Die Prinzessin und der Wikinger - Julia Anderson - E-Book

Die Prinzessin und der Wikinger E-Book

Julia Anderson

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Beschreibung

Um einer Zwangsheirat zu entgehen, entflieht die junge Prinzessin Ella zusammen mit ihrer Zofe und besten Freundin Harriet dem Hofstaat ihres Vaters in East Anglia, England. In einem abgelegenen Kloster finden die beiden Frauen Unterschlupf, doch der Frieden währt nicht lange. In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wird das Kloster von Wikingern überfallen. Ella und Harriet werden gefangen genommen und nach Dänemark gebracht. Dort verliebt sich Ella in den ältesten Sohn des Königs, Agnar. Doch dieser hat keine Ahnung, wer sie in Wirklichkeit ist...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

KAPITEL 6

Kaptitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 16

KAPITEL 21

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

NACHWORT

Impressum

Kapitel 1

Man kann ohne Liebe Holz hacken, Ziegel formen, Eisen schmieden. Aber man kann nicht ohne Liebe mit Menschen umgehen. - Leo Tolstoi

East Anglia 969 AD

Die Schmerzen waren kaum zu ertragen, aber das junge Mädchen wusste, dass die Behandlung notwendig war und ließ die Tortur daher still über sich ergehen. Nur ihr farbloses, vor Schmerzen verzogenes Gesicht verriet, was tatsächlich in ihr vorging.

Harriet, der die Qualen ihrer Herrin nicht entgangen waren, verzog mitleidig das Gesicht.

Es hatte um einiges länger gedauert als sie vermutet hatte um die Wunden, die die Peitsche auf Ellas Rücken hinterlassen hatte, zu reinigen und mit der heilenden Kräutertinktur zu bestreichen, die sie eigens angefertigt hatte.

Jetzt war sie endlich fertig. Erleichtert zog Harriet die Finger zurück und richtete sich auf, um ihren verspannten Rücken durchzustrecken. Dann warf sie einen letzten prüfenden Blick auf Ellas Verletzungen. Bevor sie die Bandagen anlegte, musste sie sich vergewissern, dass sie die Wunden richtig gereinigt hatte. Wenn auch nur das kleinste bisschen Dreck zurückblieb, konnten sich die Wunden entzünden und ein Fieber auslösen, das im schlimmsten Falle tödlich verlief.

Zum Glück hatte sich ihre Sorgfalt mal wieder bezahl gemacht. Alles sah gut aus und ihre Patientin war bereit für den letzten Teil der Behandlung. Vertrauensvoll strich sie dem jungen Mädchen über das helle Haar.

"So, das Schlimmste haben wir hinter uns. Ich hoffe du kannst verzeihen, dass ich dir noch einmal wehtun musste, aber die Wunden konnten auf keinen Fall so bleiben.“ Harriet zog verärgert ihre mit Sommersprossen übersäte Nase kraus.

Es gab nur wenige Heiler, die wirklich etwas von ihrem Handwerk verstanden. Die meisten griffen auf äußerst fragwürdige Methoden zurück, die den Gesundheitszustand der Betroffenen meist nur verschlechterten. So auch bei Ella. Statt die Wunden zu reinigen hatte man die Prinzessin zur Ader gelassen, bis sie fast verblutet war, und anschließend Weihrauch geräuchert, bis der ganzen Raum in einem Dunst aus bläulichem Rauch gelegen hatte.

Harriet war heilfroh gewesen, als der Priester, mitsamt seinem betenden Gefolge und diesem ‘sogenannten‘ Heiler, heute morgen endlich erklärt hatte, dass man nichts weiter tun konnte, und gegangen war.

„Danke, Harriet, ich weiß zu schätzen, was du für mich tust“, erwiderte Ella matt.

Harriet schwieg einen Moment. Seit man sie gestern Abend in den Kerker gerufen hatte, wo sie die Prinzessin mit diesen grauenvollen Verletzungen aufgefunden hatte, hatte sie sich immerzu die gleiche Frage gestellt. Nun endlich fasste sie sich ein Herz.

„Was ist nur passiert, Ella?“

Ella zögerte, aber dann antwortete sie doch. „Mein Vater will mich verheiraten“, flüsterte sie tonlos.

