Die Patisserie am Münsterplatz – Zeitenwandel - Charlotte Jacobi - E-Book
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Die Patisserie am Münsterplatz – Zeitenwandel E-Book

Charlotte Jacobi

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Beschreibung

Zuckersüße Unterhaltung im Elsass – der erste Teil des wundervollen Dreiteilers um eine Straßburger Feinbäckerei   Machtkampf mit Sahnehäubchen: Im ersten Band der Saga um »Die Patisserie am Münsterplatz« stehen sich die verfeindeten Konditoreifamilien Picard und Tritschler gegenüber.   Straßburg im Jahr 1893: Die Familie Tritschler ist gerade von Stuttgart ins Elsass gezogen, um dort eine Patisserie zu eröffnen. Vor allem die 19-jährige Ida stürzt sich in die Arbeit. Ihr Ziel hat die junge Bäckerin fest vor Augen: Kuchenkönigin von Straßburg zu werden. Doch dabei hat die Familie nicht mit den Picards gerechnet. Deren Patisserie liegt in unmittelbarer Nähe, und fortan liefern sich die beiden Familien einen erbitterten Konkurrenzkampf um die Zuckerbäckerkrone.   Als wäre das nicht genug, verliebt sich Ida ausgerechnet in Lucien, den Sohn der Picards. Es kommt zum Eklat. Kann das junge Paar die Hindernisse überwinden und das Kriegsbeil zwischen ihren Familien begraben?   Hinter dem Pseudonym Charlotte Jacobi verbergen sich die Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Sie verfassen seit 2018 gemeinsam historische Romane, die regelmäßig die Bestsellerlisten stürmen: Ihre Hamburger Elbstrand-Saga begeisterte ebenso wie die Familiengeschichte um die Patisserie am Münsterplatz.  Feinste Backkunst vor historischer Kulisse: Lesegenuss für Kopf und Gaumen  Das Autorenduo, das als Charlotte Jacobi seine LeserInnen in historische Zeiten entführt, wurde für seine akribischen Recherchen bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. In »Die Patisserie am Münsterplatz – Zeitenwandel« verbindet das Schriftstellerteam historische Einblicke in die Zeit während des Deutsch-Französischen Krieges mit köstlichen Beschreibungen der Backwerkskunst.   Spannend, unterhaltsam und gnadenlos verführerisch – der schmackhafteste Dreiteiler des Jahres!    (400Z) Sie haben »Zeitenwandel« geliebt und wollen nun unbedingt wissen, wie die Geschichte der beiden Bäckerfamilien am Münsterplatz weitergeht? Holen Sie sich jetzt die weiteren Bände der Saga, »Schicksalsjahre« und »Neuanfang« – zum langsamen Genießen oder raschen Verschlingen!  

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Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von shutterstock.com und Richard Jenkins Photograph

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Inhalt

Cover & Impressum

Übersicht der wichtigsten Figuren

In der Patisserie Tritschler

In der Patisserie Picard

Sonstige

Prolog

TEIL I

April bis Juni 1893

1 – Der Duft, der aus …

2 – »He, Ida!«, drang …

Übersicht der wichtigsten Figuren

In der Patisserie Tritschler

Ida Tritschler (* 2. November 1874 in Stuttgart),Backwarenverkäuferin

Oskar Tritschler (* 23. Februar 1873 in Stuttgart),ihr Bruder, Student der Rechtswissenschaften

Elise Tritschler, geborene Nägele(* 11. Juli 1853 in Sindelfingen), ihre Mutter,Backwarenverkäuferin

Franz Tritschler (* 7. April 1850 in Stuttgart),Großbäcker, ihr Vater

Albert Tritschler (* 13. Juli 1830 in Bad Cannstatt),pensionierter Bäckermeister, ihr Großvaterväterlicherseits

Ulrike »Rickele« Tritschler, geborene Deuschle(* 25. Februar 1834 in Kirchheim unter Teck),Alberts verschollene Frau

Xavier Castanet (* 12. August 1854 in Colmar),Hausdiener

Gaston Leroc (* 14. Mai 1844 in Paris),Koch

Antoinette Nanty (* 4. Juli 1845 in Weghäusel bei Straßburg),Hausdame

Amélie Chabas (* 29. April 1873 in Rambouillet),Bedienung, Tochter des Obstlieferanten

Hélène Aubert (* 30. August 1871 in Colmar),Verkäuferin in der Konditorei, Tochter eines Barbiers

Kurt »Kurtle« Teufel (* 8. Mai 1875 in Untertürkheim),Bäckergeselle

In der Patisserie Picard

Lucien Picard (* 9. September 1872 in Straßburg),Biologiestudent, Konditorsohn

Jacques Picard (* 23. März 1848 in Weghäusel),Feinbäcker, Patriarch, Kriegsinvalide

Claire Picard, geborene Goldschmidt(* 29. Juni 1853 in Nantes), seine Frau

René Picard (* 14. Dezember 1873 in Straßburg),Luciens Bruder

Denise Picard, geborene Schneegans(* 21. August 1871in Sainte-Marie-aux-Mines),seine Frau

Marcel Picard (* 19. Mai 1889 in Niederbronn-les-Bains),der gemeinsame Sohn

Natalie Berger (* 1. Januar 1872 in Sainte-Marie-aux-Mines),Denises Jugendfreundin und einstige Gesellschafterin

Bernadette Picard, geborene Schwab(* 1. September 1828 in Neuhof), Jacques’ Mutter,Försterwitwe

Marie Picard (*24. Januar 1850 in Weghäusel),Kunstmalerin, Jacques’ Schwester

Aaron Goldschmidt (*25. März 1830 in Straßburg),Claire Picards Vater, pensionierter Kreditgeber

Geraldine Rolland, geborene Marais(* 11. September 1848 in Metz), Köchin

Paulette Girod (* 27. August 1850 in Guebwiller),Kindermädchen

Bertrand Strohmeier (* 11. September 1856 in Metz),Bäckermeister der Patisserie Goldschmidt

Sonstige

Maximilien »Le Prof« Fouché (* 12. Februar 1834 in Metz), einstiger Hochschulprofessor für Architektur,inzwischen wohnsitzlos

Wolfgang Busch (* 11. September 1840 in Berlin),Küster des Straßburger Münsters, einst Soldatder preußischen Armee

Joséphine Martinet, geborene Errard(* 11. Juli 1810 in Straßburg), Witwe eines Großbäckers,Ehrenmitglied der Bäckerinnung

Prolog

August 1870

So, wie im Märchen das Lebkuchenhaus der Hexe Hänsel und Gretel geradezu magisch anzog, lockte in Straßburg die Schaufensterscheibe der Patisserie in der Krämergasse beim Münster. Fasziniert und sehnsüchtig betrachtete die siebzehnjährige Claire Goldschmidt die dahinter ausgestellten Leckereien: gelbbraune Rührkuchen in Form eines Turbans – Kougelhopfs – lagen neben kleinen hellbeigen Gebäcktalern, die Anisbredle genannt wurden und deren Form an Champignonköpfe erinnerte. Dann gab es noch dunkles Weihnachtsbrot mit getrockneten Birnen und anderen Früchten, das man hier im Elsass als Berewecke bezeichnete. Daneben sah Claire mit Mandeln und kandierten Kirschen verzierte, dunkelbraun glänzende, rechteckige Lebkueche und ganz hinten Schnekekueche: glasierte, schneckenförmig gerollte Spulen aus Hefeteig, welche mit gemahlenen Mandeln und Haselnüssen gefüllt waren.

Die dunkel gelockte junge Frau ließ ihren Blick suchend über die Auslagen schweifen, und schließlich fand sie das Gebäck, nach dem sie gesucht hatte: Puits d’amour, Liebesbrunnen. Sie lächelte verträumt. Einen solchen kleinen Vulkan aus Blätterteig, Butter, Puderzucker und Marmelade hatte ihr vorige Woche Pierre, einer der hundert zurzeit hier in Straßburg stationierten Matrosen aus Marseille, geschenkt – zusammen mit dem Versprechen: »Irgendwann verjagt die Metzer Armee diesen Preußen von Werder mitsamt seinen gottverdammten Truppen. Dann kauf ich dir einen Ring.«

Claire hatte das süße Stückchen mit dem hübschen jungen Marseiller geteilt, und noch heute, drei Tage später, lief ihr bei der Erinnerung an die Köstlichkeit das Wasser im Mund zusammen. Das Herzklopfen, das sie dabei verspürte, rührte allerdings eher daher, dass sie an die leidenschaftlichen Küsse des Mannes denken musste, der ihr das Gebäck geschenkt hatte.

Ganz in diesen Erinnerungen versunken, vergaß Claire vollkommen ihren Vater Aaron und zuckte erschrocken zusammen, als er nun in ihrem Rücken sagte: »Lass dich nicht von dem Anblick täuschen, der Süßkram da drinnen ist gut neun Monate alt und staubtrocken.«

Der vollbärtige Vierzigjährige stützte sich auf einen Gehstock und trug eine kreisförmige Mütze aus Stoff, eine sogenannte Kippa – die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden.

»Madame Martinets Gatte hat kurz vor Weihnachten der Schlag getroffen. Nach seinem Tod wurde die Patisserie überstürzt geschlossen, und sie konnte sich nicht mehr durchringen, sie wieder zu eröffnen«, erklärte Aaron seiner Tochter.

Eigentlich waren sie mit Madame Martinet zur Vertragsunterzeichnung verabredet, doch die alte Dame ließ auf sich warten. Claire sah sich in vager Sorge um. Wo blieb die Witwe nur? Hoffentlich würde sie ihren Vater nicht versetzen. Claires Mutter war zwar schon vor elf Jahren gestorben, doch das Geld reichte auch für sie beide nicht aus. Kaum ein Schuldner war angesichts der Kriegsnot in der Lage oder willens, Aaron Goldschmidt, der ein privates Kreditinstitut betrieb, die Zinsen zu bezahlen. Die kinderlose Feinbäckerwitwe Joséphine Martinet allerdings hatte versprochen, ihm zur Begleichung ihrer Schulden die Patisserie ihres verstorbenen Mannes zu überschreiben. Wenn sie Claires Vater nun aber ebenfalls im Stich ließ, wären sie ruiniert und müssten Hunger leiden.

