Die Perspektive des Zwielichts - Andrea Fehringer - E-Book

Die Perspektive des Zwielichts E-Book

Andrea Fehringer

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Beschreibung

Fünf Ausgangssituationen, zehn Short Storys! Eine Frau kommt zu einem Tierpräparator und will ihren Mann ausstopfen lassen … Ein seltsamer Imker hat in seinem Keller ein Geheimnis versteckt … Ein Ehepaar macht sich auf zu einer Zeremonie, bei der ein Schamane allen eine bewusstseinserweiternde Droge verabreicht … Ein Teenager wacht in der Früh auf und merkt, dass er über Nacht um zwanzig Jahre gealtert ist … Eine junge Frau fliegt nach New Orleans und kommt bei einer Familie unter, die ihr das Leben zur Hölle macht … Die Perspektive des Zwielichts erzählt jede Geschichte auf zwei Arten. Einmal düster und dann humorvoll. Ein gänzlich neues Leseerlebnis. Willkommen im Paralleluniversum der Unterhaltung

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Ähnliche


ANDREA FEHRINGER

THOMAS KÖPF

DIE PERSPEKTIVE DES ZWIELICHTS

INHALT

I

Gut präpariert

Für die Zukunft präpariert

II

Die Zeremonie

Was sind schon Zeremonien

III

7300 Tage

7301 Tage

IV

Honigmond

Honigmann

V

Eine Perspektive des Zwielichts

Eine andere Perspektive des Zwielichts

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Die Autoren

Danke, dass Sie sich für unser Buch entschieden haben. Wir freuen uns, wenn wir Sie auch weiterhin über unsere Neuerscheinungen informieren dürfen, und laden Sie ein, unseren Newsletter unter www.ueberreuter.at zu abonnieren.

1 Auflage, 2022

© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022

ISBN 978-3-8000-7824-0

ISBN 978-3-8000-8228-5 (E-Book)

E-Book-Ausgabe der 2022 im Carl Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb, www.diesprachagentur.com

Titelbild: Adobe Stock

Covergestaltung und Satz: Saskia Beck, s-stern.com

Konvertierung: bookwire.de, Frankfurt

»Kein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst.«

Thomas Carlyle

Gut präpariert

Das Haus stand grau da. Stille im Innenhof. Leiser Nebel. Die einzige Farbe war das Türschild aus Messing, seltsamerweise ohne Namen. Sie überprüfte, ob die Adresse stimmte, ja, Wannweg 9.

Anna Lindberg drückte den Knopf, Dssss, und das Gartentor öffnete sich einen Spalt. Da sie einen Korb in der rechten Hand trug, schob sie das Tor mit der linken auf und trat ein in den Garten. Er wirkte, als hätte sich längere Zeit niemand mit ihm beschäftigt. Ein Asphaltweg führte durch den begrünten Innenhof in einer Rechtskurve zum Haus. Ihre Stöckelschuhe klackten bei jedem Schritt, und ihr Atem bildete weiße Wölkchen vor Mund und Nase. Obwohl es kalt war für November, trug sie den Zobel offen. Am Ende stand sie vor einer wuchtigen braunen Tür. Anstatt einer Klinke oder eines Knaufs war am Eingang das gebogene Horn eines Mufflons angebracht.

Bevor sie anklopfte, ging die Tür auf. Ein großer Mann in Jeans und Holzfällerhemd stand vor ihr. »Sie müssen Frau Lindberg sein«, sagte er mit wohltemperierter Stimme. Sie nickte. Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das alles bedeuten konnte. »Kommen Sie doch herein. Ich beiße nicht.«

Sie betrat das Haus. »Bitte legen Sie hier ab«, sagte er und deutete auf eine Art Garderobe, die aus Geweihen von Elchen und Hirschen bestand. »Darf ich Ihnen den abnehmen?« Er wartete nicht auf die Antwort und besah den Pelzmantel. »Schöne Arbeit. Zobel können gut klettern. Und bis zu vier Meter weit springen.«

»Danke. Das wusste ich gar nicht.« Sie nahm den Korb, den sie mitgebracht hatte, und wartete, dass er sie weiterbat.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »ich sollte mich vorstellen. Mein Name ist Buschenbrenner, Frank Buschenbrenner. Meine Freunde nennen mich Buschi. Meine Feinde nennen mich Tiermörder« – er lachte auf und wies nach vorne –, »gehen Sie ruhig weiter, Frau Lindberg.«

Im Haus roch es nach Tod und Chemikalien. Bärenfelle stapelten sich in einer Ecke, Antilopen, Büffel und Moschusrinder standen mitten im Raum, und die Wände waren so dicht mit Köpfen von Wildschweinen, Gämsen und Zebras behangen, dass sich das Gemäuer unter der Last zu biegen schien. »Sehen Sie den Seelöwen da?«, fragte er. »Der ist aus Neuseeland.« Mit dem Zeigefinger deutete er auf die andere Wand. »Und der Kopf dort hat einmal einer Giraffe gehört. Sie ist aufgewachsen im südlichen Teil der Sahara. Tagsüber kann es sich dort auf sechzig Grad aufheizen. Ohne Wasser und Proviant wird man schnell zu Tierfutter.«

Anna Lindberg sah auf ihre rot lackierten Fingernägel, mehr aus Verlegenheit. Der Mann schien in der Welt viel herumgekommen zu sein, ihn umgab der Nimbus des Abenteurers. Safari. Fährten lesen. Überleben in Extremsituationen. Sie sah sich zögerlich um und kam sich vor wie in der Albtraumversion eines Zoos. Ein Vexierbild von einem Tiergarten, in dem ausschließlich tote Tiere die Attraktion waren.

»Aber setzen Sie sich doch bitte.« Frank Buschenbrenner klopfte auf ein lindgrünes Sofa, er selbst nahm vis-à-vis Platz in einem Fauteuil mit Camouflage-Muster. »Möchten Sie einen Kaffee oder etwas zu essen?«

»Nein, danke.« Sie schlug die Augen nieder. Beim Gedanken an eine Wildwurst unbekannter Herkunft oder an ein hausgemachtes Schmalz vom Gnu meldete sich ihr Magen.

»Gut, dann kommen wir zum Geschäftlichen.« Er rieb sich die Hände, groß wie Fleischteller. Seine atlantikblauen Augen fixierten sie auf eine Weise, wie Jäger schauen, wenn sie durch ein Zielfernrohr ihre Beute erspähen. »Ich nehme an, es geht um die da, ja?« Er deutete auf den Korb.

