Die Rache des Faktotums - Maxi Hill - E-Book

Die Rache des Faktotums E-Book

Maxi Hill

0,0

Beschreibung

Der Arbeitslose Bodo F. und die Altenpflegerin Lola G. sind ein merkwürdiges Paar. Ihr benachteiligtes Vorleben schmiedet sie zusammen – bis Lola die Exklusiv-Pflege gutsituierter alter Herren übernimmt und so manch einen von ihnen beerbt. Lolas körperliche Nähe zu diesen Männern bringen Bodo in Rage … Als Lola dann Professor Rochus von Anger heiratet, ist Bodos Hoffnung dahin … In der Lausitz versetzen seit geraumer Zeit mysteriöse Leichenfunde die Menschen in Angst und Schrecken. Die Mordkommission tappt im Dunklen, weil niemand vermisst wird und weil die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind. Als Bodo Fichtner auf die kleine City-Wache zu einer Routinebefragung geladen wird, geht er mit dem Vorsatz: "Wenn ich dort fertig bin, klicken die Handschellen."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maxi Hill

Die Rache des Faktotums

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Bodo

Die Vergangenheit - Lola

Der Mann für alle Fälle

Ein ungleiches Paar

Kay und die Russinnen

Hasso Meyer

Der Preis des süßen Lebens

Der rettende Plan

Lieber kein Gottvertrauen

Leben und Sterben

Dieses Leben muss weitergehen

Oswin Schreiner

Auf ein Neues

Bodos Eifersucht

Die Gegenwart – Zwei Leichen und kein Vermisster

Ein gut situierter Mann

Rochus von Anger

Leben in zwei Welten

Emy und das Glück

Die dritte Leiche

Das Kind

Kleine Hilfe – große Wirkung

Der Entschluss

Die Vorladung

Polizei im Dilemma

Farbe bekennen

Zwischenrapport

Aussage gegen Aussage

Die Schlinge zieht sich zu

Die Meldung in der Tageszeitung.

Maxi Hill

Bibliografischer Überblick über neue Maxi-Hill-Bücher

Impressum neobooks

Inhalt

Ein Täterpsychogramm - frei nach einem deutschen Kriminalfall, von dem ein Richter sagte, er habe eine Unrechtsdimension, die für ein irdisches Gericht eigentlich zu groß sei.

Der Arbeitslose Bodo F. und die Altenpflegerin Lola G. sind ein merkwürdiges Paar. Ihr benachteiligtes Vorleben schmiedet sie zusammen – bis Lola die Exklusiv-Pflege gutsituierter alter Herren übernimmt und so manch einen von ihnen beerbt.

Seit Jahren versetzen mysteriöse Leichenfunde die Menschen in Angst und Schrecken. Die Mordkommission tappt im Dunklen, weil niemand vermisst wird und weil die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind.

Als Bodo auf die kleine City-Wache zu einer Routinebefragung geladen wird, geht er mit dem Vorsatz: »Wenn ich dort fertig bin, klicken die Handschellen.«

Bodo

Dieser Tag ist nicht nach seinem Geschmack, doch dieser Tag wird auch Lola nicht schmecken.

Der Mann tritt vor die Tür. Nervös fährt die Hand durch das feuchte Haar, das in seinem Nacken staucht und kleine glitzernde Kringel wirft. Schaut man genauer hin, ist es kein fröhliches Gesicht. Seine linke Wange zuckt vor Erregung, doch man möchte glauben, sein Inneres hört auf eine mahnende Stimme. Er spürt keine Angst und er weiß nicht, ob er je Angst verspürt hat. Er weiß nur, das Jüngste Gericht kennt keinen Verteidiger.

Seine Augen suchen den Punkt am Himmel, der ihm lange Zeit für Vergebung genügt hat. Er ist nicht gläubig, aber er glaubt an eine gerechte Strafe. Er ist auch nicht dumm, aber er glaubt, er weiß nicht sehr viel. Er kann lesen und schreiben und fester zupacken, als es sein schlaksiger Körper ahnen lässt. Zupacken hat er gelernt. Das musste er lernen. Er hatte nie das Glück, eine Ausbildung zu genießen, wie sie ein Sesselposten erfordert.

Bodo Fichtner war das siebente und letzte Kind, und er blieb für seinen Vater auch noch das ungeliebte. Ihm lag die Schule nicht und er schmiss sie hin. Heute bereut er.

