lektor am dortigen botanischen Garten beschäftigt und hielt anfangs unbesoldet Lehrveranstaltungen sowie botanische Exkursionen ab. Später übernahm Vahl die Herausgabe der »Flora Danica«. Nach langem Warten und mehreren Auslandsaufenthalten erhielt er schließlich 1801 die erst seit einigen Jahren existierende Professur für Botanik an der Kopenhagener Universität.45

Vahl arbeitete international, und unter seiner Ägide erfuhr die dänische botanische Forschung erstmals über den Gesamtstaat hinaus Anerkennung. Er selbst lernte nicht nur durch seine eigenen Reisen die europäische und nordafrikanische Pflanzenwelt kennen, sondern stand über den Missionar und Amateur-Botaniker Christoph Samuel John auch mit Indien in Kontakt. Die Vermutung liegt nahe, dass Wallich bei Vahl nicht nur die Linnésche binäre Nomenklatur, sondern auch die Vorzüge internationaler fachlicher Vernetzung kennenlernte.46 Der Austausch zwischen beiden dürfte bis zu Vahls Tod 1804 intensiv gewesen sein; auch ging das eine oder andere Buch aus dessen großer Bibliothek in Wallichs Besitz über (Abb. 1).47

Jahrzehntelang war Wallich seit seinem Studium mit Vahls Nachfolger Jens Wilken Hornemann durch eine enge Brieffreundschaft verbunden. Der aus dem dänischen Marstal stammende Hornemann hatte sich Ende der 1780er Jahre als Student dem kleinen Zirkel enger Vahl-Hörer angeschlossen. Nach einem Medizinstudium unternahm jener gemeinsam mit dem Naturforscher Henrik Steffens eine Reise durch Deutschland und fuhr von dort aus allein nach Paris weiter, um anschließend die Pyrenäen zu besuchen. Auf die Anstellung als Lektor am Botanischen Garten in Kopenhagen folgten mit Vahls Tod die Herausgeberschaft der »Flora Danica« und schließlich die Ernennung zum Professor für Botanik an der Universität. Auch Hornemann bewegte sich selbsterklärtermaßen eng in Linnés wissenschaftlicher Fußspur.48

1Martin Vahl: Enumeratio Plantarum, Kopenhagen 1804. Widmung an Nathaniel Wallich. Nach Vahls Tode vermerkte Wallich die Lebensdaten des Autors.

Besonders gern gedachte Wallich später auch seiner beiden Lehrer Friderich Christian Winsløw und Heinrich Christian Friedrich Schumacher, die er einmal als seine geehrten Patrone und Freunde (»both of them my rever’d patrons & friends«) bezeichnen würde. Winsløw zählte zum Urgestein der Chirurgischen Akademie, hatte dessen Gründung als erfahrener Mediziner und Oberchirurg am Frederiks-Hospital sogar mit initiiert. Auch der über eine große anatomische und botanische Kollektion verfügende Holsteiner Schumacher war erst als Adjunkt, später als Professor von Beginn an dabei.49

2Frederik Ludvig Holbøll, Lithografie.

Wallichs Drang zur Praxis und eine immer größere Liebe zur Botanik äußerten sich auch darin, dass er regelmäßig neben seinem Studium dem königlichen Hofgärtner von Schloss Frederiksborg und gleichzeitigen Chefgärtner des Botanischen Gartens, Frederik Ludvig Holbøll (Abb. 2), assistierte.50 In seinen beiden Funktionen machte sich der gut vernetzte Holbøll in erster Linie um die Systematisierung der Saatgutbank im Botanischen Garten sowie um einen regelmäßigen Austausch mit anderen botanischen Forschungseinrichtungen weltweit verdient.51 Wie seinerzeit bereits Martin Vahl, half auch Wallich unentgeltlich bei der Arbeit im Botanischen Garten mit. Er machte sich dort mit dem praktischen Gartenbau vertraut und nahm eine Zeit lang an Holbølls Seminaren zur Gartenbaukunst teil, bei denen er nach Aussage des Lehrers niemals fehlte und sich durch einen besonderen Eifer auszeichnete.52

Die durch Vahl, Hornemann und Holbøll eng mit der Linnéschen Tradition verbundene Kopenhagener Schule brachte insgesamt eine Reihe an Schülern hervor. Einige Lebenswege würden sich später zu unterschiedlicher Gelegenheit mit denjenigen Nathaniel Wallichs kreuzen. Der in Vejle geborene Niels Bang zählte in den 1790er Jahren zum engeren Kreis der Vahl-Hörer. Jener unternahm nach Studium und einer Fahrt in die Pyrenäen gemeinsam mit Hornemann eine längere Forschungsreise nach Norwegen und gelangte schließlich in Dänemark zu Grundbesitz.53

Etwas später als Bang pflegte der Norweger Christen Smith Kontakt zu Vahl und Hornemann. 1814 wurde er zum ersten Professor für Botanik und Staatsökonomie an der jungen Universität von Christiania ernannt. Smith nahm 1816 an einer von Joseph Banks organisierten Forschungsexpedition in den Kongo teil, bei der er den Tod fand.54 Aus Holbølls praktischer botanischer Schule ging wiederum der Holsteiner Johann Siebke hervor, der später von König Frederik VI. zum Chefgärtner des jungen Botanischen Gartens in Christiania berufen wurde.55