Sie blickte die Gasse zum Münsterplatz hinauf – doch die war menschenleer.

»Hoffentlich hat Madame Martinet es sich nicht anders überlegt. Bei dem ständigen Feuer der Feinde traut sich ja niemand auf die Straße«, murmelte Claire besorgt.

Die letzte Nacht war schrecklich gewesen. Die Bomben der Belagerer hatten in mehreren Stadtteilen gleichzeitig gezündet, über hundert Häuser waren durch die Geschosse beschädigt und teilweise zerstört worden. Oft schafften es Feuerwehrleute und Zivilisten nicht mehr, die Feuersbrünste rechtzeitig zu löschen. Da die Brandstätten für die Angreifer nachts bestens zu sehen waren, schickten die Preußen bisweilen weitere Geschosse in die Richtung. So trafen sie oft auch Menschen, die herbeigeeilt waren, um die Flammen zu löschen. Zahlreiche Straßburger waren deshalb ihrer Hilfsbereitschaft zum Opfer gefallen.

Claires Liebster hatte ihr anvertraut, dass er und seine Kameraden von den Straßburger Befehlshabern viel zu wenig Munition zur Verfügung gestellt bekamen, um angemessen reagieren zu können. »Unsere feinen Herren Offiziere rationieren uns auf fünfzehn Schuss pro Tag und Geschütz. Der reine Hohn!«, hatte Pierre sich beklagt.

»Da kommt sie doch«, stellte Claires Vater in diesem Augenblick erleichtert fest. »Madame Martinet hat keine Angst.«

Er deutete mit dem Kinn die Rue Mercière hinab: Aus Richtung des Place Gutenberg kam eine resolute sechzigjährige Dame mit blondweißem Dutt und eleganter schwarzer Kleidung auf sie zu. Sie war petite, wirkte jedoch äußerst energiegeladen, hatte einen forschen Schritt und funkelnde Augen. Der Gefechtslärm in der Nähe des Stadtwalls schien sie in der Tat nicht zu beunruhigen.

»Madame Martinet«, rief Aaron Goldschmidt hocherfreut und küsste der älteren Dame die mit einem Seidenhandschuh überzogene Rechte. »Schön, dass Sie es gewagt haben. Darf ich Ihnen meine Tochter Claire vorstellen?«

»Bonjour, Madame«, entgegnete die Jüngere mit scheuem Lächeln.

»Mein lieber Monsieur Goldschmidt, Ihre Tochter ist eine wahre Schönheit«, befand die Patissierswitwe und mutmaßte schmunzelnd: »Wenn die Konditorei Ihnen gehört, kommen bestimmt viele junge Männer als Kunden. Die werden aber kaum einen Blick für das leckere Gebäck übrig haben.«

Aaron lachte, doch Madame Martinets Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als ihr Blick zum Liebfrauenmünster schweifte. Der Dachstuhl rauchte nach dem Bombenangriff der vorigen Nacht immer noch.

»Heilige Mutter Gottes«, murmelte die Witwe, die im Gegensatz zu ihren beiden jüdischen Besuchern katholischen Glaubens war, und bekreuzigte sich. Claire erinnerte sich schaudernd daran, dass in der vergangenen Nacht Flammen aus dem Dach der gigantischen, bisher so unzerstörbar wirkenden Kathedrale weithin sichtbar in den Nachthimmel gestiegen waren.

»Wie können Christenmenschen nur ein Gotteshaus bombardieren?«, empörte sich Joséphine Martinet. »Auch eines der großen Fenster ist zerstört – ein Kunstwerk zu Ehren Gottes – für immer verloren.«

Doch dann wandte sie den Blick entschlossen wieder ihrem Kreditgeber Aaron Goldschmidt und dessen Tochter zu. »Nun, man darf trotzdem nicht aufgeben, irgendwie müssen wir ja eine Zukunft planen, nicht wahr?«

Mit diesen Worten zückte sie ihren Schlüsselbund, um den Laden zu öffnen. Sie seufzte wehmütig. »Es ist lange her.«

Als die drei die Bäckerei betraten, sah Claire Staubpartikel in den Strahlen der Abendsonne tanzen. Auch am leicht muffigen Geruch war unschwer zu erkennen, dass das Haus viele Monate leer gestanden hatte. Aus der Nähe betrachtet, war die Staubschicht auf den ausgetrockneten Leckereien deutlich sichtbar.

Madame Martinet bat ihre beiden Besucher, an einem Tisch im Cafébereich Platz zu nehmen, und zauberte einen Vertrag aus ihrer Handtasche.

»Sie sind sich absolut sicher?«, vergewisserte sich Aaron und sah die alte Dame prüfend an.

Madame Martinet nickte. »Sie haben meinem Mann und mir so oft die Haut gerettet, wenn es eine finanzielle Durststrecke gab. Ich bin sechzig und mag mich nicht mehr hinter die Verkaufstheke stellen. Sie sind zwanzig Jahre jünger. Mit Ihrer zauberhaften Tochter an Ihrer Seite und dem richtigen Personal in Backstube und Verkauf – da könnten Sie es schaffen. Dann wird hieraus wieder die Perle des Viertels, die unsere Feinbäckerei einst war. Außerdem ist es doch Ehrensache, dass man seine Schulden begleicht.«

»Das sieht leider nicht jeder so«, entgegnete Claire bitter.

Madame Martinet nickte ernst und folgte dem Blick der Tochter auf Aarons Gehstock. Manche Menschen schlugen den Mann, dem sie Geld schuldeten, lieber halb tot.

»Ich hoffe, die Patisserie läuft so gut wie früher«, brach die Witwe das betretene Schweigen. »Dann müssen Sie sich keine Sorgen mehr um zahlungsunwillige Schuldner machen.«

Sie zückte einen altmodischen Federhalter und trug in geschwungenen Lettern unter dem Vertrag das Datum ein: »Donnerstag, den 25. August 1870«.

Patisserie Goldschmidt, dachte Claire, während nach Madame Martinet auch ihr Vater die Übertragungsurkunde unterzeichnete. Das klang wie das Versprechen einer leuchtenden und sicheren Zukunft.

Doch noch bevor die Tinte auf dem Vertrag getrocknet war, durchschlug mit fürchterlichem Krachen ein schwerer Granatsplitter die Schaufensterscheibe, die daraufhin laut klirrend in sich zusammenfiel. Der Splitter prallte an der Rückwand ab, wo er ein stattliches Loch zurückließ, und landete dann direkt vor Claires Füßen. Wunderbarerweise blieben sie unverletzt.

Doch die Leckereien in der Auslage waren von den Scherben der zerstörten Schaufensterscheibe überhäuft, einige waren von besonders großen Splittern aufgespießt worden. Zitternd starrte Claire auf dieses skurrile Bild. Es schien ihr wie der Vorbote einer düsteren Bedrohung.

TEIL I

April bis Juni 1893

1

Der Duft, der aus der Backstube drang, strömte verführerisch durch das ganze Haus, schlich sich in Ida Tritschlers Nase und weckte die Bäckerstochter aus ihren Träumen. Es musste also nach fünf Uhr in der Früh sein, kombinierte sie, denn um diese Uhrzeit ging das rege Treiben in der Backstube los. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Köstlichkeiten vor sich, die unten bald aus dem Ofen geholt würden. An jedem anderen Tag hätte sich die schlanke Achtzehnjährige noch einmal in ihrem wohlig weichen Daunenbett umgedreht und weitergeschlafen.

»Meine Tochter soll nie so früh aufstehen müssen wie ich in ihrem Alter«, pflegte ihr Vater Franz immer zu sagen und hatte dieses Versprechen auch stets gehalten. Er selbst stand mittlerweile seinerseits nur noch dann vor dem Hahnenschrei auf, wenn er den jungen Bäckersburschen wieder einmal zeigen wollte, dass er für sie da war – und, obgleich inzwischen zum Großbäcker aufgestiegen, noch immer einer von ihnen. Mittlerweile besaß er hier in Stuttgart drei Backwarengeschäfte und brütete am Tage in seinem Bureau über den Geschäftsbüchern und der Umsetzung neuer Ideen. Im Fall von Franz Tritschler hatte Handwerk wirklich goldenen Boden, seiner Familie fehlte es an nichts, der Wohlstand schien gesichert.

Ida hätte also nicht aufstehen müssen, aber heute wollte sie es. Denn dieser Montag, der 10. April 1893, würde der vorerst letzte Tag in ihrem geliebten Elternhaus in der Stuttgarter Innenstadt sein. Ihr Vater hatte beschlossen, dass sie ins Elsass ziehen würden, als er gehört hatte, dass in der Nähe des Straßburger Münsters ein Geschäft mit einer dreistöckigen Wohnung darüber frei geworden war. Dort wollte er nun einen Neuanfang wagen. Und Ida, ihr zwei Jahre älterer Bruder Oskar und ihre Mutter sollten mit dem französischen Koch und der Haushälterin schon einmal vorfahren und die Wohnung beziehen, während der Vater noch die letzten Angelegenheiten in Stuttgart erledigte. Das neue Geschäft in Straßburg würde dann am 1. Mai eröffnen.

Nach der Morgentoilette begab sich Ida frisch gewaschen und nach ihrer geliebten Douglas-Himmelsseife duftend hinunter in die Küche. Dort war der Koch der Familie, Monsieur Leroc, bereits mit dem Aufbrühen von Kaffee beschäftigt. »Bonjour, Mademoiselle Ida«, begrüßte er sie fröhlich. Er wirkte noch immer ein wenig jugendlich, obwohl sein blondes Haar an den Schläfen bereits ergraute und Ida wusste, dass er nächstes Jahr sein fünftes Lebensjahrzehnt abschließen würde. Sie hatte sich von Kindesbeinen an nur auf Französisch mit ihm unterhalten, ihrem Vater war nämlich daran gelegen, dass sie und ihr Bruder zweisprachig aufwuchsen. Deshalb hatte er neben dem Koch auch den Hausdiener und die Haushälterin aus dem Reichsland Elsaß-Lothringen angeheuert, die nicht nur das dort verbreitete Alemannische, sondern eben auch die einstige Feindessprache beherrschten. Warum ihr Vater als gebürtiger Stuttgarter das Französische derart liebte, hatte Ida nie so ganz verstanden, denn vier Jahre vor ihrer Geburt hatte er im Krieg gegen die Franzosen kämpfen müssen – und dabei den kleinen Finger der linken Hand eingebüßt. Sie wusste nicht genau, wie es dazu gekommen war, Franz Tritschler sprach nicht gern über jene Zeit. Neugierige Kinderfragen zum Verlust des Fingers hatte er stets nur vage mit der Aussage abgetan, andere hätten damals Schlimmeres verloren, er sei »insgesamt gut davongekommen«.