Ein klarer Morgen liegt über der Stadt. Sanfte Strahlen streichen die Dächer und Türme, die Bodo zum ersten Mal in seinem Leben als Schutzwall wahrnimmt. Die Vögel zwitschern schon lange, und hier und da sieht man einen Menschen durch den morgendlichen Park laufen. Von der Stadtmauer kommend zerrt eine Frau ihren Hund über die hügelige Wiese.

Vor dem prächtigen Haus mit dem Säulenportal, in dem er bei Lola wohnen darf, ist es noch still. Nur von fern quietscht die Straßenbahn, die am Postplatz in die Berliner Straße einbiegt.

Bodo setzt bedächtig ein Bein vor das andere. Diese Langsamkeit ist seine Galgenfrist.

Der Weg ist nicht weit, und er ist nicht von Sinnen. Er nimmt die Stadt mit all den vergessenen Sinnen wahr. So fühlte er an keinem seiner verdammten Tage vorher. Heiße Wut treibt das Blut durch die Adern: Das mit Lola und dem ganzen Bockmist, wäre ihm früher nie eingefallen.

Er ist noch nicht alt, gerade 49 Jahre, aber man sagt, er sieht älter aus. Vielleicht weil er zu viel geraucht, zu viel gesoffen, ungesund gegessen und zu wenig geschlafen hat. Vielleicht hat er aber nur geraucht und gesoffen, weil er seit langem schlecht schlafen kann. Und das hat einen Grund, der im Verborgenen schlummert.

Seine Kleidung schlottert um den drahtigen Körper. Sein Muskelfleisch hat in letzter Zeit den Kürzeren gezogen. So sagt es Lola. Er weiß, was sie damit bezweckt. Darüber denkt er selten nach - wer denkt schon gerne an seine Schwächen. Seine größte hat ihn zu dem gemacht, der er am Ende dieses Tages sein wird. Allein diese Erkenntnis raubte ihm den Schlaf. Aber wenn er schon nach Canossa muss, dann wird er auch Buße tun.

Bodo Fichtner geht seinen Weg bedächtig, und die Dinge um ihn herum tragen heute andere Namen, andere Farben, sie stehen an einem anderen Platz. Nur sein eingeübter Satz bleibt beständig in seinem Kopf: »Wenn ich dort fertig bin, klicken die Handschellen. «

Die Vergangenheit - Lola

Zwölf Jahre zuvor. Sie schritt ihren neuen Weg ab, den sie jetzt für lange Zeit zu gehen hatte. Ihr Blick aus moosgrünen Augen streifte zu beiden Seiten die langen, lieblosen Wohntrakte, die ihr dennoch weniger muffig vorkamen, als ihr bisheriges Haus im Salzland, dreihundert Kilometer westlich von hier. Das schmale Backsteinhaus in ihrer Heimatstadt war um die Jahrhundertwende gebaut worden und es unterschied sich in nichts von den anderen Häusern in ihrer Straße, die man Moorstraße nannte. Ein Moor gab es nicht in der Nähe, aber irgendwie hatte die ganze Stadt auf sie gewirkt, als würde sie bald versinken. Das lag an den Schächten tief unter der Stadt, aus denen das Salz geholt worden war, einige Herrschafts-Epochen lang, bis sich die Erde mitsamt ihrer Last zu neigen begann. Das gefährliche Auf und Ab der Straßen und der schräge Kirchturm wurden kurzerhand zur Attraktion erklärt – Klein Pisa. An all das hatte man sich gewöhnt, sofern man nicht selbst hinter einer der rissigen Hauswände wohnte, die der Neigung des Erdreichs nicht standhalten konnten.

Lass uns hier weggehen, hatte sie zu Paul gesagt. Nicht nur einmal. Aber Paul hatte jedes Mal gemeint, er sei dort geboren und er werde sich auch dort begraben lassen. Dieses Ziel hatte er nun vorfristig erreicht, und es waren wahrlich nicht viele Ziele, die Paul Gardner in seinem Leben erreicht hatte.

Lola wusste natürlich, warum es Paul in dieser Öde gehalten hatte, wo die Bode braune Schaumkronen trug, wo die Luft nach Kali roch, und wo es kaum einen Baum in der Landschaft gab, aber endlos unüberschaubare Rübenfelder in der Börde das Gefühl von Eintönigkeit verstärkten. Für Paul war das Leben normal, solange er regelmäßig und kostenlos seinen »Kumpeltod« bekam, ein Gesöff, das einem die Kehle verätzte, das die Sinne trübte und das einem das Weiße im Augapfel gelb färbte. Sie hat das Zeug nie getrunken, aber irgendwie hatte Pauls Griff zur Flasche auch auf sie abgefärbt, und bisweilen, wenn das Leben unerträglich wurde - und das hatte zumeist an Paul gelegen - dann trank sie hastig einen kräftigen Schluck.

