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Wir alle werden älter, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde! Vielleicht stellt sich manch einer schon heute die Frage, die sich auch Reiner Schöne in seinem Lied „Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin“ gestellt hat. Oder "Alt werden ist nichts für Feiglinge", sagte einst Mae West. Agatha Christie fand für ihr Altern eine frappante Lösung. "Je älter ich werde", verkündete sie, "desto interessanter werde ich für meinen Mann." Ihr Mann war Archäologe. Das Altern ist ein fortschreitender, nicht umkehrbarer Prozess, der mit dem Tod endet. Das macht das Thema für viele so unangenehm. Dabei wirft es eine Menge interessanter Fragen auf, die wir nicht verdrängen sollten. Was ist, wenn man seinen Alltag nicht mehr alleine bewältigen kann? Wenn man krank wird? Wenn man sein Zuhause nicht verlassen möchte? Wenn man sich fragt, wie viele Geburtstage man noch erleben wird? Aber nicht ins Heim will und in seiner vertrauten Umgebung bleiben möchte. Wenn dann die Rente für vieles nicht ausreicht, um ein würdiges Leben zu leben, gibt es vielleicht einen anderen, besseren Weg.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Impressum
©Copyright Karin B. Redecker
64625 Bensheim-Auerbach
Am Höllberg 25
Kontakt: [email protected]
Twitter: https://twitter.com/KarinRedecker
Facebook:facebook.com/KarinBrigitteRedecker
https://www.karin-redecker.de
Coverfoto: U1 Fotolia©500px, U4 Fotolia©5ph
Layout: Karin B. Redecker
Lektorat: worttaten.de, Michael Lohmann
Buchbeschreibung:
Das Altern ist ein fortschreitender, nicht umkehrbarer biologischer Prozess, der mit dem Tod endet. Das macht das Thema für viele so unangenehm. Dabei wirft es eine Menge interessanter Fragen auf, die wir nicht verdrängen sollten.
Wir alle werden älter, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde! Vielleicht stellt sich manch einer schon heute die Frage, die sich Reiner Schöne in seinem Lied »Werd´ ich noch jung sein, wenn ich älter bin« gestellt hat. Oder »Alt werden ist nichts für Feiglinge«, sagte einst Mae West. Agatha Christie fand für ihr Altern eine frappante Lösung. »Je älter ich werde«, verkündete sie, »desto interessanter werde ich für meinen Mann.« Ihr Mann war Archäologe!
Was ist, wenn ich meinen Alltag nicht mehr alleine bewältigen kann. Wenn ich krank werde. Wenn ich mein Zuhause nicht verlassen möchte? Wenn Du Dich fragst, wie viele Geburtstage Du noch erleben wirst.
In dieser Lebensphase von alten, alleinstehenden Männern kommt die junge Polin Ewa ins Spiel, die eine unglückliche Jugend mit einer kranken Mutter und einem alkoholsüchtigen Vater hinter sich hat. Nach dem Tod des Vaters sucht sie ihr Glück in Deutschland. Sie findet nach schwierigen Anfängen bei einem alten Ehepaar, die eine Eigentumswohnung in einem Hochhaus in Bad Soden bewohnen, einen Job als 24 Stunden-Pflegekraft. Sie bietet ihnen Alternativen an, die ihr Leben leichter und glücklicher machen.
Über die Autorin
Karin B. Redecker absolvierte eine Verlagsausbildung bei einer bekannten Frankfurter Tageszeitung.
Sie arbeitete später viele Jahre, gemeinsam mit ihrem Mann, als Redakteurin und Layouterin im eigenen Verlag, bevor sie sich in Italien niederließ. Dort hatte sie endlich die Zeit gefunden, mit dem Romanschreiben anzufangen und es entstanden hier ihre ersten beiden Romane.
Die Pflegebedürftigkeit der Mutter und der Tochter holte sie jedoch wieder aus Italien zurück. Hier folgten weiterere Romane und da das Dichten schon immer zu ihren Leidenschaften gehörte, kamen auch noch zwei Gedichtbände hinzu, die sie stets mit einem Augenzwinkern niedergeschrieben hat. Sie selbst sagt über sich: Schreiben macht mir Freude und ich möchte die Leser nur gut unterhalten. Mein Kopf ist voller Geschichten, denn wie sang einst André Heller: »Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo!«
Die Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei
erfunden. Inspiriert für diesen Roman wurde ich durch
eigene Erfahrungen mit dem Thema Pflege innerhalb meiner Familie. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Buchbeschreibung:
Über die Autorin
Bad Soden 2006 – der Sturz
Masuren, Polen - Ewas Zuhause
Bad Soden 2007 – das Hochhaus
Der Treppensturz
Martin, der Pfleger
Bei Milena
Else
Im Krankenhaus
Spätsommer 2008
Einkaufen
Elses Sturz
Karl stellt Otto vor
Otto Neuhaus
2009
Peter Münster
Einladung zum Essen
Die Verwandlung
Beerdigung
Nach Elses Tod
Das erste Abendessen
Frau Schneider
Hans Mehring und Anke
Karl hat ein Problem
Hans stellt sich vor
Otto erzählt von Russland
Im Ferienhaus
Trarego Viggiona - Lago Maggiore
Einkaufszentrum
Vor dem Sommerfest
Milena und Martin
Anke
Gartenfest
Karl ist verschwunden
Italien
Das erste Frühstück
Wieder zu Hause
Beim Renovieren
Peters Angebot
Martins Pläne
Anke ist zurück
Martins Werbung
Ewa zieht bei Peter ein
Otto ist krank
Peters Plan
Tratschweib
Auf Peters Terrasse
Der erste Kunde
Ewa findet Peters Brief
Frau Stegner
Bei der Kosmetikerin
Gewitter
Milena und Martin packen
Verliebt
Notarvertrag
Peters Abschied
Otto und Anke
Freundschaftsbaum
Oranienstraße
Der Antrag
Trauung
Einpacken
Die blaue Pille
Allein
Impressum
Leseprobe: Das Gift des Oleanders
Leseprobe: Die Toten von Ascona
Doppelband
Das Glück wohnte in Lissabon
Warum nicht auch mal Gedichte?
