Die Quittung - Dean Stag - E-Book

Die Quittung E-Book

Dean Stag

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Beschreibung

Das Buch zum Podcast "Die Quittung" repräsentiert Auszüge eines dummen, jungen Erwachsenen, der nicht weiß wohin mit sich und dabei aus Versehen in die merkwürdigsten Welten eintaucht. Wie ist es, unter Reichsbürgern zu arbeiten? Wo befindet sich in Südamerika der Zugang in eine andere Dimension? Und was ist so geil an hawaiianischen Holzrosen? Diesen und weiteren Fragen wird in dem biografischen Roman "Die Quittung - Ein Buch über einen Typen in einer Welt" nachgegangen. ACHTUNG: Im Buch werden Themen wie Sexualität, Drogenkonsum und chilenisches Fahrverhalten besprochen, schlimm!

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Inhaltsverzeichnis

In guter Parallelgesellschaft

Alles auf Anfang

Einsame Kunden

Die Deutschland GmbH

Blaue Fetzen

Hawaiianische Holzrosen

Hechelnde Hunde laufen nicht

Die Gametest AG

Es geht um's Geschäft

Disco Pogo

Metro

Nico

Kokain?

Südamerika

Eine Zwischenstation?

Atacama

Interstellarer Zwischenraum

Der Taxifahrer

Der Deutsche

Harte Arbeit

Viktor

Mandeln im Angebot!

Nur 'n bisschen Fahrrad fahren

Kulinarische Komplikationen

Solo: A mile high Story

Carla

Starbucks

Ein kleines Epilögchen

Die Quittung

Ein Buch über einen Typen in einer Welt

von

Dean Stag

Impressum:

Dean Martin Richards

Von-Bargen-Straße 18

Haus F

22041 Hamburg

Kontakt:

[email protected]

IG: @deanfuckingstag

© 2022 Happytime Entertainment

Mein lieber Mitmensch,

die nun folgenden 171 Seiten haben weder einen vernünftigen Anfang, noch ein würdiges Ende. Betrachte die hier enthaltene Geschichte bestenfalls als eine Art unfertige Kurzbiografie eines jungen Erwachsenen, dessen Leben nicht vollkommen langweilig, aber auch nicht übertrieben actionreich verläuft. Es ist ein Leben, das viele andere Menschen auf diesem schönen Planeten so oder so ähnlich vielleicht ebenfalls leben, vielleicht aber auch nicht. Stellenweise werden Dinge getan oder gesagt, die dir bestimmt missfallen werden. Doch ich kann dir versichern: Wer auch immer du bist, was auch immer du machst, wie auch immer du aussiehst, woher auch immer du kommst und wen (oder was?) auch immer du vögelst:

Ich hab' dich lieb.

„Die Quittung – Ein Buch über einen Typen in einer Welt“ basiert auf dem gleichnamigen Podcast und voll von Geschichten jeglicher Art – oftmals merkwürdig, aber niemals bösartig.

Ich wünsche dir alles Gute und viel Spaß in deinem Leben, egal ob du dieses Buch kaufst, oder nicht. <3

Dean Stag

Inhaltsverzeichnis

In guter Parallelgesellschaft5

Alles auf Anfang 5Einsame Kunden 10Die Deutschland GmbH 13Blaue Fetzen 21

Hawaiianische Holzrosen 31

Hechelnde Hunde laufen nicht 31Die Gametest AG 36Es geht um's Geschäft 40Disco Pogo 47Metro 54Nico 60Kokain? 65

Südamerika73

Eine Zwischenstation? 73Atacama 79Interstellarer Zwischenraum 91Der Taxifahrer 100Der Deutsche 107Harte Arbeit 110Viktor 113Mandeln im Angebot! 117Nur 'n bisschen Fahrradfahren 127Kulinarische Komplikationen 132Solo: A mile high Story 136Carla 141Starbucks 145Ein kleines Epilögchen151

In guter Parallelgesellschaft

Alles auf Anfang

Welcher Schwachkopf ist arrogant genug bereits mit 26 Jahren eine Biografie zu schreiben? Gumo! I bims der Deanboy! Wohnhaft in Hamburg-Mitte sitze ich täglich bis zu 16 Stunden an meinem Computer und wundere mich, wieso mein Körper in einer solch schlechten Verfassung ist. Gerade, da ich seit über 10 Jahren den Großteil meiner Zeit vor Computern verbracht habe, verstehe ich umso weniger, wieso mein Körper es so geil findet, eine Skoliose zu entwickeln – komisch.

Wir befinden uns irgendwo in der Corona-Pandemie, die auch mich leider ziemlich krank gemacht hat. Was ich habe? Keine Ahnung. Fest steht: Ich bin außerhalb meiner Wohnung (und vor allem unter Menschen) sehr selten anzutreffen. Nach aktueller Ansicht meiner Ärzte liegt die Ursache in einer Art Burnout oder sozialer Phobie. Die Behandlung? So viel es geht unter Leute gehen und entspannen. Da passt es doch perfekt, dass ich nun parallel zu meiner Arbeit dieses Buch hier schreibe und den Computer umso seltener verlasse!

Für die, die es nicht wissen: Der Podcast Die Quittung, dessen Erzählstil dieses Buch folgt, heißt deswegen so, weil ich zu dessen Beginn noch als Aushilfe an einer Tankstelle gearbeitet habe und an vielen Stellen darüber berichtete. Meine Mitmenschen sagten mir, ich müsse eine Serie daraus machen. Weil ich schon immer ein guter Zuhörer war ist ein Podcast draus geworden. Heute umfasst dieses wöchentliche Stück Hochkultur (ich bin zwei Meter lang und werde in diesem Buch nicht müde es zu erwähnen) mehr als 100 Folgen und kümmert sich kaum noch um Tankstellen – leider. Eigentlich hätte ich nach meinem Regie-Studium noch weiter bei der Tanke bleiben können, doch da man in den Medien so unfassbar hyper mega krass gut bezahlt wird dachte ich: »Komm, irgendwann musst du deinen 30.000€ Studienkredit auch mal zurückzahlen.«

Die Bezahlung zu meiner Zeit als Tankwart war vor allem zu Beginn noch mangelhafter als meine Klausurnoten im Mathematikunterricht. Funfact: Von der siebten Klasse bis zum Abitur schrieb ich in insgesamt 24 Klausuren nur sechs mal keine Sechs. Bei einer Berufsberatung kurz vor dem Abitur wurde mir doch geraten Ingenieur zu werden – nein danke.