Zu Wallichs eigentlichen Kommilitonen zählte ein J. O. Møller. Jahrzehnte später sollte dessen Sohn Carl Severin Wallichs Tochter Ann in London heiraten.56 Auch der aus Husum stammende Cornelius Gottlieb Roll lernte gemeinsam mit Wallich. Der 1782 geborene Roll hatte zunächst in Kiel studiert und dort auch promoviert, ehe es ihn an die Chirurgische Akademie zog.57 Später diente er als Physikus in der nordschleswigschen Stadt Hadersleben. Vielleicht tauschte sich Nathaniel auch mit seinem im nordindischen Patna geborenen Mitstreiter Jørgen Henrik Berner aus. Dieser war der Sohn von Jørgen Berner, der 1773 in Patna für die dänische Asienkompanie eine Handelsniederlassung gegründet hatte und bis zu seinem Tode in der Stadt Handel trieb. Vermutlich reiste Berner nach dem Tod des Vaters gemeinsam mit seiner Mutter zurück nach Dänemark.58

Von größerer Bedeutung war Nathaniels Cousin Ludvig Levin Jacobson. Wallichs Mutter Hannah und Ludwigs Vater Aaron Jacobson waren Geschwister. Dessen Familie hatte durch den Stadtbrand 1795 ihr Heim verloren und eine Zeit lang in Stockholm gelebt. Dort besuchte jener die Schule und begann ein Medizinstudium, das er 1800 in Kopenhagen an Universität und Chirurgischer Akademie fortsetzte. 1806 sollte er eine Anstellung an der Akademie finden und würde in der Zeit der Napoleonischen Kriege in Dänemark und Deutschland reiche Erfahrungen im Felde der Chirurgie sammeln. Später machte sich Ludvig Levin als Anatom und Zoologe einen Namen und wurde 1815 zum Professor der Medizin in Kopenhagen ernannt. Auf ihn geht die Bezeichnung des Jacobson-Organs im Ohr zurück.59 Der Kontakt mit Lehrern und Kommilitonen bot Nathaniel die Möglichkeit, sich gut zu vernetzen. Bereits im Alter von kaum 20 Jahren legte er den Grundstein für sein späteres globales Kommunikationsnetzwerk, das eines Tages von Nordamerika bis nach Australien reichen sollte und dessen Keimzelle in Kopenhagen lag.

Während Nathaniel seine Studien verfolgte, drohten außerhalb seines kleinen akademischen Kosmos’ gewaltige Veränderungen. Anfang April 1801 wurde die Schlacht auf der Kopenhagener Reede ausgefochten – ein Warnschuss seitens der Briten gegen die dänische Regierung, sich außenpolitisch nicht zu eng an den Gegner Russland anzulehnen. Nur wenig später, in den Wintermonaten 1802/03 und 1803/04, vollzog sich auch im Kopenhagener intellektuellen Leben geradezu eine Revolution. Der soeben aus Jena zurückgekehrte und stark von Schellings Naturphilosophie geprägte Henrik Steffens hielt am Ehlers-Kollegium seine berühmten Vorlesungen, mit denen er den Nährboden für die Ausbreitung der Romantik und romantischer Naturphilosophie in Dänemark bereitete. Im Mittelpunkt von Steffens’ romantischen Ideen stand die Annahme der Einheit von Natur und Geist.60 Vielleicht war Wallich zu jung, vielleicht wog auch das väterliche Erbe der Haskala schwerer; er nahm von dem kulturellen Umbruch keine Notiz. Zeit seines Lebens blieb er ein Praktiker und Pragmatiker; die romantische Naturphilosophie blieb ihm stets fremd.

Am 21. April 1806 wurde es ernst. Drei Tage lang sollten die Abschlussexamina dauern, mit denen er sich zum Chirurgus qualifizieren sollte. Drei Noten konnten vergeben werden: der erste Charakter als Bestnote sowie der zweite und dritte Charakter. Zunächst musste er sich im Auditorium der Akademie melden und sich vorstellen. Die erste Prüfung fand am selben Tag zur Mittagszeit im Fach chirurgische Therapie und Pathologie statt. Dafür verdiente er sich bei Schumacher den ersten Charakter. Direkt im Anschluss folgten Anatomie und Physiologie bei Winsløw, die er ebenfalls mit Bestnote abschloss. Eine Pause blieb ihm, ehe er zwischen fünf und sechs Uhr die Prüfung im Bereich »therapia et pathologia chirurgia morborum capitia et thoracis« bei dem von Wallich wenig geschätzten Johan Henrik Vilhelm Giesemann ebenfalls mit Bestnote ablegte.61 Am nächsten Tag ging es noch einmal bei Winsløw weiter mit einer Prüfung zur Hebammen- und Geburtskunde sowie zu Frauen- und Kinderkrankheiten. Dann folgte wieder bei Schumacher die Examination über die Heilpflanzen. Schumacher prüfte ein drittes Mal am 23. April. Dann hatte Wallich eine Klausur zu bestehen, in der er sich mit einem praktischen medizinischen Problem auseinandersetzte.62 Neben Nathaniel nahmen vier weitere Kandidaten teil. Während diese jeweils den zweiten Charakter erhielten, wurde allein Wallich für seine Gesamtleistung mit der Bestnote bedacht.63 Als 20-Jähriger hatte er sein Studium abgeschlossen. Er war fertig ausgebildeter Wundarzt mit einem Faible für Botanik, und es galt, eine angemessene Anstellung zu finden.