Dieses Leben mit Paul war nie nach ihrem Geschmack. Ihre Sehnsucht nach ein bisschen Besitz, nach Zufriedenheit, musste ihr schon in die Wiege gelegt worden sein, sofern sie je in einer Wiege gelegen hatte, was sie nicht wusste und was sie auch nicht für möglich hielt. Zufrieden war sie noch nie, und das war für Paul Grund genug, schnell mal seine Hand gegen sie oder einen der beiden Jungen zu erheben. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie längst getürmt, aber Paul verwaltete die Familienkasse und hielt sie kurz. Sie hatte sich in den ersten Ehejahren nicht dagegen gesträubt. Sie kannte es nicht besser. Bei ihren Eltern war es nicht anders – eigentlich noch schlimmer – was ihre Einsicht zu bleiben bewirkte.

Ihre Gedanken grenzten an Selbstkasteiung. Jetzt und hier musste sie nicht mehr daran denken. Jetzt und hier begann ihr neues Leben, und wenn sie etwas gelernt hatte in der letzten Zeit - was sie sogar Paul zu verdanken hatte - dann war es das: Sie beurteilte die Männer nur noch nach Maßstäben, die mit Männlichkeit nichts zu tun haben.

Die Einförmigkeit dieser fremden Gegend machte Lola traurig. Auch hier waren die Häuser kaum voneinander zu unterscheiden, und sogar Licht und Schatten gab es hier nur total. Es gab keinen Schatten neben dem Licht, weil die Häuserfronten keine Nischen besaßen, keine Erker oder Dauben. Nicht einmal die flachen Dächer waren zu sehen. Zur Sonnenseite hin gab es gleichförmige Balkone. Wenigstens hatten die Bauherren in den siebziger Jahren ein paar Kiefern des Wäldchens stehen lassen, das den sozialistischen Wohnbauten Platz machen musste. Ein Segen waren diese Bäume nicht, aber immer noch besser, als von den fremden Menschen gegenüber beobachtet zu werden, die sich Einheimische nannten, die sich aber untereinander auch nicht grüßten und auch nicht mochten. Kürzlich erst war sie hierher gezogen. Nicht gern, aber es gab im ganzen Stadtteil keine kleineren Wohnblöcke, und die Wohnungen in besserer Lage waren nicht erschwinglich.

Hier in der großen Stadt kannte sie keiner und sie kannte noch niemanden, aber hier war es endlich möglich, ihr Leben zu leben, wie sie es viel zu lange vermisst hatte, eigentlich ein Leben lang. Vielleicht würde es ihr hier schneller gelingen, die letzte Zeit und vor allem Pauls Sterben zu vergessen. Einige Wochen lang hatte sie Albträume gehabt. Noch immer trug sie das Bild des Schreckens in seinen Augen mit sich herum, das Bild des Hinscheidens mit Schaum vor den Lippen. Sie hatte es sich leichter vorgestellt, und sie ahnte, dass es keinen friedlichen Tod geben konnte. Der Tod war immer ein Kampf …

Nie wieder wollte sie einen Menschen sterben sehen. Sie hatte kaum noch Fragen an das Leben. Eines nur hätte sie zu gerne erfahren: Was hat Paul gedacht, als er merkte, dass er sterben musste?

Lola ging schneller. Der Korb mit allerlei Wäsche und Kleinkram zog an ihren Armen, die Brille rutschte über die verschwitzte Haut zur Nasenspitze hin, und sie war außerstande, eine Hand frei zu bekommen. Wieder einmal lag ihr Schlüssel ganz unten in der Tasche. Wenn sie jetzt ihre Brille zurückschieben wollte, müsste sie den Korb absetzte und dann würde sie ihn nur schwerlich wieder aufnehmen können. Aber den Schlüssel zu suchen kam sie nicht umhin.

Für einen Moment kroch ein fremder Geruch in ihre Nase. Irgendwie nach kaltem Rauch und Männerschweiß, irgendwie auch nach nasser, modernder Wäsche. Zuletzt hatte Paul so gerochen, und sie ärgerte sich über ihre verdammt schlechten Nerven, die nicht nur die Bilder sondern auch die alten Gerüche nicht zu verdrängen verstanden. Lola fuhr herum. Eine kalte Hand berührte ihren Oberarm. Sie gehörte zu diesem Mann, der den Mief verströmte.