Am 01.11.2013 um 12.26 Uhr wurde ich 18 Jahre alt und feierte vollkommen illegal mit über 120 Leuten, die ich teilweise nicht mal kannte, in einem großen Vereinsheim in Salzgitter bis vier Uhr morgens meinen Geburtstag. Acht Stunden später stand ich das erste Mal zur Mittagsschicht an der Tankstellenkasse und musste vollkommen allein (und vollkommen nüchtern, versteht sich) ganze fünf Stunden eine komplette Tankstelle am Leben erhalten.

Schon während meiner allerersten Schicht kam es zu einem kleinen Fauxpas, als ein Kunde unbedingt meinen Chef Robert sprechen wollte. Der Kunde kam herein und sagte:

»Ja moin! Ich würd' gerne den Robert sprechen.«

»Oh, ja klar kein Problem.«

Ich verschwand aus dem Verkaufsraum und suchte nach ihm in seinem Büro.

»Robert?«

Niemand da. Vielleicht in der Küche?

»Roooobeeeeert?«

Plötzlich dröhnte es aus dem Mitarbeiter-WC.

»Ja, Moment!«

Dieser Unannehmlichkeit wollte ich nicht weiter folgen und gab dem Kunden im Verkaufsraum Bescheid.

»Robert wird gleich da sein, er ist gerade noch... beschäftigt.«

»Ich muss den aber dringend sprechen.«

»Verstehe ich, leider müssen Sie noch ein bisschen warten.«

»Wieso? Was macht der denn? Soll er halt aus seinem Büro kommen!«

»Robert ist gerade...«, ich beugte mich über den Tresen zum Kunden, »auf der Toilette.«

Mit der Lautstärke eines Bulldozers fragte der Kunde:

»Ach er ist am kacken?!«

Die Diskretion des Kunden ließ zu wünschen übrig. Schlagartig fiel mir ein: Ich Trottel hätte ein dringendes Telefonat meines Chefs erfinden können! Sollte ich meine Kündigung schon mal vorbereiten?

Der diskrete Kunde wartete missmutig an einem der beiden Stehtische für potenzielle Kundschaft, die Lust auf einen der leckeren und nahrhaften Tankstellen-Snacks haben könnten (#NotSponsored). Nach ein paar Minuten schaute ich nochmal im Büro des Chefs nach – Robert war nirgends zu sehen. Unsicher, wie lange seine Sitzung noch dauern würde, bot ich dem Kunden einen Kaffee an. Während ich weiter die Kundschaft bedeante wurde der diskrete Kunde immer ungeduldiger und fing an zu telefonieren.

»Ja, moin Manfred... Ne, ich bin noch bei der Tanke.«

Ich arbeitete weiter die Kunden ab.

»Da müssen wir nochmal ran, ja.«

Bitte nicht so laut?

»Dann sach' denen halt, die sollen die Fresse halten!«

My dear, watch your language!

»Wat soll ich denn machen? Ich warte hier an der Tanke!«

Gleich hoffentlich nicht mehr.

»Manfred MAN! Der Chef ist am Kacken!!«

Erleichtert hörten wir das Öffnen der überlauten Klotür. Überglücklich sahen der diskrete Kunde und ich uns in die Augen.

»Was für ein toller Tag! Los, komm her! Küss mich!«

Leider kam Robert immer noch nicht zu uns in den Verkaufsraum. Wieder emotionale Distanz zueinander einnehmend, warteten der diskrete Kunde und ich noch eine weitere Minute. Erneut verließ ich den Verkaufsraum und schaute ins Chefbüro – kein Chef da. Die Toilette stand nun offen – ebenfalls ohne Chef. Küche, Lager, alle Räume waren leer! Plötzlich bemerkte ich im Lager einen seichten Windzug. Der Notausgang stand offen! Robert war geflüchtet!

»Wie erkläre ich dem Kunden das denn jetzt bitte?! Fuck my life!«

Ich atmete tief durch und ging langsam wieder in Richtung Verkaufsraum. Die Türschwelle übertretend, nahm mich der diskrete Kunde wieder wahr und konnte feststellen, dass ich allein hereinkam. Seinen suchenden Blick, ob sich Robert hinter mir versteckte, werde ich nie vergessen.

»Und? Wo bleibt er?«

»Ähm, also... Ich glaube, der ist gerade abgehauen.«

»Was?«

»Robert ist irgendwie gerade weggegangen.«

»Wollen Sie mich verarschen?«

»Leider nicht«, ein Lächeln konnte ich nicht unterdrücken.

»Das findste lustig, ja?!«

»Nein, ich kann's nur selbst nicht ganz fassen.«

»Wie ist der überhaupt weg?«

»Durch den Notausgang.«

»Er hat extra den Notausgang benutzt?«

»... ja.« Ich konnte nicht mehr innehalten und begann zu lachen. Eine Mischung aus Stress, Angst und zwei Litern Vodka-Orange des Vorabends verließen meinen Körper. Lautstark, wie er schon Manfred am Telefon zurechtgewiesen hatte, verließ der Kunde Gott sei Dank die Tankstelle. Robert kam später zurück zur Tankstelle und entschuldigte sich bei mir. Wo er damals war, weiß ich bis heute nicht.