Als Chirurgus nach Dänisch-Ostindien

Ein Arzt für Serampore

Krankheit und Tod stellten seit dem Beginn des Kolonialzeitalters einen steten Begleiter der europäischen Kaufleute, Verwaltungsbeamten und Missionare in Ostindien dar. Es waren keinesfalls immer die tückischen Tropenkrankheiten, die den größten Zoll unter den Europäern forderten, sondern auch die in Europa gängigen Leiden – von der einfachen Erkältung über Durchfall, Herzschlag bis zum Schlaganfall. Nicht wenige Frauen verstarben im Kindbett, und Alkoholismus wie Depressionen führten immer wieder zum Selbstmord. Erst allmählich verbesserten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die medizinischen Kenntnisse, und die Lebenserwartung stieg an.64

Das galt auch für die kleinen dänischen Handelsplätze in Ostindien: für das an der südindischen Koromandelküste gelegene Tranquebar und für die Stadt Serampore in Bengalen. Beide Kolonien wurden seit 1779 vom Kommerzkollegium in Kopenhagen verwaltet, das vor Ort von einem Geheimen Rat mit einem Gouverneur an der Spitze repräsentiert war. Den Handel mit Europa führten die dänische Asiatisk Kompagni und in immer größerem Umfange auch Privatkaufleute durch. Um den sich in Dänisch-Ostindien aufhaltenden Europäern ein Mindestmaß an medizinischer Fürsorge zuteil werden zu lassen, wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jeweils für Tranquebar und Serampore das Amt des königlichen Chirurgus geschaffen. Daneben unterhielt die Asienkompanie einen eigenen Arzt; meist waren beide Positionen jedoch in ein und derselben Person vereint.

Seit 1797 amtierte der in Halberstadt geborene Johann Friedrich Lebrecht Quentius als königlicher Chirurgus und später auch als Kompaniearzt in Serampore, ehe er am 13. November 1805 im Amte verstarb.65 Wenige Wochen später bemühte sich der dortige Geheime Rat um einen Ersatz aus Kopenhagen und verfasste das Ansuchen an das Kommerzkollegium, einen gut ausgebildeten, examinierten wie auch erfahrenen Mediziner nach Bengalen zu entsenden.66 Neben dem hohen gesellschaftlichen Ansehen wurde mit einem guten Einkommen geworben, womit es sich, wie es hieß, in Ostindien gut leben lasse.67

Es konnte mehr als ein halbes Jahr dauern, ehe ein Brief aus Indien auf dem Seeweg die dänische Hauptstadt erreichte. Rasch wurde dann aber der Bitte nachgegeben, und das Kommerzkollegium beauftragte die Chirurgische Akademie mit der Suche nach einem geeigneten Kandidaten aus dem Kreis der Absolventen.68 Für einen Interessenten gehörten schon eine gehörige Portion Idealismus und ein tiefes Interesse am Leben in einem gänzlich ungewohnten Umfeld, aber auch Ehrgeiz dazu, um sich auf eine solche Stelle zu bewerben. Andererseits bedeutete jene eine sichere Anstellung im dänischen Staatsdienst, dürfte für einen jungen Nachwuchsmediziner also durchaus attraktiv gewesen sein.

Was konnte ein junger Mensch im Jahre 1806 von Indien und den dort gelegenen dänischen Handelsplätzen wissen, das einen Reiz auf ihn ausgeübt hätte? Unübersehbar waren die architektonischen Zeugnisse einer langen wie fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Regionen am Indischen Ozean. Seit 1640 lag direkt neben dem ehrwürdigen Christiansborg-Schloss das filigrane, langgezogene Gebäude der Kopenhagener Börse mit seinem aus vier Drachen gebildeten, spitz zulaufenden Turm. Jene war Inbegriff der einstigen Bemühungen König Christians IV., von Dänemark aus eine globale Handelsexpansion zu initiieren. Jenseits des Innenhafens reckten sich die beiden barocken Zwillingsgiebel des Verwaltungsgebäudes und des Packhauses der Asienkompanie in die Höhe. Von der Innenstadt aus weithin sichtbar fand sich davor das Hafenbecken, in dem die mächtigen dänischen Ostindienfahrer ihre kostbare Fracht entluden. Jährlich segelten bis zu fünf Kompaniefahrzeuge und noch mehr private Schiffe in Richtung Asien. In den Haushalten der wohlhabenden Kopenhagener fand sich chinesisches Porzellan, es wurde Tee getrunken, und Baumwolltücher aus Indien kamen immer mehr in Mode.