Bad Soden 2006 – der Sturz
Ohrenbetäubende Sirenengeräusche durchdrangen die Straßen der Kleinstadt. Sie schreckten die Bewohner des 8-stöckigen Hochhauses auf, die eilig an ihre Fenster stürmten. Alle wollten sehen, was los war.
Blaulichter wohin man sah. Sanitäter und Notärzte rannten vor dem Haupteingang routiniert mit einer Tragbahre Richtung Notarztwagen. Auch Polizisten waren vor Ort. Sie sperrten das Areal des Geschehens weitläufig ab. Zufällig vorbeikommende Gaffer sowie einige Nachbarn der angrenzenden Ein- und Zweifamilienhäuser kamen angelaufen. Sie drängelten sich hinter dem Absperrband, um ja nichts zu verpassen.
»Da ist jemand runtergesprungen!«, rief ein Schaulustiger einem anderen zu.
»War wohl Selbstmord!«
Ein Sanitäter schubste einen der Gaffer grob zur Seite.
»Machen Sie doch Platz! Sie behindern nur unsere Arbeit. Gehen Sie nach Hause, hier gibt es nichts zu gaffen!«
An der Eingangstür stand eine kleine Gruppe von aufgeregten Menschen zusammen. Es handelte sich um Bewohner des Hauses, die sich um eine ältere Frau gruppiert hatten, die aufgewühlt auf die anderen einredete. Augenscheinlich wusste sie mehr über das, was soeben erst passiert war. Einer der beiden Notarztwagen raste mit schrillem Martinshorn Richtung Krankenhaus davon.
Der leitende Polizist ging auf die Hausbewohner zu, um seine Befragung durchzuführen. Die ältere Dame, die sich vorher deutlich hervorgetan hatte, wurde als Erste befragt.
»Ich bin die Hausmeisterin und heiße Elvira Schneider«, erklärte sie atemlos mit hochrotem Kopf.
»Ich habe alles genau gesehen, weil ich gerade Unkraut vor dem Haus gezupft habe. Die anderen Herrschaften sind erst später dazu gekommen.«
Nun musste sie erst einmal tief Luft holen, um weitersprechen zu können.
»Mir war vorher schon aufgefallen, dass Frau Mehring, so heißt die Frau, am Notausgangsbalkon der achten Etage runtergeschaut hat. Ich habe ihr noch einen Gruß hinauf gerufen, den sie allerdings nicht erwidert hat. Plötzlich hörte ich neben mir einen lauten Knall und dann sah ich Frau Mehring hier aufschlagen. Sie wohnt oben in der Penthousewohnung. Ihr Mann ist nicht zu Hause. Ich habe ihn vor ungefähr einer Stunde wegfahren sehen.«
Frau Schneider griff sich erneut ans Herz und sprach stockend, immer wieder tief Luft holend, weiter. »Oh Gott, oh Gott! Was wird ihr Mann nur sagen, wenn er nach Hause kommt!«
Sie war völlig durch den Wind und wedelte sich ständig mit einem Papierstück frische Luft zu.
»Hier, nehmen sie erst einmal einen Schluck Wasser zur Beruhigung, sonst kippen Sie mir noch um.«
Der Polizist hakte sich bei ihr ein und begleitete die Hausmeisterin zurück in ihre Wohnung. Sicherheitshalber rief er nach einem der Notärzte, damit er sich um die Dame, die offensichtlich einen Schock erlitten hatte, kümmerte.
Am nächsten Tag konnte man in der Zeitung lesen
Aus dem 8. Stock gesprungen und überlebt!
Die 38-jährige Anke M. überlebte den Sprung aus dem 8. Stock vom frei zugänglichen Notausgangsbalkon. Die Polizei stellte keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung fest und schloss die Ermittlungen relativ schnell ab. Sie ging von versuchtem Selbstmord aus, vermutlich hervorgerufen durch Depressionen, infolge widriger Lebensumstände. Die junge Frau war drei Meter über dem Betonboden auf ein Vordach geprallt und kam mit Knochenbrüchen davon. Die Polizei spricht von unglaublichem Glück und einer Heerschar von Schutzengeln.
Die Ärzte des Kreiskrankenhauses gaben nach ersten Untersuchungen bekannt, dass keine Lebensgefahr mehr besteht. Sie erlitt mehrere Brüche im Schultergelenk und im Becken. Die inneren Verletzungen müssen erst noch abgeklärt werden.
Masuren, Polen - Ewas Zuhause
Es war heiß an diesem Sommertag. Abgespannt fuhr Ewa ganz langsam in die kleine enge Gasse hinein. Sie war beidseitig gesäumt von verwitterten, schmucklosen Häusern, die in direkter Nachbarschaft zu ihrem, nicht weniger heruntergekommenen Haus standen. Mit einem kratzenden Geräusch schaltete sie einen Gang zurück. Nun musste sie etwas mehr Gas geben, um mit ihrem rostigen Golf die holprige Zufahrt zu ihrem Haus hinauf zu kommen. Oben angekommen, parkte sie ihr Auto im kühlen Schatten des Kirschbaums, der schon seit ihrer Kindheit an dieser Stelle stand. Er hatte sich im Laufe der Jahre zu einem mächtigen Baum mit ausladender Krone entwickelt. Wie oft hatte sie als Kind in seinen Ästen Zuflucht gefunden und sich hier vor ihrem wutschnaubenden Vater versteckt. Immer, wenn er wieder einmal betrunken nach ihr suchte und seine angestaute Wut an ihr auslassen wollte. Meist hatte er zuvor schon ihre Mutter mit Schlägen traktiert, die es glücklicherweise doch immer wieder schaffte, durch die Hintertür zu ihrer Nachbarin zu flüchten. Das war schon über zehn Jahre her. Ihre Mutter konnte sich nun auf dem Friedhof von ihrem leidvollen Leben an der Seite eines gewalttätigen Alkoholikers erholen. Sie starb mit nur neunundvierzig Jahren an einem zu spät diagnostizierten Lymphdrüsenkrebs. Das schreckliche Dahinsiechen der Mutter war eine schlimme Zeit für Ewa, in der sie Haushalt, Beruf und Pflege unter einen Hut bringen musste. Sie war damals gerade Anfang zwanzig. Im Grunde im besten Heiratsalter. Aber Kandidaten waren weit und breit nicht in Sicht. Die jungen Männer, die Ewa gefallen hätten, waren entweder bereits vergeben oder waren auf der Suche nach einem besseren Leben ins Ausland abgewandert. Außerdem war Ewa nicht gerade eine Schönheit, kein Mann hatte sich bis dato ernsthaft für sie interessiert. Von der Natur mit roten Haaren und einer blassen Haut ausgestattet, die von Sommersprossen übersät war, wurde sie schon in der Schule von ihren Mitschülern gehänselt. »Marchewka, Marchewka«... riefen sie immer laut lachend hinter ihr her, »Karotte!«, sodass sie anfangs oft weinend nach Hause lief. Im Laufe der Jahre prallte das immer mehr an ihr ab, wenn sich diese Zeit auch tief in ihre Seele eingebrannt hatte. Die Hänseleien ließen mit der Zeit auch nach, aber den Spitznamen »Marchewka« hatte sie bis zum heutigen Tag beibehalten.
