Die Phoenix Chroniken - Blut - Lori Handeland - E-Book

Die Phoenix Chroniken - Blut E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Elizabeth Phoenix reist nach Los Angeles, um ein Nest von halbmenschlichen Drachengeschöpfen aufzuspüren, die Sonne und Mond zerstören wollen. Ein gefährlicher Kampf steht ihr bevor. Ehe sie sich in die Schlacht stürzen kann, muss sich Liz jedoch über ihre Gefühle für ihren Ex-Geliebten Jimmy Sanducci klar werden. Und dann ist da noch ihr Mentor, der Navajo-Schamane Sawyer, der ihr Rätsel aufgibt. Ist er auf ihrer Seite? Kann sie im Kampf auf ihn zählen?

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Seitenzahl: 460

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Inhalt

Titel

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Impressum

Lori Handeland

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Cornelia Röser

 

1

Sie sind frei.

Vor ein paar Wochen geisterten diese Worte durch meinen Kopf. Wenn man den Zusammenhang nicht kennt, klingt das eigentlich nach einem erfreulichen Satz.

Freiheit ist doch etwas Gutes, nicht wahr?

Es sei denn, es ist von Dämonen die Rede.

Die Welt ist voll von ihnen, diesen sogenannten Nephilim. Sie sind die Nachkommen von gefallenen Engeln (oder Grigori) und Menschenfrauen.

Ja, die Engel sind wirklich gefallen. Und nicht gerade weich gelandet. Ihre Geschichte ist das beste Beispiel für das, was passieren kann, wenn man sozusagen aus der biblischen Reihe tanzt – sich mit Gott anlegt und dann auch noch im Tartarus Ärger macht, diesem feurigen Schlund in den tiefsten Tiefen der Hölle.

Es heißt, Gott sandte die Grigori auf die Erde, damit sie ein Auge auf die Menschen haben. Dann stellte sich jedoch heraus, dass es wohl eher die Engel waren, auf die man achtgeben musste. Also verbannte Gott sie von der Erde – schwups, jetzt seid ihr Geschichte! Doch er ließ ihre Nachkommenschaft zurück, um uns zu prüfen. Das Paradies ist bloß noch Erinnerung. Wir haben gezeigt, dass wir es nicht verdienen. Aber die Nephilim haben wir, glaube ich, auch nicht verdient.

Eine Million Millennien später: Die Prophezeiungen der Offenbarung rasen wie durchgehende Pferde auf uns zu. Etwa vier Stück davon, schätze ich. Die Mächte des Guten versuchen alles, um das Ende der Welt zu verhindern – aber nichts funktioniert.

Und an diesem Punkt komme ich ins Spiel.

Elizabeth Phoenix, für meine Freunde Liz. Man nennt mich die Anführerin des Lichts. Ich bin mitten in diesem ganzen Höllenchaos um das Jüngste Gericht gelandet – und habe nun alle Hände voll damit zu tun, wieder herauszukommen.

Aus Gründen, die meine und unser aller Vorstellungskraft übersteigen, hat sich der Tartarus aufgetan. Die Grigori haben sich befreien können, und jetzt ist hier buchstäblich die Hölle los.

„Verdammt, Lizzy! Duck dich!“

Ich duckte mich. Rasiermesserscharfe Klauen rauschten durch die Luft, genau dort, wo gerade noch mein Gesicht gewesen war. Ich duckte mich nicht nur, sondern rollte auch zur Seite weg. Und das war mein Glück, denn Sekunden später zerschnitt direkt neben mir irgendetwas die Erde.

Ich bin zusammen mit Jimmy Sanducci, der Anführer der Dämonenjäger und mein Stellvertreter ist, nach Los Angeles gekommen, um ein Nest von Varcolacs aufzuspüren – das sind Dämonen der Sonnen- und Mondfinsternisse. Bei uns sind sie ziemlich selten, denn sie kommen aus Rumänien, aber ich habe auch schon weit Merkwürdigeres gesehen.

Man hätte natürlich den Smog in L.A. für die dunklen Flecken verantwortlich machen können, die immer wieder auf dem Mond und der Sonne auftauchten. Das war jedenfalls die Version, die hier jeder glaubte. Doch ich wusste es natürlich besser.

Der Varcolac schüttelte seinen Arm und versuchte, die nadelartigen Auswüchse, die ihm als Finger dienten, vom Wüstenstaub zu befreien. Varcolacs sind halb Mensch, halb Drache, und man sagt ihnen nach, dass sie die Sonne und den Mond essen und so die besagten Finsternisse verursachen. Und wenn es ihnen jemals gelänge, diese Himmelskörper ganz zu verschlingen, dann sei das Ende der Welt nah. Da ich aber genau das verhindern wollte, hatte ich Jimmy nach L.A. geschleppt, und die Jagd hatte begonnen.

Bevor der Varcolac seinen anderen Arm dazu benutzen konnte, mich zu töten, schnitt ihm Sanducci die Kehle durch. Im Kampf gegen Nephilim ist das Abschlagen des Kopfes in der Regel ziemlich wirkungsvoll. Zumindest büßt ohne Kopf selbst der entschlossenste Dämon einiges an Geschwindigkeit ein.

Jimmys düsterer Blick traf meinen. „Steh auf!“, befahl er, bevor er sich daranmachte, noch mehr von diesen Biestern zu erledigen.

Ich versuchte die Kälte in seinem Blick zu ignorieren. Sanducci würde niemals zulassen, dass mir etwas zustieß. Er hatte mich früher mal geliebt. Jetzt allerdings war die Liebe zwischen uns kein Thema mehr – und nur ich allein war daran schuld.

Ich sprang mit einer einzigen flinken Bewegung aus der Rückenlage auf die Füße – diese sportliche Begabung, die mir damals auf der Highschool eine hübsche Medaille für die Landesmeisterschaft im Schulturnen eingebracht hatte, war in letzter Zeit ziemlich nützlich geworden – und dann griff ich nach meinem Schwert und machte mich wieder ans Zerstückeln.

Als Jimmy und ich in L.A. angekommen waren, hatten wir eine ganze Weile gebraucht, um die Varcolacs in der Wüste aufzuspüren. An den meisten Tagen sahen sie wie Menschen aus. Sie lebten ihr Leben, passten sich hervorragend an und verwandelten sich nur kurz vor einer Sonnen- oder Mondfinsternis in Drachen.

Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Der Drache, der den Mond fraß, oder der Mond, der sich verdunkelte und den Drachen hervorbrachte? Schwer zu sagen.

Sicher scheint jedoch, dass die Nephilim ihr Versteckspiel sofort nach der Befreiung der Grigori aufgegeben hatten. Ihre Zeit war gekommen. Und für mich und meinesgleichen wurde die Lage etwas brenzlig.

Bis vor Kurzem noch hatte jeder Dämonenjäger mit einem Seher zusammengearbeitet, also mit jemandem, der die übersinnliche Gabe besaß, den Dämon hinter der menschlichen Verkleidung der Nephilim zu erkennen.

Früher bin ich selbst eine Seherin gewesen, aber inzwischen haben sich die Dinge geändert. Oh, ich verfüge immer noch über übersinnliche Kräfte, die hatte ich seit eh und je. Seit ich sprechen konnte, vielleicht sogar schon früher, konnte ich belebte und unbelebte Objekte berühren und wusste plötzlich solche seltsamen Dinge wie zum Beispiel: was Menschen getan hatten, wohin sie verschwunden waren, was sie dachten.

Später jedoch, als ich zur Anführerin des Lichts wurde, erbte ich die Fähigkeiten der Frau, die mich aufgezogen hatte. Als nämlich Ruthie Kane in meinen Armen starb, gingen all ihre Kräfte auf mich über. Nicht nur meine psychometrischen Fähigkeiten nahmen zu, sondern … plötzlich war ich auch ein Medium.

Ruthie mochte zwar tot sein, doch das hieß noch lange nicht, dass ich sie nicht hören oder mich nicht mit ihr unterhalten konnte. Manchmal war ich sogar imstande, sie zu sehen. Sie wurde zu meiner spirituellen Verbindung. Immer wenn ein Nephilim in der Nähe war, erfuhr ich durch Ruthies Flüstern im Wind davon. Und wenn sie etwas Größeres planten – was eigentlich immer der Fall war – , hatte ich eine Vision, in der alles darüber zu sehen war. Das war jedenfalls bis vor kurzer Zeit so gewesen.

„Zu viele“, murmelte Jimmy.

Wir waren in Varcolac-Blut getränkt. Ein Dutzend von ihnen hatten wir schon zerstückelt, doch dann war noch ein weiteres Dutzend aufgetaucht. Wir brauchten Hilfe, aber es war ja niemand mehr übrig.