Leider sind aus dieser Zeit keine Selbstzeugnisse von Nathaniel Wallich überliefert, sodass sich über die konkreten Beweggründe für seine Bewerbung nur spekulieren lässt. Ob allerdings die Botanik von Anfang an das Hauptmotiv war, oder ob es sich eher um eine Rückprojektion der 1840 Jahre handelte (»My sole motive being Botany!«), mag dahingestellt bleiben.69 Vielleicht wog letztlich die Tatsache schwer, dass er beinahe ein halbes Jahr nach Abschluss des Examens immer noch ohne feste Anstellung war.

Nathaniel bewarb sich am 15. September 1806 bei der Chirurgischen Akademie um die freie Stelle des Chirurgus von Serampore. Innerhalb einer Woche muss die interne Vorentscheidung gefallen sein, ihn dem Kommerzkollegium als geeigneten Kandidaten zu präsentieren. Die schnelle Wahl deutet darauf hin, dass er bereits vor seiner Bewerbung für die Stelle im Gespräch gewesen, vielleicht sogar von den Professoren selbst angesprochen worden war.70 Bereitwillig stellten Schumacher, Viborg, Hornemann und Holbøll entsprechende Empfehlungsschreiben aus.71 Wie sich bald zeigen sollte, geschah die Protektion des Eleven nicht ganz uneigennützig, denn jene erhofften sich nicht nur die Vermittlung naturkundlichen Wissens, sondern auch die Übersendung von botanischen und zoologischen Präparaten aus Ostindien. Ein erstes Mal wurde Nathaniel Wallich die später meisterhaft ausgefüllte Rolle eines Wissensvermittlers zwischen Asien und Europa im Reich der Flora zugewiesen.

Allerdings waren die nächsten Schritte auf dem Weg nach Serampore alles andere als eine Formsache; denn der infrage kommende Kandidat war jüdischen Glaubens, und Juden durften zu dieser Zeit nicht in den dänischen Staatsdienst treten. Vor einer Ernennung durch das Kommerzkollegium musste mithin ein königlicher Dispens eingeholt werden, was sich als nicht einfach erwies (Abb. 3). So trachtete nämlich Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldeck als Mitglied des Kommerzkollegiums danach, stattdessen einen eigenen Kandidaten namens Rudolph durchzubringen.72 Dieses Ansinnen ließ sich trefflich mit dessen antijüdischen Ressentiments untermauern, denn er war der Ansicht, »dass die Juden von den administrativen sowohl als den Richter-Aemtern in Staate billig auszuschließen sind ….«73 Andererseits handelte es sich bei Rudolph offenbar um einen nur wenig geeigneten Kandidaten, in Wallichs Augen angeblich um einen einfachen Barbier, der bei den Examina der Chirurgischen Akademie völlig versagt habe.74

3Wallichs Antrag auf Aufnahme in den dänischen Staatsdienst, 23. September 1806, Konzept.

Die Entscheidung des Kommerzkollegiums muss denkbar knapp ausgefallen sein. Noch Jahrzehnte später resümierte der mittlerweile weltbekannte Botaniker: »… this Mr von Schmidt-Phiseldeck was very near frustrating my application for the Serampore Surgeonship.« Im Zeichen des deutsch-dänischen Gegensatzes der 1840er Jahre kam er zu dem Schluss: »… such was the disgraceful influence which all that was German had in these Days in Denmark.«75 Wie auch immer, die Noten sprachen für sich selbst; vielleicht hatten auch der Vater und Großvater ihre Kontakte ins politische Establishment genutzt, und am 11. Oktober hielt Nathaniel die königliche Genehmigung in den Händen, trotz seines jüdischen Glaubens in den dänischen Staatsdienst treten zu dürfen. Drei Wochen später erfolgte die Ernennung durch das Kommerzkollegium, bei der Schmidt-Phiseldeck als schlechter Verlierer seine Unterschrift verweigerte.76 Knapp vier Monate sollte es noch bis zur Abreise dauern.

Gleich nach der Ernennung zum königlichen Chirurgus setzte ein wahrhafter Verhandlungsmarathon ein, mit dem der junge Wundarzt sein später immer wieder deutlich werdendes Verhandlungsgeschick erstmals zur Schau stellte. Er dokumentierte, dass er bereits in jungen Jahren in der Lage war, seine wirtschaftlichen wie intellektuellen Interessen mit Nachdruck zu vertreten. Dazu informierte sich Nathaniel über das künftige Wirkungsfeld und scheint auch über seine Einkommensperspektiven bald recht genau im Bilde gewesen zu sein. Schon am 4. November beantragte er beim Direktorium der Asienkompanie, ihm auch das Amt des Kompaniearztes von Serampore zu übertragen, wie es auch der verstorbene Quentius innegehabt hatte.77 Jene ließ sich Zeit, und erst kurz vor seiner Abreise fertigte sie eine entsprechende Order an ihre Niederlassung in Serampore aus.78