Ida wusste, dass ihr Vater bereits kurz nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 versucht hatte, als Bäcker im nunmehr deutschen Straßburg Fuß zu fassen. Doch ihre Mutter Elise hatte dem Töchterchen einst anvertraut, dass der Hass gegen die Deutschen seinerzeit noch zu groß gewesen war und viele Elsässer den Wechsel der Nationalität ihrer Stadt nur schwer akzeptieren konnten. Der Vater habe das Geschäft bald aufgeben müssen und stattdessen in seiner Heimatstadt Stuttgart einen Neuanfang versucht – mit wesentlich größerem Erfolg.

»Zum Glück«, hatte die Mutter lächelnd gesagt, »sonst hätten wir uns ja nie kennengelernt. Und dann gäbe es dich und deinen Bruder nicht.«

Eigentlich war es also erstaunlich, dass ihr Vater, der in vier Tagen immerhin schon dreiundvierzig werden würde, dem Elsass trotz seiner drei gut laufenden Bäckereien hier in der Schwabenmetropole noch einmal eine Chance geben wollte. Aber gerade weil er nach dem Krieg in Straßburg gescheitert war, wollte er es nun wohl noch einmal wissen. »Wenn ich es jetzt nicht tue, bin ich zu alt für ein Abenteuer«, hatte er gesagt.

Und auch seine Familie hatte Lust auf dieses spannende Wagnis verspürt. Ida und deren Mutter würden wie in Stuttgart beim Verkauf helfen; ihr Bruder Oskar hingegen wollte an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg ein Studium der Rechtswissenschaften beginnen.

»Einen Schluck Kaffee?«, bot der Koch an, doch Ida schüttelte ihre braunen Locken und fragte ihn, ob ihr Vater schon munter sei.

»Ja, er ist unten bei den Bäckern«, informierte Gaston Leroc sie.

Die Backstube befand sich im Erdgeschoss hinter den Verkaufsräumen. Hier war der Geruch der frischen Brezeln natürlich noch stärker. Ida wurde von ihrem Vater mit einem Lächeln begrüßt. »Na, Kleines, schon aufgeregt?«, erkundigte er sich.

Sie nickte. »Gestern Abend habe ich endlich den Koffer zubekommen. Oskar musste sich dafür draufsetzen.« Liebevoll strich sie ihrem Vater etwas Mehl aus dessen welligem, blondem Haar.

»Wir werden Sie sehr vermissen, Fräulein Tritschler«, sagte Kurtle, der sommersprossige Bäckergeselle, während er eine weitere Ladung Brezelteiglinge in die Natronlauge tunkte.

Ida war nicht verborgen geblieben, dass der junge Rotschopf ein wenig in sie vernarrt war, sie selbst war hingegen noch nie verliebt gewesen. Sie sah in Kurt auch eher einen plötzlich in die Höhe geschossenen Knaben als einen Mann.

»Das ist lieb, Kurtle«, sagte sie höflich und fügte diplomatisch hinzu: »Mir wird das alles hier ebenfalls fehlen, da bin ich mir sicher.«

»Es gibt auch in Straßburg viel Schönes«, erinnerte der Vater.

»Das weiß ich doch«, bestätigte Ida. »Aber meine Freundinnen werde ich schon vermissen.«

Im September vor sieben Jahren hatte Großbäcker Franz Tritschler der Familie sein geliebtes Elsass bereits bei einer Reise gezeigt. Das Mädchen erinnerte sich noch genau daran, wie er sie zum ersten Mal den dort traditionellen Kougelhopf hatte kosten lassen. Das war ein wunderbar flauschiger Rührkuchen mit Rosinen darin. Und sogar der deutsche Kaiser war in jenem Jahr in Straßburg gewesen! Ida und ihre Familie hatten damals Wilhelm I. und dessen Gefolge mit eigenen Augen aus dem dortigen Universitätspalast kommen sehen.

»Des isch so a Unverschämtheit«, ertönte plötzlich eine schrille Frauenstimme aus dem Verkaufsbereich und riss Ida aus ihren Erinnerungen.

»Das klingt nach Frau Brandalise«, erkannte sie sogleich und eilte nach vorn.

Seit ihrem Abschluss der zehnten Klasse mit dem Einjährigen arbeitete Ida auf eigenen Wunsch als Verkäuferin in der elterlichen Bäckerei und hatte ein gutes Gespür für die Kunden entwickelt. Ihre freundliche Art kam bei allen bestens an, selbst schwierige Menschen verstand sie um den Finger zu wickeln. Und Frau Brandalise gehörte ohne Zweifel zu den besonders schwierigen. Die stets nobel gekleidete Arztgattin war anspruchsvoll und launisch – und an diesem Morgen eine der ersten Kundinnen in der gerade erst geöffneten Bäckerei.

Hilde, das neue Verkaufsmädchen, war merklich überfordert beim Umgang mit der resoluten Dame, die im Zorn immer ins Schwäbische verfiel.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Doktor«, rief Ida beim Betreten des Verkaufsbereichs. »Ist etwas nicht zu Ihrer werten Zufriedenheit?«

»Däs jonge Ding secht, ’s gäb no koine Mohnweckle«, empörte sich die Ältere.

»Das ist richtig, aber ich bringe sie Ihnen gern vorbei, sobald sie fertig sind«, bot Ida ihr freundlich an. »Dürfte keine halbe Stunde dauern. Möchten Sie zunächst Ihre Brezeln mitnehmen?«

»Ja, drei Stück bitte«, knurrte Frau Doktor etwas besänftigt und in distinguiertem Hochdeutsch.

Ida wusste, dass Frau Brandalise im Grunde nur von Langweile geplagt wurde und deshalb beim geringsten Anlass aufbrauste. Ihr Mann war als Arzt oft bis in die Nacht beschäftigt und hatte selten Zeit für sie. Der gemeinsame Sohn war bereits erwachsen und aus dem Haus, um seinerseits Medizin in Tübingen zu studieren – seither war seine Mutter noch einsamer. Für Ida gehörte es dazu, sich solche Eigenarten der Kundschaft zu merken – und sie beim Verkauf in eine angenehme Plauderei zu verstricken.

»Ihrem Herrn Sohn geht es gut im Studium? Zum Glück ist er so ein schlauer Kopf«, sagte Ida, während sie die Brezeln verpackte.

»Ja, das ist er wahrhaftig«, stimmte Frau Brandalise zu und konnte ein stolzes Lächeln nicht unterdrücken.

Nachher, wenn sie ihr die Mohnbrötchen bringen würde, wollte Ida der Dame empfehlen, mal wieder einen ihrer legendären Wohltätigkeitsbälle zugunsten der Armen zu organisieren. Dann war sie für eine Weile mit etwas Sinnvollem beschäftigt.

Als die Arztfrau gegangen war, bedankte sich Hilde. »Ob ich je so gut mit den Kunden umgehen kann wie Sie?«

»Das werden Sie bestimmt«, versicherte Ida. »Sie müssen ihnen nur eine Weile lang zuhören, dann kommt das ganz von selbst.«

»Wenn ihr davon nicht vorher ein Ohr abfällt«, mischte sich Idas Bruder, der aus dem Hinterzimmer in den Verkaufsbereich gekommen war, ins Gespräch.

»Geduld ist nicht jedermanns Sache«, erwiderte Ida und grinste Oskar an.

Er war hochgewachsen, äußerst muskulös, hatte wie sein Vater gewelltes blondes Haar und spöttisch funkelnde blaue Augen. Hilde war nicht die einzige junge Frau, die bei Oskars Anblick weiche Knie zu bekommen schien.

»Bist du bereit, Schwesterchen?«, fragte er. »Um zwölf Uhr soll es losgehen.«

»Ja, ich will nur noch eben Frau Brandalise ihre Mohnbrötchen vorbeibringen und zu Großvater fahren, mich verabschieden«, antwortete sie.

»Das wird nicht nötig sein«, ertönte nun eine tiefe Stimme aus Richtung der Ladentür.

»Großväterle!«, rief Ida.

»Wir können uns nachher hier verabschieden«, sagte der grauhaarige Mann. »Ich werde nämlich alles überwachen, damit nach eurem Fortgang kein Durcheinander ausbricht.«

»Es ist so schade, dass du uns nicht begleiten magst«, meinte Ida bedauernd.

Sie ahnte, dass ihr Großvater hinter der ruppigen und oft etwas großspurigen Fassade bisweilen recht einsam sein musste. Seine Frau, Idas geliebte Großmutter Ulrike, war vor neun Jahren plötzlich fortgezogen – und keiner der Erwachsenen hatte dem Mädchen den Grund dafür nennen wollen. Jedoch waren alle offenbar sehr böse auf die alte Dame gewesen. Da vor drei Jahren Idas Großmutter mütterlicherseits gestorben war, dachte sie immer häufiger daran, was wohl aus Oma Ulrike geworden war. Gerade wegen des doppelten Verlusts hätte sie ihren Großvater in Straßburg gern mit dabeigehabt.

»Einen so alten Baum verpflanzt man nicht. Außerdem: Spätestens im Juli seid ihr wieder hier – zu meinem dreiundsechzigsten Geburtstag«, entgegnete Großvater Albert. »Das habe ich deinem Herrn Papa schon gesagt. Und bis dahin übernehme ich hier das Ruder.«

Oskars Grinsen wurde breiter. »Dann wird ja nichts schiefgehen, und wir können in aller Ruhe die Reize des Elsass erkunden.«

Ida wusste, dass ihr Bruder sein Studium gleich übermorgen antreten durfte. Um die Möglichkeit zu studieren beneidete sie ihn. Mädchen war es ja nicht einmal vergönnt, die Hochschulreife abzuschließen. Sie selbst hätte es spannend gefunden, sich mit den Mechanismen der Wirtschaft genauer zu beschäftigen. Wie machte man möglichst viele Kunden zufrieden? Das war ja auch das, was sie an der Arbeit in der Bäckerei am meisten interessierte.