Harriet machte ein betroffenes Gesicht. Dann nickte sie langsam. „Und du hast dich geweigert?“

Ella seufzte zur Antwort. Im Nachhinein wusste sie natürlich, wie dumm sie sich verhalten hatte. Indem sie sich geweigert hatte ihren zukünftigen Ehemann zu empfangen, hatte sie ihren Vater blamiert, und das vor dem gesamten Hofstaat. Das ihr Vater das nicht unbestraft lassen würde, hätte sie sich eigentlich denken können.

Mehr denn je verfluchte Ella ihre Dickköpfigkeit. Ihre einzige Verteidigung war, dass die Verkündung ihrer Verlobung sie vollkommen überrumpelt hatte. Als sie dort vor ihrem Vater und dessen Beratern gestanden hatte war sich vorgekommen wie eine Kuh, die an den Höchstbietenden versteigert werden sollte. Was sie wollte war vollkommen irrelevant.

Man hatte sie zwingen wollen sich diesem Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, zu präsentieren und ihn willkommen zu heißen. Aber Ella brachte es nicht fertig so zu tun, als freute sie sich und als es ihr auch nach mehreren Aufforderungen nicht gelungen war einen Gruß über die Lippen zu bringen, oder ihn auch nur anzusehen, hatte ihr Vater sie verärgert befohlen zu gehen. Gleich vor dem Thronzimmer hatten die Wachmänner sie ergriffen und in den Kerker gebracht.

Die Erinnerung an das, was danach geschehen war, jagte Ella einen kalten Schauer den Rücken hinab. Schnell verbannte sie furchtbaren Bilder und konzentrierte sich stattdessen auf Harriet.

"Mein Vater will mich verheiraten", erklärte sie tonlos. "Schon in weniger als sechs Monaten soll ich die Ehefrau des Frankenkönigs Karlmann werden.” Sie machte eine lange Pause, bevor sie bitter hinzufügte: ”Wie kann ich diesem Mann gegenübertreten, als hätte ich keine Einwände gegen diese Verbindung. Er ist bestimmt dreißig Jahre älter als ich! Meinem Vater geht es wie immer nur um seine politischen Interessen. Warum kann er nicht ein einziges Mal zuerst an seine Familie denken?“

Traurig drehte Ella ihren Kopf ein Stück zur Seite, um Harriet anzusehen. Dabei rollte ihr eine Träne die Wange hinab. ”Bitte sag, dass du mich verstehst, Harriet…”

Harriet betrachtete Ella mitleidig. Natürlich konnte sie die Prinzessin verstehen! Arrangierte Ehen waren keine Seltenheit, zumindest nicht im Königshaus, aber dreißig Jahre waren in der Tat ein großer Altersunterschied und das Frankenland war weit entfernt. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Ella. Die ganze Sache tut mir furchtbar leid."

Es war sieben Jahre her, dass Harriet auf diese Burg gekommen war, um der jüngsten Tochter König Ethilreds zu dienen. Damals war sie 10 Jahre alt gewesen und hatte kaum verstanden, was für eine große Ehre ihr zuteilgeworden war. Sie hatte einfach nur furchtbares Heimweh gehabt. Aber da die Mädchen fast im gleichen Alter waren, hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden und Harriet hatte ihr Heimweh bald vergessen. Es war der Anfang einer Beziehung gewesen, die in ihrer Innigkeit weit über das Verhältnis zwischen einer Bediensteten und deren Herrin hinausging. 

Sie waren Freundinnen geworden, beste Freundinnen, und Harriet wünschte sich nichts sehnlicher, als Ella irgendwie helfen zu können. Sie bezweifelte, dass eine Ehe mit dem Frankenkönig ihrer Freundin Glück und Zufriedenheit brachte, wusste aber gleichzeitig, dass Ella sich unmöglich weigern konnte. 

Traurig blickte sie auf die Prinzessin hinab. Ganz im Gegensatz zu dem Rest ihrer Familie war Ella immer fröhlich und voller Tatendrang gewesen, obwohl sie es nie einfach gehabt hatte. Jetzt machte sie sich ernsthaft Sorgen, dass Ellas Licht für immer erloschen war. Obwohl sie ihr so nahe war, dass sie nur die Hand auszustrecken gebraucht hätte um sie zu berühren, schien sie doch ewig weit weg. Ihr Blick war ins Nichts gerichtet, die Augen trüb und voller Verzweiflung.