Die Föderation – also die Gruppe von Dämonenjägern und Sehern, die den Auftrag hatte, in diesem übersinnlichen Krieg zu kämpfen – war nach Ruthies Tod ziemlich zusammengeschrumpft. Wir konnten uns aber nicht einfach ein paar neue Dämonenjäger suchen. Schließlich mussten sie erst ausgebildet werden. Neue Seher mussten entdeckt werden. Ich hatte nicht viel Zeit, mich um den Nachwuchs zu kümmern, auch schon damals nicht, vor dieser leidigen Geschichte mit der Öffnung des Tartarus und den entflohenen Grigori. Und jetzt …

Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als im Geisterzug in den Weltuntergang zu rasen. Genau genommen waren wir ziemlich am Arsch. Aber deshalb gaben wir noch lange nicht auf. Im Übrigen hatte ich auch noch eine Geheimwaffe. Etwas, das ich gern als Vampir-Überraschung bezeichne.

Ich hob meinen Arm und strich mit den Fingern über das magische, edelsteinbesetzte Hundehalsband, das meinen Hals umschloss. Solange ich dieses Accessoire trug, war ich einfach nur ich. Doch wenn ich es ablegte …

„Nicht, Lizzy!“

Ich starrte Jimmy an. Er hatte gesehen, dass ich an meinem Halsband herumgespielt hatte. Selbst wenn man mich nicht so gut kannte wie er, brauchte man kein Genie zu sein, um zu ahnen, was ich vorhatte.

Einer der Varcolacs griff unter kräftigen Schlägen seiner Drachenschwingen und mit ausgestreckten Krallen an. Jimmy schlug ihm den Kopf ab, ohne auch nur richtig hinzusehen. Jimmy war wirklich gut. Mir selbst ging das Töten noch immer nicht ganz so leicht von der Hand.

Ich ließ das Halsband los und stellte mich dem nächsten Varcolac, hielt mein Schwert mit beiden Händen umfasst und tat, was eben getan werden musste. Ich verlor Jimmy für einen Moment aus den Augen. Diese verfluchten Dämonen schienen sich zu vermehren. Für jeden, den wir töteten, kamen zwei weitere aus der Dunkelheit hervor. Ihre Schwingen flimmerten im silbrigen Licht des fast vollen Mondes und weckten die Erinnerung an jene Nacht, in der die Grigori ausgebrochen waren und ihre Schatten die vollkommene Rundung des Mondes verdunkelt hatten.

Jimmy schrie auf. Dieses Geräusch ließ mein Herz für einen Moment aussetzen. Einer der Varcolacs hatte seine Kralle durch Jimmys Schulter gebohrt und hob ihn daran vom Boden hoch. Blut rann in den Sand und färbte die vom Mondlicht bleichen Körner schwarz. Jimmys Schwert lag zu seinen Füßen.

Hinter ihnen schien eine ganze Armee von Drachenmenschen bereitzustehen. Ihre geschuppten Flügel schlugen synkopisch und füllten den Himmel in ihrem morbiden Takt. Sie hatten den Kopf und die Arme eines Drachen, aber ihre Beine waren menschlich, ebenso wie die Oberkörper, aus denen Drachenflügel wuchsen.

„Gib auf, Seherin.“ Der Varcolac blies Flammen aus seinen Nüstern. Jimmy zog scharf die Luft ein, als seine Hose Feuer fing.

„Nein.“ Ich schlug dem nächstbesten Varcolac den Kopf ab. Mit einem dumpfen Geräusch kam er auf dem Boden auf, kullerte ein paar Meter weiter und zerfiel dann gleichzeitig mit dem immer noch aufrecht stehenden Körper zu Asche. Man musste einen Nephilim nur auf die richtige Weise töten, dann war das Saubermachen hinterher überhaupt kein Problem.

„Du hast keine Chance“, sagte der Varcolac. „Wir sind Heerscharen.“

Vermutlich hatte er recht. Aber aufgeben …?

Das war einfach nicht mein Stil.

 

2

Gute Arbeit“, murmelte Jimmy.

Wir waren mit goldenen Ketten an den Wüstenboden gefesselt – nackt. Oh Mann, wie ich es hasste, wenn das geschah.

„Ist das hier etwa meine Schuld?“

Ich drehte den Kopf zur Seite. Der Mond glitzerte in Jimmys dunklen Augen, ließ sein Haar erstrahlen und zog silberne Fäden durch die schwarzen Strähnen. Das Licht funkelte auf seiner geschmeidigen, sonnengebräunten Brust. Sanducci war einfach zu schön für diese Welt – und vor allem für mich.

„Wir mussten ja auch unbedingt nach L.A. kommen“, fuhr er fort. „Wir mussten natürlich herausfinden, was hier in der Wüste sein Unwesen treibt.“

„Ist das nicht unser Job?“

Er seufzte. „Doch. Aber ich glaube nicht, dass es diesmal so einfach werden wird wie sonst.“

Er hatte sicher recht. Hatte die Föderation bisher gegen eine Flut von Dämonen ankämpfen müssen, so war jetzt eine Sturmflut daraus geworden, und der beschissene Damm war auch noch völlig durchlöchert.

„Bist du okay?“, fragte ich.

„Sieht es etwa so aus?“

Meine Beziehung zu Jimmy war schon immer recht temperamentvoll gewesen. Bei unserer ersten Begegnung hatte er mir eine Schlange ins Bett gesteckt – und ich hatte ihm dafür fast ein paar Zähne ausgeschlagen. Damals waren wir zwölf.

Mit siebzehn befreite er mich von meiner Unschuld, ein Jahr später brach er mir dann das Herz. Das gleiche alte Lied, das wir alle schon tausendmal gehört haben.

Nur dass Jimmy und ich nicht wie tausend andere Paare waren. Ich war ein Medium, und er …

Jimmy war ein Dhampir.

Mein Blick wanderte von seinem Gesicht zu seiner durchbohrten Schulter, die nun nicht mehr durchbohrt war. Die klaffende Wunde war fast schon verheilt.

Die meisten Dämonenjäger waren Kreuzungen – gezeugt von einem Nephilim und einem Menschen. Wegen des geringeren Dämonenanteils konnten sie sich entscheiden, für die Mächte des Guten zu kämpfen, und da in ihren Adern Dämonenblut floss, hatten die Kreuzungen auch übermenschliche Kräfte. Im Kampf gegen Wesen von biblischen Ausmaßen waren die allerdings auch bitter nötig.

Jimmys Vater war ein Vampir, seine Mutter ein Mensch. Er war verdammt geschickt darin, Blutsauger jeder Art aufzuspüren und zu töten. Als Dhampir verfügte Jimmy über eine sagenhafte Stärke und Schnelligkeit, und er konnte so ziemlich jede Wunde heilen – allerdings heilten Wunden, die mit einer Waffe aus purem Gold verursacht wurden, langsamer. Und sie brannten höllisch.

Mein Blick fiel auf die Varcolacs, die sich gerade näherten. Sie alle trugen nun Waffen, die im Mondlicht golden glänzten. Scheiße.

„Was wollt ihr?“, fragte ich.

„Lizzy!“, fuhr Jimmy mich an. Er war der Einzige, der es wagte, mich so zu nennen.

„Fragen kostet doch nichts“, sagte ich, aber ich hielt die Varcolacs nur hin. Ich hatte nicht vor, ihnen etwas zu verraten. Und Jimmy ebenso wenig.

Er hatte zwar die Fähigkeit, seine Wunden zu heilen, doch hieß das nicht, dass er keine Schmerzen empfand. Wenn ich Sanducci in den letzten Jahren auch aus tiefstem Herzen gehasst hatte, mich in langen, einsamen Nächten mit der Vorstellung in den Schlaf gewiegt hatte, ihn zum Weinen und zum Schreien zu bringen, ihn betteln und bluten zu lassen – so haben sich die Zeiten geändert. Jetzt wünschte ich mir nur noch, dass er mir verzieh, aber ich glaubte nicht daran, dass er es tun würde.

„Sanducci und Phoenix. Da haben wir ja einen tollen Fang gemacht.“

Die Varcolacs hatten wieder ihre menschliche Gestalt angenommen. Das war sicherlich eine schwierige und schmerzhafte Prozedur, da sie doch Klauen anstelle von Händen hatten.

„Ihr wisst ja, dass es nichts ändert, wenn ihr uns umbringt“, sagte ich.