»Wenn du auf die Damen im Elsass anspielst, junger Mann«, legte Albert Oskars Worte aus, »die sind, so sagt man, in der Tat eine Reise wert. Das wird dein Vater dir gewiss bestätigen. Mit dem habe ich jetzt noch ein paar Wörtchen zu wechseln.«

Mit einem schelmischen Grinsen machte sich der Alte auf den Weg in die Backstube zu seinem Sohn.

Ida und ihr Bruder sahen sich erstaunt an.

»Was meint Großvater denn damit?«, wunderte sich Ida.

»Wahrscheinlich, dass Papa da drüben ein Liebesleben hatte, bevor er Mama kennengelernt hat«, mutmaßte Oskar schulterzuckend.

Er zog einen Brief aus seiner Jackentasche. »Den hat er mir gegeben. Ich soll ihn gleich morgen früh bei einer alten Bekannten von ihm im Straßburger Stadtteil Petit France abgeben«, erklärte er.

Ida las den Namen der Adressatin: Madame Joséphine Martinet. Eine leise Unruhe stieg in ihr auf. War diese Dame der Grund dafür, dass ihnen ihr Vater nie offenbart hatte, weshalb er das Elsass derart liebte? »Wer sie wohl ist?«

»Komm doch morgen einfach mit zu ihr, wenn du so neugierig bist«, schlug Oskar grinsend vor.

Am frühen Nachmittag saßen Ida, Oskar, ihre Mutter Elise, die Hausdame und der Familienkoch im Zug nach Karlsruhe. Von dort aus sollte es dann nach Straßburg weitergehen. Monsieur Leroc hatte für alle belegte Brote zubereitet, Oskar machte sich über seinen Anteil her, noch ehe der Zug aus dem Stuttgarter Bahnhof gefahren war.

»Nachher hast du Hunger, und es ist nichts mehr da«, mahnte ihn die blond gelockte Mutter.

»Ach, es wird wie immer sein«, winkte Oskar ab. »Ihr lasst mir was von eurer Portion übrig.«

»Da könntest du sogar recht haben«, meinte Ida. »Ich habe viel zu viel Reisefieber, um was zu essen.«

»Bist du sehr traurig, Stuttgart zu verlassen?«, erkundigte sich Elise Tritschler.

»Ein wenig, aber andererseits freue ich mich, noch einmal ein richtiges Abenteuer zu erleben – bevor ich verheiratet werde«, entgegnete ihre Tochter augenzwinkernd. »Und du?«

Elise schmunzelte. »Ich bin auch froh, noch mal was anderes zu Gesicht zu bekommen – bevor ich alt werde.«

Die zierliche Bäckersgattin mit ihrem Stupsnäschen und den veilchenblauen Augen wurde zwar im Sommer schon vierzig, lächelte nun jedoch sehr mädchenhaft. »Zum Glück kann man auch im fünften Lebensjahrzehnt den Menschen noch leckere Dinge verkaufen.«

»Du wirst mit hundert noch alle glücklich machen«, prophezeite Ida. »Die Elsässer genauso wie die Stuttgarter.«

»Ein bisschen mulmig ist mir schon«, gab Elise zu. »Was, wenn die Straßburger uns Deutsche noch immer hassen?«

Hausdame Nanty, die aus dem Elsass stammte, nickte ernst. »Es waren damals schon sehr schlimme Verluste und Zerstörungen.« Ihr Blick verfinsterte sich, und sie sah aus dem Fenster, offenbar in ihren Erinnerungen versunken. Ida tauschte einen beklommenen Blick mit ihrer Mutter.

Antoinette Nanty war siebenundvierzig Jahre alt, und in ihre rote Lockenmähne mischten sich bereits die ersten weißen Strähnen. Sie stammte aus Weghäusel südlich von Straßburg, war aber bereits kurz vor Idas viertem Geburtstag nach Stuttgart in den Haushalt der Tritschlers gekommen. »Zu Hause gab es zu viele dunkle Erinnerungen an den Krieg«, hatte sie Ida einst anvertraut. »Die haben leider auch meinen Bruder auf die schiefe Bahn gebracht.«

»Wie kam es eigentlich zu diesem Krieg?«, fragte Ida nun.

»Ach, der Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen hat damals um den spanischen Thron kandidiert. Damit war die französische Regierung nicht einverstanden. Die wollten nicht von allen Seiten von Hohenzollern eingekesselt werden«, erinnerte sich ihre Mutter. »Der Prinz zog seine Kandidatur dann zwar zurück, die Franzosen stellten jedoch weitere Forderungen. Davon wollte König Wilhelm aber nichts wissen. Und das wiederum hat den französischen Kaiser Napoleon dermaßen empört, dass er Preußen den Krieg erklärte. Das war im Juli 1870.«

»Als wir vor sieben Jahren in Straßburg waren, habe ich nichts von Hass gegen uns mitgekriegt«, meinte Oskar, sein Käsebrot mampfend.

Damals hatte die Familie »Schdroosburi«, wie die Einheimischen die Stadt auch nannten, bei strahlendem Sommersonnenschein verlassen. Doch heute schien die Eisenbahn sie direkt in ein Frühlingsgewitter zu bringen. Dunkle Wolkenberge türmten sich vor ihnen auf, Blitze zuckten.

Als sie abends um acht Uhr angekommen waren und aus ihrem Waggon stiegen, goss es wie aus Eimern. Dennoch fand Ida die Zeit, die imposante hohe Halle des Straßburger Zentralbahnhofs mit ihren Säulen zu bewundern und zwei Fresken zu betrachten, die den Ankommenden entgegenblickten. Die erste Abbildung zeigte die Überführung der Reichskleinodien durch Friedrich Barbarossa auf die Burg Hagenau. Auf dem zweiten Fresko war Wilhelm I. bei einer Straßburg-Reise im Jahr 1877 zu sehen. Mädchen in elsässischer Tracht reichten ihm den Ehrenwein. Ida hatte den Eindruck, dass dem Kaiser diese Region seines Reichs besonders am Herzen lag. Sie wusste, dass Wilhelm Straßburg 1879 erneut besucht hatte; und beim dritten Besuch 1886 war sie selbst ebenfalls in der Stadt gewesen.

»Es wird ja immer noch gebaut«, stellte sie erstaunt fest, als sie die Bahnhofshalle verließen. »Das war vor sieben Jahren auch schon so.«

»Der Baubeginn war sogar bereits vor fünfzehn Jahren«, erzählte auf dem Weg zu den Kutschen Gaston Leroc, der während der Eisenbahnfahrt ungewöhnlich schweigsam gewesen war. »Und obwohl das Ding hier schon vor zehn Jahren eingeweiht wurde, sind sie immer noch nicht fertig damit.«

»Unser schöner alter Kopfbahnhof wurde im Krieg schwer beschädigt«, erinnerte sich Mademoiselle Nanty traurig. »Die Deutschen haben ihn danach zwar zunächst unter militärischen Gesichtspunkten wiederaufgebaut, aber 1874 dann ganz abgerissen.«

Vor dem Gebäude angekommen, verteilten sich die Reisenden auf zwei Kutschen; Ida saß mit Monsieur Leroc und Oskar in der einen, eine weitere bestiegen ihre Mutter Elise und die Hausdame.

»Mademoiselle Nantys Mutter starb 1870 bei der Bombardierung des alten Bahnhofs«, verriet der Koch den Tritschler-Geschwistern voller Mitleid im Blick, während der Kutscher das Gefährt durch den strömenden Regen in Richtung Münsterviertel lenkte. »Deshalb wollte sie damals auch nicht zum Kaiserbesuch mitkommen. Es hätte ihr doch zu wehgetan, in ihrer Heimatstadt dem deutschen Herrscher zuzujubeln.«

»Verstehe«, meinte Oskar. »Ich hatte mich schon gewundert. Ihr Vater wohnt hier doch in einem Vorort.«

Ida befürchtete, dass ihre Mutter recht hatte: Wenn selbst die gutmütige Mademoiselle Nanty es wegen der schlimmen Kriegserinnerungen nicht ertrug, den deutschen Kaiser zu sehen, gab es auch unter den übrigen älteren Elsässern vielleicht noch Hass auf die Eroberer.

Schließlich hielt die Kutsche an, und Ida sah durchs Fenster in den Regen hinaus. Der selbst bei Nacht und Unwetter malerische Münsterplatz wurde von der gigantischen, über hundertvierzig Meter hohen Kathedrale dominiert, die von zahlreichen, teilweise vier- bis fünfstöckigen Reihenhäusern umgeben war. Auffallend waren die steilen Dächer mit bis zu vier Dachgeschossen.

Hausdiener Xavier Castanet war schon vor zwei Wochen angereist, um alles für ihre Ankunft vorzubereiten. Zum Glück hatte er das Eintreffen der Fahrzeuge bemerkt und stürmte nun mit zwei großen Regenschirmen aus dem schmalen Fachwerkgebäude am Münsterplatz, in dessen Erdgeschoss die Feinbäckerei und das Café entstanden.

»Monsieur Castanet, Sie schickt der Himmel«, rief Elise dankbar, während sie die Kutscher bezahlte.

»Schön, dass Sie endlich da sind«, freute sich der Diener, ein drahtiger Enddreißiger mit Glatze.

Sie eilten zum Eingang, und Ida bemerkte, dass die Häuser rund um die Kathedrale dicht an dicht standen, so, als wollten sie sich aneinander festhalten. Ihr eigenes Fachwerkhaus und das links neben ihnen, über dessen Schaufenster auf einem Holzschild »Barbier Aubert« stand, schienen fast ineinander verwachsen zu sein.

In der dreigeschossigen Wohnung über den Räumen der Patisserie empfing die Neuankömmlinge eine angenehme Wärme.