Einsame Kunden

In einer Zeit vor dem gesetzlichen Mindestlohn gab es für mich als Aushilfe ganze 6€ pro Stunde – bei fünf Stunden Schichten also 30€ pro Tag. Die nächsten drei Jahre stand ich während der Schulzeit bzw. während des Studiums dadurch jeden zweiten Tag an der Tankstelle, um auf die 450€ als maximale Grenze eines Aushilfengehalts zu kommen. Morgens um 6.30 Uhr aufstehen, um 7.30 zur Schule und dort bis 16 Uhr rumhängen. Von dort aus dann direkt zur Tanke, um die Schicht von 17-22 Uhr arbeiten zu können. Das war fucking anstrengend, doch habe ich mich selten im meinem Leben so sinnvoll gefühlt wie an diesen Tagen. Als Workaholic konnte ich meiner Sucht ideal nachgehen.

Während ich immer weiter in diesem Beruf aufging, lernte ich natürlich auch Kollegen und vor allem die Kundschaft besser kennen. Jeden Donnerstag gesellte sich ein Mann namens Bodo für eine Stunde an genau den Stehtisch, von dem ich dachte er würde dem diskreten Kunden gehören. Von diesem Tankstellen-Thron aus erzählte er mir seine halbe Lebensgeschichte. Dass er donnerstags immer seine Tochter zum Sports brachte und nach einer Stunde wieder abholte – daher seine Besuche bei mir. Und vor allem erzählte er von seiner unternehmerischen Tätigkeit. Seiner Aussage nach besaß er einst ein florierendes Unternehmen, zwei Häuser, fünf Autos und eine Familie mit zwei Kindern. Doch irgendwann kam der deutsche Staat und hätte das Unternehmen totgepfändet – was auch immer das bedeuten sollte. Er verlor sein Unternehmen, seine Frau trennte sich von ihm und überließ ihm die Kinder nur noch selten. Statt fünf Autos hatte er nur noch eins und von seinen Häusern war keines mehr da. Ziemlich traurige Geschichte, keine Frage.

Nach etwa zehn Besuchen, also etwa zehn Stunden Monolog seinerseits, kam dann irgendwann die Frage aller Fragen:

»Und sag mal? Was machst du eigentlich so?«

»Ich?«

»Ja. Ich habe den Eindruck die letzten paar Male habe nur ich die ganze Zeit geredet.«

»Ich studiere aktuell Geschichte und Germanistik.«

»Was sind da die Themenschwerpunkte?«

»Richtige Schwerpunkte gibt es nicht. Vom urzeitlichen Menschen bis heute ist alles dabei.«

»Hattet ihr schon Seminare über Völkerkunde?«

»Durchaus, kam schon vor.«

»Deutsche Völkerkunde?«

»Auch.«

»Generell die deutsche Geschichte?«

»Ich sage mal so: Nazis konnte ich sowieso noch nie leiden. Dann jedes Jahr in der Schule und auch noch im Studium wieder und wieder zu lesen was da im Holocaust abging hat meine Meinung über sie nicht unbedingt verbessert.«

»Und bist du interessiert an der deutschen Geschichte?«

»Ich bin interessiert an Geschichte. Nationen sind mir ziemlich Latte.«

»Hast du schon mal davon gehört, dass der zweite Weltkrieg offiziell nie beendet wurde?«

Ich sah rote Flaggen – tiefrot und im Winde wehend.

»Was meinen Sie damit?«

»Dass es offiziell nie einen Friedensvertrag gegeben hat und der Krieg daher eigentlich noch läuft. Deswegen sind hier ja noch so viele stationierte Soldaten von den Siegermächten.«

Ich bemerkte an Bodos Haltung den nächsten, bevorstehenden Monolog. Einfach Fresse halten und weiter den Tresen putzen war angesagt. Dass ich der Sohn eines ehemals in Deutschland stationierten Soldaten aus Großbritannien bin, konnte ich ihm nicht sagen. Sonst hätte er nie aufgehört zu erzählen.

»Dean du hast doch auch 'nen englischen Namen. Vielleicht war dein Vater ja sogar ein britischer Soldat hier in Deutschland?«

Fuck.

»Weißt du es gab da diesen Zwei-Plus-Vier Vertrag von 1990, bei dem die vier Siegermächte sogar offen zugegeben haben, dass sie über Deutschland herrschen!«

Nicht drauf eingehen.

»Und gleichzeitig haben sie die Deutschland GmbH aufgemacht! Deutschland ist kein Staat, sondern ein Unternehmen!«

Redet der immer noch?

»Dean... suchst du einen Job?«

Bitte was?

»Bitte was?«

Die Deutschland GmbH

Es war ein sonniger Nachmittag und ich stieg in meinen heiß geliebten Audi A4, den ich mir dank finanzieller Hilfe meines Stiefvaters sowie von mir verkaufter Drogen leisten konnte. Es war allerdings nicht nur ein sonniger Nachmittag, sondern auch mein erster Tag als Angestellter eines Unternehmens, welches noch keinen Namen hatte und von einem Tankstellen-Demagogen sowie Reichsbürger namens Bodo geführt wurde. Damals war der Begriff des Reichsbürgers bei weitem noch nicht so bekannt wie heute, und dass jemand den deutschen Staat als GmbH bezeichnete war für mich ein absolutes Novum.

Nach unserem Gespräch an der Tankstelle kam heraus, dass Bodo gerne ein neues Unternehmen aufmachen würde und dafür meine Hilfe benötigte. Was genau ich dort tun sollte? Da war er sich nicht ganz sicher. Tatsache war: Er brauchte billige Arbeitskraft. Und als Typ, der seine Kleidung als Kind bei Kik kaufen musste und nur dabei zusehen durfte, wie andere Kinder Jahr für Jahr in den Urlaub flogen, war ich nicht nur überzeugter Sozialist sondern vor allem eines – billig. Dementsprechend hungerte ich nach etwas extra Geld neben dem Job als Tankwart und ich gebe zu: Das große Unbekannte mit diesem komischen Bodo vor meinem inneren Auge zu sehen hatte mich irgendwie interessiert.