Seufzend legte Harriet das kleine Fläschchen mit der Kräutertinktur beiseite und begann die in Kamillentee getränkten Bandagen, die die Köchin für sie hatte bringen lassen, auf Ellas Rücken zu legen.

Diese zuckte immer wieder zusammen, blieb ansonsten aber reglos liegen. Als Harriet fertig war, richtete Ella fragend ihren Blick auf sie. „Sieht es sehr schlimm aus?"

Harriet zögerte mit ihrer Antwort. Wenn es je einen guten Grund gegeben hätte ihre Freundin anzulügen, dann jetzt. Die Peitsche hatte weit aufklaffende, blutige Striemen hinterlassen, deren Narben zwar mit der Zeit verblassen, aber nie wieder ganz verschwinden würden.

Viel schwieriger als die Behandlung der Wunden würde es jedoch sein, Ellas inneren Verletzungen zu heilen. Harriet erinnerte sich an etwas, das ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte, nämlich dass die Seele meist viel länger als der Körper brauchte, um ein traumatisches Erlebnis zu überwinden.

Würde die Prinzessin die Qualen, die man ihr angetan hatte, je vergessen können?

Harriet entschied ihre Sorgen erst einmal für sich zu behalten. „Es wird heilen und am Ende wird man die Narben kaum noch sehen ", antwortete sie zuversichtlich und wechselte dann vorsichtshalber das Thema. „Ich habe gehört, dass Henry versucht haben soll die Strafe auf sich zu nehmen, aber euer Vater ließ sich wohl nicht mehr umstimmen…"

Ella seufzte betrübt. Henry, ihr älterer Bruder, war der Einzige in ihrer Familie, der ihr in ihrer Kindheit Wärme und Geborgenheit vermittelt hatte. Der Einzige, der sie zu lieben schien.  Die wenigen Zeiten, die sie mit ihm verbringen durfte, waren die Höhepunkte ihrer einsamen Tage. Meist las er ihr dann etwas vor, oder er erzählte ihr von den Ereignissen außerhalb der hohen Burgmauern, hinter denen Ella seit dem Tag ihrer Geburt gefangen gehalten wurde.

"Ja, das habe ich mir schon gedacht. Henry hat schon so oft versucht mich zu schützen. Meist hat es damit geendet, dass wir beide bestraft wurden. Mein Vater ist der Meinung, dass ein Mensch nur durch Pein und Schmerz lernt gehorsam und demütig zu sein. Warum sollte er das bei seiner Tochter anders sehen?”

Harriet machte ein missbilligendes Gesicht. Ihrer Meinung nach war der König ein Tyrann, aber sie wollte Ella nicht unnötig aufregen, also schwieg sie. Außerdem stand es ihr nicht zu, Kritik an Ellas Vater zu üben, schließlich war er der mächtigste Mann Englands. 

König Ethilred I regierte seit über fünfzehn Jahren in England. Er war als harter, streng religiöser Mann bekannt, der niemals einen Fehler verzieh und von seinen Untertanen bedingungslosen Gehorsam und immerwährende Treue forderte. Genau wie von seiner Familie.

Ellas Geschwister hatten schnell gelernt sich in die ihnen vorgeschriebenen Rollen einzufügen. Nur Ella war es nie gelungen, den Ansprüchen ihres Vaters zu genügen. Still und demütig, so sollten Frauen der Meinung des Königs nach sein. Für ein junges Mädchen wie Ella, die von Natur aus neugierig und wissbegierig war, war es unter diesen Umständen unmöglich gewesen dem Vater zu gefallen.

König Ethilred und seine Frau hatten zusammen drei Kinder. Elizabeth war die Erstgeborene. Ein hübsches Mädchen mit schwarzen Locken, olivfarbener Haut und vollen, roten Lippen. Sie war der Mutter, die als Tochter des spanischen Königs in Madrid gelebt hatte, bevor sie mit nur 14 Jahren König Ethilred geheiratet und nach England gekommen war, wie aus dem Gesicht geschnitten.

Trotz ihrer äußeren Ähnlichkeit hatten Elizabeth und die Königin jedoch kein inniges Verhältnis. Genauso wenig wie mit Henry oder Ella, Königin Frances war eine Frau, die jegliche Lebensfreude und das Interesse an anderen Menschen verloren hatte. Sie erinnerte an eine leblose Puppe, die ein Leben ohne Selbstbestimmung ohne eine eigene Meinung führte.