»Danke, dass Sie vorgeheizt haben«, freute sich Ida. »So ist es richtig gemütlich hier drin.«

»Zu gemütlich, mir fallen die Augen zu.« Oskar gähnte und ließ sich auf eine elegante Chaiselongue fallen. Der Vater hatte sich die barocken Möbel offenbar einiges kosten lassen.

Ida sah durch das Fenster hinaus auf das mächtige Münster im nächtlichen Regen. Welche Abenteuer sie hier wohl erwarten würden? Gleich morgen früh wollte sie mit ihrem Bruder die Stadt erkunden. Unter anderem war ja geplant, der mysteriösen alten Bekannten ihres Vaters den Brief vorbeizubringen, den er Oskar mitgegeben hatte.

Ida war gerade im Begriff, die Vorhänge zuzuziehen und das scheußliche Wetter damit endgültig auszusperren, als sie eine dunkle Gestalt mit Regenschirm bemerkte, die unten auf dem verlassenen Münsterplatz stand und zu ihr hinaufstarrte. Die Patissierstochter sah genauer hin und erkannte, dass es sich um einen Mann handelte, der auf der linken Seite eine Armprothese trug.

Fröstelnd drehte sie sich zu ihrer Familie um: »Da draußen lungert ein Mann herum und beobachtet uns.«

Doch als Oskar und ihre Mutter zu ihr ans Fenster traten, um ebenfalls hinauszusehen, war der Fremde verschwunden.

2

»He, Ida!«, drang die Stimme ihres Bruders sanft in ihr Bewusstsein. »Seit wann schläfst du länger als ich?«

Sie öffnete benommen die Augen, richtete sich auf und sah Oskar verschlafen an. »Wie viel Uhr ist es denn?«

Sie stellte fest, dass er bereits fertig angekleidet war und seine besten Schuhe trug.

»Zehn nach neun. Ich gehe los und bringe dieser geheimnisvollen Dame Papas Brief. Danach werde ich mir meine Universität anschauen und ein paar Unterschriften ableisten. Eigentlich wolltest du doch mit?«

»Das will ich noch immer!«, rief Ida und sprang im Nachthemd aus dem Bett.

»Ich schicke dir Mademoiselle Nanty herauf, damit sie dir mit den Haaren und dem Korsett hilft«, schlug ihr Bruder vor. Eigentlich war es unschicklich, dass ein Mann über so etwas sprach, doch Oskar hatte stets eine diebische Freude daran, seine Schwester mit anzüglichen Worten ein wenig zu ärgern. »Heute Morgen war übrigens schon die erste unserer hiesigen Ladenverkäuferinnen da. Sie wollte sich Maman vorstellen. Sie heißt Amélie Chabas – und ich kann dir sagen: Was die Schönheit der Frauen hier betrifft, da hat Großvater nicht übertrieben.« Er grinste zufrieden und schob ein klischiertes »Oh, là, là« nach.

Ida seufzte. Es stand zu befürchten, dass ihr Bruder in Straßburg eine ähnliche Spur gebrochener Mädchenherzen hinterlassen würde wie in Stuttgart. Sie bedauerte es, Amélies Besuch verpasst zu haben – schließlich würde sie ab 1. Mai mit der jungen Verkäuferin zusammenarbeiten. Ärgerlich auf sich selbst runzelte sie die Stirn. Die Reise mit den vielen neuen Eindrücken gestern musste sie doch mehr ermüdet haben als gedacht.

Sie eilte zu ihrem Waschtisch und sah sich dabei in ihrem neuen Zimmer um, das sie nun zum ersten Mal bei Tageslicht in Augenschein nehmen konnte. Ihr gefiel, was sie sah. Die von ihr ausgesuchten Möbel waren laut Monsieur Castanet erst letzten Freitag geliefert worden und denen in ihrer Stuttgarter Schlafstube nicht unähnlich. Einige Erinnerungsstücke waren auch bereits vor ihr hier eingetroffen: etwa die vor drei Jahren aufgenommene Familienfotografie, die Vater und Mutter, Großvater Albert, Oskar und sie selbst vor ihrer Stammbäckerei am Stuttgarter Rathausplatz zeigte. Außerdem hing an der Wand ihr heiß geliebtes Gemälde eines Schutzengels, der ein Geschwisterpaar sicher durch einen Wald geleitete. Ja, dachte Ida zufrieden, auch hier konnte man sich heimisch und wohlfühlen.

Wenig später ging sie neben Oskar durch das malerische Quartier des Tanneurs zu der Adresse, die auf dem Brief ihres Vaters stand. Das im Westen der Altstadtinsel gelegene einstige Gerber- und Müllerviertel war von engen Gassen und Fachwerkhäusern geprägt, von denen sich manche mitsamt ihren bunten Blumenkästen in den Kanälen des Flusses Ill spiegelten.

»Weißt du eigentlich, warum man den Stadtteil hier ›La Petite France‹ nennt?«, fragte Ida ihren Bruder. »Klein-Frankreich – das ergibt ja eigentlich keinen Sinn.«

»Keine Ahnung«, gab Oskar zu. »Auf jeden Fall muss es früher, als die Gerber hier noch tätig waren, bestialisch gestunken haben.«

Das konnte Ida sich vorstellen. Sie hatte einmal in Stuttgart beim Ledergerben zugeschaut, und der strenge Geruch war äußerst unangenehm gewesen.

»Die meisten Fachwerkhäuser hier haben schon zwei- bis dreihundert Jahre auf dem Buckel«, wusste ihr Bruder. »Sie sind zu den großen Dachböden hin offen, dort wurde früher das Leder getrocknet.«

Schließlich waren sie an der Adresse von Madame Joséphine Martinet eingetroffen. Sie gehörte zu einem zweistöckigen Fachwerkhäuschen, das direkt am Ill-Kanal gegenüber vom berühmten Maison des Tanneurs stand. Ida klingelte, und eine kleine Dame mit schneeweißem Dutt öffnete ihnen.

»Madame Martinet?«, vergewisserte sich Oskar.

»Die bin ich«, sagte die Frau, die zu Idas Erleichterung bereits um die achtzig Jahre alt sein musste. Ihr Gesicht war, wie Ida fand, jedoch noch immer von großer Anmut. »Und Sie müssen Oskar sein. Sie sehen Ihrem Vater unfassbar ähnlich.«

»Genau, und das ist meine Schwester Ida«, stellte er vor.

»Freut mich. Wenn Fränzle von Ihnen geschrieben hat, habe ich mir immer ein kleines Mädchen vorgestellt, keine so schöne Frau«, kicherte sie. »Möchten Sie auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kougelhopf mit hereinkommen?«

»Ich muss leider zur Universität, ein paar Formulare unterzeichnen«, entgegnete Oskar bedauernd. »Ein anderes Mal gern.«

»Ach, dann gebe ich Ihnen den Kuchen einfach mit. Junge Menschen müssen doch kräftig essen. Treten Sie bitte ein – ganz kurz.«

Im Haus roch es angenehm nach Vanille. Ida sah sich neugierig in der holzgetäfelten Wohnstube um, die so niedrig war, dass Oskar den Kopf ein wenig einziehen musste. Überall gab es Fotografien von Bäckern in Backstuben oder vor ihren Geschäften. Auf einer entdeckten die Geschwister auch Madame Martinet und Franz Tritschler, als er in Oskars Alter gewesen war. Nun fiel Ida wieder ein, dass ihr Papa einst von einer alten Mentorin in Straßburg erzählt hatte.

»Sie haben meinem Vater mit seiner ersten Bäckerei geholfen?«, erkundigte sie sich, als die greise Dame aus der Küche zurückkehrte. In ihrer Hand hielt sie die in Butterbrotpapier verpackten Kuchenstücke.

Madame Martinet nickte. »Nach dem Tod meines Mannes wurde ich zum Ehrenmitglied der Bäckerinnung gewählt. So konnte ich dem jungen Franz Räumlichkeiten besorgen. Leider gab es damals noch sehr viel Hass gegen die Deutschen. Richtig erfolgreich wurde er deshalb ja erst in Stuttgart.«

Oskar nickte.

»Ich freue mich so, dass er nun erneut sein Glück bei uns versucht«, sagte die alte Dame und reichte ihnen die Kuchenstücke.

»Der Kougelhopf duftet himmlisch, vielen Dank«, sagte Ida höflich.

»Lassen Sie ihn sich schmecken.«

»Vielen Dank. Wissen Sie eigentlich, wie der Name Kougelhopf entstanden ist?«, erkundigte sich Ida, obwohl sie ahnte, dass ihr Bruder nicht begeistert über diese weitere Verzögerung sein würde. »Das frage ich mich schon, seit ich ein kleines Mädchen bin. Früher dachte ich immer, es hätte etwas mit hüpfenden Kugeln zu tun.«

Madame Martinet lächelte. »Auch eine schöne Idee«, fand sie. »Manche sagen, der Name leite sich von der Kapuze der Kapuziner ab, die heißt nämlich Gugel. Und so, wie die Kapuze einen Kopf verhüllt, verhüllt die Kuchenform, die Gugel, den Kuchen, bis man sie lupft, also hochhebt.«

»Dann müsste es ja Gugel-Lupf heißen«, kicherte Ida.

»Wissen Sie denn, wer den Kougelhopf erfunden hat?«, fragte Madame Martinet.

»Natürlich, das waren die Österreicher«, mischte sich Oskar ins Gespräch. »Und nach Frankreich kam der Gugelhupf, weil Maria Theresia ihrer Tochter Marie-Antoinette das Rezept für den Kuchen an den Versailler Hof schickte. Die hatte nämlich schlimmes Heimweh. Da aber diese Köstlichkeit nicht nur der Königin vorzüglich schmeckte, wurde der Kuchen schnell im ganzen Land sehr beliebt. Das hat mir ein Bäcker aus Wien erzählt, der unseren Vater mal in Stuttgart besucht hat.«

Joséphine Martinet konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Ich befürchte, der Herr hat Ihnen einen Bären aufgebunden.«

Oskar sah sie verdutzt an, und die alte Dame erläuterte: »Das kann schon deshalb nicht stimmen, weil man auch Gugelhupf-Kuchenformen aus dem siebzehnten Jahrhundert gefunden hat, also lange vor Marie-Antoinette.«

»Ach so?« Ida war erstaunt. Davon musste sie unbedingt ihrem Vater berichten.