Sein Büro befand sich im so genannten Braunschweiger Hafengebiet. Wieso der Stadtteil Hafengebiet hieß, habe ich nie herausgefunden. Man könnte meinen, es läge ein Hafen in der Nähe. Und tatsächlich gab es dort einen Fluss, an dem ein recht hässliches Gebäude stand, von dem man meinen könnte, hier wäre es einem Schiff möglich gewesen, Waren zu be- und entladen. Fakt ist: In einem ewig langen Zeitraum habe ich nie auch nur irgendein Schiff auf diesem Fluss fahren sehen. Sei's drum. Besagtes Hafengebiet wurde überwiegend von kleineren Büro- und Dienstleistungsgebäuden jeglicher Couleur bevölkert. Die Häuser selbst waren ebenfalls nicht sonderlich hübsch und hatten ihre besten Tage hinter sich. Abseits der Rush Hour waren dort auch kaum Autos zu sehen. Viele Büroräume standen leer.

Was ich mit dem vorangegangenen Absatz eigentlich sagen will: Die Gegend war ranzig. Auf dem erstmaligen Weg dorthin habe ich mich dank schlechter Straßenführung sowie fehlenden Schildern mehrfach verfahren und war extrem spät dran. Bis heute erinnere ich mich an einen meiner härtesten Wutanfälle, den ich während dieser Autofahrt lautstark auslebte.

Vor dem Gebäude angekommen nahm mich Bodo auf dem dazu gehörigen Parkplatz gleich in Empfang. Der Himmel war inzwischen grau und es regnete ein wenig. Im Gebäude selbst hatten sich viele Kleinunternehmer eingemietet, die sich teilweise auch Büroräume teilten. Die weitläufigen Flure des doch recht großen Komplexes waren allesamt so leer und mit einem polierten Steinboden ausgestattet, dass jeder Schritt durch den Schall bis ans andere Ende des Hauses weitergeleitet wurde. Flüstern war erst recht nicht möglich. Die Wände waren so weiß und kahl, dass man sich vorkam als wäre man gerade bei einer Wohnungsbesichtigung.

Im eigentlichen Büro angekommen sah ich, dass auch Bodo seine Räumlichkeit mit einem anderen Herrn teilte. Uns gegenüber saß der Architekt Thomas. Kurze schwarze Haare, strenges, aber freundliches Gesicht, Karohemd und vermutlich etwas Samenstau, so breitbeinig wie er immer auf seinem Stuhl saß. Er wirkte wirklich sehr nett und zuvorkommend. Der Architekt Thomas hörte fortan alles mit, sollten wir uns in Bodos Büro befinden. Nach kurzer Bekanntmachung ging es für mich auch schon an meine erste Aufgabe.

»Dean, wir brauchen eine englische Limited Company. Unter deren Namen können wir dann nach Herzenslust importieren, exportieren usw.«

»Ja, und?«

»Und diese Limited, kurz Ltd., müsstest du für mich einrichten.«

»Das heißt, ich soll jetzt hier an deinem Computer ein Unternehmen gründen?«

»Genau.«

»Aber doch auf deinen Namen, oder Bodo?« Retrospektiv kann ich mich noch genau daran erinnern, wie gespannt ich darauf war zu hören, ich solle nun fix ein Unternehmen auf meinen Namen gründen.

»Das ist mir egal, wir können ruhig meinen nehmen.«

»Das ist aber nett von dir.«

»Ich weiß.«

»Aber wieso hast du diese englische Limited Company nicht schon längst selbst gegründet?«

»Ich kann kein Englisch.«

»... Oh.«

»Außerdem hat das steuerliche Vorteile. Diese BRD GmbH hat mein letztes Unternehmen totgepfändet und ich werde diesem Merkel-Regime nicht noch mehr Geld in den Gierschlund werfen!«

Mit diesen Worten fand ich mich für die nächsten Stunden in einem englischsprachigen Website-Wirrwarr bürokratischster Behörden wieder, um Bodo seine Ldt. Company zu gründen. Währenddessen telefonierte Bodo sich die Mundwinkel zu Wundwinkeln, um den Leuten Angebote für seine tollen mega sexy heißen geilen Produkte zu machen – fuck yeah! Zwischenzeitig kamen immer wieder Einwürfe, wieso die BRD eine GmbH und was die Politiker doch alles für Schweine seien.

Über die nächsten Tage hinweg betreute ich Bodo in allen möglichen Fragen zu den Themen Technik und der englischen Sprache. Dazu zählte unter anderem das Einrichten eines geordneten Mail-Postfachs ebenso wie das Übersetzen diverser Gesetzestexte. Abgesehen davon konnte Bodo noch einen IT-Techniker für eine geplante Webpräsenz gewinnen. Aufgrund seines unfassbaren Charismas wie auch einzigartiger Persönlichkeit nennen wir ihn in diesem Buch schlichtweg Bodo 2.

Bodo 2 war ähnlich von der Politik enttäuscht wie Bodo. Gleich bei unserem ersten Gespräch machte er mir klar, wie souverän er mit seinem Leben umging und wie reflektiert er über seine Probleme nachdachte.

»Als Schröder noch Kanzler war sagte er, Flug- und Raumfahrt ist die Zukunft! Also habe ich Flugtechniker gelernt. Dann sagte Merkel wir brauchen mehr Handwerker. Also habe ich Handwerker gelernt. Jetzt sagte sie wir brauchen IT. Und was habe ich gelernt?«

»IT?«

»Richtig. Und trotzdem bin ich nach keiner von den drei Ausbildungen irgendwo übernommen worden! Noch kein einziges Mal habe ich 'nen richtigen Job bekommen! Und wegen wem das Ganze? Wegen denen da oben und ihren falschen Prognosen! Nix können die! Und wer hat darunter zu leiden? Ich!«

Dass er den Job bei Bodo – ähnlich wie ich – offenbar nicht als richtigen Job ansah, fand ich sympathisch. Eigentlich fand ich seinen Lebensweg unironisch ganz cool. Zwar blieb ihm das große Geld verwehrt, trotzdem hat er neun Jahre Ausbildungswissen angehäuft und kann theoretisch bei vielen Technik-Fragen mitreden. Enttäuscht war er seiner Aussage nach nur von der Politik, die ihn verarscht hätte. Dass er von sich selbst aufgrund ausbleibender Jobs enttäuscht war, hat er stets abgestritten.