Das war natürlich nicht immer so gewesen. Es war das Leben hier auf der Burg, das sie zu der Frau gemacht hatte, die sie heute war. Gleich am Tag ihrer Hochzeit hatte Ethilred ihr verboten spanisch zu sprechen, ihren Bräuchen nachzugehen oder ihre Traditionen weiterzuleben. Selbst den eigenen Namen hatte er sie nicht behalten lassen. Aus Francisca war Francis geworden, weil man es der Meinung des Königs nach hierzulande besser aussprechen konnte. So war es kein Wunder, dass die Königin stets traurig und in sich gekehrt wirkte.

Ella konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter je gelacht, oder sie den Arm genommen hätte. Manche der Bediensteten munkelten, dass Königin Frances geisteskrank war, aber Ella glaubte nicht daran. Ihr Vater hatte ihrer Mutter die Identität gestohlen und damit die Freude am Leben genommen.  

Henry, Ellas geliebter Bruder, war der Zweitgeborene. Er würde, wenn die Zeit dazu gekommen war, den Thron besteigen und der nächste König von England werden. Ella war davon überzeugt, dass er im Gegensatz zu ihrem Vater weise und gerecht über seine Untertanen walten würde.

Ella selbst war die Jüngste. Mit ihrer schlanken, noch recht kindlichen Figur, der hellen Haut und dem dunkelblonden Haar, erschien sie auf den ersten Blick eher unscheinbar und farblos. Vor allem, wenn man sie neben ihrer exotischen Schwester sah.

Erst bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass auch aus ihr einmal eine schöne Frau werden würde. Sie war recht groß, hatte eine anmutige Haltung und ein ebenmäßiges Gesicht mit warmen, haselnussbraunen Augen, einer geraden Nase und einem schön geschwungenen Mund. Sie erinnerte an eine Knospe, die jeden Tag erblühen konnte. 

Ella, Elizabeth und Henry waren von Gouvernanten erzogen worden und hatten ihre Eltern von Geburt an nur einmal am Tag gesehen. Jeden Abend, nach dem Abendmahl. Dann wurden sie zurecht gemacht und für zehn Minuten ins Thronzimmer gerufen.

Ella hasste diese Vorführungen. Früher war es ihrer älteren Schwester Elizabeth dabei jedes Mal gelungen sie vor den Eltern zum Weinen zu bringen, indem sie sich über sie lustig machte. Heute hatte sie sich besser in Griff, aber die verbalen Angriffe waren dadurch nicht weniger geworden.

Es schmerzte Ella, dass die eigene Schwester sie zu hassen schien, aber sie hatte mit der Zeit gelernt sich von ihr fernzuhalten. So provozierte sie ihren Ärger nicht mehr als notwendig. Gottseidank war Elizabeth auch nicht dabei gewesen, als ihr Vater die Verlobung mit Karlmann bekanntgegeben hatte. Ella hätte es nicht ertragen ihr hämisches Gesicht zu sehen. Es war schon schlimm genug gewesen mit anzusehen, wie ihre Mutter vor Schreck beide Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen hatte und wie ihr Vater so rot im Gesicht geworden war, dass man hätte meinen können er würde jeden Augenblick vor Wut explodieren.  

Trotz allem bereute Ella ihr Verhalten nicht. Wenn sie es mit dem Herzen beurteilte, hatte sie genau das Richtige getan. Wenn sie einmal heiratete, dann aus Liebe. Schließlich brauchte man nur ihre Eltern anzusehen, um zu wissen welches Unglück eine arrangierte Ehe allen Beteiligten bringen konnte. Ella wollte nicht eines Tages so enden wie ihre Mutter.  Gefangen in einem Land, dessen Sprache sie nicht sprach und an der Seite eines Mannes, der ihr vollkommen fremd war.

Fünf Peitschenhiebe hatte der König als Strafe für Ellas 'ungehorsames und aufsässiges' Verhalten angeordnet. Die Schmerzen, die die harten Hiebe verursacht hatten, waren kaum zu ertragen gewesen.  Ella war schon nach dem ersten Schlag für einige Sekunden schwarz vor den Augen geworden. Beim zweiten Schlag war ihre Haut aufgeplatzt und nach dem fünften Schlag war sie besinnungslos zusammengebrochen.

Wäre Harriet nicht gewesen, die sie mit Henrys Hilfe zurück in ihr Zimmer getragen und erst mal notdürftig verarztet hätte, wäre sie vermutlich in Kerker verblutet. 