»Hier erzählt man sich eine ganz andere Version«, erklärte Madame Martinet. »Die Heiligen Drei Könige sollen einst ihre Rückreise im Elsass unterbrochen haben. Die Bewohner von Ribeauvillé haben die weit gereisten Gäste herzlich empfangen, und diese waren so dankbar, dass sie ihnen etwas backten. Und nun raten Sie mal, was?«

»Einen Gugelhupf?«

»Genau, ein Gebäck in Form eines Turbans«, bestätigte sie.

»Stimmt«, gab Ida zu. »Ein bisschen sieht ein Gugelhupf aus wie ein Turban.«

»Bis auf den Schlot in der Mitte«, lachte die Witwe. »In Ribeauvillé sind sie sehr stolz auf diese Geschichte. Jeden zweiten Sonntag im Juni wird deshalb ein Fest begangen – die Fête du Kougelhopf.«

»Das klingt schön«, rief Ida. »Da muss ich unbedingt einmal hin.«

»Es ist sehr zu empfehlen«, sagte Madame Martinet und fügte dann selbstbewusst hinzu: »Aber einen Gugelhupf, der so schmeckt wie meiner, werden Sie dort nicht finden.«

Als die Tritschler-Geschwister nach gut zwanzig Minuten vor dem imposanten Hauptgebäude der Universität ankamen, hatte Oskar seine großen Kuchenstücke bereits vertilgt. »Madame Martinet hatte recht, schmeckt kolossal gut«, mümmelte er und leckte sich die Finger ab.

Ida hingegen hatte den Kuchen schon wieder vergessen. Sie bewunderte, wie schon knapp sieben Jahre zuvor, den Prunkbau, der mit seinen vier Säulen und der ausladenden Eingangstreppe einem Palast glich. Hier hatte sie seinerzeit den Kaiser gesehen!

»Mit reinnehmen kann ich dich leider nicht«, meinte Oskar bedauernd.

»Das ist nicht schlimm«, erwiderte seine Schwester rasch. »Damit habe ich ja gar nicht gerechnet. Ich setze mich dort auf die Bank und beobachte ein wenig die Menschen.«

»Gut, ich beeile mich da drinnen. Wir haben ohnehin nicht so viel Zeit. Um zwölf will Maman mit uns den Verkaufsbereich begutachten«, verkündete Oskar und hastete in Richtung Eingang.

Kaum war ihr Bruder im Gebäude verschwunden, bemerkte Ida einen bärtigen alten Mann in lumpiger Kleidung, der über den Platz vor der Universität schlurfte. Er war offenbar obdachlos, zog allerlei Unrat in einem Leiterwagen hinter sich her. Als er gerade den Eingang passierte, kamen drei Studenten aus dem Gebäude und gingen dann die Treppe vom Portal hinunter. Sie musterten den Obdachlosen abschätzig. Einer von ihnen, ein großer, schlaksiger Kerl, ging unvermittelt wütend auf ihn los. »He, Alter, verschwinde hier!«, rief er auf Deutsch. »Diese Universität ist unserem Kaiser gewidmet, du gottverdammter Clochard!«

»Die darf nicht durch so was wie dich besudelt werden«, stimmte sein tumb wirkender, muskulöser Kommilitone zu.

Ida bemerkte die Angst des alten Mannes, der zwar versuchte davonzueilen, aber so schlecht zu Fuß war, dass er stolperte. Sie unterdrückte einen erschrockenen Schrei, als der Obdachlose nach zwei weiteren Schritten zu Boden fiel. Zu allem Übel trat nun der dritte Student nach dem Alten.

Von unbändigem Zorn gepackt, sprang Ida von der Bank auf. »He! Hören Sie sofort auf damit!«

In diesem Moment tauchte scheinbar aus dem Nichts ein hochgewachsener, sportlich wirkender junger Mann mit dunklem Haar und schönem Gesicht auf. Bevor Ida recht einordnen konnte, was geschah, hatte er sich schützend zwischen den Obdachlosen und den nach ihm tretenden Studenten gedrängt. Als der nach dem Hochgewachsenen schlagen wollte, wich dieser ihm immer wieder geschickt aus – fast erinnerte seine Reaktion an einen Tanz, der den Zorn des Angreifers ins Leere laufen ließ. Auf diese Weise brachte der Dunkelhaarige unmerklich zunehmend Abstand zwischen den alten Clochard und seine Angreifer. Doch es dauerte nicht lange, bis die sich von ihrer Überraschung erholt hatten und begannen, den jungen Mann einzukreisen. Im nächsten Moment schlugen und traten sie zu dritt brutal auf ihn ein. Der Retter des Obdachlosen hatte allein keine Chance.

Sie werden ihn umbringen, dachte Ida entsetzt. Ohne sich wirklich im Klaren zu sein, was sie eigentlich tat, griff sie nach einem größeren Ast, der unter einem Baum lag, und hastete zu den kämpfenden Männern hinüber.

Dort holte sie weit aus und drosch dem Muskulösen, der auf den inzwischen mit blutiger Nase zu Boden gegangenen jungen Mann einschlug, mit voller Wucht auf den Hinterkopf. Mit einem Schmerzensschrei ging er in Deckung. Als ihm sein schlaksiger Kumpan zu Hilfe eilen wollte, stieß ihm der Obdachlose, der mittlerweile wieder aufgestanden war, seinen Leiterwagen vor die Beine, sodass er darüber stolperte und der Länge nach hinfiel. Dem jungen Retter des Clochards gelang es, nunmehr von den beiden anderen befreit, den dritten Angreifer, einen etwas korpulenten Rotschopf, zu überwältigen und ihm den Arm auf den Rücken zu drehen. Dieser schrie vor Schmerz und Angst auf. Der Muskulöse sandte Ida einen hasserfüllten Blick, doch sie wedelte drohend mit dem Ast.

»Verschwinde besser, du Dreckskerl!«, fauchte sie. »Mein Verlobter ist seit unserem letzten Streit auf einem Auge blind.«

Der Clochard hatte währenddessen einen antik wirkenden Säbel aus dem Berg von Unrat auf seinem Leiterwagen gezerrt – und hielt ihn, als wisse er genau, wie man damit umging.

»Ich war 1870 im Husarenregiment«, knurrte er in gebrochenem Deutsch.

Die drei Angreifer wechselten einen beunruhigten Blick und stoben Sekunden später in Richtung Innenstadt davon.

Der Alte ließ den Säbel sinken und lächelte seinen beiden Rettern zu.

»Ich danke Ihnen«, sagte er gerührt auf Französisch. »Dass sich jemand für einen einsetzt, so etwas erfährt unsereins nicht oft – noch dazu von zwei so vornehmen jungen Leuten.«

»Mir müssen Sie nicht danken«, versicherte der hochgewachsene Jüngling grinsend. »Mein Auftritt als heldenhafter Retter ging ja gründlich daneben. Sie waren da wesentlich beeindruckender, Mademoiselle.«

Bewundernd deutete er eine Verbeugung in Idas Richtung an und fragte dann etwas unsicher: »Haben Sie wirklich Ihrem Verlobten ein Auge ausgestochen?«

Ida lachte auf, schüttelte den Kopf und antwortete ihrerseits auf Französisch: »Ich habe gar keinen Verlobten. Die Geschichte mit dem Auge habe ich aus einem Schauerroman.«

»Das freut mich«, meinte der Fremde mit den – wie sie fand – ungemein sinnlichen Lippen. »Also beides. Mein Name ist übrigens Lucien Picard.«

»Ida Tritschler.« Sie sprach ihren Namen offenbar so deutsch aus, dass er erkannte: »Oh, Sie sind Deutsche. Ihr Französisch ist perfekt. Leben Sie schon länger in Straßburg?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind erst gestern Abend hergezogen, aber ich hatte in Stuttgart drei gute Französischlehrer im Haus. Es tut mir leid, dass meine Landsleute hier so frech waren«, entschuldigte sie sich und wandte sich an den Obdachlosen. »Geht es Ihnen denn wieder gut, Monsieur?«

Der Alte, der die Unterhaltung zwischen den beiden jungen Menschen mit einem sanften Schmunzeln verfolgt hatte, nickte und zog seinen Hut. »Nochmals herzlichen Dank, die Herrschaften. Alles Glück dieser Erde für Sie beide! Ich empfehle mich besser, bevor es meinetwegen noch mehr Ärger gibt.«

»Schönen Tag noch, Monsieur Le Prof«, wünschte Lucien Picard.

Als der Clochard mit seinem Wägelchen davonging, sah Ida Lucien erstaunt an. »Monsieur Le Prof? Kennen Sie den Herrn?«

»Kennen ist zu viel gesagt«, erläuterte er. »Wir unterhalten uns manchmal kurz, wenn ich ihm etwas Geld spendiere. Le Prof ist sein Spitzname. Es gibt aber in der Tat Gerüchte, dass dieser Herr einmal ein angesehener Professor war. Mit etwas Pech und Teufel Alkohol kann wohl jeder sein geregeltes Leben verlieren.«

Ida fragte sich, was den Mann wohl derart aus der Bahn geworfen haben mochte. Doch – wie sie es von ihrem Umgang mit den Konditoreikunden gewohnt war – wechselte sie gegenüber Lucien Picard nun zu einem für ihn angenehmen Thema: »Studieren Sie hier?«

Lucien bejahte. »Biologie.«

»Wie aufregend«, kommentierte Ida. »Ich fand die Arbeit von Naturforschern schon als Kind wahnsinnig spannend. Flora und Fauna untersuchen – draußen in der Schöpfung und in einem Labor … den Geheimnissen des Lebens auf der Spur.«

»Genau das hat mich hierhergebracht«, bestätigte Lucien. »Die Neugier, diese Rätsel zu lösen. Allerdings ist das Studium selbst leider oft öde Paukerei. Das kann einem schon manchmal die Laune verhageln.«

»Die verhagelte Laune hat man den drei Angreifern vorhin ja deutlich angemerkt«, entgegnete Ida schmunzelnd.