»Ja«, sagte Anna Lindberg. »Cilli … ich meine, Cäcilia, so heißt sie, nein, so hat sie geheißen, muss man jetzt sagen. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt.«

»Das ist ganz normal.«

Er sprach in verständnisvollem Ton und sah eigentlich ganz gut aus, Ende dreißig wahrscheinlich, braune Haare und die Haut eines Menschen, der viel Zeit an der frischen Luft verbracht hatte. Die Frisur passte zur Inneneinrichtung, sie war gleichzeitig wild und starr.

Anna Lindberg seufzte, als sie den Korb auf den Tisch stellte. »Unser Kätzchen war unser Ein und Alles, wie ein Familienmitglied. So liebesbedürftig, so kuschelig und auch so selbstbestimmt.«

»Katzen haben Charakter«, sagte Frank Buschenbrenner. »Sie kommen mir vor wie verzauberte Adelige, wiedergeboren in einem Tierkörper, aber mit der Seele eines waschechten Aristokraten.«

Sie schmunzelte. »Da haben Sie recht. Wie gehen wir weiter vor? Brauchen Sie etwas von mir?«

»Ehrlich gesagt, nur den Inhalt des Korbs – Cilli.« Er fuhr sich mit dem Mittelfinger über die rechte Augenbraue, wie ein Künstler, der etwas Großes auszudrücken gedenkt. »Wir bereiten sie vor für die Ewigkeit, wie ich es gerne nenne.« Auf dem Holztisch stand eine Tasse, er nahm einen Schluck. Der Kaffee musste längst kalt sein.

»Was kostet das so bei Ihnen?«

»Das hängt von der Größe des Präparats ab. Achthundert Euro eine Antilope, dreitausend ein Eisbär. Kommt drauf an, wie genau man arbeitet. Ein Fuchs braucht rund zwölf Stunden. Ganz anders eine Giraffe. Ich habe erst vier bearbeitet, und jede hat drei Wochen Arbeit bedeutet.« Er machte eine Pause, wie um zu überlegen. »Für die Katze kann ich Ihnen jetzt schon den Weihnachtstarif anbieten, dreihundert geradeaus.«

»In Ordnung.« Vorsichtig übergab sie ihm den Korb. »Passen Sie gut auf meine Cilli auf.«

»Mit Sicherheit. Ich werde sie mit besonderer Sorgfalt behandeln, versprochen.« Er gab ihr die Hand und sah ihr zwei Sekunden länger in die Augen, als es nötig gewesen wäre. »Ich melde mich bei Ihnen, Frau Lindberg.«

*

Als sie um elf aufwachte, war ihr Mann schon fort. Auf dem Nachtkästchen lag ein handgeschriebener Zettel.

Mein Schatz, bin schon auf dem Weg nach Kapstadt. Komme in drei Tagen wieder zurück. Liebe dich so sehr, Kurt.

Sie lag allein in dem großen Bett mit den weißen Seidenlaken und sinnierte über das Leben und den Tod. Alles war vergänglich, nur manches konnte man beeinflussen. Und welches Leben hatte sie sich ausgesucht? Die Villa im Cottage-Viertel fühlte sich fremd an. Anna Lindberg konnte sich das nicht so richtig erklären. Sie lebte wie eine Millionärin, und dennoch kam sie sich vor wie ihr eigener Schatten. Sie musste sich selbst begleiten und hatte keinen Einfluss auf die Person, die sich Ich nannte.

Vor vier Jahren, noch vor der Hochzeit, hatte Kurt sie mit der Jugendstilvilla überrascht. Da waren sie schon ein paar Monate zusammen gewesen. Er fuhr sie mit seinem Porsche in den Wiener Bezirk Währing, parkte und ließ sie die Augen schließen. Er führte sie ein paar Schritte weiter und sagte: »Jetzt kannst du die Augen öffnen. Darf ich dir unser neues Zuhause vorstellen.«

Kurt Lindberg hatte einen Hang zum Theatralischen. Obwohl er sonst große Auftritte tunlichst vermied. Er hatte keine Familie, keine Freunde, eher Bekannte und jede Menge Geschäftspartner, die kein Deutsch sprachen. Zu ihrer Hochzeit waren sechs Leute erschienen. Kurt reiste viel. Sein Job als Diamantenhändler setzte das voraus. Südafrika, Namibia, Angola, Botswana, Sierra Leone, Australien, Kanada. Diese Reisen unternahm er vorwiegend allein. Anna konnte sich Besseres vorstellen, als im Kongo mit einem hochrangigen Vertreter der Militärjunta über Schürfrechte zu verhandeln oder über den niedrigsten Reinheitsgrad von Diamanten zu scherzen. Lieber war ihr ein Besuch im Day-Spa oder ein kleiner Shopping-Ausflug auf den Kohlmarkt. Louis Vuitton hatte ihr gemailt, dass die neue Kollektion – vorab und exklusiv für Stammkunden – da sei. Schuhe und Taschen waren ihr lieber als Giftschlangen im Urwald.

Anna Lindberg streckte sich im Bett, ach, wie herrlich. Ein Tag ohne Termine. Sie ging ins Badezimmer und erfreute sich am Anblick ihrer Figur. Neunundzwanzig und kein Gramm Fett auf den Hüften. Sie sah aus wie ein Mannequin kurz vor der Anprobe für die Modeschau. Lange schwarze Haare, der Körper ein Geschmeide, alles von Gott geschaffen, okay, bis auf die Brüste, die hat Doktor Schwender so perfekt hinbekommen, dass man nicht einmal den Schimmer einer Narbe sah. Kurt konnte sich glücklich schätzen, sie als Frau zu haben. Immerhin war er zweiunddreißig Jahre älter als Anna. Mehr als doppelt so alt wie sie.

Sie stellte sich unter die Wasserfalldusche, verwendete ein Gel mit Pfirsichduft und legte den Kopf in den Nacken; das Prasseln auf ihr Gesicht war eine Wohltat. Nachdem sie sich abgetrocknet und die Haare geföhnt hatte, benutzte sie eine Körperlotion von La Mer, mit Goldstaub angereichert. Schnell zog die Creme in die Haut ein, sie konnte zusehen. Erstaunlich. Strukturen erscheinen, Strukturen verschwinden.

Ihr iPhone meldete sich mit dem Klingelton, wie früher alte Telefone geläutet hatten.

»Hallo?«

»Frau Lindberg?«

»Ja?«

»Hier ist Frank Buschenbrenner. Sie erinnern sich?« »Natürlich, was kann ich für Sie tun?«

»Cilli ist fertig. Ich habe sie vorgezogen. Ich dachte, das wird Sie freuen.«

»Sie sind ja von der ganz schnellen Truppe«, sagte sie mit einem amüsierten Unterton.