Das harte Leben mit ihrem aufbrausenden Vater und der kranken Mutter hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war mit der Zeit immer mehr zu einer traurigen Gestalt geworden, der man ansah, dass ihr Leben kein Zuckerschlecken war. Und Geld für schöne Dinge wie Kleidung und Kosmetik hatte sie sowieso nicht übrig. Meistens trug sie die Kleider ihrer Verwandten und Bekannten aus dem Ausland auf, die ihr Verwandte und Bekannte aus dem Ausland schickten, die wussten, dass ihre Familie in ärmlichen Verhältnissen lebte. Dass der Vater das wenige Geld, das sie besaßen, versoff, war allgemein bekannt. Er hatte vor vielen Jahren seinen Job verloren und sich danach immer mehr dem Alkohol hingegeben. Nicht einmal für die Beerdigung der Mutter war genügend Geld vorhanden. Deshalb musste die anfallenden Gebühren die Gemeinde übernehmen, wofür Ewa sich heute noch schämte.
Der Tod der Mutter machte alles nur noch schlimmer. Von nun an war es normal, dass sie den Vater nur noch betrunken erlebte. Schon morgens brauchte er seine Ration, um sich dann tagsüber mit seinen Saufkumpanen den Rest zu geben. Die Folgen waren in der Regel verheerend. Am Schlimmsten war es, wenn er die ganze Wohnung vollkotzte oder noch schlimmer: Sich in die Hosen machte. Die Krönung war jedoch, als er eines Tages ihren Kleiderschrank öffnete und einfach hinein urinierte. Es war einfach nur widerlich!
»Du ekliges Schwein! Ich kann dich nicht mehr ertragen, du bist einfach nur widerwärtig!«, brüllte sie ihn wütend an.
»Halt’s Maul, du alte Schlampe!« Der ordinären Antwort folgte auch noch ein Schlag ins Gesicht.
Ewa kotzte dies alles an und mehr als einmal wünschte sie sich, dass der Vater einfach nicht mehr nach Hause kommen würde.
So bestand ihr trauriges Leben nur aus Aufstehen, zur Arbeit gehen und den Haushalt einigermaßen sauber zu halten. Einzig Milena, eine lustige Dunkelhaarige, mit der sie schon in der Grundschule befreundet war, stand ihr immer zur Seite. Sie kannte ihre schwierige familiäre Situation und verteidigte sie oft, wenn Witze über ihr ärmliches Äußere gemacht wurden.
Zu ihrem Leidwesen war Milena jedoch bereits vor einem Jahr nach Deutschland zum Arbeiten ausgewandert. Dort konnte sie mehr als das Dreifache verdienen. Zuerst jobbte sie als selbstständige Erntehelferin mit Wohnsitz in Polen bei der Spargel- und Obsternte und als Serviererin in Hotels und Gaststätten. Das war zwar auch kein Zuckerschlecken, aber der Lohn dafür war im Vergleich zu Ewas Einkünften phänomenal. Wenn sie nach Polen mit dem Bus zurückkam, war sie meistens super modisch gekleidet und brachte viele Geschenke für Freunde und Familie mit.
»Komm doch auch mit nach Deutschland!«, drängelte sie ständig. »Dann könnten wir zusammen eine kleine Wohnung mieten, uns den Haushalt und die Kosten teilen. Das wäre doch toll!«
Wie gerne hätte Ewa Ja gesagt. Aber sie konnte doch ihren Vater nicht alleine zurücklassen. Wenn sie ihn auch mehr und mehr hasste, ja sich sogar häufig vor ihm ekelte, so hatte sie doch ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Schließlich gab es auch mal bessere Zeiten mit ihrem Vater. Zeiten, in denen er noch Arbeit hatte und liebevoll mit ihr umgegangen war. Dieses Früher hielt sie sich stets dann vor Augen, wenn er mal wieder besoffen herumkrakeelte und die Wohnung versaute. Schlimm war, dass er immer aggressiver und obendrein handgreiflicher wurde. Einmal fasste er sie an den Busen an und wollte sie weiter begrapschen. Dabei rief er den Namen ihrer Mutter. Wahrscheinlich war er so desorientiert, dass er glaubte, ihre Mutter vor sich zu haben, denn sie sah ihr auffallend ähnlich. Diesen Übergriff konnte sie nur abwehren, in dem sie vor ihm floh und sich in ihr Zimmer einschloss. Daraufhin rüttelte er an der Türklinke, brüllte vor ihrem Zimmer unflätig herum und es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte. Das hinterließ bei ihr ein unbeschreibliches Hassgefühl, das sie nur schwer kontrollieren konnte.