»Nun, die Kerle waren allerdings aus der Rechtswissenschaft«, stellte Lucien richtig. »Na ja, aber auch für die drei Idioten gibt es noch Hoffnung. Schließlich haben Quallen ja auch sechshundertfünfzig Millionen Jahre ohne Gehirn überlebt.«

Ida musste spontan lachen. »Mein Bruder fängt bald ebenfalls mit Jura an. Mit solchen Kommilitonen wird er wohl nicht viel Freude haben.«

»Ach, keine Sorge, Gerüchten zufolge soll es auch nette Rechtswissenschaftler geben«, meinte Lucien grinsend.

Wie aufs Stichwort kam in diesem Augenblick Oskar aus dem Universitätsgebäude. Er sah den gut aussehenden Fremden an der Seite seiner Schwester etwas konsterniert an.

»Ich habe mich eigens für dich beeilt«, sagte er. »Aber wie ich sehe, ist dir nicht langweilig gewesen.«

»Das kann ich nun wirklich nicht behaupten«, entgegnete Ida und wechselte einen vielsagenden Blick mit Lucien. »Das ist Monsieur Picard. Biologie. Monsieur Picard, das ist mein Bruder Oskar. Ein Beispiel für die Netten in der Rechtswissenschaft.«

Die Männer nickten sich zu, und Oskar fragte seine Schwester: »Wollen wir dann unseren Laden unter die Lupe nehmen?«

»Ach, stimmt, das hatten wir ja als Nächstes vor«, fiel Ida mit Bedauern wieder ein. Zu gern hätte sie noch länger mit dem schmucken Lucien Picard geplaudert.

»Auf Wiedersehen, Fräulein Tritschler«, sagte dieser nun auf Deutsch, und es schmeichelte ihr, dass sie auch bei ihm ein wenig Enttäuschung über das abrupte Ende ihres Gesprächs festzustellen glaubte.

»Das hoffe ich«, entgegnete sie aufrichtig und machte sich mit ihrem Bruder auf den Weg. Wenn sie ein Mann wäre, sie hätte spontan um ein Rendezvous gebeten. Aber hatte sie nicht stets darüber geschimpft, dass die Frauen so viel weniger Rechte hatten als das sogenannte starke Geschlecht? Warum eigentlich sollte sie sich nicht über die Konventionen hinwegsetzen, wenn sie die angenehme Plauderei gern fortsetzen wollte? Also drehte sie sich um und rief: »Monsieur Picard!«, während Lucien in exakt dieser Sekunde rief: »Fräulein Tritschler!«

Beide mussten erneut schmunzeln.

»Ja?«, fragte sie, doch er erwiderte: »Sie zuerst, bitte!«

»Ich wollte fragen, ob Sie unser angenehmes Gespräch einmal fortsetzen möchten«, sagte sie und spürte zu ihrem Unmut, dass sie errötete. Als sie den Satz ausgesprochen hatte, klang er für sie, als werfe sie sich Lucien Picard an den Hals. Zumal der sonst so offene Oskar sie irritiert von der Seite musterte. Hatte sie sich gerade bis auf die Knochen blamiert? Doch zu ihrer Erleichterung schien der junge Franzose sich über ihren Vorschlag sehr zu freuen.

»Genau darum wollte ich Sie eben auch bitten«, gestand er. »Ich könnte Ihnen unsere Labore zeigen, wenn es Sie interessiert.«

»Und wie«, beeilte sich Ida zu sagen. »Wann würde es Ihnen denn passen?«

»Ich richte mich ganz nach Ihnen«, strahlte Lucien. »Wären Sie denn morgen früh um zehn Uhr verfügbar? Wir könnten uns hier an dieser Bank treffen.«

Ida nickte freudig. »Gern.«

»Dann ist es also ausgemacht. Ich freue mich sehr, Fräulein Tritschler.«

»Ich mich auch, Monsieur Picard.«

»Es schickt sich aber nicht, dass du dich ohne Begleitschutz mit einem unverheirateten Mann triffst«, erinnerte Idas Bruder grinsend, als sie außer Hörweite des Biologiestudenten waren.

Sie lachte auf. »Aber mit einem verheirateten Mann ginge das, oder wie? Und war bei deinen Treffen mit den diversen jungen Frauen in Stuttgart jemals ein Anstandswauwau dabei?«

Oskar schüttelte versonnen den Kopf. Bei der Erinnerung an diese schönen Stunden konnte er nicht umhin zu lächeln. »Nein, das wäre ja furchtbar gewesen.«

»Na siehst du«, entgegnete Ida.

»Aber ich wusste ja auch, dass ich keine der Damen bedränge«, gab Oskar, nun etwas ernster, zu bedenken. »Was, wenn dieser Picard euer Alleinsein missbraucht – und du dem großen Kerl dann hilflos ausgeliefert bist?«

»Das wird er nicht«, entgegnete Ida. »Ich habe genauso viel Menschenkenntnis wie die Stuttgarter Fräuleins, die dir vertraut haben.«

Dieser Vergleich schien Oskar nicht zu beruhigen. Aber Ida nahm es nur noch am Rande wahr. Sie stellte fest, dass die Vorstellung, von Lucien Picard in der Einsamkeit eines Biologielabors ungefragt geküsst zu werden, aufregend prickelte. Es war schon merkwürdig: In Stuttgart hatten die Avancen der Burschen sie völlig kaltgelassen, es war einfach keine seelische Verbindung zustande gekommen. Doch bereits an ihrem ersten Morgen hier im Elsass lernte sie einen Mann kennen, bei dem das ganz anders war. Sie musste an die Worte des Großvaters denken – der hatte nur teilweise recht gehabt. Nicht nur Straßburgs Frauen waren eine Reise wert.

3

»Wunderschön«, freute sich Ida.

Sie stand mit Mutter Elise und Oskar in ihrem neuen Geschäft am Münsterplatz. Es roch noch nach Holz, Tapetenkleister und frischer Farbe. Die Scheiben der Warenkästen funkelten mit den goldgerahmten Spiegeln, die an der Wand hingen, und dem sauber gebohnerten Kachelfußboden um die Wette.

Im Café neben dem Verkaufsbereich luden weich gepolsterte Bänke und Stühle in halbrunden Nischen an runden Holztischen zum Verweilen ein. Die für das Elsass typischen rot-weiß karierten Tischdecken und die holzgetäfelten Wände unterstrichen die gemütliche Atmosphäre.

»Ich kann mir schon vorstellen, wie sich die Gäste hier über unsere Köstlichkeiten hermachen«, freute sich Ida.

In diesem Augenblick klopfte eine Frau von außen gegen die Scheibe des Cafés.

»Ich gehe«, sagte Ida rasch und eilte zur Eingangstür.

Davor stand eine schöne, nobel gekleidete Frau mit dunklem Haar. Sie mochte etwas jünger als Idas Mutter sein. Der Blick ihrer dunklen Augen war so durchdringend, dass Ida ganz unsicher wurde. »Wir öffnen leider erst am 1. Mai, Madame.«

»Ich wollte nur das hier vorbeibringen«, sagte die Fremde und reichte der Bäckerstochter Brot, Salz und eine Münze. »Ein Willkommensgruß. Meinem Mann gehört die Patisserie Goldschmidt dort drüben. Ist Ihr Vater nicht da?«

»Nein, er reist erst nächste Woche an«, entgegnete Ida. »Aber meine Mutter ist …«

»Dann komme ich einfach noch mal wieder«, unterbrach die Dame sie mit einem bemühten Lächeln, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon.

»Wer war es?«, fragte Oskar, der gerade konzentriert ein neues Kassenbuch anlegte, ohne aufzusehen.

»Eine Madame Goldschmidt«, antwortete seine Schwester nachdenklich. »Von der Patisserie um die Ecke. Als sie gehört hat, dass Vater noch nicht da ist, hatte sie es recht eilig, wieder zu verschwinden.«

»Erstaunlich, dass sie uns willkommen heißen will«, wunderte sich ihre Mutter und musterte das Brot und das Salz in Idas Händen. »Wir werden ja Konkurrenz für ihre Patisserie sein.«

»Ja«, bestätigte Oskar und sah grinsend vom Kassenbuch auf. »Da würde man eher erwarten, dass sie uns die Scheibe einschlägt.«

Ida konnte sich nicht erklären, warum, aber aus irgendeinem Grund beschlich sie bei dem Gedanken an die Fremde ein mulmiges Gefühl.

In der Nacht hatte Ida vor Aufregung wegen des bevorstehenden Rendezvous kaum schlafen können. Sie war sehr früh aufgestanden, um sich von Mademoiselle Nanty die Haare richten zu lassen. Bisher hatte sich die Bäckerstochter nicht daran gestört, dass noch nicht ihre gesamte Garderobe angekommen war. Aber heute verfluchte sie die Verzögerung. Das zartblaue, blütenbestickte Kleid, das ihre Augen so gut zur Geltung brachte, wäre für den heutigen Anlass perfekt gewesen – aber das befand sich noch auf dem Weg von Stuttgart hierher. Seufzend musterte sie die dürre Auswahl in ihrem Schrank und wählte schließlich ein waldgrünes Kleid aus, das ihre ohnehin schon schmale Taille gekonnt in Szene setzte. Sie nahm es heraus, hielt es vor sich und nickte beim Blick in den Spiegel zufrieden. Durch die zarte Stickerei in einem helleren Grünton wirkte es zwar elegant, aber nicht zu auffallend für einen Besuch im Universitätslabor.

Mademoiselle Nanty half ihr beim Ankleiden und machte sich dann daran, Ida zu frisieren. Normalerweise plauderte sie während der Morgentoilette gern mit der Hausdame, aber heute war sie zu aufgeregt, um auch nur einen Ton herauszubringen. Antoinette Nanty störte sie nicht. Sie hatte ein feines Gespür für die jeweilige Stimmungslage ihrer jungen Herrin. Konzentriert kämmte sie Idas Haare zu einer halb geflochtenen, halb gesteckten Frisur und freute sich schließlich: »Ihre Haare sitzen heute besonders gut.«

Auch Ida gefiel, was sie sah. »Sie sind ein Schatz, Mademoiselle Nanty.« Sie liebte die Frau, als gehöre sie zur Familie – und küsste sie nun dankbar auf die Wange.

Ida war froh, dass ihr Bruder noch in den Federn lag. So blieben ihr weitere ironische Mahnungen und Sticheleien erspart.