»Ich bemühe mich. In der Savanne bleiben die Langsamen immer auf der Strecke.« Er machte eine kurze Pause. »Ich denke, in der Großstadt ist das nicht anders.« Ihr gefiel die Art, wie er die Welten zu einen verstand, das Wilde und das Urbane. Vor allem, als er sagte: »Es kommt immer drauf an, wer hinter wem her ist.«

»Sie klingen wie jemand, der sich mit dem Jagen auskennt.«

»Ertappt. Aber liegt das nicht in der Natur des Menschen? Ich weiß, ich gleite manchmal thematisch ab, ins Animalische, bitte nehmen Sie mir das nicht krumm.«

»Keinesfalls, ich bin sehr gespannt, wie Sie Cilli … nun ja, hinbekommen haben. Wie machen wir das, schicken Sie sie mir per Boten?«

»Das kann ich gerne tun. Aber wissen Sie, Frau Lindberg, ich schließe die Aufträge gerne mit einem lebendigen Zeichen ab. Sonst wäre das zu banal. Als würde man ein Stück Holz bestellen und liefern.«

»Aha. Lebendiges Zeichen. Was meinen Sie damit?«

»Also wenn es nach mir ginge, und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht verkehrt rüberkommt, wollte ich Sie fragen, ob ich Sie zum Essen einladen darf.«

Stille. Sie dachte nach. »Wissen Sie, ich bin verheiratet.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich dachte mir nur, es wäre eine nette Geste. Sie haben irgendwie traurig gewirkt, kein Wunder nach dem Ableben Ihrer Katze. Aber ich möchte Ihnen keinesfalls zu nahetreten. Es wäre nur eine Abschiedsfeier. Kein Leichenschmaus. Cillis Vermächtnis, könnte man meinen.«

Seine Art zu reden gefiel ihr immer mehr. Er verwendete Wörter, die bei ihr etwas zum Klingen brachten. »Was genau schwebt Ihnen vor, Herr Buschenbrenner?«

»Es gibt einen neuen Italiener in der Innenstadt. Sergios. Kennen Sie den?«

»Ich habe schon davon gehört, war aber noch nicht dort.«

»Na bitte. Das wäre doch eine wunderbare Gelegenheit. In memoriam Cilli. Was sagen Sie dazu?«

Wieder dachte sie angestrengt nach, die Gedanken schlugen Salti in ihrem Kopf. Nach vier Sekunden sagte sie: »Ich bin um 20 Uhr dort.«

*

Als sie das Restaurant betrat und am Eingang ihren Namen nannte, nickte der Kellner und brachte sie zu einer kleinen Loge, wo Frank Buschenbrenner schon saß. Im dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und sauber zurückgekämmten Haaren hatte sie ihn auf den ersten Blick gar nicht erkannt.

»Sie sehen fantastisch aus«, sagte er. Anna Lindberg quittierte das Kompliment mit einem spröden Lächeln. »Danke.«

Das Lokal war voll. Zwei männliche Gäste drehten sich nach ihr um und murmelten etwas Unverständliches. In dem dottergelben Chanel-Kleid mit den roten Jimmy-Choo-Pumps und der Birkin Bag von Hermès sah sie aus wie eine Frau, für die auch der Dompfarrer ein Kirchenfenster eingetreten hätte. Elegant setzte sie sich auf die Bank, ihre Rolex Daytona blitzte kurz auf, und sie sagte: »Schönes Lokal. Sind Sie öfter hier, um … lebendige Zeichen zu setzen?«

Sein Lachen war herzlich. »Nein, das übersteigt ehrlich gesagt mein Budget. Normalerweise schicke ich Kunden nach getaner Arbeit eine kleine Aufmerksamkeit zum Naschen. Eine Hirschwurst, eine Spezialsalami oder so was in der Richtung. Nie mehr.«

»Und bei mir haben Sie eine Ausnahme gemacht, richtig?«

»Ich dachte, die Investition könnte die beste meines Lebens sein.«

Sie nahm die Stoffserviette vom gedeckten Tisch und legte sie sich mit einer geübten Bewegung auf den Schoß. »War das jetzt ein verstecktes Kompliment oder so?«

Bevor Frank Buschenbrenner antworten konnte, stand schon der Kellner da und überreichte ihnen die Speisekarten, als wären sie Familienalben. Luigi stand auf seinem Namensschild. In einem Singsang aus bemühtem Deutsch und lupenreinem Italienisch pries er die Empfehlungen des Tages an. Den gegrillten Oktopus mit Chilischaum, die Tagliolini mit frisch gehobelten Scheibchen von der weißen Alba-Trüffel und den Branzino in der Salzkruste mit geschmortem Mediterrangemüse und einem Basilikumpüree, so flaumig, dass sogar der Chef selbst, Sergio, überrascht war, wie man das hinbekommen hatte. Una Poesia, wie der Kellner sagte, ainäh Gädiecht. Anna nahm das vorgeschlagene Menü, um sich nicht näher mit der Karte auseinandersetzen zu müssen. Frank tauschte den Fisch gegen ein Filetto di Manzo alla Boscaiola. Er konnte Lebewesen, die im Meer schwammen, grundsätzlich nicht viel abgewinnen und nahm daher das Rind mit Steinpilzen, eine Spezialität des Hauses. Danach, wenn noch Platz wäre, könne man sich für die Crème brûlée erwärmen oder einen Brunello di Montalcino zum Taleggio dekantieren, aber mal sehen, der Abend war noch jung. Der Kellner kritzelte alles auf einen Zettel und lächelte, wie um die exzellente Wahl und den guten Geschmack zu bestätigen. Bellissimo. Er zündete die Kerze an, die neben einer Rose in einer schmalen Vase stand. Ob sie diesen Abend mit einem leichten Pinot Grigio aus dem Friaul beginnen wollten? Frank schaute zu Anna hinüber, sie nickte. Aber ja, warum nicht. Perfetto.

»Na bitte. So viele Entscheidungen. Jetzt zu uns«, sagte er und fixierte Anna mit dem Blick eines Raubtiers. »Erzählen Sie mir etwas von sich. Wer ist diese geheimnisvolle Schönheit?«

»Sie schmeicheln mir, Herr Buschenbrenner.« Sie fuhr sich kurz durch die schwarzen Haare.