»Sind Sie verrückt geworden? «, schrie sie ihn an. Das Gesicht des Mannes zuckte nervös und sofort tat es ihr leid, so laut geschrien zu haben. »Sie haben mich vielleicht erschreckt«, sagt sie einigermaßen ruhig.

»Ich hab ΄n Schlüssel«, lallte der Mann, und das erklärte, warum ihr nun auch noch dieser Fuselgestank in die Nase stieg. Sie ließ den Kerl gewähren, der sich an ihr vorbei zur Haustür schob und nun vergebens versuchte, seinen Schlüssel in das Schlüsselloch zu zirkeln.

»Sie sind die Neue? «

»Der Schein trügt. So neu bin ich gar nicht. «

Es war nicht zu erwarten, dass der Kerl in seinem Delirium verstand, worum es ihr ging. Vermutlich würde er es nicht einmal im nüchternen Zustand kapieren. Aber der Kerl verdrehte seinen Kopf und nicht minder die Augen, und er entblößte sein Gebiss. Das Gebiss war das Einzige an ihm, was man getrost als intakt beschreiben konnte.

Im Hausflur gleich neben den wenigen Stufen, die zu den untersten Wohnungen führten, stand wie üblich ein Kinderwagen. Mitsamt breitem Korb kam sie nicht unbeschadet daran vorbei, und überdies fürchtete sie, die erste Stufe zu verpassen und womöglich zu stürzen. Lola versuchte, den Korb längs zu drehen, doch da rutschte auch noch ihre Tasche von der Schulter und ihr blieb nichts, als einen kleinen Fluch über die Lippen zu lassen. So zugedröhnt schien der Mann nicht zu sein, dass er ihre Misere nicht erkannt hätte. Er nahm wortlos einen Griff des Korbes und Lola den anderen. Rasch saß auch ihre Brille wieder korrekt und ihr fiel ein, dass dieses Teil bald Geschichte sein wird. Eine moderne Brille war bereits in Anfertigung. Diese Ausgabe war dringend nötig.

In dem Moment stand ihr Aussehen gar nicht zur Debatte. Jetzt war ihre Befürchtung einfach größer, der Kerl könnte samt Korb über die Stufen stürzen.

Auch wenn der Mann nicht in ihr Bild von einem Mann passte, es war ein Moment der Freude in ihr, ahnte sie doch, dass er sich nur ihretwegen anstrengte, anstatt den schnellsten Weg in die rettende Horizontale zu suchen, wie Paul es vorgezogen hätte. Eine Freundlichkeit wollte dennoch nicht in ihr Gesicht kommen, glaubte sie doch nicht an die Uneigennützigkeit des Mannes. Wenn er in diesem Eingang wohnte - das sagte ihre feine Nase, die sie für diese Art Männer hatte - dann würde er über kurz oder lang vor ihrer Türe stehen und sie der guten Nachbarschaft wegen um Schnaps anbetteln. Soviel stand fest.

Solange sie die Stufen hinauf stapften, sah sie ihn genau an. Die nachlässige Kleidung war es nicht, die sie dauerte. Es war nicht erkennbar, ob in dem faltigen Hinterteil der Hose überhaupt noch ein wenig Fleisch zu finden war. Der Mann bestand nur aus Haut und Knochen, wie ihr Paul. Und einen wie Paul wollte sie zuallerletzt in ihrer Nähe wissen. Wäre es nicht der kurze Moment ihrer Hilflosigkeit gewesen, sie wäre bei ihrer eingeübten Kratzigkeit geblieben.

Ohne ein Wort von ihr abzuwarten, stoppte der Kerl trotz Trunkenheit vor der richtigen Tür. Sein unkontrolliertes Mienenspiel verwirrte Lola. Sie wollte ihn in kein weiteres Gespräch verwickeln, obwohl sie doch letztlich von seiner Hilfe überrascht war. Weil auch er gar nicht reden wollte, blieb nur der Dunst des Mannes zurück, der die Luft im Treppenhaus in muffiger Bewegung hielt.

Lola summte vor sich hin, während sie das Kaffeepulver in den Automaten löffelte. Sie war sehr zufrieden mit sich und der lockeren, schulterlangen Frisur, zu der auch die schmale Brille mit extra breiten Seitenbügeln vortrefflich passte, an denen winzige Strasssteinchen blitzten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sie sich sanft und weiblich und auch die jugendliche Mode stand ihr unerwartet gut. Seitdem sie hier war, hatte sie ihr Spiegelbild wohl an die hundert Mal betrachtet, mehr als in ihrem ganzen früheren Leben zusammen.