„Es wird alles ändern, wenn wir dich umbringen. Du bist die Anführerin des Lichts. Wenn du stirbst, ohne deine Kräfte weiterzugeben, sind sie für immer verloren.“

Na ja, da hatten sie recht. Was sie aber nicht wussten, war, dass ich noch schwerer zu töten war als Jimmy.

Der Anführer der Varcolacs – ein Typ, der mich an irgendeinen unscheinbaren Schönling aus einer dieser hirnlosen Seifenopern erinnerte – ging neben mir in die Hocke. Ein weiterer – so ein großer Kerl mit breiten Schultern, dessen Zähne wie die von Arnold Schwarzenegger aussahen, bevor er sie sich hatte richten lassen – beugte sich über Jimmy. Beide trugen scharfe, goldene Waffen und sahen aus, als wüssten sie auch mit ihnen umzugehen.

Andererseits, wie schwer konnte das schon sein? Das spitze Ende ins Fleisch rammen und dann daran rütteln und reißen. Schwierig war es nur dann, wenn es einem etwas ausmachte, jemanden zu töten. Aber das hier waren Dämonen, die kümmerte so was nicht.

„Ich werde dir eine Chance geben, Seherin. Wenn du meine Frage beantwortest, töte ich dich …“ – dabei strich er mit der flachen Seite der Klinge über meine Hüfte; jede Berührung brannte – „ … schnell.“

In den Tiefen seiner Augen flackerten gelbe Flammen. Er würde mich nicht schnell töten, ganz egal, was er mir auch versprechen mochte. Ich war überhaupt nicht in der Lage, schnell zu sterben.

Er drückte die Spitze seines Messers, das so groß war, dass man sich damit leicht einen Weg durch den Urwald hätte bahnen können, gegen die pochende Vene an meinem Hals. „Wo ist der Schlüssel?“

„Welcher Schlüssel?“

Er ritzte meine Haut, Blut rann heraus. „Was glaubst du wohl, du dämliche Schlampe? Zu deinem Haus? Deinem Auto? Zu deinem Herzen?“

Seine Augen leuchteten wieder gelblich, als er das Messer diesmal tiefer ansetzte.

„Ach ja, dein Herz. Ich wollte schon immer mal sehen, wie so was aussieht.“

Er schnitt mir über die linke Brust. Die Klinge kratzte auf dem Knochen, und ich biss die Zähne zusammen, um keine Reaktion zu zeigen – weder auf den Schmerz noch auf das widerwärtige Geräusch. Das würde ohnehin wenig nützen.

„Sie weiß nichts von dem Schlüssel“, sagte Jimmy.

Ich blinzelte. Das klang, als ob er sehr wohl etwas darüber wüsste.

Die Varcolacs wechselten einen Blick. Der Schönling hob sein Kinn und gab damit dem anderen ein Signal. Jimmy ächzte. Es roch nach frischem Blut.

„Lasst ihn in Ruhe!“

Der Varcolac neben mir schnaubte. „Von dir nehme ich keine Befehle entgegen.“

„Von wem denn dann?“

Vor ein paar Wochen hatte ich ihre Anführerin buchstäblich in der Luft zerrissen, sodass die Mächte der Dunkelheit nun eigentlich vollständig desorganisiert sein müssten. Dass dies nicht der Fall war, irritierte mich mehr, als ich zugeben wollte. Wenn sich nämlich die Hölle aufgetan hatte und nun alle gefallenen Engel aus der Hölle frei waren, dann musste ja auch derjenige, der die Rebellion ursprünglich angezettelt hatte, ebenfalls frei sein. Und wir alle wissen doch, um wen es sich da handelt.

„Samyaza“, sagte ich. Das war ein anderer Name für Satan. Davon gab es eine ganze Reihe. „Beelzebub ist euer Drahtzieher?“

Seine Augen flackerten. Er war aus irgendeinem Grund wütend, aber aus welchem?

Ich bewegte mich. Meine Fesseln waren ziemlich eng, bei jeder Bewegung zerkratzten die goldenen Ketten meine Haut. Es brannte zwar furchtbar, doch ich schaffte es, mit meinem Finger über sein Knie zu streichen, und plötzlich verstand ich es. „Wer im Besitz des Schlüssels ist, hat die Befehlsgewalt über die Dämonen. Und genau das möchtest du gerne.“

Streitigkeiten um die Rangfolge. Großartig.

Der Varcolac zuckte die Schultern. „Ich führe nicht gern Befehle aus.“

Das traf auf die meisten Nephilim zu. Deshalb fragte ich mich, wie Satan es anstellen wollte, diese harten Brocken unter Kontrolle zu bringen. Die einfache Antwort lautete: Auch er brauchte den Schlüssel.

Die Rede ist vom Schlüssel Salomos, einem Zauberbuch, das angeblich von König Salomo selbst verfasst wurde. Es enthält Beschwörungsformeln, mit denen man Dämonen herbeirufen, ihnen Befehle erteilen und sie wieder entlassen kann – aber das ist nur der Anfang. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Übersetzungen angefertigt, doch keine von ihnen war vollständig. Wir suchten also nach der Originalausgabe, die alles enthielt.

Leider wusste niemand, wo sie sich befand. Die letzte Person, die sie gesehen hatte, war ein Rabbi namens Turnblat. Er wurde von wilden Hunden – ein Codewort für Gestaltwandler – getötet. Doch der Schlüssel wurde unter seinen Habseligkeiten nicht gefunden.

Ich hatte immer angenommen, dass ihn die Nephilim haben mussten. Wie sonst hätten die verfluchten Dämonen entfliehen können? Aber wenn sie jetzt uns fragten, wo der Schlüssel war … Das warf ein ganz neues Licht auf die Dinge.

„Wo ist der Schlüssel?“, fragte der Varcolac noch einmal.

„Ehrlich, Kumpel, wir dachten, ihr hättet ihn.“

„Lizzy!“

Mein Name ging in einen Fluch über, als der andere Varcolac Jimmy einen weiteren Schnitt zufügte. Er würde seine Wunde heilen, genau wie ich. Doch ich hoffte, sie würden es nicht merken. Bis jetzt kannten die Nephilim noch nicht alle meine Fähigkeiten, und mir war sehr daran gelegen, dass das auch so blieb.

„Wie kommst du darauf, dass wir ihn haben?“, fragte der Varcolac.

„Ihr habt doch Rabbi Turnblat umgebracht.“

Er grinste. „Also, ich war es nicht.“

„Und dann habt ihr den Schlüssel an euch genommen.“ Er schüttelte den Kopf. Ich schaffte es, die Schultern zu zucken, ohne die Ketten zu bewegen. „Irgendjemand hat es jedenfalls getan. Du solltest dir lieber mal deine liebreizenden Freunde vorknöpfen.“

Für einen kurzen Moment lag Zweifel in den gelben Flammen, die in den Augen des Varcolacs loderten. Dann sah er mich finster an.

„Wir wissen, dass du ihn hast. Der Schlüssel ist dort, wo der Phönix ist. Das hat der Rabbi gesagt.“

Ich konnte mir vorstellen, dass der Rabbi so ziemlich alles erzählt hätte, als er dem Nephilim gegenüberstand, der ihn töten sollte. Möglicherweise sogar die Wahrheit, aber –

„Ich habe ihn nicht. Ich schwöre bei Gott.“

Der Varcolac zischte, ich verdrehte die Augen. Der Name Gottes tat ihnen nicht weh. Wenn dem so wäre, würde ich den ganzen Tag Kirchenlieder singen.

„Du wirst es uns sagen. Dafür werde ich schon sorgen.“ Er hob das goldene Messer und versuchte, meinen Hals aufzuschlitzen. Doch das Hundehalsband hinderte ihn daran. Mit einem ärgerlichen Laut griff er nach dem Verschluss.

„Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, murmelte ich.

Er ignorierte es.

„Nicht!“, schrie Jimmy. „Sie muss dieses Halsband tragen. Scheiße!“

Ich sah zu ihm hinüber. Der muskelbepackte Varcolac hatte nun ernsthaft damit begonnen, auf Jimmy einzustechen.

„Hört auf damit!“, befahl ich.

Der Varcolac neben mir grinste. „Und warum sollten wir das tun?“

„Ich könnte euch dazu zwingen.“

Er beugte sich näher zu mir, sein Gesicht befand sich unmittelbar vor meinem.