Daneben bemühte er sich um eine angemessene Ausstattung für seine künftige Tätigkeit. Zunächst beantragte er Geld zur Anschaffung von Fachliteratur für die geplanten botanischen Studien. Hinsichtlich der Bücher empfahl ihm Holbøll sich an den Fonden ad Usus Publicos zu wenden, einer öffentlichen Stiftung, die Künstler und Wissenschaftler wirtschaftlich unterstützte.79 Deren Direktoren Ernst Schimmelmann und Friedrich Reventlow erkannten die Chance, die sich für einen Ausbau der sonst dünnen Forschungskontakte zwischen Bengalen und Kopenhagen ergäbe. Sie waren entsprechend der Ansicht, dass es von großer Bedeutung insbesondere für den Botanischen Garten von Kopenhagen sei, in Bengalen mit einem Mann in Kontakt zu stehen, der mit Eifer die Botanik betreibe und der künftig verpflichtet sei, die Sammlungen mit lebenden Pflanzen, Samen und Herbarmaterial zu vermehren – eine Vorstellung, die ihnen zweifellos Holbøll in die Feder diktiert haben dürfte.80 Wallich wurde eine Unterstützung von 200 Reichstalern für den Erwerb von Büchern bewilligt.81 Dieser sollte seine Förderer später mit zahllosen Pflanzenlieferungen nicht enttäuschen, auch die von ihm seinerzeit erworbenen Bücher haben teilweise bis heute in Indien überlebt.

Im Gegensatz zur Freigebigkeit des Fonds zeigte sich das Kommerzkollegium deutlich zurückhaltender. Wallich muss bekannt gewesen sein, dass einer seiner Amtsvorgänger seinerzeit ohne größere Probleme Mittel für die Anschaffung von Medikamenten und medizinischem Gerät erhalten hatte. Entsprechend stellte auch er einen Antrag auf Finanzierung solcher Anschaffungen, stieß damit aber beim Kommerzkollegium auf taube Ohren. Anstatt auf erneute Anfrage die Kosten zu übernehmen, wälzte es diese auf den Geheimen Rat in Serampore sowie die Verantwortung für die Rückerstattung letztlich auf Wallich selbst ab. So sollte dieser nach eigenem Ermessen, aber zunächst auch aus eigener Tasche das in seinen Augen Notwendige erwerben und später dem Rat in Serampore in Rechnung stellen. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als für insgesamt 158 Reichstaler zunächst auf eigene Kosten eine Palette an ärztlichem Gerät zu erwerben.82

Schließlich bemühte er sich um ein persönliches Darlehen. Auch wenn Kost und Logis auf der mindestens halbjährigen Überfahrt frei waren, so würden doch Ausstattung für die Reise und die spätere Einrichtung vor Ort teuer sein. Tatsächlich wurde ihm ein Darlehen über beachtliche 500 Reichstaler aus der königlichen Kasse gewährt, für das der Vater die Bürgschaft übernahm.83 Es war letztlich auch der Vater, der sich nur neun Tage vor Abreise um einen Reisekostenvorschuss für seinen Sohn bemühte, um letzte Anschaffungen zu tätigen.84

Auf der »Prinz von Augustenburg«

Bald nach Jahresbeginn erfuhr der angehende Chirurgus, mit welchem Schiff es auf die große Reise gehen sollte. Noch lag die »Prinz von Augustenburg« fest vertäut im Hafen von Kopenhagen und wurde gerade neu aufgetakelt. Gegen Ende Januar 1807 stattete Wallich dem Schiff einen ersten Besuch ab, um sich die Kabine anzusehen, in der er aller Voraussicht nach die lange Überfahrt verbringen würde. Vom diensthabenden Offizier wurden ihm eine Unterkunft gezeigt und versichert, diese sei eine der besten an Bord und ausschließlich für ihn selbst bestimmt. Als besonders angenehm dürfte aufgefallen sein, dass die Kabine über eine kleine Fensteröffnung verfügte, durch die das Tageslicht fiel. Im Laufe der darauffolgenden Wochen ließ er jene standesgemäß einrichten.85

Im März sammelte sich allmählich die siebzigköpfige Besatzung an Bord. Neben Kapitän Christensen und dem für das Kaufmännische zuständigen Schiffsassistenten Leisner zählten der Obersteuermann Jørgensen, Steuermann Kølle, der zweite Steuermann Petersen, die Quartiermeister Sigbrantzen und Petersen ebenso dazu wie der für den Alkoholvorrat verantwortliche Boutellier Ferm, der Koch Holm, der Oberzimmermann Mouritsen, Korporal Lund und der Schlachter Wilfardt. Dafür, dass Wallich selbst in seiner Profession als Arzt nichts zu tun hatte, sorgten die beiden Schiffsärzte Simonsen und Knutzen. Die Fracht bestand neben einer großen Menge an Silbermünzen hauptsächlich aus Eisenwaren, so aus 117 450 Pfund flachen Stangeneisen, 90 516 Pfund Vierkant-Stangeneisen, 21 812 Pfund runden Eisenbolzen sowie 8540 Pfund Eisenband und 59 160 Pfund Stahl. Ebenso waren 94 Anker, Taue und Trossen, Segeltuch, Leinen und Holzbretter an Bord. An Nahrungsmitteln für den Verkauf in Indien führte das Schiff mehr als 20 000 Flaschen Rotwein, 1680 Behälter Genever, 554 Käselaibe (davon 210 Stück Edamer) sowie eine größere Menge an Salatöl mit.86