»Bitte nennen Sie mich Buschi. Oder Frank. Was Ihnen lieber ist.« »Anna.« Sie reichte ihm die Hand zum Per-du. »Wie soll ich anfangen. Ich komme aus einer ziemlich armen Familie in Wels. Gemeindebau.«

»Du bist eine Oberösterreicherin?«

»Gebürtig, ja. Mein Vater war Elektriker, die Mutter zu Hause. Es war nicht gerade das, was man eine Bilderbuchehe nennt. Er trank zu viel, sie trug zu oft Sonnenbrillen.«

»Schlimm«, sagte Frank, legte den Ellenbogen auf den Tisch und die Hand aufs Kinn, Zuhörpose.

»Ich bin ein Einzelkind«, sagte Anna, »und das ist gut so. Eine Schwester oder ein Bruder hätte im Haus nur mehr Leid bedeutet. Na ja. So ist das Leben.«

»Hast du studiert?« Er nahm einen Schluck Wasser.

»Nein, nach der Schule habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Nach Wien. Seit damals habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Putzen? Da war dieses Magazin, Bella, sie haben eine freie Mitarbeiterin für den Fashion-Teil gesucht, und ich habe mich beworben. Ich hatte keine Ahnung von Mode, aber die Chefredakteurin hat mich aufgenommen. Anscheinend habe ich ihr leidgetan. Ja, und irgendwie bin ich dort hängen geblieben. Ich konnte eine Vierzig-Quadratmeter-Wohnung mieten und mir hier langsam ein Leben aufbauen. Die kleine Anna in der großen Stadt. Der einzige Glamour, den ich kannte, spielte sich in dem Magazin ab. Bella. Verlogenheit auf Hochglanz. Gedrucktes Chi-Chi. Aber bitte. Auch so kann man die große weite Welt kennenlernen. Und du?«

Der Wein kam, und Frank setzte eine Miene auf, die Nostalgie vermittelte. »Ich bin ein Kind aus Ottakring. Mein Vater organisierte früher Abenteuerreisen nach Afrika. Eigentlich war er Fleischhauer. Meine Mutter hat ihr Glück bei einem anderen Mann gefunden, irgendeinem Vertriebsheini, der mit ätherischen Ölen handelte. Mein Vater nahm mich manchmal mit auf diese Reisen. Großwildjagden, Tiger, Leoparden, Wasserbüffel. Das hat mich fasziniert, dieses Ursprüngliche.« Seine Augen leuchteten wie blaue Flammen. »Vor vielen Jahren lernte mein Vater einen Meister der Taxidermie kennen. So nennt man die Kunst des Ausstopfens. Er ließ sich alles zeigen und war vollkommen eingenommen vom Präparieren. Er sah darin eine Möglichkeit, die Zeit einzufrieren. Und er wollte den Tieren den Stolz zurückgeben.«

»So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

»Interessant, nicht? Die Perspektive ändert den Blick aufs Wesentliche. Jedenfalls, er hat dann eine Firma gegründet, und ich bin gewissermaßen bei ihm in die Lehre gegangen. So wird man Präparator.«

Während sie den Oktopus aßen, köstlich, sagte Anna, erzählte Frank von seinen Aufträgen. »Da kommen ziemlich schräge Leute. Einer wollte, dass sein Eisbär zum Kühlschrank passt. Ich habe ihn so gestaltet, dass er ihn von oben andeutungsweise umarmt. Ein anderer wollte eine Pinguinfamilie ausstopfen lassen. Er hat sie aus der Antarktis mitgebracht.«

»Darf man so etwas überhaupt?«, wollte sie wissen.

»Ich stelle keine Fragen, ehrlich gesagt. Die Tiere sind ja schon tot. Meine Aufgabe besteht darin, ihre Schönheit zu konservieren. Der Weißwein ist übrigens wunderbar.«

»Finde ich auch.« Langsam taute sie auf. Sie fühlte, dass dieser Mann etwas Geheimnisvolles an sich hatte, gut so.

Sie redeten über Kontinente, Reisen, Freiheit und fanden erstaunlicherweise viele Gemeinsamkeiten. Die Trüffelpasta ließen sie sich auf der Zunge zergehen, bestellten eine zweite Flasche, und Frank Buschenbrenner gewann in ihren Augen noch mehr an Ausdruck. Er wirkte wie die Wiener Version eines Indiana Jones, ein wenig einfältig, was Kunst und Kultur betraf, aber doch beredt.

Nach dem Branzino legte Frank das Besteck auf den Teller und die Stirn in Falten; Luigi trug das Gedeck eilfertig fort. Beifällig fragte er: »Und wie geht es deinem Mann?«

Bei Anna zeigte die zweite Flasche Wein schon Wirkung. Sie überlegte kurz, was sie sagen sollte, und wie sie es sagen wollte: »Weißt du, die Sache ist kompliziert.«

»Aha? Ehen haben das so an sich.« Nebenbei wies er Luigi an, zwei Gläser Rotwein aus dem Piemont und das angedachte Dessert zu bringen, grazie. »Wie kompliziert genau?«

»Schau, ich meine, Kurt ist jetzt auch schon über sechzig.«

»Was?« Die Frage kam als Mischung aus Erstaunen und Belustigung. »Du bist doch höchstens vierundzwanzig.«

»Neunundzwanzig, danke. Also, was soll ich dir erzählen. Wir haben uns vor knapp fünf Jahren kennengelernt. Bei einem Empfang in der Oper. Ich war dort für das Magazin, er einer der Donatoren. So nennen sie die Leute, die spenden und Logen kaufen am Opernball. Kurt ist Diamantenhändler. Irgendwie sind wir ins Gespräch gekommen. Wie das halt so ist. Er hat mich nach Cannes eingeladen. Ich war verrückt genug, das anzunehmen.« Sie zuckte mit den Schultern. »C’est la vie.«

»Das klingt nicht nach einem Märchen von der Côte d’Azur.«

»Am Anfang war alles wie im Traum. Untertags auf der Jacht, abends im Casino. Monaco. Spielen mit Zehntausend-Euro-Jetons. Baccara. Ein bisschen wie in einem James-Bond-Film. Ich an der Seite des Bösewichts.«

Frank Buschenbrenner lachte. »Gleich kommt das Aber.«

»Genau. Nachdem wir geheiratet hatten, ging’s bergab. Ruckzuck. Er war wie ein anderer Mensch. Kurt wurde immer besitzergreifender. Ein Kontrollfreak. Er musste immer genau wissen, wo ich war und mit wem ich meine Zeit verbrachte. Ich konnte mich nicht einmal mit Freundinnen treffen.«

»Klingt nach goldenem Käfig.« Er nahm einen kräftigen Schluck vom Rotwein, sie auch, und bestellte noch zwei Gläser.