„Du bist gefesselt, Seherin. Du wirst nie wieder frei sein. Du wirst uns alles sagen, was wir wissen wollen. Und dann wirst du zusehen, wie wir deinen liebreizenden Freund hier umbringen.“

Er bleckte die Zähne und fauchte. „Und dann werden wir unsere Gelüste an deinem Körper stillen – jeder von uns. Und wir sind Heerscharen. Wenn du danach immer noch am Leben bist, was ich bezweifle, dann sorgen wir dafür, dass du darum bettelst, sterben zu dürfen.“

Er fuhr mit der Zunge über meinen Hals, sein Atem roch nach Fäulnis. „Wo also ist der Schlüssel?“

„Leck mich!“

Er versuchte wieder, mir den Hals aufzuschlitzen. Genau das hatte ich aber gewollt. Als das Messer erneut an meinem edelsteinbesetzten Halsband hängen blieb, nahm er sich den Verschluss vor, pfriemelte ungeschickt daran herum und schaffte es endlich, ihn zu lösen.

Der Wind legte sich. Jimmy flüsterte: „Oh-oh.“

Die Veränderung kam wie eine Flutwelle über mich, ein Waldbrand oder ein Tornado – zwar natürlich, aber tödlich. Das Halsband hielt das Wesen in meinem Inneren unter Verschluss. Wenn ich es nicht trug, kam mein anderes, neues und verbessertes Ich zum Vorschein.

Das war weiter kein Problem, wenn ich gerade dabei war, Dämonen zu töten. Sogar im Gegenteil. Schwierig wurde es erst, wenn es an der Zeit war, den Vampir wieder in seine Kiste zu sperren. Es gab nur wenige Wesen auf der Welt, die dazu in der Lage waren. Und in diesem Augenblick war eines von ihnen neben mir an den Boden gekettet.

Bei Jimmys „Oh-oh“ hatte der Varcolac zu ihm hinübergesehen. Jetzt richtete er seinen Blick wieder auf mich, seine Augen weiteten sich. Meine waren jetzt vermutlich leuchtend rot.

Er versuchte sich aufzurappeln. Bevor ihm das gelang, biss ich ihm jedoch die Nase ab. Er würde sie nicht mehr brauchen. Dann senkte ich meine Zähne in seinen Hals und trank. Nephilim-Blut ist herrlich süß, und dieser schnelle Puls … einfach köstlich!

Mit einer knappen Kopfbewegung schleuderte ich den Varcolac beiseite. Er war zwar nicht tot, aber er bewegte sich auch nicht mehr. Ich riss meine Arme und Beine in die Höhe. Die Pfähle glitten mit einer sanften, sandigen Bewegung aus dem Boden, und ich war frei.

Frei – was für ein fantastisches Wort.

Die Ketten baumelten an mir herab und streiften immer wieder meinen Körper, wobei sie mich verbrannten. Ich schob die Finger zwischen meine Haut und die Handschellen, brach die Fesseln auseinander und warf sie fort. Sicher, das tat ein bisschen weh, aber der Schmerz hielt nicht lange genug an, um mich zu stören.

Der Anführer der Varcolacs war zwar noch nicht tot, aber das ließ sich schnell ändern. Ich hob ihn hoch und riss seinen Kopf mit einem Ruck vom Rest des Körpers ab. Er war zu Asche zerfallen, bevor die beiden Teile auf dem Boden aufkamen.

„Wer möchte als Nächstes?“, fragte ich.

„D-d-d-d-du bist ein Vampir“, stotterte der Varcolac, der Jimmy gefangen hielt.

„Woran hast du das denn gemerkt?“

Ich atmete ein und genoss seine Angst und Unsicherheit. In diesem Zustand nahm ich Farben leuchtender und Gerüche intensiver wahr. Geräusche in kilometerweiter Entfernung konnte ich hören, als wären sie direkt neben mir. Ich hörte das Blut in den Venen rauschen, das schneller werdende Pulsieren, das die Angst verriet. Ich stellte mir vor, wie es schmeckte, und fuhr mir schon mit der Zunge über die Lippen.

Ich war so stark, dass ich alles hätte tun können. Ich hätte jeden töten können. Ich hatte kein Gewissen, keine Moral, es gab nichts in dieser oder einer anderen Welt, das mir Angst machen konnte.

„I-i-i-ich bringe ihn um.“ Der Varcolac hielt Jimmy das Messer an die Kehle. Ich streckte mich und packte den Trottel an seinem Adamsapfel – in diesem Zustand war ich so schnell, dass meine Bewegungen verschwammen – und riss ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Blut ergoss sich wie ein warmer Frühlingsregen über Jimmy.

„Verdammt, Lizzy!“

Ich leckte mir die Finger. „Gern geschehen.“

Als ich mich umdrehte, zerfiel das, was von dem Varcolac noch übrig war, zu Asche. Die Überreste klebten auf Jimmys glänzender Haut wie Federn an Teer.

Zur Ehrenrettung der Varcolacs muss ich allerdings sagen, dass sie nicht davonliefen, sondern wie eine Armee über mich herfielen.

Aber sie hatten keine Chance.

 

3

Als Jimmy und ich als einzige lebende Wesen hier noch übrig waren, hob ich meine glänzenden Arme zum Mond empor und schrie meinen Triumph hinaus. Dann sah ich mich danach um, wen ich als Nächstes töten könnte.

Mein Blick fiel auf Sanducci, der noch immer an den Boden gekettet war. Dass mir Jimmy diese Kräfte überhaupt erst verschafft hatte, spielte für mich keine Rolle, wenn der Dämon erst mal die Kontrolle hatte.

All diese Ammenmärchen darüber, wie Vampire andere zu Vampiren machen … sie treffen nicht ganz zu. Vampire sind Nephilim, aber sie entspringen der Verbindung zwischen einem Grigori und einem Menschen. Man wird nicht einfach zum Vampir, indem man gebissen wird. Man muss schon als einer geboren werden.

Es sei denn, man ist ich.

Ich bin nämlich, soweit ich weiß, der einzige sexuelle Empath auf diesem Planeten. Laienhaft formuliert heißt das, ich nehme übernatürliche Kräfte durch Sex auf. Anders ausgedrückt: Ich bin ein Dhampir, weil Jimmy einer ist. Und wenn ein Dhampir sein Blut mit dem eines Vampirs vermischt, wird er selbst zu einem.

Jimmy hatte mich nicht absichtlich zu seinesgleichen gemacht. Er hatte sogar alles darangesetzt, es zu verhindern. Er war geflohen und hatte sich vor mir versteckt. Er hatte sich in einem verzauberten irischen Landhaus eingeschlossen, hinter einer goldenen Tür und goldenen Riegeln an den Fenstern. Allerdings ohne Erfolg. Ich hatte ihn gefunden und verführt.

Jimmy war stark. Er hielt den Vampir in sich unter Kontrolle. Nur einmal im Monat, bei Vollmond, kam er frei. Und in diesem Moment war ich zur Stelle gewesen. Lange vor Sonnenaufgang war ich geworden, was er war.

Warum ich das getan habe? Weil die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen, darin bestand, genauso skrupellos wie die anderen zu sein. Die übernatürlichen Fähigkeiten und die legendäre Stärke waren allerdings auch nicht schlecht.

Langsam näherte ich mich Jimmy, der nackt im Mondlicht lag. Er sah so verdammt gut aus. Als ich mir mit der Zunge die Lippen befeuchten wollte, blieb ich an meinen Reißzähnen hängen, die das zarte Fleisch aufrissen. Ich schmeckte mein eigenes Blut und hielt einen Moment inne, um es zu genießen.

Bei uns Vampiren liegen Sex und Gewalt, Blut und Wollust nah beieinander. Es ist nicht leicht, sie voneinander zu trennen, und eigentlich wollen wir das auch gar nicht.

Mein ganzer Körper kribbelte vom Adrenalin, von der Verwandlung, vom Blut. Heiß zirkulierte das Blut unter meiner kühlen Haut. Bei jedem Windhauch stellten sich die feinen Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken auf, und ein köstlicher Schauer überlief mich. Wie eine Gewitterwolke fiel mein Schatten jetzt auf Sanducci.

Sein Blick traf meinen. „Nein, Lizzy.“

„Ich bin nicht Lizzy.“

Er zuckte zusammen. „Ich weiß.“

Mit der Hand strich ich über seinen großartigen Oberkörper und den straffen Bauch.

„Mach mich los“, sagte er. „Du musst dein Halsband wieder anlegen.“

„Nein.“

Sein gequältes Seufzen zog mich magisch an. Ich wollte seinen Schmerz ganz langsam trinken, wie einen guten, teuren Wein.

„Wie schade“, flüsterte ich, „am Boden zerstört.“

Jimmy presste die Lippen aufeinander und kniff die Augen zusammen. „Nicht so zerstört, wie du glaubst.“

Ich senkte meinen Körper auf seinen herab. Unsere nackten Hüften berührten sich, mein Busen lag auf seiner Brust, ich spürte seinen Penis heiß auf meinem Bauch.