"Bitte versprich mir, dass du nie wieder so achtlos handelst, Ella", bat Harriet eindringlich und riss Ella damit aus ihren düsteren Gedanken.

"Das werde ich nicht, Harriet. Versprochen. Ab heute werde ich die perfekte Tochter sein”, murmelte Ella und sah gedankenverloren zum Fenster. “Zumindest bis ich diesen grässlichen Ort für immer verlasse."

Harriet starrte die Freundin lange und eindringlich an. Dann setzte sie sich mit ernstem Gesicht neben sie und ergriff ihre Hand. "Ist das dein Ernst?”, vergewisserte sie sich so leise, dass Ella sie kaum verstehen konnte. “Denkst du wirklich darüber nach... Ich meine, willst du fortlaufen?"

Ella sah direkt in Harriets weit aufgerissene Augen. Das Entsetzen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Fast bereute sie es, die Freundin damit zu belasten, aber sie musste sich einfach jemandem anvertrauen und Harriet war die einzige Person, der sie vollkommen vertraute.

Natürlich wusste sie, wie gefährlich ihr Vorhaben war. Mal ganz davon abgesehen, dass der Gedanke an ein Leben fern dieser Burg, fern von allem was sie kannte, beängstigend war. Auf der anderen Seite konnte sie es sich auch nicht vorstellen Karlmann zu heiraten und mit ihm ins Frankenland zu gehen. Ihr Leben wäre zu Ende, noch bevor es richtig begonnen hatte!

Man würde von ihr erwarten, dass sie sofort Kinder zur Welt brachte. Söhne, in allererster Linie. Einen Erben für das Frankenland. Ella erschauderte bei dem Gedanken. Was würde sie nicht alles dafür geben ein normales Leben zu führen. Sie wäre tausendmal lieber arm und frei als wohlhabend und eingesperrt.

"Ja, ich glaube das ist es. Es ist der einzige Weg", antwortete sie schließlich matt.

Harriet atmete tief ein und sah einen Moment nachdenklich zur Seite. Als sie Ella wieder ansah, lag Entschlossenheit in ihrem Blick. "Dann werde ich dir helfen”, erklärte sie fest. “Wir werden zusammen fortgehen. Du sagst die Hochzeit soll in 6 Monaten stattfinden? Dann haben wir genug Zeit, um einen Plan auszuarbeiten."

Ellas Herz begann vor Aufregung so laut zu schlagen, dass es sich fast überschlug. Es war eine Sache zu sagen, dass man fliehen würde, aber eine vollkommen andere das Ganze in einen standfesten Plan umzusetzen!

"Wohin meinst du können wir gehen, Harriet? Mein Vater wird im gesamten Königreich nach mir suchen lassen. Ich werde in England nirgends mehr sicher sein!"

Harriet nickte schlau. "Daran habe ich auch schon gedacht. Deswegen werden wir auch nicht in England bleiben. Wir werden nach Norden gehen, nach Schottland, und dort irgendwo Arbeit finden. Genaueres müssen wir uns noch überlegen. Mir wird schon etwas einfallen."

Die Köpfe der Mädchen schnellten erschrocken auf, als plötzlich ein leises Klopfen an der Tür zu hören war.

"Sag zu niemandem auch nur ein Wort über unseren Plan", flüsterte Harriet noch schnell, bevor sie aufstand und die Tür öffnete.

Zu Ellas Erleichterung war es nur ihr Bruder, Henry, der niedergeschlagen das Zimmer betrat. Seine klugen Augen waren mit Schuld und Schmerz verhangen. Ella überkam eine tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken ihren geliebten Bruder zu verlassen, doch selbst wenn sie es nicht tat, würden sich ihre Wege irgendwann trennen. Henry war dazu bestimmt eines Tages den Thron zu besteigen, während ihre Bestimmung darin liegen würde, dem Frankenkönig Nachkommen zu gebären.

"Ella!", rief Henry.

Erleichtert sie wohlauf zu sehen kam er näher und setzte sich vorsichtig zu ihr aufs Bett. Als er ihren einbandagierten Rücken sah, zog er scharf den Atem ein.

"Es gibt nichts, was das Verhalten unseres Vaters entschuldigen könnte. Ich habe versucht die Strafe auf mich zu nehmen, das musst du mir glauben."