»Genauso war’s. Und vor einem Jahr bin ich dann draufgekommen.«

»Auf was?«

»Dass er mich betrügt.«

»Das gibt’s doch nicht. Wer sollte fremdgehen – bei einer Frau wie dir?«

»Ich habe ihn zur Rede gestellt, er ist auf die Knie gegangen und hat mich angefleht, dass ich ihn nicht verlassen soll. Dann hat er mich mit Geschenken überhäuft. Wir haben es noch einmal probiert. Und vor drei Wochen habe ich wieder was entdeckt. Eine SMS. Willst du nicht wieder vorbeischauen und mich ordentlich durchficken?«

»Puh. Schrecklich.«

»Ich habe dort angerufen. Eine Anita hat sich gemeldet. Fitnesstrainerin. Seine Personal Trainerin. Zum Turnen.«

»Alles klar. Tut mir leid für dich.«

»Ich weiß auch nicht, wie’s weitergehen soll. In der letzten Zeit habe ich viel gelesen, mich viel mit Cilli beschäftigt. Und dann wache ich auf, und sie liegt im Schlafzimmer. Hat sich nicht mehr bewegt. Irgendwie bin ich auf die Idee mit dem Ausstopfen gekommen. Am Anfang habe ich gedacht, das ist eigentlich sehr makaber, aber trotzdem im Internet nachgeschaut. Und so habe ich dich gefunden, Buschi.«

»Ich werde Google ein Dankesschreiben schicken.« Er legte seine Hand auf ihre, sie zog sie nicht weg.

Sergio, der Chef, kam herbeigetänzelt. Ob dieses schöne Paar noch einen Grappa verkosten möchte, freilich auf Haus. »Klar, gerne, grazie.«

Pheromone flogen zwischen den beiden hin und her wie Glühwürmchen in einer klaren Nacht. Nachdem Frank die Rechnung beglichen hatte, half er ihr in den Mantel, diesmal ein Rotfuchs. »Arrivederci!«, rief der Chef und winkte ihnen nach.

Draußen auf der Straße nahm er sie in die Arme und ertrank in ihrem Blick. Solche Momente hatten etwas Elektrisches, sie ließen alles zu, und die Zeit zerschmolz zu einer Idee. Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel. Er wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor. Der erste Kuss war immer etwas Besonderes, innig und lang.

»Das war schön«, sagte er, und es klang wie aus einem Kitschroman. »Ich möchte nicht unverfroren sein, aber …«

»… du würdest mich noch gerne auf einen Drink zu dir einladen, nicht?«

»Du hast es erraten. Außerdem wollte ich dir Cilli zeigen. Wenn du sie heute überhaupt sehen willst.«

Es muss eine Vorahnung gewesen sein, dass sie den roten Spitzen-BH und den winzigen String angezogen hatte, denn noch im Auto suchte seine Hand den Weg zwischen ihre Schenkel.

*

Kurz nach drei in der Früh wurden beide munter und sahen sich mit dem Blick zweier Liebender an. Eine gedimmte Lampe goss Restlicht in den Raum. An der Schlafzimmerwand hing der Kopf eines Bisons. Er strich ihr mit dem Mittelfinger über die Schulter, die Brust, den flachen Bauch und hielt inne. »Was für eine Nacht«, sagte er. »So was habe ich schon lange nicht erlebt.«

»Das liegt nur an dir«, sagte sie in neckischem Ton und spielte mit seinem schlaffen Glied. »Noch eine Runde?«

»Gönn ihm noch eine Verschnaufpause.« Er drehte sich im Bett zu ihr. »Wie kann man nur so eine Frau wie dich heiraten und dann hintergehen? Ich verstehe es nicht. Was muss das für ein Mensch sein.«

»Ich möchte aber nicht, dass du glaubst, ich würde mich mit dir an ihm rächen wollen, weißt du, Buschi. Schon bei unserem ersten Treffen hast du mir gut gefallen. Du bist ein richtiger Mann. So etwas habe ich mir immer gewünscht.«

»Glaubst du, wir zwei haben eine Zukunft?«, fragte er.

»Das hoffe ich doch.«

»Und dein Mann?«

»Kurt ist für mich gestorben.« Sie machte eine längere Pause und setzte sich auf im Bett. »Eigentlich sollten wir ihn auch ausstopfen.« Sie verzog keine Miene.

Er wusste nicht, ob das ein Scherz war oder ernst gemeint. »Wie meinst du das?«

»Genauso, wie ich es gesagt habe.«

»Das klingt spannend. Denken wir das rein hypothetisch weiter. Weißt du, Anna, das Problem bei meiner Arbeit ist, dass die Objekte tot sein müssen.«

»Das ist mir klar.«

Er setzte sich ebenfalls auf, wirkte hochkonzentriert. Der Jäger in ihm war erwacht. »Und wie willst du das bewerkstelligen? Willst du ihn vergiften oder erschießen und dann so tun, als wäre er ein Einrichtungsgegenstand?«

»Ich habe eher gedacht, dass du mir dabei hilfst, Buschi.«

»Du willst, dass ich deinen Mann umbringe?«

»Warum nicht? Vielleicht mit einer Spritze betäuben und dann hierherbringen in deinen Zoo. Erstickt ist schnell jemand. Ich bin zu schwach, um ihn sicher zu erwischen. Stell dir vor, das klappt nicht beim ersten Mal, und er holt die Polizei. Dann ist es aus, auch aus mit uns.«

»Das klingt nach einem handfesten Plan. Normalerweise bekommt man doch für so etwas Geld, oder?« Er rieb Zeigefinger und Daumen aneinander, um das zu untermauern. »Ich habe einmal in einem investigativen Blog gelesen, dass ein Auftragsmord Hunderttausend kostet.«

»Kannst du gerne haben. Traust du dir so etwas zu?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Machen wir’s so. Ich bringe dir morgen die Hunderttausend in bar vorbei, und du überlegst dir die Sache. Übermorgen kommt Kurt nach Hause. Er landet um elf Uhr in Schwechat und fährt dann mit seinem schwarzen Porsche zu uns nach Hause. Ich schreibe dir die Adresse auf und nehme ein Foto von ihm mit. Damit du ihn gleich erkennst. Wenn alles erledigt ist, lege ich noch einmal Hunderttausend drauf. Fürs Ausstopfen. Du kannst das Geld sparen – für unseren ersten Urlaub auf Fidschi.«

»Zweihunderttausend? Die hast du herumliegen?«

»Im Safe, ja. Keine Sorge. Geld und Diamanten. Davon ist mehr als genug da. «

»Als Belohnung möchte ich noch was haben.« Er fasste ihr an den Busen.