„Ich könnte dich wieder aufrichten.“

Ich küsste ihn. Er mochte vorgeben, ein Mensch zu sein, doch das war er nicht, das war er nie gewesen. Gewalt übte eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte.

Bei der Vorstellung, es hier auf dem blutdurchtränkten Boden mit ihm zu tun, wenn er gefesselt war und sich nicht wehren konnte – ich wand mich vor Erregung. Binnen Sekunden war sein Penis nicht nur heiß, sondern auch hart. Er kam nicht gegen den Drang an, meinen Kuss zu erwidern.

Meine Hände glitten über seinen Körper, dann seine Arme entlang bis zu den Ketten an seinen Handgelenken und seine Oberschenkel hinunter bis zu den Fesseln und wieder hinauf zu dem zarten, weichen Fleisch, wo die Hüfte begann. Die Haut an dieser Stelle faszinierte mich. Eine Vene leuchtete blau im silbrigen Mondlicht.

Ich leckte mit der Zungenspitze darüber, als sein Atem stockte. Ich sah zu ihm hinauf. In seinem Gesicht las ich Anspannung, Zerrissenheit. Er begehrte mich – und gleichzeitig wollte er auch nicht.

Mit den Zähnen ritzte ich die Vene ein und presste meine Zunge dagegen. Darunter pulsierte das Blut. Ich konnte nicht widerstehen und trank von ihm.

Er schmeckte scharf und süß zugleich. Er stöhnte auf, allerdings nicht vor Schmerz oder Angst, sondern vor Lust. Ich hob den Kopf.

„Noch nicht“, flüsterte ich. Er erzitterte, als mein Atem über seine Haut strich. „Warte auf mich.“ Dann saugte ich an seiner Schwanzspitze, fuhr prüfend mit der Zunge darüber und dann ganz sanft mit einem meiner Reißzähne, bis er fluchte und an seinen Fesseln zerrte.

„Mach mich los. Lass mich …“ Er warf den Kopf hin und her, und ich wurde langsam neugierig.

„Was soll ich dich lassen?“

Er ruckte ein letztes Mal an seinen Fesseln. Die Pfähle wackelten zwar, aber sie hielten. Der Geruch von verbranntem Fleisch durchdrang die Luft. Es roch wie … die Hölle. Nicht, dass ich jemals dort gewesen wäre, ich konnte nur so meine Schlüsse ziehen.

„Lass mich deine Brüste berühren. Seit mehr als zehn Jahren bekomm ich die nicht aus meinem Kopf.“

Ich hob die Augenbrauen. „Ich bin fünfundzwanzig.“

„Was glaubst du, was im Kopf eines fünfzehnjährigen Jungen vorgeht? Du hattest diese Brüste schon mit zwölf, auch wenn du alles getan hast, um sie zu verstecken.“

Es war mir peinlich gewesen, eine Frühentwicklerin zu sein. Also trug ich weite Kleidung und ließ die Schultern hängen. Das lag nicht allein an meinem Schamgefühl; ich wusste nur allzu gut, dass man als Mädchen aus einem Pflegeheim tunlichst versuchen sollte, möglichst unbemerkt durchs Leben zu kommen.

Aber ich wollte nicht an die Vergangenheit denken, nicht jetzt und vielleicht sogar nie wieder. Ich war stark, unbesiegbar – wie ging dieses Lied noch?

„I’m a Woman“, summte ich.

„Nicht ganz“, sagte Jimmy.

Ich leckte ein letztes Mal über seinen Oberschenkel – die Wunde war schon fast verheilt, dann kniete ich mich mit gespreizten Beinen über ihn, sodass seine Erektion genau dort landete, wo ich sie haben wollte. „Erzähl mir mehr darüber, was du machen willst, wenn ich deine Fesseln löse.“

Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das aber nicht bis zu seinen Augen reichte. „Ich werde dein Becken packen, dich zu mir herunterziehen und ihn so tief in dich hineinstoßen, dass du dich noch tagelang daran erinnern wirst.“

„Hmmm. Und dann?“

„Dann werde ich meine Zähne in deine Brust schlagen und von dir trinken, wenn du kommst. Das Übliche eben.“

„Jaaaa.“ Ich ließ ihn ein und ritt ihn unter dem Mond. Es dauerte lange, sehr lange.

Die Ketten klirrten. „Mach mich los.“

Ich war so kurz vor dem Höhepunkt, dass ich gehorchte, mit den Handflächen an seinen Beinen und Armen entlangfuhr und seine Fesseln in Stücke brach. Atemlos wartete ich darauf, dass er mich berührte. Und das tat er.

Die Hände auf meinen Hüften, zog er mich zu sich heran, dann lehnte er sich zurück und füllte mich aus. Er hob sich aus dem Sand, umfasste meine Brust wie versprochen mit den Lippen und saugte daran. Seine Zähne raubten mir fast – aber nur fast – den Verstand.

Er legte seine rauen Hände um meinen Hals und drückte ganz leicht zu. Ich mochte dieses Gefühl, atemlos zwischen Leben und Tod, Blut in der Luft, Blut auf dem Boden. Viel besser konnte es nicht werden.

„Mmmm!“ Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. „Fester.“

Er würde mich nicht töten. Ich glaubte nicht einmal, dass irgendjemand das vermocht hätte.

„Kein Problem“, murmelte Jimmy. Doch in seiner Stimme lag etwas, das mich irritierte.

Ich schlug die Augen genau in dem Moment auf, als der Verschluss meines edelsteinbesetzten Halsbands zuschnappte. Ich schrie dem Mond meine Wut entgegen, dann war ich wieder ich selbst.

Wie immer, wenn der Vampir gerade erst unter Verschluss war, wand ich mich bei dem Gedanken daran, was ich gesagt und getan hatte – und was ich gewesen war. Mein Atem stockte mit einem Geräusch, das nach einem Schluchzen klang. Dabei weinte ich nie. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Weinen nichts half.

Jimmy und ich lagen noch immer eng umschlungen da. Er war tief in mir – er war hart, ich feucht. Trotz der Veränderung in meinem Bewusstsein und meinem Herzen bebte mein Köper immer noch kurz vor dem Orgasmus. Und seiner ebenfalls.

Er ließ seine Hände von meinem Halsband zu meinen Schultern gleiten und packte für einen Augenblick fest zu. Ich dachte schon, er wollte mich wegstoßen, und hätte ihm das nicht einmal verdenken können. Ich hatte ihm schließlich Dinge angetan und hatte ihn gezwungen, mir Dinge anzutun …

Ich spannte alle Muskeln an, um ihm mit der Bewegung zuvorkommen zu können. Doch er zog mich zu sich heran und vergrub sein Gesicht zwischen meinen Brüsten.

„Jimmy …“

„Sag nichts.“ Von meinen Schultern aus ließ er seine Hände an meinem Körper herabgleiten und umfasste meine Hüfte. „Sag … einfach … gar nichts.“

Ich schluckte, den Geschmack von Sachen im Mund, über die ich nicht nachdenken wollte. Doch im nächsten Moment spürte ich, wie er sich unter mir bewegte, und vergaß alles andere.

Das war immer so bei uns. Ganz egal, wie viel Zeit vergangen war, wenn wir erst mal zusammen waren, konnten wir nicht anders, als uns zu berühren. Und wenn wir uns berührten – kam es zu Sex.

Langsam schob ich mein Becken vor und zurück, seine Hände zeigten mir den Rhythmus, ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, sein Haar an meiner Wange. Nur ein paar geschickte Bewegungen, und ich kam. Ich schlang die Arme um ihn, er erwiderte die Umarmung und zitterte in meinen Armen. Die Stille umfing uns wie Nebel.

Als es dann vorüber war, löste ich mich von ihm und er sich von mir. Wir entknoteten unsere Glieder, ohne uns dabei anzusehen. Würde das jetzt für immer so zwischen uns sein?

Unsere Kleidung lag ganz in der Nähe – ein bisschen zerrissen und ziemlich blutig. Wir hatten den Wagen etwa einen halben Kilometer weiter östlich an der Straße stehen gelassen. Im Kofferraum lagen saubere Jeans und T-Shirts, ein Kanister Wasser und ein paar Handtücher.

Wir waren eben nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation und wussten allmählich, wie es ablief. Wenn wir sie besiegten, sahen wir wie die einzigen Überlebenden eines Massenmordes aus. Wir mussten uns frisch machen, bevor wir ein Hotel suchen konnten, und dann … mussten wir uns richtig frisch machen.