In den folgenden Wochen saßen also der Architekt Thomas, Bodo, Bodo 2 und ich gemeinsam viele Nachmittage im Büro und bewältigten unsere Aufgaben – nicht. Vielmehr begannen wir bei jeder Schicht über die neueste Politik zu diskutieren – und gingen natürlich der Frage nach, ob und wieso Deutschland ein Staat war oder nicht. Bodo 2 nahm dabei immer recht schnell ähnliche Positionen ein wie Bodo – komisch.

»Du, Bodo 2? Was hälst du denn von dem Zwei-Plus-Vier Vertrag?«

»Den habe ich noch nicht gelesen.«

»Warte ich hab den immer bei mir.« Bodo holte einen dicken Ordner aus seiner in die Jahre gekommenen Aktentasche.

»Da steht alles drin. Dass Deutschland nie souverän war!«

Bodo 2 nahm den Ordner entgegen. Nachdem er die Überschrift gelesen hatte, sagte er:

»Ja... also jetzt wo ich das hier so lese, macht das schon Sinn.«

»Na siehste! Und jetzt frag' dich mal, wieso der PERSONALausweis bei uns PERSONAL-ausweis heißt und nicht IDENTITÄTSausweis, wie in vielen anderen Ländern. Weil wir deren PERSONAL sind! So und nichts anderes!«

»Oh man stimmt, du hast echt Recht. Danke, dass du mich aufklärst. Du kannst mega gut argumentieren übrigens! Wollte ich dir schon länger mal sagen.«

Blas' ihm doch einfach gleich hier im Büro einen? Nach diesen Worten von Bodo 2 gab mir Bodo einen Blick durch seine starren Augen, die entweder bedeuteten »Und wieder ein neuer Soldat!« oder aber »Dich fick' ich auch noch, Dean!«.

Kurze Zeit nach diesem Gespräch machten sich die beiden Bodos auf die Jagd nach etwas Kaffee für uns alle. Da ich das erste Mal alleine mit dem Architekten Thomas in einem Raum war, nutzte ich die Gelegenheit, ihn ein wenig auszufragen.

»Die beiden Bodos sind ja durchaus überzeugt von ihrer Sache. Siehst du das mit der BRD GmbH ähnlich oder bist du da eher weg von?«

»Bei der Sache mit der GmbH bin ich ziemlich raus...« Gott sei Dank! Ein Verbündeter! Endlich! Er machte eine abwehrende Haltung und fuhr fort:

»... soll Bodo da erzählen, was er will. Keine Ahnung, ob was dran ist. Aber wie gesagt: Da bin ich raus.«

»Ah okay. Schön, dass ich nicht der Einzige in diesem Bürogebäude bin, der glaubt, dass die BRD ein Staat ist! Ich finde es auch krass, wie schnell dann mal gegen Migranten geschossen wird. Keine Ahnung, woher das kommt.«

»Rassismus ist auch wirklich übel. Man darf zwar nicht vergessen, dass Schwarze nicht an uns Weiße herankommen, aber das ist halt wirklich kein Grund sie schlechter zu behandeln.«

»... was?«

»Naja die meisten Schwarzen kommen ja aus Afrika.«

»... ja?«

»Und da scheint nun mal häufiger die Sonne.«

»... ja?«

»Und je stärker und häufiger dir die Sonne auf den Kopf scheint, desto dümmer wird man halt.«

»... was?«

»Alles wissenschaftlich erwiesen! Und jetzt denk' mal weiter: Wenn du dein ganzes Leben da verbringst, kann deine Rasse ja gar nicht so weit kommen wie wir. Die können da ja auch nix für.«

»... was?«

»Ja was glaubst du denn, wieso die in Afrika uns so weit hinterher hängen in Sachen Technik, Kultur, Organisation und so weiter?«

»Tja ich weiß auch nicht. Vielleicht aufgrund von Jahrhundertelanger Sklaverei, Unterdrückung, Kolonisierung, Raub, Diebstahl, Erpressung und sonstiger Ausbeutung auf jedwede erdenkliche Art?«

Mit einem kurzen, ungläubigen Lachen blickte der Rassisten-Architekt Thomas aus dem Fenster.

»Ach Dean... Komm' erst Mal in mein Alter. Dann wirst du das alles noch lernen.«

Hilfe. Der Typ darf wählen.

Blaue Fetzen

Die Wochen vergingen und ich war immer noch fasziniert von dieser Parallelwelt, die ich jedes Mal aufs Neue im Braunschweiger Hafengebiet erleben durfte. Unsere Meinungen zu speziellen Themen hatten sich nicht geändert. Manchmal fühlte ich mich wie in einem heruntergekommenen ThinkTank für Vollidioten. Bodo 2 hatte bei all unseren Diskussionen über die BRD GmbH, Rassismus, AfD und so weiter ein neues Hobby entdeckt, indem er mir – anstatt selbst verbal teilzunehmen – andauernd rechtskonservative Zitat-Bilder von Facebook-Seiten zeigte und mir mit aufgerissenen Augen sowie direktem Blick entgegenwerfen wollte:

»So nämlich! Hab' ich dich überzeugt!«

Es war klar, wer von uns dreien in diesem Unternehmen ganz unten stand. Da ich das Unternehmen als Limited Company in Großbritannien anmeldete, durfte ich übrigens auch bei der Namensgebung mitentscheiden. Voller Stolz kann ich noch heute behaupten ein Mitglied der Ordinary Orders Ltd. gewesen zu sein – auch wenn dort die meiste Zeit über nur gelabert und nicht gearbeitet wurde. Im Verlauf der Zeit konnte ich sogar herausfinden, was wir überhaupt verkauften: Unbekannte Energy-Drinks, Autonummernschild-Sticker sowie modische Feuertonnen aus Stahl für den heimischen Garten.