»Davon ist auch mehr als genug da«, sagte sie.

*

Die Maschine landete pünktlich. Kurt Lindberg ging durch die Passkontrolle und holte seinen Koffer ab, den er an Rollen durch das Terminal schob. Er machte sich auf den Weg in die Garage, um seinen Sportwagen abzuholen. Der Besuch in Kapstadt hatte sich gelohnt. Den Kontakt zu Ben Schleisser hatte er über einen Bekannten bekommen. Ben erwies sich als vertrauenswürdig. Normalerweise machte Kurt Lindberg beim ersten Geschäft keine größere Transaktion, aber man hatte ihm versichert, dass Schleisser in Ordnung sei, was sich als richtig herausgestellt hatte. Die Qualität der Ware war sensationell. Alles 4C-zertifiziert. Anna wollte einmal wissen, was das bedeutete, und er hatte es ihr erklärt. Die berühmten vier Cs standen für Cut, Colour, Clarity und Carat. Der Schnitt bestimmte, wie sehr der Diamant funkelte. Die Farbe war das zweite Kriterium: Je farbloser der weiße Diamant schimmerte, desto wertvoller war er. Die Klarheit des Steins entschied ebenso über die Qualität. Und der letzte Faktor war das Gewicht. Ein Karat wog zweihundert Milligramm. Anna liebte es, wenn Kurt von diesen Dingen sprach. Sie lernte schnell.

Er betätigte die Fernbedienung seines Autos. Für Reisen zum Flughafen nahm er lieber den Panamera Turbo S, da passte zumindest der Koffer hinein. Und die sechshundertdreißig PS reichten. Für Ausfahrten nahm er sowieso das Ferrari-Cabrio. Anna mochte den Aufschrei des Motors, vor allem wenn der Fahrtwind ihre seidenschwarzen Haare zerzauste. Was hatte er doch für ein Glück mit dieser fantastischen Frau! Das Schicksal war etwas Magisches. Es machte Überraschungen, wenn man es am wenigsten erwartete.

Damals hatte er gar nicht zu diesem langweiligen Empfang in die Oper gehen wollen. Lauter Statisten in Smokings. Gespräche in Zeitlupe. Und auf einmal war sie da gewesen. Heute noch dachte er oft an diese erste Begegnung zurück, was für ein Wunder. Anna. Sie war erst neunundzwanzig, aber schon sehr lebenserfahren. Er liebte sie von ganzem Herzen und tat alles für sie. Sie hielt ihn jung. Er fühlte sich wie vierzig, nicht wie einundsechzig. Gut, er machte viel Sport und ernährte sich lehrbuchmäßig. Auch sonst verzichtete er auf Ausritte, die nur Komplikationen bereiteten. Seit der Hochzeit hatte er sich geschworen, dieser Frau treu zu bleiben, und an dieses Versprechen hatte er sich gehalten. Anna war ihm ebenso treu, welchen Grund hatte er also für einen Seitensprung? Avancen oder mögliche Flirts hatte er geflissentlich und dankend abgelehnt. Da war diese Frau in der Hotelbar in Kapstadt, geliftet und sicher nicht mehr fünfzig. Sie hatte sich zu ihm an die Bar gesetzt und ein Gespräch begonnen. Am Ende hatte sie Kurt ihren Zimmerschlüssel hingeschoben und gemeint, er möge nachkommen, sie wolle ihm ihr Zimmer zeigen, er aber schob den Schlüssel zurück und sagte, vielen Dank, meine Liebe, ich fühle mich in meiner Suite sehr wohl. Es kostete ihn nicht einmal Beherrschung. Er hatte sich entschlossen. Anna wusste das zu schätzen. Sie liebte ihn genauso, da war er sich sicher. Sie führten die perfekte Ehe, kein Streit, keine lauten Worte, kein Zwist um Kleinigkeiten. Es gab auch keinen Grund dazu. Er brachte ihr jeden Monat ein kleines Geschenk, eine Uhr, eine Halskette, einen Ring, jedes Jahr ein neues Auto. Sie freute sich über den Luxus und sagte, dass sie gar nicht genug davon kriegen könne.

Kurt überlegte, ob er Anna nicht doch überreden sollte, ein Kind zu bekommen. Es wäre so schön, eine Familie, nur sie drei, mehr brauchte er nicht. Aber Anna war immer ausgewichen, sie hätte es nicht so mit Babys und Windelnwechseln und all dem Geschrei. Der Kinderkram würde nicht zu ihrem gehobenen Lifestyle passen, wie sie meinte. Vielleicht konnte er sie mit einem besonderen Stein umstimmen. Heute würden sie in die Innenstadt essen gehen, da gab es einen neuen Italiener, der exzellente Kritiken bekommen hatte, Luigis oder Sergios oder Giovannis, irgend so etwas. Das wäre doch eine gute Idee. Anna liebte die italienische Küche. Sie war keine Frau, die nur ein Salatblatt aß, nein, sie konnte auch zulangen. Er wunderte sich, wie man so einen Körper behalten konnte, ohne ausschließlich Mineralwasser zu trinken. Alles an Anna gefiel ihm. Ihr großes Herz, ihr fabelhaftes Aussehen und ihre erfrischende Art, durchs Leben zu stolzieren. Würde man sich eine ideale Frau als Lebenspartnerin, als Ehefrau, wünschen, dann wäre das Anna. Jedes Mal, wenn er von einer Dienstreise zurückkam, fiel sie ihm um den Hals und wollte genau wissen, was alles passiert war. So ein Schatz.

Kurt Lindberg bog in die Straße ein; immer hatte er dieses anheimelnde Gefühl, die Gewissheit nach Hause zu kommen. Er konnte sich glücklich schätzen, mehr noch, er war der glücklichste Mann auf der Welt.