Jimmy nahm unsere Sachen, und ich folgte ihm zum Wagen. Er sah mir immer noch nicht in die Augen.

„Wirst du jetzt für immer so sein?“, fragte ich.

Jimmy zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche, öffnete per Knopfdruck den Kofferraum und warf alles hinein. „Für immer? Unwahrscheinlich.“

„Eine Woche, einen Monat, ein Jahr?“

„Ich weiß es nicht“, sagte er ruhig.

„Gute Arbeit, übrigens.“

Er runzelte die Stirn, sah aber nicht auf. „Freut mich, wenn es dir gefallen hat.“

„Ich meinte, dass du so getan hast, als wärst du gerade voll dabei, und mir dann das Halsband wieder angelegt hast.“

„Jemand musste es ja tun.“

Und dieser Jemand war in der Regel er.

Früher hatte uns Liebe verbunden, gemeinsame Erinnerungen, Jimmy und ich gegen den Rest der Welt. Jetzt war ich nicht mehr so sicher, was uns eigentlich verband, und das machte mir Sorgen.

„Du hast mir auch wehgetan“, sagte ich leise.

Ein paar Monate zuvor war Jimmy vom Dämon seines Vampirvaters besessen gewesen, er hatte mich als Sexsklavin gehalten und von mir getrunken, bis ich fast gestorben wäre. Ich hatte mir schon den Tod gewünscht.

„Glaubst du, ich weiß das nicht mehr?“ Jimmys Finger krampften sich um die offene Kofferraumklappe. „Glaubst du vielleicht, ich hasse mich nicht mehr dafür? Aber gerade du solltest wissen, wie es ist, wenn man zu Dingen gezwungen wird, die man nicht tun will. Wie es ist, wenn dich dein Körper verrät, während dein Verstand Nein schreit.“

Ich wusste, wie es war. Und ich wusste auch, dass ich keine Wahl gehabt hatte.

Ich ging einen Schritt auf Jimmy zu, er wich einen Schritt zurück. „Lass gut sein“, sagte er. „Du bist drüber weggekommen, und das werde ich auch.“

Ich war mir gar nicht so sicher, dass ich darüber hinweggekommen war. Aber ich hatte es schon hinter mir gelassen. Mir war klar, dass Jimmy nicht er selbst gewesen war, als er diese Dinge getan hatte. Leider war ich damals, als ich ihn verführt hatte, sehr viel mehr ich selbst gewesen, als ich es jetzt war.

Wir wuschen uns, so gut es ging, mit dem Wasser und den Handtüchern. Genau genommen wuschen wir uns das Gesicht, den Hals, die Arme und die Hände und hoben uns den Rest für später auf.

Jimmy warf mir ein paar Kleidungsstücke zu. Ich zog sie an, ohne sie überhaupt zu betrachten. Aber als ich sah, was Jimmy trug, musste ich lächeln. Es war eines seiner T-Shirts.

Jimmys Tarnung für die weltweite Dämonenjagd war sein Beruf als Starfotograf. Eines Tages – wenn wir bis dahin nicht alle tot waren – könnte er seine besten Porträts vielleicht in ein paar Bildbänden zusammenfassen. Er war im Umgang mit der Kamera begnadet. Fast so gut wie mit silbernen Messern.

Seine Bilder zierten die Titelseiten von Zeitschriften, Bucheinbände, Poster, CD-Cover, einmal sogar den Times Square. Wer von Sanducci fotografiert wurde, der hatte es geschafft, das wussten auch all die aufstrebenden Rockbands, die Möchtegern-Countrylegenden, diese blutjungen Teenie-Stars und die Anabolika-gemästeten Actionhelden von morgen.

Jimmy mochte einfach T-Shirts. Er trug sie zu Jeans und zu Anzughosen, zu Westen und zum Smoking – und manchmal auch ohne alles. Wenn Sanducci in einem T-Shirt von jemandem fotografiert wurde, so war das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass dieser Jemand das nächste It-Girl, der nächste Star oder die Band des Jahrhunderts werden würde.

Jeden Monat kamen die T-Shirts zu Dutzenden in seinem Postfach an, aber er spendete sie alle an Hilfsorganisationen. T-Shirts trug er nur von denen, die er auch wirklich fotografiert hatte. Das hinderte allerdings niemanden daran, ihm weiter welche zu schicken.

Heute Abend stand NY Yankees auf seinem T-Shirt. Ich hasste die Yankees. Warum ich dann lächelte? Jimmy wusste es. Mich mit den Yankees aufzuziehen, war ja auch eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.

Ich war ein Fan der Milwaukee Brewers. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte mich Ruthie nach Milwaukee gebracht, und es war mein Zuhause geworden. Es war der einzige Ort, an dem ich jemals glücklich gewesen war, und gerade jetzt vermisste ich ein Zuhause so sehr, dass es wehtat.

„Wann hattest du denn ein Shooting mit den Yankees?“, fragte ich.

Jimmy warf mir einen überraschten Blick zu und sah dann mit einem irritierten Blick an sich herab. Dieser Gesichtsausdruck schmerzte noch mehr. Er hatte nicht darauf geachtet, welches T-Shirt er anzog. Er hatte überhaupt nicht vorgehabt, mich zu ärgern.

„Als sie den Ligapokal gewonnen haben“, sagte Jimmy achselzuckend. „Letztes Jahr?“

„Oder im Jahr davor oder vor zwei Jahren. Es ist nicht schwer zu gewinnen, wenn man jedes verdammte Talent weit und breit einkauft.“

„Ich werde heute Abend nicht mit dir über Baseball streiten.“ Er klang so müde.

Ich wandte mich ab und betrachtete die verbliebenen Hügel aus Varcolac-Asche, die im Wind zitterten und dann in Bewegung gerieten, um sich schließlich in der Nacht aufzulösen.

„Ich hätte sie nicht alle töten, sondern einen am Leben lassen sollen, um ihn über den Schlüssel auszufragen.“

„Glaubst du ernsthaft, du hättest in diesem Zustand die Kontrolle über dich gehabt?“

Ich wusste es zwar nicht, aber …

„Manche können es.“ Ich drehte mich um. „Dein … Vater zum Beispiel.“

Jimmys Mund wurde zu einem schmalen Strich. Verständlicherweise war er empfindlich, was seinen lieben, alten Dad anging – er war ein Strega (Definition: mittelalterlicher Vampirhexer). Er hatte Jimmy Dinge angetan, die dem Konkurrenz machten, was er auf der Straße erlebt hatte – und das wollte etwas heißen.

Ich war so froh, dass ich diesem miesen Schwein einen Pfahl durch sein rabenschwarzes Herz getrieben hatte.

„Der Strega hatte jahrhundertelang Zeit, diese Kontrolle zu erlernen“, sagte Jimmy. „Und er hat seine Veranlagung nie so unterdrückt wie wir. Wenn man das tut und es dann hinauslässt, geschehen schlimme Dinge.“

Ich wandte mich wieder ab, um die treibende Varcolac-Asche zu betrachten. Der Mond schimmerte in den Teilchen, die wie silberfarbener Schnee vom Himmel fielen. Es sah schön aus, wenn man nicht wusste, was diese Flocken einmal gewesen waren.

„Oder auch gute Dinge“, sagte ich. „Das hängt vom jeweiligen Standpunkt ab.“

Jimmy schwieg. Ich kannte seinen Standpunkt. Den Vampir rauszulassen war nie gut. Einerseits stimmte ich ihm zu. Andererseits waren im Kampf gegen extrem böse Kreaturen auch extreme Maßnahmen erforderlich. Ich hatte gelobt, die Welt zu retten, und das würde ich nicht halbherzig in Angriff nehmen.

„Indem wir den Vampir in uns unterdrücken, machen wir ihn nur stärker, sprunghafter und, wenn das überhaupt möglich ist, noch grausamer“, fuhr er fort. „Das Monster kann es nicht erwarten, auszubrechen und zu töten.“

Ich wollte ihm widersprechen, doch ich wusste, dass er recht hatte. Manchmal kam ich nachts in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen zu mir und hörte meinen Dämon schreien. Und auch hellwach hatte ich schon ein paarmal, wenn ich allein war, ein Raunen in meinem Kopf gehört, das mich dazu verführen wollte, schreckliche Dinge zu tun. Genau diese Dinge tat ich auch, wenn ich das Halsband ablegte.

„Wir müssen eine Möglichkeit finden, deinen Dämon mehr als einmal im Monat rauszulassen“, sagte ich.

„Nein.“ Er knallte den Kofferraum zu und ging zur Fahrertür.