Besagte Energy-Drinks waren teilweise ganz lecker. Kreutzbergs Regenerativum war das erfolgreichste Produkt mit einer monatlichen Absatzmenge von ganzen 500 Dosen. Es sollte eine gesunde Alternative zu gewöhnlichen Energy-Drinks darstellen und bestand zu großen Teilen aus Ingwer. Da wir die exklusiven Verkaufsrechte am deutschen Markt hatten konnte sich die Flüssigkeit leider nicht durchsetzen, denn wie gesagt: Bei Ordinary Orders Ltd. wurde nicht gearbeitet, sondern nur gelabert.

Dazu kam noch ein Getränk namens Sexcess (ein Kofferwort aus den Wörter Sex und Access), welches Menschen dabei helfen sollte so richtig horny zu werden.

»Dean!«

»Ja?«

»Hier, probier' mal!«

»Bodo? Was ist das?«

»Sexcess. Das soll Leute geil machen, wenn sie es trinken.«

»Was ist denn das für eine Anmache?«

»Quatsch! Ich mache dich nicht an! Wir müssen das Produkt doch testen, bevor wir es verkaufen.«

Vor dem ersten Schluck machte sich ein wenig Angst in mir breit. Was wenn wir, vier äußerst potente Männer, plötzlich wie unzähmbare Tiere übereinander herfallen würden? Weil ich kein Spielverderber sein wollte nahm ich ein paar kräftige Schlucke. Es schmeckte wie ein ganz gewöhnlicher Energy-Drink?

»Wie sicher seid ihr euch, dass das auch wirklich funktioniert? Wenn ich mir die Inhaltsstoffe so anschaue, dann besteht das Zeug im Wesentlichen aus Zucker, Koffein, Taurin und Wasser.«

»Lass uns doch einfach mal abwarten. Laut Website dauert das ein paar Minuten bis die Wirkung eintritt.«

So saßen wir nun still schweigend ganze 15 Minuten im selben Raum und warteten, ob sich in einer unserer Hosen gleich ein Zelt aufschlagen würde.

»Merkt ihr schon was?«

»Ich nicht.«

»Auch nicht.«

»Nein.«

»Geben wir dem nochmal fünf Minuten.«

Wieder warteten wir. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dafür bezahlt wurde auf das Gefühl in meinem Penis zu achten. Doch auch diese fünf Minuten vergingen ohne jegliche Regung. Das Produkt funktionierte offensichtlich nicht und ich war etwas enttäuscht.

»Schade. Ich habe mir fast gewünscht, es hätte funktioniert. Hoffentlich hast du nicht zu viele davon bestellt?«

»Noch nicht, aber gib mal bitte eine Großbestellung davon in Auftrag.«

»Wieso das?«

»Wir müssen unser Portfolio ein bisschen füllen. Sexcess verkaufen wir dann einfach nebenbei als Scherz.«

»Als Scherz, der nicht zündet?«

»Das wird unser Slogan, gute Idee!«

Besagte Großbestellung aus Polen kam nie bei uns an und kostete Ordinary Orders reichlich Geld.

Die Autonummernschild-Aufkleber (knackiger Verkaufsname) wurden über Ebay vertrieben und fanden durchaus etwas Absatz. In schmale, senkrechte Streifen geschnitten, konnte man mit ihnen den blauen Part eines jeden Nummernschilds samt Länderkennzeichen und EU-Sternen bspw. mit seinem Lieblingsverein der Bundesliga überkleben. Oder aber man kaufte Sticker in den Farben ehemaliger deutscher Flaggen. Schwarz-Weiß-Rot wie zu Zeiten der Monarchie oder weißer Kreis auf rotem Hintergrund befanden sich unter den beliebtesten Varianten. Auf das Kreuz wurde dankenswerterweise verzichtet.

Einer meiner letzten Tage dort war etwas ganz Besonderes. Es sollte, organisiert und teilgenommen von vielen Mietern des Bürogebäudes, ein Seminar zu diversen Wirtschaftsthemen stattfinden. Knapp 20 Menschen versammelten sich in einem Konferenzraum, in welchem die nächsten Minuten über ein paar Redner Ideen und Hilfen zu wirtschaftlich relevanten Themen ausbreiten wollten. Der Inhalt selbst war allerdings, ich formuliere es vorsichtig, nicht sehr tiefgründig. Ein paar Tipps und Tricks wie man hier und da zweistellige Euro-Beträge an Steuern jährlich sparen kann oder Ähnliches. Keineswegs unnötige Tipps, aber auch wirklich nicht bahnbrechend.

Nach jedem Vortrag wurde auf Wunsch kurz über das behandelte Thema diskutiert. Vielmehr ging es bei vielen Beiträgen, ob aus dem Publikum oder vom Podium, nicht so sehr um die Wirtschaft an sich, sondern die eigene Leidensgeschichte, die sie offensichtlich alle verband. Jeder hatte ein Unternehmen, ein Haus oder ganz einfach den Lebenssinn verloren und gab dafür der BRD GmbH die Schuld. Im Verlauf der Vorträge kam es auch in Powerpoint-Präsentationen immer häufiger zu abweichenden Themen. Ein namenloser Herr mit weißem Schnauzer stand am Pult und redete.

»Natürliche Personen selbst zu besteuern ist nichts neues. PERSONAL zu besteuern gibt es jedoch erst seit unserer so genannten Bundesrepublik. Ein Mann aus Mecklenburg-Vorpommern hat vor kurzem seine Ländereien zur BRD-freien Zone erklärt und organisiert dort jetzt sein eigenes System. Ganz ohne die Klauen der Merkel-Diktatur!«

Die Augen der Seminarteilnehmer wurden immer größer.