Die Villa verfügte über keine Garage, aber er hatte erwirkt, dass vor dem Haus ein Halteverbotsschild stand, das – als einzige Ausnahme – sein Autokennzeichen zeigte. So hatte er einen permanenten Parkplatz direkt vor der Tür. Kurt Lindberg stieg aus, zog seinen schwarzen Boss-Mantel an, nahm seinen Koffer und ging über den Gehsteig zum Haus, da kam ein Mann auf ihn zu. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich bin nicht von hier. Könnten Sie mir verraten, wie ich zum Türkenschanzpark komme?«

Kurt Lindberg stellte den Koffer ab. »Sicher. Sie gehen, sagen wir, zwei-, nein, dreihundert Meter in diese Richtung«, er wies mit der Hand den Weg, »und dann biegen Sie –«

Ah! Ein Stich. Am Hals. Was war das? »He!« Der Fremde hatte eine Injektionsnadel in der Hand. »Sind Sie verrückt? Ich rufe die Poli–« Die Welt vor seinen Augen verwässerte sich. Alles war schwer. Warum? Die Beine trugen ihn nicht mehr, und noch bevor er mit dem Kopf auf den von Schneematsch überzogenen Asphalt knallte, hatte sich eine Weltkugel aus Dunkelheit über ihn gestülpt.

*

»Er ist fertig. Willst du ihn sehen?«

»Buschi! Wahnsinn. Du hast es wirklich geschafft?« Anna hörte sich entzückt an.

»Ja. Du wirst staunen.«

»Ich mache mich sofort auf den Weg.« Sie war noch im Jogginganzug, schlüpfte schnell in die Ugg-Boots und nahm eine Montcler-Winterjacke aus der Garderobe. Ein bisschen Chic musste immer sein. Sie konnte es kaum glauben. Ab jetzt würde alles anders werden.

Sie nahm den Cayenne, weil es in der Nacht wieder geschneit hatte. Aufgeregt und ein wenig zu schnell fuhr sie den Weg, den sie schon kannte. Keine zwanzig Minuten dauerte es, bis sie das graue Haus am Wannweg sah. Dssss. Das Tor ging auf. Sie rannte zum Eingang, Frank Buschenbrenner öffnete die Tür. »Meine liebste Kundin«, sagte er und küsste sie. »Bist du aufgeregt?«

»Und wie! Wie lange hast du für ihn gebraucht?«

»Fünf Tage. Es war nicht leicht, kann ich dir sagen.«

»Kann ich mir vorstellen. Ein Mensch ist halt doch was anderes als ein Büffel, oder was du sonst so machst, nicht?« Sie streifte die Schuhe ab und trippelte ins Wohnzimmer.

»Weiter hinten«, sagte Frank Buschenbrenner, »im Atelier.«

Sie betrat den Raum, und da stand ihr Mann. Kurt Lindberg in voller Größe, das Gesicht leicht zur Seite gedreht, die Arme fragend nach vorne gerichtet, der Körper nackt und in der Bewegung erstarrt wie ein Standbild.

»Das gibt’s ja nicht«, sagte sie. »Du bist wirklich ein Künstler.«

»Ich weiß. Gefällt er dir? Ich wollte ihn ausdrucksstark darstellen.«

Anna Lindberg kam näher und berührte die Wange, sie war ganz kalt. Ihr toter Mann sah sie aus zwei täuschend echten Glasaugen an. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Unfassbar. Er schaut aus wie echt. Total lebendig. Als würde er jeden Moment etwas sagen. Wie hast du das überhaupt hinbekommen?«

»Wie gesagt, es ist eine Kunst. Die Vorbereitung auf die Ewigkeit.«

Neben dem ausgestopften Körper von Kurt Lindberg lag Cilli zu seinen Füßen. »Ein besonderes Arrangement«, sagte Frank, »ich habe mir gedacht, das würde dir gefallen.«

Für ein paar Sekunden war sie sprachlos.

Frank Buschenbrenner umarmte sie von hinten. »Es ist eine Installation, mein Schatz. Ich habe ihr einen Titel gegeben. Abschied mit Katze. Was sagst du dazu?«

Anna machte ein »Mhm«. Frank fuhr fort: »Wenn ein neues Kapitel im Leben beginnt, ist es wichtig, das alte abzuschließen. Du kannst dich von beiden verabschieden und sie immer wieder anschauen, wie alte Bilder in einem Album. Und jetzt, genau hier und jetzt, fängt unser neues Leben an, Anna, du und ich, wir beide gehen in die Zukunft als Liebespaar, bis ans Ende aller Tage.«

Sie löste sich aus der Umarmung. Ihr Gesicht nahm andere Züge an. Aus der Faszination wurde eine Art Belustigung. Sie kicherte hell auf. »Ja, ja. So hast du dir das vorgestellt und hübsch ausgemalt, nicht? Wir ficken die Prinzessin und reiten in den Sonnenuntergang. Männer sind so simpel gestrickt, wie ein Kinderschal.«

Er legte die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine? Kann ich dir gerne verraten. Du hast deine Aufgabe erfüllt. Lieben Dank. Besten Dank. Gott sei Dank. Es hat sich alles so entwickelt, wie ich’s mir ausgedacht habe. Ich war gut präpariert, ha!, so heißt das doch in deiner Sprache, nicht? Gut präpariert. Der Plan ist aufgegangen.«

»Anna. Was ist los mit dir. Du bist auf einmal so anders. Was redest du da.« Er schluckte.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit jemandem wie dir zusammenleben würde, oder?« Sie lachte ihn aus. »Ich bin in Monte Carlo und sage: Mein Mann ist Tierpräparator, ha-ha! Glaubst du, das kommt gut an in der High Society? Andere Situation, pass auf.« Sie tat, als würde sie zu einer imaginären Person sprechen und ihren toten Kurt miteinbeziehen. »Um Gottes willen, Herr Kommissar, helfen Sie mir doch, schauen Sie, was da Schreckliches passiert ist. Mein Mann wurde umgebracht, von einem Irren, ja, niemand konnte das voraussehen. Der Wahnsinnige hat ihn ermordet und dann, Sie werden es nicht glauben, hat er ihn ausgestopft. Ja, so richtig. Wie man das von Bären kennt. Bitte kommen Sie, und überzeugen Sie sich selbst.«

»Spinnst du jetzt total, oder was?

»Nein, Buschi!« Sie sprach seinen Namen betont aus wie einen Scherz. »Jetzt bin ich eine freie Frau. Keiner wird Kurt vermissen. Er hatte niemanden außer der liebe Anna. Vielleicht werden ein paar Geschäftspartner fragen, und denen sage ich, er leidet an einer schweren Krankheit, der Arme. Weißt du, Buschi, mein toter Mann, den du hier in deinem Atelier so schön modelliert hast, geht mir seit drei Jahren ganz schön auf die Nerven. Ich hasse ihn, er liebt mich. Diese Gleichung geht nicht auf. So einfach ist das.«

»Aber du hast doch gesagt, er hat dich oft betrogen.«

»Die Perspektive hat nicht ganz gestimmt. Er war mir immer treu, nur ich, na ja, von mir kann man das nicht wirklich behaupten. Da war dieser Fitnesstrainer, mein Yogalehrer, der Installateur, der Nachbar, der leider weggezogen ist, und ein paar andere. Am besten war der Pizzabote, du wirst es nicht glauben. Das Gerücht über die Schwarzen und ihre Schwänze stimmt. Kann ich bestätigen. Ich meine, was willst du, ich bin noch keine dreißig.«

»Alles war gelogen …« Frank Buschenbrenner sah zu Boden, als stünden dort Erklärungen.