Ella zog betroffen die Decke etwas höher, um die Wunden vor den Augen ihres Bruders zu verbergen. Obwohl es sich nur um eine leichte Sommerdecke handelte, schmerzte die Berührung entsetzlich.

“Ich weiß, Henry", erwiderte sie mit gequälter Stimme. "Mit unserem Vater kann man nicht vernünftig reden."

Henry schob Ella sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um ihr in die Augen zu sehen. Er wollte sicher gehen, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. "Du musst endlich lernen nach Vaters Regeln zu leben, Ella", begann er ernst. “Zumindest, bis ich König bin. Du wärest gestern im Kerker fast verblutet. Was meinst du, wird beim nächsten Mal geschehen? Es könnte dein Tod sein! Ist es nicht besser Karlmann zu heiraten, als kalt im Boden zu liegen? Beuge dich dem Willen unseres Vaters. Für dich und auch für mich, Ella.” Seine Stimme klang flehend. ”Versprich es mir!"

Ella spürte, wie die Tränen in ihren Augen aufwallten und nickte schnell. Sie wollte ihrem Bruder keinen Kummer bereiten. Das hatte er nicht verdient. ”Das werde ich, Henry. Versprochen”, hauchte sie. Doch es war eine Lüge und um ihr schlechtes Gewissen zu verbergen, vergrub sie das Gesicht schnell in den Decken ihres Lagers.

Eines war jedoch gewiss. Sie würde tatsächlich die Tochter sein, die sich ihr Vater wünschte, aber nur, bis sie dieses verhasste Leben für immer hinter sich ließ. Davon durfte Henry jedoch nichts erfahren. Aus Angst um ihr Wohlergehen würde er diesem Plan niemals zustimmen. Vielleicht würde es sie sogar davon abhalten.

Nachdem Henry gegangen war, setzte Ella sich mit Harriets Hilfe ans Fenster und sah auf die grüne Landschaft hinaus. Dort draußen lag die Freiheit. Ella wusste nicht, was die Zukunft für sie bereithielt. Vielleicht würde ihre Flucht gelingen, vielleicht auch nicht. Nur eines war gewiss: Sie würde dieses Abenteuer wagen, komme was wolle!

Kapitel 2

Wo man Gefahren nicht besiegen kann, Ist Flucht der Sieg. - Johann Gottfried Seume

Northumbria 971 AD

Schon seit drei Tagen befanden sich die Mädchen auf der Flucht.

Harriet hatte vor einigen Wochen auf dem Markt im Dorf zwei einfache, schlichte Wollkleider erstanden, wie sie die Mägde bei ihrer Arbeit zu tragen pflegten, und diese Verkleidung hatten die Mädchen genutzt, um bei Nacht und Nebel aus der Burg zu fliehen.

Dank ihrer gründlichen Planung war die Flucht einfacher gewesen, als Ella und Harriet zuerst angenommen hatten. Fünf Monate hatten sie damit zugebracht die Wachen auf der Burg zu beobachten. Sie wussten in- und auswendig, wo sie sich zu welcher Zeit aufhielten, wann sie ihre Pausen nahmen und wie man sie am besten ablenkte.

Dabei war ihnen auch aufgefallen, dass ein ganz bestimmter, am Haupttor arbeitender Wachmann, gegen 1 Uhr nachts für ungefähr zwanzig Minuten einzudösen pflegte. Wenn der zweite Wachmann in dieser Zeit seinen Platz verließ, um seine Blase zu entleeren, war das Tor für einige Minuten unbewacht und genau diesen Moment hatten die Mädchen zu ihrem Vorteil genutzt.

Endlich außerhalb der Burgmauern waren sie die ganze Nacht in Richtung Norden gelaufen, ohne viel darüber nachzudenken wohin. Ihr einziges Ziel war es gewesen, sich so weit wie möglich von der Burg zu entfernen. Da beide es nicht gewohnt waren lange zu laufen, waren sie schnell erschöpft gewesen und nur mit größter Mühe und Anstrengung vorangekommen. Am frühen Morgen hatten waren sie bei jedem dritten Schritt gestolpert und beim ersten Morgengrauen schließlich in einem kleinen Graben am Wegesrand zusammengebrochen. 

Schwer atmend hatten sie nebeneinander in dem moderigen Gras gehockt, bis sie das ratternde Geräusch einer Kutsche sie abrupt zurück in die Gegenwart riss. Ein fahrender Händler.