Immer öfter ging sie ihm aus dem Weg und schloss sich in ihr Zimmer ein. Manchmal sah sie ihn nahezu eine Woche überhaupt nicht. Da er sowieso fast nie zu Hause war, wenn sie von der Arbeit kam, konnte sie sich in Ruhe ein Abendessen machen. Sie stellte für ihn dann nur noch eine Kleinigkeit in den Kühlschrank. Aber meistens war er so besoffen, dass er das nicht einmal bemerkte. Wenn sie Glück hatte, lag er morgens in seinem Bett und schlief seinen Rausch aus. Wenn sie jedoch Pech hatte, lag er zusammen gekauert auf dem Fußboden. In der Regel im eigenen Erbrochenen oder schlimmer noch, wenn er sich mal wieder in die Hosen gemacht hatte. Es wurde immer unerträglicher und es ging allmählich über ihre Kräfte, den Haushalt noch halbwegs sauber zu halten.
Manchmal dachte sie ernsthaft daran, ihre Koffer zu packen und Milena nachzureisen. Aber ihr schlechtes Gewissen plagte sie sofort wieder und sie dachte an das Versprechen, das sie ihrer Mutter am Sterbebett gegeben hatte.
»Bitte kümmere dich um deinen Vater, wenn ich nicht mehr da bin. Er ist kein schlechter Mensch, es ist nur der Alkohol, der ihn dazu macht. Versprich mir das!« Und Ewa, der die Krankheit der Mutter emotional sehr zusetzte, hatte genickt und ihre Hand gestreichelt.
Auch heute hoffte sie, dass der Vater nicht zu Hause war. Sie verschloss ihr Auto und spähte ängstlich durch das Küchenfenster und lauschte, ob sie irgendwelche Geräusche vernehmen konnte.
Bad Soden 2007 – das Hochhaus
Das achtstöckige Hochhaus aus den Achtzigern war ein auffallend gepflegtes Gebäude mit vielen unterschiedlich großen Eigentumswohnungen. Erst durch den tragischen Sturz von Anke M. wurde es stadtbekannt.
Heute lag es in vollem Sonnenschein. Die mächtigen, Schatten spendenden Bäume mit der parkähnlichen Rasenanlage, die sich um das ganze Gebäude zog, gaben ihm ein tadelloses Aussehen. Eine Schönheit war es nicht gerade. Lediglich das verglaste Treppenhaus und das aufgesetzte Penthouse verliehen ihm etwas an Attraktivität. Und doch unterschied es sich durch seine adrette Erscheinung von den üblichen Hochhäusern aus den Achtzigern, die oft einen heruntergekommenen Eindruck machten.
Die zumeist großen Balkone hatten die Bewohner üppig bepflanzt, Kaskaden in Grün hingen an den Geländern hinunter. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass einer den anderen Bewohner übertrumpfen wollte. Es war weit und breit das einzige Hochhaus unter den angrenzenden Ein- und Zweifamilienhäusern in Bad Soden. Es befand sich in einer hochpreisigen Wohnlage unweit von Frankfurt und vor dem Tor zum Taunus. Wer hier wohnen wollte, musste mit einem hohen Kaufpreis oder einer hohen Miete rechnen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass sich hier nur Gutsituierte eine Wohnung leisten konnten. Die wirtschaftlich schwächere Bevölkerung, wie man sie oft in Hochhäusern anfindet, war hier nicht anzutreffen.
Allerdings änderte sich auch hier allmählich die Bewohnerstruktur von Eigentümern zu Mietern. Die ursprünglichen Besitzer verschwanden aus Altersgründen nach und nach aus ihren Wohnungen. Sei es durch Tod, weil sie zu ihren Kinder zogen, oder schlimmstenfalls ins Pflegeheim mussten. Dann wurden die Wohnungen von den Erben vermietet oder verkauft, sodass sich die Altersstruktur immer mehr veränderte. Beim Erstbezug im Jahr 1976 waren es in der Regel mittelalte Ehepaare, die alleine oder mit ihren Kindern hier einzogen. So entstand auch über die Jahre eine nette, langjährige Hausgemeinschaft und jeder war bemüht, den Wert des Hauses nicht zu mindern. Ein Verwalter kümmerte sich um die Instandhaltung und Pflege des Gartens, ein Putzgeschwader reinigte wöchentlich das gesamte Treppenhaus. Alles in allem war es ein angenehmes Wohnen mit vielen Bequemlichkeiten.
Der Treppensturz
Es war ganz still im Haus an diesem denkwürdigen Tag. Ewa sah, dass der Vater noch nicht da war und schloss erleichtert die Haustür auf. Sie ging direkt in ihr Zimmer nach oben, um sich frisch zu machen. Als sie aber aus dem Bad kam, hörte sie lautes Poltern und gleich darauf kam ihr Vater volltrunken langsam die Treppe hinauf. Schon auf der Treppe streckte er seine Arme nach ihr aus und lallte den Namen ihrer Mutter. Ewa dachte an sein letztes Begrabschen. Rasch wollte sie in ihr Zimmer fliehen. In der Hektik blieb sie mit ihrem Hausschuh an dem kleinen, verrutschten Teppich hängen. Vor Wut und voller Panik hakte sie absichtlich noch etwas nach, sodass der Teppich Falten warf. Das war genau der Moment, in dem er die letzte Stufe genommen hatte und mit einem Fuß bereits auf dem Läufer stand. Schnell zog sie noch einmal heftig an dem Läufer. Dabei rutschte er aus, ruderte wie wild mit den Armen und verlor das Gleichgewicht. Er stürzte rückwärts die Treppe mit lautem Getöse hinunter und schlug unten mit einem lauten Knall mit dem Kopf auf dem Steinboden auf. Es klang einfach fürchterlich! Sie hörte überdeutlich seinen Aufschrei und das laute Krachen seiner Knochen.
Ewa fuhr der Schreck in alle Glieder. Wie gelähmt stand sie mit offenem Mund am Treppengeländer und wagte es kaum zu atmen. Ganz plötzlich war es totenstill im Haus.
»Oh mein Gott, was habe ich getan«, flüsterte sie. Vorsichtig schaute sie die Treppe hinunter und sah den Vater leblos unten auf dem Steinboden liegen. Seine toten Augen starrten ins Leere.