»Kurt hat sehr brav gearbeitet. Bei uns daheim liegen Diamanten im Wert von neunzehn Millionen Euro. Ich würde einmal sagen, dass man sich damit, wenn man ein bisschen sparsam lebt, durchaus über Wasser halten kann.« Mit einer kessen Kopfdrehung brachte sie ihre schwarzen glatten Haare wieder in Ordnung. Sie nahm ihren rot lackierten Zeigefinger in den Mund. »Ungezogenes Mädchen, nicht? Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Immerhin hattest du deinen Spaß. Und die restlichen Hunderttausend habe ich dir mitgebracht.« Sie holte ein dickes Kuvert aus ihrer Chanel-Tasche und legte es auf den Tisch. »Damit sind wir quitt. Stillschweigen. Du führst dein Leben weiter und ich meins. Zwei Geraden, die sich nicht mehr überschneiden. Oder willst du für einen Mord ins Gefängnis?«

»Du hast mich dazu angestiftet«, sagte er kleinlaut.

»Das wird dir niemand glauben. Wie du weißt, kann ich eine sehr überzeugende Frau sein. Im Glück wie in der Trauer. Stell dir mich vor, wie ich zusammenbreche, wenn sie mir mitteilen, was mit meinem Mann passiert ist. Weinkrämpfe auf Kommando, kein Problem. Die werden dich für mehr als zwanzig Jahre ins finsterste Loch stecken, das du dir nicht einmal vorstellen kannst. Also, Chérie. Schön war’s mit dir. Den kalten Kurt lasse ich dir da, die Katze kannst du auch behalten, die habe ich genauso gehasst wie den Alten. Wir zwei werden uns nie wieder sehen. Vielleicht denke ich kurz an dich, wenn ich in der Südsee bin oder sonst wo, weit weg. Und dann spiele ich ein Lied. Diamonds are a girl’sbest friend, genau. Ich bin die neue Monroe. Salut!« Sie lachte und drehte sich um.

Der Schlag traf sie unvermittelt und hart. Auf den Hinterkopf. Sie taumelte. Frank hielt einen Knochen in der Hand. Anna dachte, es musste sich um einen Oberschenkelknochen von einem großen Tier handeln, oder war es ein Horn? Ihre Gedanken rasten, wie konnte er nur so schnell sein? Sie fiel nieder. Benommen kroch sie auf allen vieren von ihm weg. Frank ging einen Schritt nach dem anderen auf sie zu. Er wirkte völlig gefasst. Sie wollte etwas sagen, da holte er weit aus und zog ihr das Ding über die linke Schläfe, und der Film riss.

*

Unfassbare Kopfschmerzen. Sie kannte das nicht. Nicht einmal nach einem Champagner-Gelage mit einem ihrer Liebhaber hatte sie so starke Schmerzen gespürt. Stiche wie mit heißen Nadeln, gefolgt von einem rhythmischen Pochen. Sie hatte Mühe, die Augen zu öffnen, sah nur verschwommene Konturen. Eine Silhouette. Nach und nach gewann das Bild an Bedeutung.

»MMMM.«

Etwas steckte in ihrem Mund, sie konnte nicht reden. Als sie sich bewegen wollte, merkte sie, dass ihre Arme am Rücken festgebunden waren, auch die Füße waren festgezurrt. Sie saß auf einem Stuhl und konnte sich nicht rühren.

»Da bist du wieder«, sagte Frank. »Willkommen in meiner Welt.«

»MPFFFF.«

»Ja, ja, ich verstehe alles. Weißt du, mein Schatz, ich glaube nicht, dass du wirklich verstanden hast, mit wem du es zu tun hast. Macht nichts. Du brauchst dich auch nicht bemühen, Erklärungen zu liefern. Ich bin nicht der, für den du mich gehalten hast. Schon lustig, wie Menschen andere sehen und nicht erkennen. Sagt dir den Name Jean-Baptiste Boceur etwas?«

Sie versuchte, den Knebel herauszubekommen, keine Chance. Ein paar Mal wand sie sich, die Fesseln hielten sie zurück, sie erschlaffte und sah ihn hilflos an.

»Er war Apotheker. Im achtzehnten Jahrhundert hat Jean-Baptiste Boceur ein Konservierungsmittel entwickelt, und zwar mit Arsen gemischt. Damit konnte er größere Tierhäute präparieren, sie verfaulten nicht, stell dir vor! Boceur behielt sein Geheimnis für sich. Erst Jahre später, achtzehnhundertzwei, hat es ein Franzose wiederentdeckt und in den Handel gebracht. Ein gewisser Louis Dufresne. Magst du Geschichte, ja? Dann pass auf. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat man Tierkörper nicht mehr ausgestopft wie Kopfkissen, sondern in Position gebracht. Also arrangiert. Entsprechend ihrer Anatomie und natürlichen Haltung. Die gegerbte Haut hat man dann mitsamt den Federn oder mit dem Fell des Tieres auf einen vorgefertigten Grundkörper aufgezogen. Wie einen Strumpf, musst du dir vorstellen. Für so einen Grundkörper braucht man sehr gutes anatomisches Wissen, auch was die Statik betrifft. Es handelt sich bei der Form um eine Plastik, verstehst du, wie bei einem Bildhauer. Sie muss mit Liebe angefertigt werden, und dann erst zieht man die Haut des Objekts auf. Und am Schluss kommt der Skalp.« Er fuhr ihr durch die Haare.

»MMMMMMMMMMMM.«

»Schhhhh. Nur die Ruhe. Mein Vater hat mich in der Kunst der Taxidermie unterwiesen, wie du weißt, und jetzt bin ich der Meister. Um es dir grob zu erklären: Das Verfahren sieht vier Schritte vor. Die Vorbereitung. Das Abbalgen. Das Ausstopfen. Und das Etikettieren.« Er ließ das kurz sickern. »Bei dir, schätze ich, wird das Abbalgen die meiste Zeit in Anspruch nehmen. Es bezeichnet den Vorgang, wenn man einem Tier die Haut abzieht, mitsamt Fell und allem Drum und Dran. «