Harriet, die schnell erkannt hatte was für eine einmalige Chance sich ihnen bot, war aufgesprungen, um den fröhlich pfeifenden Mann auf seiner Kutsche anzuhalten.

Ohne große Umschweife erzählte sie ihm, dass sie Schwestern wären, die zusammen nach Schottland reisten, wo sie eine Anstellung als Hausmädchen suchten.

Der Mann war zuerst misstrauisch gewesen, aber als Harriet ihm einen großzügigen Anteil Brot und getrocknetes Fleisch anbot, ließ er sich erweichen und stellte keine weiteren Fragen. Er wies ihnen ganz hinten im Wagen einen Platz zu, wo sie versteckt zwischen den Waren saßen. Dann schnalzte er mit der Zunge und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung.

Einige Stunden später, etwa zu der Zeit, in der man ihr Fehlen in der Burg bemerkt haben müsste, überquerten die Mädchen gut versteckt die Grenze zwischen East Anglia und Mercia. Beiden war in diesem Moment ein erleichtertes Stöhnen entwichen. Sie hatten eine weitere Hürde problemlos überwunden und fühlten sich mit jedem Kilometer, den sie hinter sich ließen, ein kleines bisschen hoffnungsvoller.

Der König hatte seine Tochter mit fünf Peitschenhieben gestraft, nur weil sie sich geweigert hatte ihren zukünftigen Ehemann zu empfangen. Weder Ella noch Harriet wollten sich vorstellen was geschah, wenn man sie erwischte, bevor sie Schottland erreichten.

Heute war bereits der vierte Tag nach ihrer Flucht und sie waren gerade in einem kleinen, verschlafenen Hafenort namens Berwick in Northumbria eingefahren.

Dies war das Ziel der Reiseroute des Händlers. Hier würde er ein paar Tage bleiben, bevor er erneut Richtung London zurückfuhr. Weder Ella noch Harriet hatten je von der Stadt Berwick gehört, aber sie hatten keine andere Wahl, als erst mal hier zu bleiben. Ihre Vorräte waren erschöpft, ihre Mägen leer und Geld hatten sie auch keines. Die Mädchen hatten es nicht gewagt Ellas Schmuck aus der Burg mitzunehmen, da die Chance bestand sie damit zurückzuverfolgen. Deshalb hatten sie jetzt jedoch leider nichts, dass sie gegen Lebensmittel hätten eintauschen können.

Bevor sie sich auf den Weg machten, verabschiedeten sich Ella und Harriet von dem Händler, der bereits damit beschäftigt war, seine Ware auf dem Markt auszulegen und ihnen nur kurz zunickte. Dann liefen sie ziellos über den Markt. Überall um sie herum lagen die wundervollsten Gerüche in der Luft, von gebratenem Fleisch, frisch gebackenem Brot und reifen Früchten.

Eine Qual für Ella, die noch nie in ihrem Leben einen solchen Hunger verspürt hatte und schon bald das Gefühl hatte keinen einzigen Schritt mehr gehen zu können, ohne etwas im Magen zu haben. ”Warte, Harriet, ich kann nicht mehr...", seufzte sie mit einem sehnsüchtigen Blick auf einen Stand mit frisch gebackenem Brot.

Harriet blieb ebenfalls stehen. ”Ich weiß. Ich habe auch Hunger, aber man bekommt hier nichts geschenkt, Ella. Wir müssen uns nach Arbeit umhören. Vielleicht gibt es hier in der Nähe einen Gutshof, auf dem wir für ein paar Tage aushelfen können. Bis jetzt war das Glück mit uns. Lass uns das Beste hoffen.”

Ella nickte niedergeschlagen, woraufhin Harriet sich wieder in Bewegung setzte. Während sie der Freundin folgte, die sich aufmerksam auf dem Markt umzusehen schien, fiel Ella auf wie wenig sie vom Leben wusste. Sie beneidete Harriet, die sich ihr Leben lang frei bewegen durfte und sich von dem lauten Durcheinander, das hier herrschte, nicht aus der Ruhe bringen ließ. Ohne sie hätte sie diese Flucht niemals geschafft.