Die »Prinz von Augustenburg« war spät dran. Um jenseits des Kaps der Guten Hoffnung noch den Südwestmonsun zu erreichen, der einen sicher nach Indien trug, hätte es besser schon im Januar oder Februar losgehen müssen. Am 28. März betraten die Direktoren der Asiatisk Kompagni die Planken, um die Besatzung zu inspizieren und zu vereidigen. Dann stieg der Lotse an Bord, der das Schiff bis nach Helsingør geleiten sollte. Und schließlich, noch am selben Tag, kamen zwei Passagiere mit ihrem Gepäck hinzu: der Kaufmann John Brown und der Chirurgus Nathaniel Wallich (Abb. 4).87

4Reisepass für Nathaniel Wallich, 28. März 1807.

Das Kommerzkollegium hatte sich die Überfahrt einiges kosten lassen, denn zusätzlich zur freien Passage kam Wallich in den Genuss von 1200 Pfund Freifracht. Ebenso war es ihm gestattet, während der Reise am Kapitänstisch zu speisen.88 Dennoch blieb die Freude nicht lange ungetrübt. Stein des Anstoßes war die ihm zwei Monate zuvor versprochene Kajüte, die ihm behagte und für die er sich eine Einrichtung verschafft hatte. Als es sich der Chirurgus dort gemütlich machen wollte, wurde diese ebenso von Brown beansprucht. Der Kaufmann forderte ihn unverblümt auf, die Räumlichkeit mit seinen Habseligkeiten wieder zu verlassen – ein in Wallichs Augen gegenüber einem königlichen Amtsträger ungebührliches Verhalten. Ihm wurde mitgeteilt, ein hochgestellter Kompaniefunktionär persönlich habe Brown den Raum gegen ein entsprechendes Entgelt zugesichert, und er selbst müsse in eine kleinere Kajüte, die nicht einmal über eine Fensterluke verfügte, umziehen.89

Noch lag das Schiff im Hafen. Wallich griff zu Feder und Papier und verfasste einen geharnischten Beschwerdebrief über die hier offensichtlich vorliegende Bestechung an das Kommerzkollegium. Die sehr direkte, unverblümte Sprache weist nicht allein auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hin, sondern auch darauf, dass er tatsächlich aufgebracht war. Die ihm neu zugewiesene Kajüte sei nichts anderes als ein Gefängnis; und er sehe sich wirklich außerstande, diese monatelang zu ertragen. Vermutlich störte ihn vor allem, dass er ohne Fenster bei Tageslicht nicht würde lesen und schreiben können. Sein Protest war erfolgreich, denn nur einen Tag später trafen zwei Tischler an Bord ein, um bauliche Veränderungen in der Kajüte des Bootsmanns auszuführen. Dieser wurde ausquartiert und dessen Bleibe sodann auf höchsten Befehl besagtem John Brown übergeben. Wallich erhielt, was er wollte.90

Eigentlich sollte die große Reise dann unverzüglich beginnen. Doch das Wetter meinte es nicht gut, und das Schiffsprotokoll berichtet von steifem Ostwind und heftigem Schneegestöber. Nach überstandener Nacht wurde ein neuer Anlauf unternommen. Weit ging es nicht: Nachdem das Schiff auf die Reede verholt und die Segel gesetzt worden waren, gelangte es hinaus in die offene Fahrrinne vor der Stadt. Als aber um sieben Uhr abends der Anker fiel, befand man sich noch im Bereich der Kongensdyb, keine drei Kilometer von der Kopenhagener Reede entfernt.91 Ein letzter Gruß vom Land ging in Gestalt eines Briefs seines Kommilitonen und Cousins Ludvig Levin Jacobson ein. Mit dem Schreiben schickte der Verwandte ein medizinisches Instrument zur operativen Behandlung der Taubheit, dessen Gebrauch der Verfasser ausführlich beschrieb und das er von Wallich in Ostindien eingesetzt wissen wollte.92

Am 31. März warf das Schiff Anker vor der Insel Hven, und am darauffolgenden Tag war schließlich Helsingør erreicht. Früh am Morgen des 2. April legte es dort wieder ab, um gegen halb acht die ehrwürdige Festung Kronborg zu passieren und bei einem leichten Südostwind sicher am Kullen vorbeizusegeln. Nunmehr ohne Lotse, wurde in der darauffolgenden Nacht das Leuchtfeuer von Anholt gesichtet, und am Nachmittag war Laesø passiert.