Völlig aufgelöst brauchte sie einige Zeit, um zu begreifen, was gerade geschehen war. Ihr Herz raste wie wild, sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Sie erinnerte sich an einen Entspannungskurs, den sie früher einmal mit Milena besucht hatte. »Einatmen - ausatmen!« Sie sprach diese beiden Worte monoton vor sich hin, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
Selbst wenn sie Schuld an dem Sturz hatte, so war es doch ein Unfal. Sie beschönigte nach dem ersten Schock das Geschehene. Und dass sie an dem Teppich hängen geblieben war, ja sogar noch nachgeholfen hatte, musste ja niemand wissen.
Besser ist es, wenn ich sage, dass ich in meinem Zimmer war und einen lauten Knall gehört habe, dachte sie und legte sich in Gedanken alles zurecht, was sie später sagen wollte.
Die Treppe hinunter zum Telefon zu gehen, wagte sie nicht. Sie trat deshalb auf den Balkon vor ihrem Zimmer. Sie rief vom Fenster aus nach der Nachbarin, die sie in ihrem kleinen Garten beim Ernten sah.
»Edyta, ruf bitte den Notarzt. Mein Vater ist die Treppe hinunter gestürzt. Ich glaube, er ist tot.«
Sie schrie es hinaus und Edyta reagiert zum Glück auch sofort und eilte zurück ins Haus, um den Notarzt zu rufen.
Dann ging alles sehr schnell. Der Notarzt stellte den hohen Promillegehalt des Vaters fest und es war allen Helfer klar, dass er im Alkoholrausch die Treppe hinunter gestürzt war. Zumal sie ihn alle als häufig randalierenden Trinker kannten. Dass Ewa eventuell nachgeholfen haben könnte, kam niemanden in den Sinn.
Von nun an war alles anders. Ewa fühlte sich mehr und mehr wie neugeboren und von Tag zu Tag befreiter. Ja, sie war über die neu gewonnene Freiheit geradezu glücklich. Dass sie am Tod des Vaters nicht ganz unschuldig war, konnte sie problemlos verdrängen. Sie fand es sogar richtig, es getan zu haben. Ihr anfänglich schlechtes Gewissen war wie weggeblasen und Trotz machte sich breit. Schließlich hatte auch sie ein Leben, das ihr lange genug verwehrt wurde. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und musste den Vater nicht mehr fürchten. Endlich konnte sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Genau das, und nur das, wollte sie von nun an tun.
Martin, der Pfleger
»So, Herr Mertens, ich fahre Sie jetzt zum Duschen!« Der kräftige Pfleger Martin Berger half dem alten Mann aus seiner Liegeposition auf und hob ihn mit einem kräftigen Schwung in den Rollstuhl.
»Wo haben wir denn die Handtücher?«, fragte er liebenswürdig und der alte Herr Mertens deutete wortlos auf die Schublade des Beistelltischchen. Sprechen war ihm nach seiner Hals-OP nicht möglich.
Martin öffnete die Schublade und erkannte schnell und routiniert, dass auch das Portemonnaie des Kranken ganz hinten in der Schublade lag. Daneben noch seine Armbanduhr und ein älteres Handy.
Wunderbar, dachte er. Wie auf dem Präsentierteller!
Er gab dem Rollstuhl einen kleinen Schubs, sodass der Patient nicht sehen konnte, wie er das Portemonnaie öffnete und den größten Geldschein entnahm. Immerhin fünfzig Euro! Die verschwanden in seinem Kittel. Erst dann nahm er den Spindschlüssel und holte frische Handtücher aus dem schmalen Schrank.
»Auf geht’s«, sagte er fröhlich und schob Herrn Mertens durch den Flur in Richtung Dusche.
Als er danach ins Schwesterzimmer zurück kam, nahm ihn Schwester Elke sofort zur Seite.
»Es wurde schon wieder was geklaut!«, rief sie aufgeregt.
Sie war empört und besprach mit ihren Kollegen, welche Maßnahmen man noch ergreifen könnte.
»Es ist unmöglich, jeden Besucher hier zu kontrollieren. Jeder muss einfach auf seine Wertsachen selber aufpassen.«
Schwester Erika sagte das äußerst aufgeregt.
»Wir haben doch schließlich genug um die Ohren und können nicht überall sein.«
»Patienten werden ständig angehalten, große Geldbeträge und teure Wertgegenstände gar nicht erst mitzubringen. Sie können sie gegen eine Quittung in der Zahlstelle abliefern. Nur dann haftet das Klinikum bei einem eventuellen Diebstahl!«, meinte die Stationsschwester.
»Ja klar, das müssen die Patienten einsehen! Die vielen Besucher zu allen Zeiten, das ist nicht zu kontrollieren und auch überhaupt nicht unsere Aufgabe!«
Der 35-jährige Pfleger Martin empörte sich bewusst übertrieben. Insgeheim grinste er sich eins. Diese Woche war wieder einmal ungemein profitabel für ihn. Über fünfhundert Euro hatte er zusätzlich eingenommen. Irgendwie musste sich diese Schinderei doch für ihn lohnen. Hinzu kamen noch die kleineren Medikamentendiebstähle, die er bei passender Gelegenheit auch mitnahm und hortete. Man weiß nie, wie man das alles mal gebrauchen kann, war seine Devise.
Martin war auf der Station beliebt. Immer hilfsbereit, immer kollegial und freundlich zu den Patienten. So hatte er schnell allerseits das Vertrauen gewonnen, das für seine Aktivitäten vorteilhaft war.
Besonders gerne erinnerte er sich an den Fall einer 90-jährigen Patientin. Sie war schon etwas senil und hatte ihre gesamten Ersparnisse mit ins Krankenhaus gebracht. Insgesamt Zwanzigtausend Euro hatte sie auf mehrere Briefumschläge verteilt und in ihrer Handtasche versteckt. Die Handtasche hatte sie leichtsinnigerweise in ihrem Spind verstaut. Fatalerweise hatte sie das Martin vertraulich mitgeteilt. Was die Dame allerdings nicht ahnen konnte, war, dass sie das Krankenhaus nie mehr verlassen sollte. Als das Martin bewusst war, wagte er es, sich dieses Geld anzueignen. Kein Mensch wusste davon und sein neues Auto konnte er damit finanzieren. Das war ein Glückstreffer für ihn, der sich so schnell nicht wiederholen würde, das war ihm klar.