Ein paar Sekunden lang stand ich einfach nur da, dann beeilte ich mich, auf die Beifahrerseite zu kommen, und sprang genau in dem Augenblick in den Wagen, als Jimmy aufs Gaspedal trat.

„Du weißt, dass es stimmt.“ Jimmy antwortete nicht. „Ruthie hat es gesagt.“

„‚Ruthie hat es gesagt‘“, äffte er mich nach. „Das ist mir scheißegal.“

„Lass sie das nur nicht hören.“

Ruthie war durchaus imstande, jemandem eine zu scheuern, sei es für Besserwisserei, pampige Antworten, Flüche oder was ihr sonst noch nicht gefiel. Dass sie tot war, konnte ihren Handrücken nicht davon abhalten, mit meinem Gesicht in Kontakt zu treten. Es tat ziemlich weh, auch wenn es nur eine Vision war. Da Jimmy allerdings kein Medium war, das mit den Toten kommunizieren konnte, war er, was das betraf, vermutlich sicher.

„Du musst Summer dazu bringen, den Zauber zurückzunehmen“, sagte ich.

Jimmy hatte seinen Vampir hinter den Mond verbannt. Anders ausgedrückt: Er wurde nur bei Vollmond zum Monster. Die restlichen paarundzwanzig Tage des Monats war er einfach nur Jimmy. Höllisch gefährlich zwar, aber nicht so verflucht nahe daran, völlig unkontrollierbar zu sein, wie ich.

„Das wird sie nicht tun.“ Seine Hände umklammerten das Lenkrad. „Ich glaube nicht einmal, dass sie dazu in der Lage ist.“

Summer Bartholomew war eine Fee. Man stelle sich eine überlebensgroße Version von Glöckchen vor – ohne Flügel, dafür mit Cowboy-Stiefeln, einem weißen Hut und nuttigen Klamotten mit jeder Menge Fransen.

Summer und ich kamen nicht besonders gut miteinander aus, was hauptsächlich daran lag, dass sie sich Hals über Kopf und komme was da wolle in Jimmy verliebt hatte. Es war auch dadurch nicht gerade besser geworden, dass er ausgerechnet zu ihr gegangen war, nachdem er mich zum ersten Mal verlassen hatte.

Sie war es auch, der ich das Hundehalsband an meinem Hals zu verdanken hatte. Nicht, dass ich es nicht brauchte. Aber hätte sie den Zauber nicht besser auf eine hübsche Silberkette oder einen Diamantohrstecker legen können? Selbst ein Lederarmband wäre doch geeigneter gewesen als das, was ich jetzt tragen musste. Aber Summer hatte eine Chance gesehen, mich zur Weißglut zu bringen. Und sie hatte sie genutzt.

Dass ich genau das Gleiche getan hätte, wenn ich hätte zaubern können, verringerte meine Verärgerung über sie kein bisschen. Um die Sache nochmals zu verschlimmern, hatte Summer Jimmys Dämon ausgerechnet mit einem Sexzauber gebannt.

Ich weiß, ich weiß. Ich sollte nicht gerade mit Steinen schmeißen – von wegen sexuelle Empathie und so – , aber diese Fee ging mir auf den Zeiger. Vermutlich auch deswegen, weil ich sie und Jimmy so oft zusammen sah, wenn ich einen von den beiden berührte. Dann wollte ich mein Gehirn am liebsten mit kochendem Wasser und jeder Menge Bleiche auswaschen.

„Was ist so schwer daran?“, fragte ich. „Kann sie’s nicht einfach … andersrum mit dir tun?“

„Offensichtlich nicht“, sagte Jimmy.

„Sie weigert sich, den Zauber aufzuheben, weil sie weiß, dass du es nicht willst.“

„Ich will es auch nicht, aber das heißt doch noch nicht, dass ich es nicht trotzdem tun würde. Vermutlich brauchen wir eine größere Fee.«

Ich hatte einen Schluck lauwarmes Wasser aus einer Flasche genommen, die ich im Wagen liegen gelassen hatte. Diesen Schluck spie ich nun über die Windschutzscheibe. „Was?“

Seine Lippen zuckten. „Eine mächtigere Fee.“

„Es gibt also … verschiedene Feeigkeits-Stufen?“

„Sicher. Sagt Summer.“

„Sag das fünfmal schnell hintereinander“, murmelte ich. „Wo kriegen wir eine 1-a-Superfee her, die mehr Macht als Summer hat?“

„Das wirst du sie selbst fragen müssen.“

„Hast du das nicht getan?“

„Ich will auf keinen Fall wieder so werden, wie ich damals war.“

„Du hast gesagt, du würdest es tun.“

„Aber es war nie die Rede davon, dass ich dabei helfen würde.“

„Okay“, schnappte ich. Zwar fand ich die Vorstellung ganz furchtbar, Summer um etwas zu bitten, aber ich war nun mal die Anführerin dieser fröhlichen Dämonenjägertruppe, und Summer wusste das schließlich. Sie würde mir die Information geben.

Andernfalls würde ich sie dazu zwingen. Ehrlich gesagt hoffte ich sogar, sie würde es mir nicht allzu freiwillig verraten.

„Ich dachte wirklich, die Nephilim hätten den Schlüssel“, sagte ich so vor mich hin. Wer sonst hätte die Grigori befreit haben können?

„Vermutlich ist es besser, dass sie ihn nicht haben.“

Es lag mir auf der Zunge, Nein, verdammt! zu schreien. Aber ich hielt mich zurück.

„Was weißt du über das Buch Samyaza?“, fragte ich.

Jimmy sah kurz zu mir herüber. In dem gespenstischen Licht der Armaturen war es unmöglich, seinen Blick zu lesen. Wir näherten uns L.A. Die Lichter der Stadt drängten die Nacht zurück und verliehen dem Himmel ein richtig unheimliches Glühen.

„Das ist ein Mythos.“

„Genau wie wir.“

All die mythologischen Geschichten über die Monster vom Anfang der Zeit – sie sind wahr. Sie waren Nephilim oder Kreuzungen, aber sie waren sehr, sehr real.

Goliath zum Beispiel – dieser Riese aus der Antike? Nephilim.

Vampire, Werwölfe, böse, dunkle, unheimliche Wesen – Nephilim. Oder manchmal auch Kreuzungen.

Hexenverfolgung? Vermutlich hatten sie die richtige Idee, aber sie haben es vollkommen falsch angepackt. Man kann Hexen nicht durch Ertränken töten. Die meisten von ihnen würden nicht einmal brennen.

„Samyaza war der Anführer der irdischen Engel.“

„Satan“, stimmte Jimmy zu. „Er wurde in den Höllenschlund geworfen. Ich glaube aber kaum, dass er Zeit hatte, ein Buch zu schreiben.“

„Ich glaube, er hatte sehr viel Zeit, eine ganze Menge Dinge zu tun. Ruthie zufolge hat er den Nephilim von Anbeginn an Dinge eingeflüstert.“

„Was soll er ihnen denn zugeflüstert haben?“

„Offenbarungsprophezeiungen für die andere Seite.“ Ich zuckte die Achseln. „Anleitungen, wie sie diesen Krieg gewinnen können.“

„Und du sagst, jemand hat sie im Buch Samyaza niedergeschrieben?“

„Ja.“

„So ein Quatsch!“

„Die Bibel ist so ziemlich auf die gleiche Weise entstanden“, sagte ich.

„Ob Gott flüstert oder Satan“ – Jimmy verzog den Mund – „das ist doch wohl kaum das Gleiche.“

„Vermutlich nicht.“ Ich atmete tief ein. „Und es gibt einen großen Unterschied.“

„Welchen?“

„Der Legende nach soll derjenige, der im Besitz des Buches ist, unbesiegbar sein.“

Jimmy kaute eine Minute lang auf seiner Unterlippe herum und betrachtete den gleichmäßig beleuchteten Nachthimmel. „Dann sollten wir verdammt noch mal die Ersten sein, die es finden.“

 

4

Da hatte ich nun eine ganze Menge auf dem Zettel:

Zuerst musste ich das Buch Samyaza finden, das noch nie jemand gesehen hatte.

Dann den Schlüssel Salomos finden – alle Personen, die ihn jemals zu Gesicht bekommen hatten, waren tot.

Eine Superfee finden, um Jimmys Vampirdämon zu befreien.

Irgendwie mit den Grigori fertig werden – entweder herausfinden, wie sie aussahen oder wie man sie töten konnte, und das dann tun, oder den Schlüssel in die Finger kriegen und sie in den Tartarus zurückschicken.