Gleich nach dem Verlassen des Sundes begann Wallich, Briefe zu verfassen. Schon vom Kullen aus ging ein erstes Schreiben an Jacobson ab; zwei weitere folgten innerhalb einer Woche vor der Küste Norwegens. Darin berichtete er unter anderem, dass er zoologische Untersuchungen an Fischen durchführte und sich insbesondere für deren Innereien interessierte.93 Glücklicherweise litt er nicht unter der gefürchteten Seekrankheit, die so manch erfahrenen Seemann wochenlang außer Gefecht setzen konnte; denn das Meer wurde zusehends unruhiger, was sich letztlich aber nur als kleiner Vorgeschmack auf die stürmische Überquerung des Südatlantiks vier Monate später herausstellen sollte. Der 14. April verzeichnete ein erstes Opfer; eines der mitgebrachten Schweine verendete und wurde über Bord geworfen. Vier Tage später tauchten am südlichen Horizont die Shetland-Inseln auf.94

Trotz der rauen See ging der Alltag an Bord in geregelten Bahnen weiter. Ab und an wurde ein neues Oxhoft Bier geöffnet, die Seeleute fingen mittels Segeltuch und kupfernen Kannen Regenwasser ein. Immer seltener kam Land in Sicht, so am Morgen des 26. April die einsam vor der schottischen Küste liegende Insel St. Kilda. Allmählich erreichte die »Prinz von Augustenburg« um die britischen Inseln herum südlichere Gefilde, und das Wetter besserte sich. Am 12. Mai wurde voraus ein Schiff gesichtet. Mit einem Kanonenschuss machten die Dänen auf sich aufmerksam, um festzustellen, dass es Landsleute waren, die ihnen in nordöstlicher Richtung entgegenkamen. Seitdem ging es mit den sich allmählich bemerkbar machenden Passatwinden zügiger voran. Im Abstand von nur wenigen Tagen wurden Porto Santo und Madeira, Teneriffa, Gomera und Hierro passiert.95

Weiter ging es quer über den Atlantischen Ozean in Richtung Südsüdwest. Sorge bereiteten nicht nur die Einsamkeit auf dem scheinbar unendlichen Ozean und die zunehmend knapper werdenden Vorräte an Trinkwasser, sondern auch der Zustand der Nahrungsmittel. Groß war der Schrecken, als festgestellt wurde, dass die an Bord in Kisten gelagerten getrockneten Erbsen allmählich zu verfaulen drohten. Immer noch wurden sie den Matrosen zubereitet, ehe diese sie verweigerten. Auf die Beschwerden der Mannschaft hin wurde Schiffsrat gehalten, der beschloss, die verrottenden Hülsenfrüchte vom Speiseplan zu streichen und den Seeleuten stattdessen Grütze und das ohnehin gesündere Sauerkraut zu reichen.

Am 7. Juli lag die »Prinz von Augustenburg« vor dem Zuckerhut. Flaggen und Wimpel wurden gehisst und der portugiesischen Festung von Rio de Janeiro mit neun Kanonenschüssen salutiert. Für die folgenden elf Tage fiel der Anker. Dass dänische Ostindienfahrer auf dem Weg in den Indischen Ozean Rio de Janeiro anliefen, geschah nicht während jeder Fahrt, stellte aber auch nichts Ungewöhnliches dar. Denn je weiter sich ein Segelschiff auf dem mittleren Atlantik zunächst in westliche Richtung begab, umso zuverlässiger waren die Winde, die es von dort südwärts und schließlich wieder in Richtung Osten um das Kap der Guten Hoffnung trugen.96

Erstmals im Leben botanisierte Wallich außerhalb des Vaterlandes. Jahrzehnte später wusste er sich zu erinnern, dass ihn der Aufenthalt in Rio de Janeiro sehr erfreut habe. Noch einige Zeit danach pflegte er von Serampore aus Kontakt mit einem nicht näher benannten »Gentleman« in der Hauptstadt Portugiesisch-Brasiliens.97 Er brachte brasilianische Pflanzen mit nach Indien, von denen eine einzige, ein Malpighien-Gewächs, schließlich ihren Weg in den Botanischen Garten von Kalkutta fand.98

Schon bald stellte sich heraus, dass die Fahrt nach Rio de Janeiro im Vergleich zum weiteren Verlauf der Reise geradezu ein Kinderspiel gewesen war. Denn die zweite Etappe hinüber zum Kap der Guten Hoffnung erwies sich als gefahrvoll, stürmisch und unbequem. Kurze Zeit nach der Abfahrt geriet das Schiff in eine starke Gegenströmung, sodass wieder Anker geworfen werden musste. Endlich ging es aber doch weiter, und am 20. Juli wurde der südliche Wendekreis überquert. Es folgten Tage mit hohen Wellen, und schließlich wuchs sich der stets heftige Wind zu einem Sturm aus, der von starken Gewittern begleitet war. Die Lufttemperatur ging merklich zurück, und gegen die feuchte Kälte half schließlich nur die von Kapitän Christensen ausgegebene Extra-Portion Branntwein. Unmerklich passierte die »Prinz von Augustenburg« etwa 250 km südlich Kapstadts die imaginäre Scheidelinie zwischen Atlantischem und Indischem Ozean. Aber auch hier besserte sich das Wetter zunächst kaum. Wenige Tage lang flaute der Sturm ein wenig ab, aber schon bald war das Fahrzeug wieder ein Spielball der Wellen.99