Wenn sich die Gelegenheit bietet, dann greif zu!, war seitdem seine Devise.
Auf den Stationen laufen so viele Patienten, Besucher und andere Gäste herum, dass Diebe kaum auszumachen sind. Das ist allen klar und da ist es schon sehr unwahrscheinlich, dass ich in Verdacht gerate. Pfeifend machte er sich auf den Weg zum nächsten Patienten.
Bei Milena
Ewa Nowak stand in der kleinen Küche, die sie sich mit Milena teilte, und kochte für sie beide eine Gemüsesuppe für den Abend. Sie tat, was sie konnte, um sich bei Milena nützlich zu machen. Viel an Miete konnte sie nicht beisteuern, da sie selbst nur wenig Geld verdiente.
Ihr gespartes Geld wollte sie auf keinen Fall angreifen. Es war eh schon gewaltig geschrumpft. Die vielen Ausgaben für die gemeinsame Wohnung und für die Dinge, die sie sich vorher nicht leisten konnte, ließen ihr Gespartes schmelzen. Aber trotz allem war sie über ihre Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, glücklich. Und Milena übertrug ihre positive Einstellung zum Leben auf sie und bestärkte sie darin, nur nicht aufzugeben. »Du wirst sehen, bald schon haben wir es geschafft und können wie die Deutschen leben.«
Sie hatte nur drei Putzstellen in der Woche. Ab und zu noch eine zusätzliche auf Zuruf, wenn eine der betuchten Damen aus der Kleinstadt ihre Hilfe benötigte. Aber das waren dann stets keine einfachen Arbeiten, die anstanden. Meistens erfolgten anstrengende Grundreinigungen, die die Damen gerne an andere abgaben. So zum Beispiel das gründliche Putzen von Bädern und Küchen. Oder den staubigen Keller saubermachen. Man musste dann in dunklen, kalten Räumen so richtig im Dreck wühlen, der sich schon vor langer Zeit angesammelt hatte. Das ging ganz schön in den Rücken und die paar Euros, die sie hier verdiente, waren schwer verdientes Geld. Sie musste halt nehmen, was kam und war froh, dass sie wenigstens drei feste Putzstellen mit jeweils drei Stunden pro Woche hatte. Das waren immerhin neun Stunden in der Woche und damit knapp neunzig Euro. Aber einfach zu wenig, um sich etwas leisten zu können. Hinzu noch ein paar Extra-Euro von spontanen Aufträgen. Trotz allem kam sie selten über sechshundert Euro im Monat, was natürlich deprimierend war, denn das Leben in Deutschland war relativ teuer. Das hatte sie sich doch alles anders vorgestellt, als sie vor etwa einem Jahr aus Polen kam. Die vielen schönen Dinge, die sie in den Schaufenstern sah, waren für sie noch unerreichbar, und die Sehnsucht danach war groß.
Die erste Zeit war schwer für sie. Wenn sie Milena nicht gehabt hätte, wäre sie bestimmt ganz schnell wieder zurück nach Polen. Aber Milena, die länger in Deutschland lebte und einen guten Job im Krankenhaus hatte, ließ nicht locker. Sie nahm sie wie selbstverständlich bei sich auf, schickte sie sofort in einen Deutschkurs für Fortgeschrittene und verschaffte ihr auch schnell eine Putzstelle. So entwickelte sich alles nach und nach zum Besseren.
Und nun war, trotz vieler Probleme, alles leichter als in Polen. Wenn sie nur zurückdachte an die schlimme Zeit mit dem alkoholkranken Vater, der sich im Grund fast totgesoffen hatte. An dem Treppensturz war er schließlich selber schuld, wie sie sich stets einredete. Dass sie dabei nachgeholfen hatte, hatte sie in der Zwischenzeit total verdrängt.
Es war wie eine Befreiung für sie, als er endlich tot war und der an Krebs verstorbenen Mutter nachfolgte.
Das wenige Geld, das sie verdiente, konnte sie nun für sich behalten und es wurde nicht für den Alkohol des Vaters verschwendet. Es gab Zeiten, da konnte sie nicht einmal Brot und Milch einkaufen. Sie mussten förmlich hungern, nur weil der Vater ihr Versteck mit den Paar Zsloty wieder aufgestöbert und in Wodka verwandelt hatte.
Als sie dann Tomasz kennen und lieben lernte, meinte sie, nun glücklich zu sein. Endlich war da jemand, der sie liebte und in den Arm nahm. Sie war keine Schönheit, das war ihr wohl bewusst. Aber trotzdem war Tomasz an ihr interessiert und lud sie zum Tanzen ein. Er umwarb sie, was ihr gut gefiel.
Dass Tomasz keine Arbeit hatte, war ihr nicht so wichtig. Sie saß auf Wolke sieben und sah alles durch eine rosarote Brille. Dass der Sex mit ihm sie enttäuschte, schob sie auf ihre Unerfahrenheit. Er kam immer schnell zur Sache, ohne Zärtlichkeiten zuvor oder danach und nach fünf Minuten war alles vorbei. Dann wälzte er sich zur Seite und schlief ein.
Was soll denn so toll an Sex sein?, fragte sie sich dann immer. Alles, was sie darüber gelesen und gehört hatte, stimmte nicht ihren eigenen Erlebnissen überein. Einen Orgasmus hatte sie noch nie erlebt und war neugierig, wie es sich mal anfühlen würde. Milena hatte ihr erzählt, dass es der Höhepunkt der sexuellen Erregung sein soll.
»Ein unbeschreibliches Zittern und gewaltiges Beben ist der höchsten Moment der Lust, wenn die Ekstase naht!«, erzählte sie ihr begeistert.
Sie redete sich ein, dass das bestimmt bei ihr noch kommen würde. Sie durfte nicht zu ungeduldig sein. Das wird schon noch!, bildete sie sich ein und träumte von einer glücklichen Ehe mit Kindern.