Ella war noch immer tief in Gedanken, als Harriet sie abrupt beim Arm fasste und in die Richtung einer älteren Bäuerin zog, die an einem der Stände ihre Eier anpries. Sie hatte große, von Schwielen bedeckte Hände und ein mürrisches Gesicht. Ella hielt unwillkürlich den Atem an, als Harriet sie ansprach, um nach Arbeit zu fragen. Sie erwartete weggescheucht oder angeschrien zu werden.

“Arbeit?”, lachte sie alte Frau schroff. “Hier wohnen nur arme Leute. Bauern und Fischer.” Kritisch beäugte sie die Mädchen. "Und ihr seht mir nicht so aus, als würdet ihr einen Tag auf den Feldern überstehen. Das ist harte Knochenarbeit."

“Nein”, erklärte Harriet schnell. “Wir dachten eher an Hausarbeit. Bitte, wissen sie denn gar nichts? Wir haben kein Geld und auch nichts mehr zum Essen."

Die Bäuerin sah in die besorgten Gesichter der beiden Mädchen und kratzte sich dabei nachdenklich die Kopfhaut. "Der einzige Ort, der euch hier in der Gegend vielleicht aufnehmen würde, ist das Kloster Harlow."

Ella und Harriet sahen einander an. Ein Kloster hatten sie bei all ihren Überlegungen nie in Erwägung gezogen. In ihrer jetzigen Lage konnten sie jedoch nicht wählerisch sein.

"Wo ist dieses Kloster?", fragte Harriet.

Die Bäuerin machte ein überraschtes Gesicht. ”Na, auf der Insel Lindisfarne natürlich. Wenn ihr euch beeilt, schafft ihr es vielleicht heute noch hinüber. Der Fährmann verlässt pünktlich um 8 Uhr den Hafen."

Als sie erneut in die ratlosen Gesichter der Mädchen sah, seufzte sie und fügte hinzu: "Dort hinunter. Und jetzt schert euch weg, sonst werde ich meine Eier heute nicht mehr los."

"Vielen Dank", riefen Ella und Harriet im Einklang. Ob die Bäuerin sie gehört hatte war jedoch schwer zu sagen, denn sie war bereits wieder damit beschäftigt aus Leibeskräften den Preis ihrer Eier in die Menge zu schreien.

"Ein Kloster ist perfekt. Dort wird uns erst mal niemand vermuten und es besteht auch keine Gefahr, dass du von jemandem erkannt wirst", flüsterte Harriet Ella zu, als sie nebeneinander zum Hafen eilten.

"Da hast du sicher recht, aber werden wir dort frei sein? Ich verstehe zugegeben wenig vom Leben, aber mit der Kirche kenne ich mich aus. Man wird erwarten, dass wir Gott dienen”, gab Ella zu bedenken.

Harriet winkte ab. "Nach eine Weile, wenn die Neuigkeit über dein Verschwinden an Interesse verliert und man nicht mehr nach dir sucht, können wir ja weiterreisen, Ella, aber jetzt brauchen wir erst einmal etwas zu essen, wenn wir nicht verhungern wollen, und ein Dach über dem Kopf an einem Ort, an dem man uns niemals vermuten würde."

Ella seufzte. Wie immer hatte Harriet Recht. Im Moment was es tatsächlich am klügsten, erst einmal irgendwo unterzutauchen. Ohne Proviant würden sie es niemals bis nach Schottland schaffen und wo konnte man sich besser verstecken als in einem Kloster, das noch dazu auf einer Insel lag.

Als die beiden endlich den Hafen erreichten, war der Fährmann gerade dabei die Taue seines kleinen Kahns loszubinden.

"Bitte warten sie!", rief Harriet von weitem, hob ihren Rock in die Höhe und rannte los. Ella folgte ihr.

Der junge Mann drehte sich um und sah überrascht in die Richtung der ihm entgegeneilenden Mädchen. "Ihr wollt hinüber nach Lindisfarne?"

"Ja, wir möchten dort um die Aufnahme im Kloster bitten", erwiderte Harriet atemlos, während sie in das wackelige Boot kletterte und dann ihre Hand zu Ella ausstreckte, um auch ihr ins Boot zu helfen. Als beide Platz genommen hatten sah Harriet sich erstaunt um. "Kommt außer uns denn niemand mit?"

Der Fährmann kratzte sich verblüfft am Kopf. Normalerweise waren die Frauen, die er auf die Insel brachte, entweder alt, unansehnlich oder gleich beides auf einmal.

---ENDE DER LESEPROBE---