»Und vor Kurzem hat er sogar angefangen, und jetzt aufgepasst, eigene Identitätsausweise herauszugeben.« Das Bild der Powerpoint-Präsentation wechselte von einer Infografik zu steuerrechtlichen Fragen hin zu einem blauen Stück Papier mit Passbild des Mannes mit dem weißen Schnauzer. Oben auf dem Stück Papier stand in Großbuchstaben Identitätsausweis der natürlichen Person und darunter sein Vor- und Zuname sowie weitere Informationen zu ihm. Ein Raunen ging durch das Seminar. Ehe man sich Versehen konnte, hatte der Redner seine Brieftasche hervorgeholt und uns das blaue Stück Papier gezeigt, welches er laut Eigenaussage seit Kurzem als Ersatz für den Personalausweis verwendete. Das Papier selbst war labbrig, als bestünde es aus Pappe und wäre schon mal nass geworden. Der Druck war ebenfalls so schäbig, als käme er direkt aus dem Jahr 1933 – was in Anbetracht der Anwesenden wohl sogar noch ein Verkaufsargument gewesen wäre. Damals befanden sich meine Photoshop-Skills noch auf einem Paint-Level, aber das hätte ich besser hinbekommen.

Mittendrin stellte Bodo eine Rückfrage. Während er gerade seine Frage formulierte, ließ er ziemlich heftig einen Furz fahren, kommentierte dies lediglich mit dem Laut »Ups...« und führte seine Fragestellung fort. Alle anderen Seminarteilnehmer haben seine Flatulenz wahlweise gekonnt ignoriert oder hielten es wohl für normal. Ich selbst hatte große Probleme mein Lachen zu unterdrücken und konnte nicht fassen, wie wir diesen Moment einfach passieren lassen konnten! Wollte da wirklich niemand drauf reagieren? Kein Lachen? Kein Echauffieren? Nichts?! Dieser Abschnitt trägt rein gar nichts zur eigentlichen Geschichte bei, doch möchte ich mit diesen Sätzen noch einmal retrospektiv zum Ausdruck bringen, wie fertig mich diese Szene und vor allem die Nicht-Reaktion der Leidtragenden gemacht hat.

Der blaue und nach wie vor labbrige Identitätsausweis wurde herumgereicht. Die Augenpaare analysierten den Fetzen von oben bis unten.

»Ooooh! Spannend!«

»Ist er blau?«

»Ja, er ist blau!«

»Wow!«

Vorder- sowie Rückseite wurden samt Merkmalen in Notizheften des Betrachtenden festgehalten. Und ich konnte es immer noch kaum fassen. Wie der heilige Gral dokumentarischer Revolutionen der digitalen Moderne wurde dieser Fetzen behandelt, dabei hätte jeder Schwanz (oder jede Vagina) auf dieser Welt genau den selben Zettel drucken können. Zumal dieser Identitätsausweis in Deutschland natürlich keinerlei Gültigkeit besaß. Was all die Damen und Herren hier mit Ehrfurcht behandelten, war für mich nichts anderes als ein blaues, labbriges Stück Pappe mit verwaschener Druckertinte. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir uns nicht nur ideologisch stark voneinander unterschieden, sondern auch daraus resultierende Handlungen und Emotionen konsequent voneinander abwichen. Ich war schon immer ein Blitzmerker. Schwarz könnte auf sie wie weiß wirken, und das was sie blau nennen auf mich grün. Just in diesem Moment wurde ich mir meiner absurd bedeutungsschwangeren Gedanken bewusst.

»Komm mal runter, alter! Du bist ein 18 jähriger Wicht, der von der Welt noch nichts gesehen hat!«

Die Zeit großer Gedanken war ohnehin vorbei, denn die nächste Rednerin betrat die Bühne. Hauptthema ihrer Präsentation waren die organisatorischen Strukturen der BRD GMBH und wie sie denen eines Unternehmens glichen. Auf bestimmt zwei Dutzend Folien veranschaulichte sie, wie das Kanzleramt mit den Aufgaben der Delegation von Angestellten betraut würde, wie es bei einem CEO der Fall sei. Mitglieder des Bundestags würden natürlich den tatsächlichen Abteilungsleitern entsprechen, die wiederum weitere Angestellte unter sich hätten. Das Geld, um die BRD GMBH am Laufen zu halten, käme durch Import-Geschäfte aus Übersee und einigen Staaten Europas. Die Logik war die Folgende: USA, Großbritannien oder Frankreich benötigen Geld. Daraufhin wenden sie sich an den CEO der BRD GMBH, damit dieser ein spezielles Gesetz bspw. zur Steuererhöhung verabschiedet und die daraus resultierenden Einnahmen an den Antragsteller aus dem Ausland weiterleitet.

Diese ganze Geschichte in Kombination mit dem dummen, blauen Fetzen brachten irgendetwas in mir zum Vorschein. In den letzten Wochen hatte ich bereits sehr viel mit Bodo, Bodo 2, dem Architekten Thomas und weiteren Personen über etwaige Themen der Politik diskutiert, doch war ich bis dato recht zurückhaltend und versuchte die Angriffe und Beschuldigungen der Anderen eher abzufedern bzw. zu verteidigen, als selbst die Ideologie meiner Mitmenschen ins Lächerliche zu ziehen. Anders als bei den Monologen zuvor stellte ich zum ersten Mal Rückfragen.