Tomasz drängte schon bald aufs Heiraten, was ihr natürlich sehr schmeichelte. Er ließ sie im Glauben, dass er sie über alles liebte und es kaum erwarten konnte, der Mann an ihrer Seite zu sein.
Dass es ihm in erster Linie um das Haus ging, das nun ihr gehörte, und auch darum, dass sie eine feste Arbeitsstelle hatte, das wurde ihr erst später so richtig klar. So erlebte sie erneut das gleiche Dilemma wie mit ihrem Vater. Tomasz traf sich immer öfter mit seinen Freunden und versoff das wenige Geld, das sie verdiente.
Oft genug kam sie müde nach Hause und traf ihn mit seinen Saufkumpanen an, die sich auch noch über sie lustig machten. Ihre Liebe war schneller als gedacht wieder verflogen und als er sie auch noch verprügelte, war das Maß voll. Zum Glück war gerade Milena auf Urlaub in Polen und sie konnte sie in ihrer Verzweiflung herbeirufen. Tomasz war mit seinen Freunden zum Saufen weiter gezogen, sodass Milena durch die nicht verschlossene Tür unbehelligt eintreten konnte. Sie fand Ewa stark misshandelt und verstört auf dem Bett liegend vor und machte instinktiv mit ihrem Handy gleich ein paar Fotos von ihr. »Als Beweis«, wie sie sagte. Ewa gestand ihr, dass es nicht das erste Mal war, dass Tomasz sie verprügelt hatte. »Aber so schlimm wie heute war es noch nie«, gestand sie unter Tränen.
»Du musst das beenden! Er wird dich sonst noch totschlagen!« Milena war nun völlig aufgewühlt, denn so etwas hatte sie noch nie gesehen. Ewa lag übersät mit blauen Flecken und zerrissener Kleidung auf dem Bett und konnte sich kaum rühren. Milena hatte Mühe, sie überhaupt auf die Beine zu stellen und das Ausmaß der Verletzungen war erschreckend.
»Dieses Schwein!«, sagte sie mitfühlend und strich Ewa die tränennassen Haare zurück.
»Pass auf, ich hole meinen Bruder her. Und wenn Tomasz wieder zurückkommt, dann werfen wir ihn mit vereinten Kräften hinaus. Ich rufe gleich mal den Schlüsseldienst an und lasse das Schloss austauschen. Der kommt hier nicht mehr rein!«, sagte sie energisch.
Milenas Bruder war Polizist und besaß dadurch eine gewisse Autorität, der sich Tomasz bestimmt nicht widersetzen würde. Zumal er ihn bereits gut kannte und ihn schon mehrfach aus verschiedenen Kneipen hinaus befördert hatte. Und genau so lief es dann auch ab.
Als er mit seinen Saufkumpanen wieder in die Wohnung wollte, war das Schloss bereits ausgetauscht. Wiktor, so hieß Milenas Bruder, hatte bereits eine Anzeige wegen körperlicher Misshandlung aufgesetzt und die Bilder, die Milena gemacht hatte, auf sein Handy überspielt. Das hielt er ihm alles unter die Nase, als er lautstark an der Wohnungstür rüttelte und hinein wollte. Zum Glück kam es nicht zu weiteren Ausschreitungen und Tomasz zog unter lautem Protest von dannen.
Ewa reichte sofort danach die Scheidung ein und zog zum ersten Mal in ihrem Leben einen kräftigen Schlussstrich unter die Gemeinheiten ihres Lebens. Nie wieder wollte sie sich so ausbeuten lassen, das stand von nun an ganz fest für sie und schon bald fragte sie sich: Soll ich zu Milena nach Deutschland gehen?
Die Entscheidung fiel dann recht bald, als Milena eingehend mit Ewa ihre Situation analysierte.
»Was willst du noch hier in diesem ärmlichen Haus. Verkaufe alles und fang ganz neu in Deutschland an. Du hast doch nichts mehr, was dich aufhalten kann. Keine Eltern, keine Verwandten. Komm zu mir und wir zwei werden uns ein schöneres Leben aufbauen. Ich habe jetzt eine feste Anstellung in einem Krankenhaus als Stationshilfe. Eine kleine Wohnung habe ich auch und es geht mir relativ gut.«
»Was musst du denn da machen?« Ewa schaute sie interessiert an.
»Ich bin bei der Speisenausgabe an die Patienten behilflich sowie bei der Reinigung des Küchen- und Stationsbereiches. Ich habe nette Kollegen und fühle mich dort wohl. Außerdem habe ich nebenbei schwarz noch eine Putzstelle.«
Ewa, die sich selbst schon in letzter Zeit oft mit dem Thema Deutschland beschäftigt und mit Begeisterung die vielen deutschen Illustrierten durchgeblättert hatte, die Milena immer mit nach Polen brachte, erwärmte sich immer mehr an dem Gedanken nach Deutschland auszuwandern. Denn ihr Leben konnte ja nur besser werden, schlechter ging ja nicht mehr.
So schmiedeten sie gemeinsam einen genauen Zeitplan, wie der Umzug nach Deutschland klappen könnte.
Zuerst musste Ewa das Haus verkaufen. Da konnte sie zwar nicht mit viel Geld rechnen. Aber es war eine gute Starthilfe, um die erste Zeit über die Runden zu kommen. Ihre Nachbarin hatte schon mal vorsichtig angedeutet, dass sie das Haus für Ihre Tochter gerne kaufen würde. Die Gärten grenzten aneinander und sie könnte dann prima auf ihre Enkel aufpassen. Die Tochter könnte so ihren Job weitermachen. Sie bot ihr 150.000 Zsloty für das alte Haus. Das war nicht viel, aber viel für Ewa, die sich gleich ausmalte, was sie alles mit dem vielen Geld anfangen konnte.
Milena ließ nicht locker und bearbeitete sie telefonisch auch aus der Ferne. Sie war dann ursächlich dafür verantwortlich, dass Ewa den Schritt wagte, das Haus verkaufte und nach Deutschland übersiedelte. So konnte sie finanziell die ersten Monate in Deutschland gut überstehen.