Eine halbe Stunde zu früh traf sie vor der Universität in der Neustadt ein – und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass Lucien dennoch bereits auf »ihrer« Bank saß.

Er strahlte bei ihrem Anblick, und sie verspürte augenblicklich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Zu ihrer Erleichterung wirkte der junge Picard seinerseits etwas nervös; ihn schien ihr Rendezvous also ebenfalls nicht kaltzulassen.

»Guten Morgen, Mademoiselle Tritschler«, begrüßte er sie mit einem galanten, auf ihre Seidenhandschuhe gehauchten Kuss. »Schön, Sie zu sehen. Wenn ich das sagen darf: Sie sehen bezaubernd aus. Und Ihr Bruder ist nicht als Anstandsbegleitung mitgekommen«, stellte er erleichtert fest.

Sie kicherte. »Nein, es wäre ihm sicher lieber gewesen, aber die Chance hat er verschlafen.«

»Dann zeige ich Ihnen unser Labor also exklusiv«, freute sich Lucien. »Wollen wir aufbrechen?«

Wenig später betrachtete Ida fasziniert eine Amöbe durch ein glänzendes Mikroskop. Lucien erklärte ihr dazu die Fakten über den Einzeller: »Dieses Wechseltierchen ist nicht mal einen halben Millimeter groß.«

»Wovon ernährt sich so ein winziges Lebewesen denn?«, erkundigte sich Ida.

»Von Bakterien und noch kleineren Einzellern«, antwortete er. »Die fängt es mit seinen Scheinfüßchen.«

Ida sah vom Mikroskop in Luciens grüne, braun gesprenkelte Augen und bewunderte seine schön geschwungenen Brauen. »Unglaublich, wie viel dem menschlichen Auge verborgen bleibt.«

Er lächelte. »Und doch wird man manchmal ganz unverhofft mit einem wunderschönen Anblick überrascht.«

Diese Lippen! Ida hatte Mühe, sich aus seinem Bann zu lösen.

»Apropos schöner Anblick«, sagte er schließlich. »Wenn Sie vorgestern erst angekommen sind – waren Sie dann schon auf dem Turm der Kathedrale?«

»Nein, kann man da denn hinauf?«, wunderte sie sich.

»Man kann«, erwiderte Lucien. »Und wir sowieso – Herr Busch, der Küster, ist ein alter Freund meines Vaters.«

Ida lächelte bei der Vorstellung, noch mehr Zeit mit Lucien verbringen zu können. »Dann würde ich mir das sehr gern anschauen.«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir einen Umweg über das Gerberviertel machen?«, bat er. »Bei der Prügelei gestern ist meine Taschenuhr leicht beschädigt worden. Der Uhrmacher meinte, sie sei heute schon fertig.«

Ida hatte nichts dagegen, ganz im Gegenteil. Da das Petit France zwei Kilometer entfernt war, würden sie eine ganze Weile zusammen unterwegs sein. »Gern.«

»Was macht Ihre Familie denn in Straßburg?«, erkundigte sich der Biologiestudent auf ihrem Weg zum Gerberviertel.

»Mein Vater hat in Stuttgart drei Konditoreien. Und nun will er es auch hier in Straßburg wagen«, antwortete Ida.

Er sah sie erstaunt an. »Na, so ein Zufall. Meine Familie besitzt ebenfalls eine Patisserie.«

Ida war nicht minder verblüfft – und auch ein wenig beunruhigt: Wie würde er auf die Tatsache reagieren, dass die Tritschlers als Mitbewerber in die Stadt gekommen waren?

Doch Lucien zeigte keine Spur von Verärgerung oder Missfallen, stattdessen erzählte er gut gelaunt: »Wenn es nach meinem Vater ginge, würde ich irgendwann meinem jüngeren Bruder bei der Leitung helfen.«

»Aber das wollen Sie nicht?«, vergewisserte sich Ida, die erleichtert war, dass Lucien die Konkurrenz durch ihre Familie offenbar nicht zu stören schien.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, würden Sie das denn wollen? Sich ein Leben lang mit Gebäck zu beschäftigen?«

»Ach, im Verkauf arbeite ich schon gern. Ich mag es, den Kunden ihre Wünsche zu erfüllen, sie mit unseren gebackenen Träumen ein bisschen glücklicher zu machen«, entgegnete Ida.

»Gebackene Träume … Wie Sie das sagen, klingt es sogar ganz schön, das Konditorgeschäft«, gab Lucien zu. »So habe ich das noch nie gesehen, auch wenn unsere Familie damit sehr erfolgreich ist. Unsere Patisserie beliefert alle Hotels der Gegend mit Leckereien, und der Bürgermeister geht bei uns ein und aus.«

Ida war beeindruckt. Von Mademoiselle Nanty wusste sie, dass die Wahl Otto Backs zum Bürgermeister vor sieben Jahren von großer Bedeutung für die bessere Verständigung zwischen der elsässischen und deutschen Bevölkerung gewesen war. Wenn dieser hohe Herr im Hause Picard verkehrte, musste das Ansehen der Familie wirklich enorm sein.

»Ich wollte von jeher lieber die Welt bereisen und Flora und Fauna erforschen«, fuhr Lucien fort. »Ich bin zwar der Erstgeborene, aber zum Glück will mein Bruder die Patisserie übernehmen. Er hat auch schon geheiratet und einen Stammhalter gezeugt. Deshalb wird man mir wohl die Abenteuer gönnen.«

»Das klingt so aufregend. Schade, dass man Frauen keine Abenteuer gönnt«, erwiderte Ida seufzend. »Die enzige Bildung, die man ihnen zugesteht, ist die Vorbereitung darauf, eine möglichst gute Mutter und Ehefrau zu sein.«

Er sah ihr erneut in die Augen. »Ach, es gibt bestimmt auch manchen Ehemann, der sich freut, wenn sich seine Frau selbst verwirklicht.«

Das hatte er gewiss nur gesagt, um ihr ganz allgemein Mut zu machen. Aber Ida konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie er in einer Ehe seiner glücklichen Angetrauten die Verwirklichung ihrer Träume gönnen würde. Aus Angst, Lucien könne ihre Gedanken erahnen, wechselte sie das Thema: »Mein Bruder und ich haben uns gefragt, warum man dieses Viertel La Petite France nennt.«

Lucien kannte die Antwort: »Ich habe mal gehört, das ginge auf das sechzehnte Jahrhundert zurück. Da stand hier ein Krankenhaus, in dem wurden … bestimmte Krankheiten behandelt. Damit hatten sich die Straßburger Söldner der französischen Könige angesteckt. Eine davon nannten die Deutschen seinerzeit die ›Franzosenkrankheit‹, und so wurde daraus irgendwann La Petit France.«

»Was war das für eine Krankheit?«, hakte Ida arglos nach.

Lucien druckste ein wenig herum und nuschelte dann: »Na ja, scheinbar haben die französischen Soldaten in den italienischen Kriegen nicht nur gekämpft, sondern auch … Frauen getroffen. Ähm … von dieser Art ist diese Franzosenkrankheit.«

Ida verstand noch immer nicht. »Frauen? Aber was soll das für eine Krankheit sein?«

Lucien wirkte resigniert, anscheinend hielt er es für sehr unangemessen, das nun Folgende vor einer Dame auszusprechen, aber was blieb ihm angesichts ihres Insistierens anderes übrig? »Na ja, der medizinische Name für diese Seuche ist wohl … äh …« Er senkte die Stimme. »Syphilis.«

»Oh, aha.« Ida errötete augenblicklich. Durch ihren scheinbar harmlosen Themenwechsel waren sie nun bei Geschlechtskrankheiten angelangt. Na wunderbar!

Sie war froh, dass Lucien rasch auf etwas Unverfängliches zu sprechen kam. »Werden Sie denn in Ihrem Geschäft in erster Linie schwäbische Backspezialitäten verkaufen?«

»Natürlich dürfen Wibele, Laugenbrezeln und -brötchen nicht fehlen. Aber mein Vater macht auch Linzer Torte und Frankfurter Kranz sehr gut. Und den hier typischen Kougelhopf liebt er ebenfalls.«

»Ah, dann habe ich einen Ratschlag für Sie. Stammt von meinem Herrn Papa. Viel habe ich mit der Bäckerei ja nicht am Hut, aber das konnte ich mir merken«, sagte Lucien und fuhr fort: »Legen Sie die Rosinen für den Kougelhopf vor dem Backen ein paar Stunden in Himbeergeist ein – zumindest für die erwachsenen Kunden.«

»Ich werde es meinen Vater ausrichten«, meinte Ida. »Danke sehr.« Eine Viertelstunde nachdem sie Luciens reparierte Taschenuhr abgeholt hatten, kamen sie vor dem imposanten Münster an. Ida hoffte, dass niemand von der Familie und dem Personal ihren Begleiter und sie vom Haus aus zwischen den Passanten entdecken würde.

Das Liebfrauenmünster – oder die Cathédrale Notre-Dame, wie sie auf Französisch hieß – war vom zwölften bis zum fünfzehnten Jahrhundert aus rosa Vogesensandstein gebaut worden, davon hatte Ida bereits bei ihrem ersten Besuch gehört.

»Die Kathedrale wirkt ja ein wenig asymmetrisch. Das liegt daran, dass der südliche Turm nie fertiggestellt wurde«, referierte Lucien. »Der Boden war durch die vielen Überschwemmungen nicht allzu fest. Ein weiterer Turm hätte den Baugrund wohl zu sehr belastet. Ein Erdbeben in Basel 1356 hat die Sorgen dann noch verschärft.«

»Ach so.« Ida sah an dem Monumentalgebäude hinauf.

»Der Nordturm ist ja über hundertvierzig Meter hoch«, erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters.

»Das stimmt«, bestätigte Lucien. »Bis vor zwanzig Jahren war das Münster sogar das höchste Bauwerk der Menschheit. Der romanische Vierungsturm wurde im Deutsch-Französischen Krieg vor zwanzig Jahren schwer beschädigt – preußisches Artilleriefeuer. Dombaumeister Gustave Klotz hat ihn durch den neuen Turm ersetzt – der ist noch größer als der alte. Sollen wir uns jetzt auf die Aussichtsplattform hochwagen?«

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