Nathaniel Wallich und den übrigen Männern an Bord entging in jenen Tagen die Nachricht, dass sich zur selben Zeit viele tausend Kilometer weiter nordwärts daheim in Kopenhagen die Katastrophe anbahnte: Die Briten wollten Dänemark zwingen, der antinapoleonischen Koalition beizutreten, erreichten mit militärischem Druck aber nur das Gegenteil. Die dänische Hauptstadt wurde Anfang September von der britischen Flotte angegriffen. Kopenhagen erlebte den schwersten Bombenangriff seiner Geschichte, und Dänemark blieb nichts anderes übrig, als sich aufseiten Napoleons zu schlagen.100 Der Kriegsbeginn sollte im fernen Indien auch Wallichs weiteren Lebenslauf entscheidend mitbestimmen.

5Die dänische Festung Dansborg in Tranquebar heute.

Als Kopenhagen bereits in Trümmern lag, überquerte die »Prinz von Augustenburg« am 19. September ein weiteres Mal den südlichen Wendekreis – dieses Mal in nördliche Richtung direkt in den Golf von Bengalen hinein. Hin und wieder tauchten nun nach den langen Wochen der Einsamkeit wieder Schiffe auf. Und mit nicht wenig Erleichterung dürfte die Mannschaft am frühen Abend des 6. Oktober im Nordwesten die Küste Ceylons wahrgenommen haben – die erste Landsicht seit Verlassen Rio de Janeiros zweieinhalb Monate zuvor. Das Klima war mild, und der stete Südwest-Monsun trug die Dänen sicher in Richtung Indien.101

Drei Tage später waren frühmorgens in der Ferne die Mauern der Festung Dansborg (Abb. 5) mit dem hoch darüber wehenden Danebrog sichtbar, und um halb elf vormittags lag die »Prinz von Augustenburg« neben drei anderen dänischen Ostindienfahrern auf Reede vor der dänischen Kolonie Tranquebar im Süden Indiens. Ein eigentlicher Hafen existierte nicht, daher mussten alle Menschen und Güter auf kleinen Booten, den sogenannten Sellings, vom Schiff aus zunächst zum breiten Sandstrand befördert werden – ein in Anbetracht der meist heftigen Brandung nicht ungefährliches Unterfangen. Gegen Mittag legte ein erster Selling längsseits an, um den Kapitän, den Schiffsassistenten sowie einen Postsack an Land zu befördern; ebenso wurden sogleich drei leere Fässer an Land gesandt, um diese mit frischem Trinkwasser für die Mannschaft zu füllen. Bald danach ging auch Nathaniel von Bord, um das erste Mal den Boden des gelobten Landes zu betreten. Mit Unterbrechungen sollte er fortan beinahe vier Jahrzehnte lang auf dem Subkontinent leben und arbeiten.102

Die wenigen Tage, die die »Prinz von Augustenburg« in Tranquebar vor Anker lag, dürften ausgereicht haben, um ihm einen guten Eindruck von der kleinen Kolonie zu vermitteln. Direkt am Strand lag die vierflügelige Festung Dansborg aus den 1620er Jahren. Nördlich davon erstreckte sich der baumbestandene Paradeplatz, an dessen gegenüberliegender Front das klassizistische Gouverneursgebäude zu sehen war. Vom Platz landeinwärts zog sich die Kongensgade, an der sich auch heute noch zwei Kirchenbauten aus dänischer Zeit befinden: neben der lutherischen Zionskirche von 1701 auch die 1718 fertiggestellte Neu Jerusalemskirche der Hallischen Missionare. Ebenso reihten sich an der Kongensgade neben dem Missionshaus der Hallenser die stattlichen Privatresidenzen der dänischen Kaufleute und Kolonialbeamten. Abseits des europäischen Quartiers lebten Hindus und Muslime. Das von seinem rechtwinkligen Straßenmuster geprägte Tranquebar war von einer Stadtmauer mit Graben umgeben, von der heute neben pflanzenüberwachsenen Mauerresten vor allem das repräsentative Stadttor von 1792 zeugt.103

Während Wallich bei seinem kurzen Aufenthalt mit den politischen Entscheidungsträgern vor Ort offenbar wenig anzufangen wusste, galt sein Bemühen den Hallischen Missionaren und dem örtlichen Chirurgus Ruhde, seinem künftigen Amtskollegen in Dänisch-Ostindien. Zwei Missionare waren durch ihre naturkundlichen Forschungen besonders interessant: Christoph Samuel John sowie der Missionsarzt Johann Gottfried Klein. Der aus dem sächsischen Frobersgrün nach Studium, Schuldienst und Ordination 1772 von den Franckeschen Stiftungen in Halle nach Dänisch-Ostindien ausgesandte John konnte bereits