Bad Soden 2007
Einer der Wohnungs-Eigentümer des Hochhauses in Bad Soden war der einundachtzigjährige Karl Bauer aus dem zweiten Stock.
Er bewegte er sich mühsam nach oben zu seiner Wohnung. Man sah, dass es ihm schwerfiel, die vielen Treppenstufen, eine nach der anderen, zu erklimmen. Er umfasste fest den Handlauf des Geländers und zog sich Stufe für Stufe nach oben.
Verfluchter Aufzug. Immer wenn man den mal braucht, geht das verflixte Ding nicht! Er hatte den Beutel mit den benutzten Windelhosen seiner Frau zum Müllcontainer getragen, damit sich der beißende Geruch nicht in der Wohnung ausbreiten konnte. Dieses Prozedere vollzog er mehrmals am Tag. Sein linkes Knie bereitete ihm immer mehr Probleme. Es schmerzte ihn mittlerweile bei jedem Schritt, sodass er sich nur mit ausgestrecktem linken Bein vorwärts bewegen konnte. Das dauerte natürlich doppelt so lange wie früher, als er noch sportlich nach oben ging und den Aufzug aus Fitnessgründen gar nicht benutzte. Aber nun, wo er gerne auf das Treppensteigen verzichtet hätte, funktionierte dieses Miststück natürlich wieder nicht.
Wegen Reparaturarbeiten bis auf Weiteres außer Betrieb. Bitte benutzen Sie das Treppenhaus, stand auf dem handgeschriebenen Zettel, der an der Aufzugstür angeklebt war. Und das nun schon seit mehreren Tagen.
Ich muss mich schon wieder beim Hausmeister beschweren. Schließlich haben wir damals hauptsächlich wegen des Aufzuges die Wohnung gekauft. Und nun ist schon zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Reparatur nötig, dachte er und schleppte sich langsam weiter nach oben.
Und was das wieder alles kostet!
Die letzte Jahresabrechnung war empörend. Die eingesetzte Hausverwaltung verlangte immer mehr an Umlagen. Seine relativ kleine Rente ließ ziemlich wenig Spielraum zu. Auch seine Reserven schmolzen mehr und mehr zusammen.
Vor seiner Wohnungstür hörte er schon das Stöhnen seiner Frau Else. Sie versuchte wie so oft, aus ihrem Rollstuhl aufzustehen. Das kostete sie sehr viel Kraft, da das rechte Bein und der rechte Arm gelähmt waren. Sie hielt sich dann mit dem linken Arm an der Tischkante fest und zog sich mithilfe des linken Beines nach oben. Dann blieb sie ein paar Minuten stehen und man konnte ihr deutlich die Anstrengung ansehen. Aber sie hatte den festen Willen, ihre Situation zu verbessern. Das stellte sich jedoch immer mehr als aussichtslos heraus. Die Schädigungen waren einfach zu groß.
Jetzt waren schon vier Monate nach dem schlimmen Ereignis vergangen, an dem Karl seine Frau auf dem Boden liegend im Bad vorgefunden hatte. Er hatte seinen Herrenabend, der einmal im Monat in einer nahen Apfelweinwirtschaft stattfand. Dort traf er sich mit alten Bekannten zum Kartenspielen und zum Klönen. Das war stets ein wichtiger Tag für ihn, der Abwechslung in seinen Senioren-Alltag brachte und er blieb diesen Treffen nur ungern fern. Und ausgerechnet an so einem Tag bekam Else ihren Schlaganfall, der ihr beider Leben auf den Kopf stellte. Sie wollte ins Bett gehen und war im Bad mit der Körperpflege beschäftigt, als es passierte. Das konnte man nur vermuten, da sie nur in ihrer Unterwäsche vorgefunden wurde, denn sagen konnte sie danach nichts mehr.
Er fand sie erst nach vielen Stunden. Sie lag am Boden. Zuerst glaubte er, dass sie tot sei. Er war völlig fertig, rief immer wieder ihren Namen und klopfte ihr auf die Wangen. »Else, was ist mit dir? Wach auf, bitte wach doch auf«, rief er immer wieder. Es dauerte einige Minuten, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er die Ambulanz anrufen konnte.
Der Notarzt stellte schnell fest, dass es sich um einen schweren Schlaganfall handelte. Man fuhr sofort mit Else ins nächste Kreiskrankenhaus zur Stroke Unit, der Spezialabteilung für Schlaganfälle. Besonders die lange Zeit zwischen Schlaganfall und Auffinden ließ keine günstige Prognose zu. Die Zeitspanne dazwischen war einfach zu groß.
Und so war dann auch die Diagnose niederschmetternd. Else war halbseitig gelähmt und ihr Sprachzentrum zerstört. Ausgerechnet der rechte Arm und das rechte Bein waren bewegungsunfähig und dazu hatte sie noch einen vollständigen Sprachverlust. Es kamen nur noch undefinierbare Laute aus ihrem Mund und man konnte sogar vermuten, dass auch die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt waren.
Hinzu kam, dass sie plötzlich auch noch inkontinent war. Daran musste er sich ganz besonders gewöhnen. Und Else erst! Ihr war das mehr als peinlich. Deshalb wollte sie ständig auf die Toilette gesetzt werden. Das war für ihn stets mit einer großen Anstrengung verbunden. Er musste Else im Pflegebett aufsetzen, zum Stehen bringen und mit einem Schwung in den Rollstuhl befördern. Das verlangte viel Kraft, die bei ihm allmählich immer mehr nachließ. Sein Rücken schmerzte vom vielen Hochheben und Zurechtrücken, sodass er selbst sich kaum noch normal bewegen konnte.
Die Verzweiflung bei beiden war groß. Vorbei war die schöne Zeit mit Reisen und Ausflügen, die sie, nachdem er in Rente gegangen war, regelmäßig ausgiebig und gerne gemacht hatten. Und die vielen Termine mit der Logopädin und der Physiotherapeutin - nichts hatte zum Erfolg geführt. Ja, man stellte sogar schnell fest, dass Else mit der noch beweglichen linken Hand nicht einmal mehr ihren Namen schreiben konnte. Sie wusste die Buchstaben einfach nicht mehr einzuordnen.