»Ja bitte, junger Mann?«

»Hi! Dean mein Name. Sie sagten, die Bundeskanzlerin wäre sowas wie der CEO und Abgeordnete die Angestellten?«

»Genau.«

»Und was soll das?«

»Wie meinen Sie das?«

»Naja was bringen uns diese Vergleiche?«

»Sie liefern uns Hinweise darauf, wie offensichtlich die BRD GMBH einem Unternehmen gleicht, dass sie ja nun mal ist.«

»Und was ist dann der Bundespräsident?«

»Was ist mit dem?«

»In Ihrer Gleichung. Kanzler ist gleich CEO, Abgeordnete sind gleich Angestellte. Was ist der Bundespräsident?«

»Für den... gibt es nichts. Nur ist der ja auch in seiner Funktion lediglich eine Galionsfigur.«

»Okay. Und was ist die Polizei?«

»Sowas gibt es in Unternehmen nicht.«

»Eben! Seh' ich auch so! Im Vergleich dazu verfügen die meisten Unternehmen über keinerlei Lokomotiven. Der deutsche Staat hingegen leitet die Deutsche Bahn.«

»Die wurde ja auch privatisiert.«

»Entschuldigung? Was war mit ihr?«

»Sie wurde privatisiert.«

»Und wenn die Deutsche Bahn, ebenso wie die Telekom und die Post privatisiert wurden, was waren sie dann vorher? Vielleicht staatlich?!«

»Ich... ich glaube nicht.«

Im Raum war es zwischenzeitlich ziemlich still geworden. Die Frau am Rednerpult wirkte recht verunsichert. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass jemand Gegenwind bekam. Überrascht von meiner eigenen Aggression einer mir fremden Frau gegenüber setzte ich mich wieder hin und ließ sie in Ruhe. Nach dem Seminar kam sie auf mich zu und stellte mit ein paar Fragen. Im Gespräch berichtete sie von unschönen Details ihrer jüngsten Vergangenheit. Jobverlust, kaum Kontakt zu ihrer Familie und sogar von einer Fehlgeburt erzählte sie mir noch in aller Öffentlichkeit. Immer wieder erkannte ich das selbe Muster in den Biographien der Leute:

Verluste oder Niederlagen jeglicher Form konnten nicht gut weggesteckt werden. Der wahr gewordene Alptraum setzte einen Schutzmechanismus in Gang, durch den von diesem Moment an stets andere Faktoren Schuld an damaliger wie künftiger Niederlagen sein mussten – anders ließ es sich wohl nicht ertragen. Egal ob Politiker, Linke oder Migranten. Man verlagerte die eigene Identitätskrise nach außen und versuchte sich neu zu erfinden. Leider fand man offenbar nur dann Zuspruch, wenn man die eben genannten Gruppierungen diffamierte und sogar den deutschen Staat aberkennen musste.

Noch heute denke ich oft an diese Zeit zurück. Es gab viel Wut, aber auch extrem viel Bullshit. Jahre später hatte ich schon längst keinen Kontakt mehr zu den beschriebenen Personen, da las ich einen Begriff in einer Zeitung, den es damals noch gar nicht gab. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass viele Menschen jenes Bürokomplexes im Braunschweiger Hafengebiet später Gruppierungen anhängen würden, die bis heute in den Medien als Reichsbürger bezeichnet wird und deren Entstehung ich ohne den leisesten Hauch einer Ahnung hautnah miterleben durfte.

Hawaiianische Holzrosen

Hechelnde Hunde laufen nicht

Ist es legal, wenn ich von dem nun Folgenden erzähle? Nach meinem aktuellen Wissensstand weiß ich wirklich nicht, ob meine Taten bereits als verjährt gelten. Immerhin könnte man durchaus dafür ins Gefängnis kommen, sollten es die falschen Leute lesen... Auf jeden Fall habe ich mit Drogen gedealt. Ich war nie ein großer Fisch im kleinen Suff-Teich namens Salzgitter, doch es hat mir in meiner Jugend die ein oder andere Annehmlichkeit finanziert. Als Jugendlicher, der in seinem Leben aufgrund finanziell schwacher Verhältnisse nie Taschengeld bekam und dennoch am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollte, musste irgendwie ein wenig Geld her. Immerhin war ich erst kurz zuvor (genauer gesagt am 18.12.2008) aus Mönchengladbach in ein kleines Dorf nahe Salzgitter gezogen. Aus einem Gebiet umgeben von Großstädten wie Krefeld, Düsseldorf und Köln wurde ein Dorf mit 1.000 Einwohnern umgeben von nichts – zumindest wenn man kein Auto hatte, was als Minderjähriger durchaus mal vorkommen mag.

Ich saß also in einem komplett neuen Umfeld ohne Freunde (aber dafür mit viel Mobbing in der Schule) in einem mir fremden Ort fest und konnte nirgends hin. Es war irgendwann in den Sommerferien zwischen der achten und neunten Klasse, als ich das erste Mal auf die Droge LSA aufmerksam gemacht wurde. Ein Kumpel erzählte mir von dem Zeug, aus dem in synthetischer Form letztendlich LSD hergestellt würde. Im Endeffekt ist LSA nichts anderes als der Kern einer hawaiianischen Holzrose, die zur Einnahme entweder 15 Minuten zerkaut und ausgespuckt, oder über Nacht in einem Glas Wasser aufgelöst wird um es anschließend zu trinken. Die Wirkung sollte der von LSD ähnlich sein, nur dass man statt einer einzigen Pille zwischen drei und sechs dieser kleinen Rosenkerne einnehmen sollte. Aus Langeweile testete ich die besagten Kerne aus und nahm fürs erste Mal drei Stück. Geschmacklich ein wahrhaftes Grauen! Eine Mischung aus bitter, leicht klebrig und dem Geschmack von Gift kommt dem ganzen recht nah. Wie empfohlen spuckte ich die Kerne nach 15 Minuten aus und begann zu warten. Erst wurde ich nur ein wenig schläfrig, doch schon bald sollte die Wirkung einsetzen.

Ziemlich euphorisch stand ich wie ein Hund hechelnd in meinem Zimmer und alles leuchtete lila. Von meinem Schreibtisch aus ging ein gelbes Leuchten, dessen Aura leicht vor sich hin waberte.

---ENDE DER LESEPROBE---