Mit einer reichlich dezimierten Truppe von Sehern und Dämonenjägern verhindern, dass das um sich greifende Chaos das Ende der Welt herbeiführte.

Herausfinden, wer der neue Anführer der Dämonenhorde wurde (Code-Name Antichrist) und – ach, was soll’s – ihn auch gleich töten.

„Ich brauche einen Drink“, murmelte ich und wünschte mich sehnlichst nach Milwaukee zurück, wo ich im Murphy’s, einer Bullenkneipe im Osten der Stadt, hinter dem Tresen arbeitete, um über die Runden zu kommen.

Dass ich den Job damals angenommen hatte, war für mich eine Art Buße gewesen. Schließlich war ich selbst mal Polizistin. Dann aber hat meine übersinnliche Gabe meinen Partner und mich in eine Situation gebracht, die nur einer von uns überlebt hat – und ich wünschte mir noch heute, dass es nicht ich gewesen wäre.

Max Murphy war ein toller Typ, ein guter Polizist, ein wunderbarer Ehemann und ein treusorgender Vater. Er war der beste Partner, den sich ein Polizist nur wünschen konnte. Er glaubte an mich, und dieser Glaube kostete ihn das Leben.

Nach diesem Vorfall konnte ich nicht länger bei der Polizei bleiben. Niemand vertraute mir mehr. Verdammt, selbst ich traute mir nicht mehr. Also verließ ich die Truppe. Ich fand keinen besseren Weg, mich für meine Sünden zu bestrafen, als für die Witwe des Mannes zu arbeiten, dessen Tod ich verschuldet hatte.

Zu meiner Überraschung hasste mich Megan nicht. Sie machte mir auch keine Vorwürfe. Diese verrückte Frau mochte mich.

Jetzt wollte ich nichts lieber als ins Murphy’s gehen und ein Miller Light zapfen, um es dann zusammen mit Megan zu trinken. Aber ich konnte nicht dorthin zurückkehren und ihr Leben und das ihrer drei Kinder riskieren, so wie ich schon Max’ Leben riskiert hatte.

Jimmy steuerte auf den Flughafen von L.A. zu. Selbst zu dieser späten Nachtzeit, kurz vor Tagesanbruch, war der Verkehr furchtbar. Wie hielten es die Menschen hier nur aus?

Er fand ein passables Hotel und ging zur Rezeption, um ein Zimmer zu buchen. Er war weniger blutverschmiert als ich. Als er dann wieder herauskam, drückte er mir einen Schlüssel in die Hand. Ich sah ihn erstaunt an. Getrennte Zimmer? Das war … neu.

Ich sagte nichts dazu. Jimmy war für die Abrechnung zuständig, da konnte er machen, was er wollte. Dieser Rettet-die-Welt-Auftrag wurde nicht sonderlich gut bezahlt. Scheiße, er wurde überhaupt nicht bezahlt. Nachdem Seher und Dämonenjäger für die Föderation rekrutiert worden waren, bekamen sie Tarnberufe, die ihnen die Ausführung ihrer geheimen Aufträge erlaubten und genug Geld für den Lebensunterhalt und die Finanzierung der geheimen Tätigkeit einbrachten. Ruthie hatte ein Kinderheim betrieben. Auf diese Weise konnte sie ihre Pflichten als Seherin und als Anführerin des Lichts wahrnehmen und gleichzeitig Nachwuchs für die Föderation rekrutieren.

Die schwierigsten Kinder waren meist auch diejenigen mit den ausgeprägtesten übersinnlichen Begabungen. Sie waren anders als die anderen, ganz anders sogar, und sie flogen irgendwann wieder aus einer Pflegefamilie heraus – um genau zu sein: aus einer nach der anderen. Und zwar darum, weil in ihrer Nähe merkwürdige Dinge geschahen.

Und sie konnten es nicht erklären, selbst wenn sie es versuchten. Wenn sie die Wahrheit sagten, klang es ziemlich unglaubwürdig: Ich weiß nicht, wie es kam, dass der Hund der Familie zerstückelt wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aus dem Haus gekommen bin und was ich in den letzten drei Stunden gemacht habe. Ich kann nicht erklären, warum meine Kleider immer zerrissen und blutig sind, ich aber nicht.

Ruthie war der erste Mensch, der mir gesagt hatte, dass es ganz in Ordnung sei, dass ich anhand einer bloßen Berührung Dinge über Menschen wusste. Dass ich nicht böse oder verrückt war. Dass ich es nicht verbergen musste – zumindest nicht vor ihr.

Jimmy und ich schnappten uns unsere Seesäcke und gingen ins Hotel. Die beiden Zimmer lagen direkt nebeneinander. Ich schätze, ich konnte froh sein, dass er nicht zwei getrennte Etagen verlangt hatte.

„Nacht.“ Jimmy verschwand in seinem Zimmer.

Ich ging in meines, sah die Verbindungstür und fühlte mich ein wenig besser – bis ich sie öffnete und feststellte, dass die Tür auf seiner Seite verschlossen blieb. Ich ließ meine Tür trotzdem offen und ging unter die Dusche.

Das Blut war inzwischen getrocknet, und es dauerte einige Zeit, es ganz abzuwaschen. Ich ließ meine Haare an der Luft trocknen – sie waren ja ziemlich kurz. Im ersten Jahr bei der Polizei hatte ich auf die harte Tour gelernt, dass lange Haare für alle möglichen Idioten die reinste Einladung sind, daran zu ziehen oder Kaugummis hineinzuspucken. Also hatte ich meine langen braunen Strähnen schon nach ein paar Wochen abgeschnitten und hielt sie jetzt kurz, indem ich mit jedem scharfen Gegenstand daran herumsäbelte, der mir in die Finger kam. Aus irgendeinem Grund stand mir dieser chaotische, unsymmetrische Schnitt ziemlich gut zu Gesicht.

Es war ein exotisches Gesicht, hatte ich mir sagen lassen. Meine Haut wirkte dunkler als die einer Durchschnitts-Weißen und deutete auf einen farbigen Elternteil hin, und die strahlend blauen Augen waren ebenso rätselhaft wie der Rest von mir.

Das Hotel schien mir besser als die, in denen ich in letzter Zeit übernachtet hatte. Es gab eine Minibar, und ich kam endlich zu dem Bier, das ich mir so gewünscht hatte. Zehn Dollar. Ich öffnete die Flasche. Jimmy konnte es sich leisten.

Meine finanzielle Situation änderte sich ständig. Den Wechsel von der Polizistin zur Kellnerin würden die meisten wohl als Abstieg bezeichnen, aber wenn in einer Nacht viel los war, konnte die Arbeit hinter dem Tresen definitiv mehr abwerfen. Seit ich jedoch als Anführerin des Lichts unterwegs war, hatte ich gar kein regelmäßiges Einkommen mehr.

Meine einzigen Einnahmen stammten aus einer Immobilie, die ich nach meinem Ausstieg bei der Polizei gekauft hatte – das war ein Ladenlokal, das ich an einen Nippesladen vermietete, und dann ein Apartment im ersten Stock, in dem ich selbst gewohnt hatte, bis mich die ganze Dämonenbande dort aufgespürt hatte.

Vor nicht allzu langer Zeit war direkt vor meiner Tür eine Seherin ermordet worden. Dass sie in zwei Teile gerissen worden war, hatte bei der winzigen Polizeieinheit in Friedenberg, einem Örtchen mit dreitausend Einwohnern, für ziemliche Bestürzung gesorgt. Das FBI war hinzugezogen worden. Meines Wissens galt dieser Fall bisher noch als ungelöst. Wahrscheinlich würde er es für immer bleiben.

Ich hätte die Wohnung vermieten können, um meine Einnahmen zu erhöhen, vorausgesetzt ich fand jemanden, der bereit war, über diese ganze Frau-vor-der-Haustür-ermordet-Geschichte hinwegzusehen. Doch die Vorstellung, kein Zuhause zu haben, so wie Jimmy, schnürte mir den Magen zu. Das weckte zu viele Erinnerungen an die Zeit, bevor ich Ruthie kennengelernt hatte. Ich mochte ja ein knallhartes, zähes, Dämonen jagendes Medium sein, aber der Gedanke daran, kein Zuhause zu haben, jagte mir eine Scheißangst ein.

Ich trank den letzten Schluck meines Biers und sah auf die Uhr. Drei Uhr morgens, und die Verbindungstür war immer noch geschlossen. Aus Jimmys Zimmer war nur Stille zu hören. Mir blieb nichts zu tun, als ins Bett zu gehen, auch wenn ich bezweifelte, dass ich würde schlafen können.