Die Morgennachrichten im regionalen Rundfunk liefen gerade, und sie hatte noch Mühe, die Informationen den richtigen Plätzen der Stadt, vor allem aber den Orten der Region zuzuordnen. Inzwischen wusste sie, dass sie im Süden der Stadt wohnte. Dass dieser Stadtteil Sachsendorf hieß – Sachsendorf im Land Brandenburg - das wusste sie, seit sie den Mietvertrag in den Händen gehalten hatte. Die Miete war erschwinglich, der Stadtteil lag weit vom Zentrum entfernt. Er war im Arbeiter- und Bauernstaat als große soziale Wohnstadt gepriesen worden und damals in der Tat begehrt. So hatte man ihr auf dem Einwohnermeldeamt erzählt. Inzwischen zogen mehr und mehr Menschen von hier weg. An Lebensqualität war nicht mehr viel zu erwarten. Hier wohnten offenbar nur noch Menschen wie sie, die mit ihrem Geld keine großen Sprünge machen konnten. Und es wohnten viele Ausländer hier. Und es wohnten Menschen wie dieser Kerl, der irgendwo in einer Bude über ihr vegetierte, der todsicher keine Arbeit hatte und der sich womöglich mehr auf dem Arbeitsamt und in gewissen Lokalitäten herumtrieb, als in seiner Wohnung.

Der Mann gefiel ihr nicht. Dennoch verwendete sie mehr Gedanken an ihn, als nötig. Nachts hatte sie sich eingeredet, sie habe ihn nur unter denkbar ungünstigen Umständen gewähren lassen, nichts weiter. Dann aber wusste sie, dass das nicht die Wahrheit war. Noch war sie nicht gewillt, ihren ungenauen Gedanken klare Strukturen zu geben. Vorerst versuchte sie, die Dinge auszuleuchten, die sie deutlich zu spüren begann. Sie hatte Menschenkenntnis, wusste, wozu jemand zu gebrauchen war und wozu nicht. Er hatte zugepackt, ohne Aufforderung und ohne zu zögern. Und er brauchte Anerkennung, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Und noch etwas lag genau da drin: Hass auf irgendjemanden oder irgendetwas, dem sie sich sofort auf erschreckende Art verbunden fühlte.

Lola lächelte in sich hinein, schlürfte ihren Kaffee und begann eine Zeitung nach der anderen auf Stellenangebote abzusuchen. Sie hatte einen ganzen Stapel Tageszeitungen aufgetrieben und auch ein altes Branchenbuch, das sie zuerst durchsuchte. Obwohl sie die Entfernung zu den Orten, in denen Pflegeeinrichtungen existierten, nicht einschätzen konnte, malte sie akribisch ihre Kringel.

Um sie herum bestand nur Chaos. Die Schränke waren noch nicht eingeräumt, die Putzarbeiten noch nicht erledigt und der Hunger machte sich auch bemerkbar. Das aber war das kleinere Chaos. Das größere saß tiefer. Solange sie schon telefonierte, es wollte ihr keiner die Chance einer Vorstellung einräumen. Sie schalt sich ob ihrer Zögerlichkeit und hasste sich wegen der angeborenen Zurückhaltung. Sie sollte auftrumpfen, sich besser verkaufen. Das war die oberste Regel dieser Zeit, die sie noch immer nicht beherrschte.

Je weiter der Tag fortschritt, desto fahriger wurde sie, und die Zeit schien ihr genauso schnell davonzulaufen, wie das letzte Geld, das Paul noch nicht versoffen hatte. Erst am späten Nachmittag nahm sie einen Imbiss zu sich, den sie stehend in der Küche verschlang. Und dabei kam ihr die beste Idee, die sie je im Leben gehabt hatte.

Einen der Kringel hatte sie um die Anzeige einer Seniorenresidenz gemalt, die sich »Am Sandberg« nannte. Was immer das bedeuten sollte – hier gab es keine Berge. Die Gegend war flach wie eine Flunder. Da am Sandberg wollte sie ihre Idee anbringen, über die sie sich wunderte und über die sie sich zugleich beglückwünschte. Verkauf dich so gut es geht, Lola!

Die Nummer war lang, und das Freizeichen klang dumpf. Nach dem vierten Ton hörte sie die Stimme einer jungen Frau - hell und sehr freundlich: »Seniorenresidenz Am Sandberg, Anja Krüger, was kann ich für Sie tun? «

Lola musste sich nicht verstellen, sie war atemlos in diesem Moment, der kein normaler Moment ihres Lebens war, das schwor sie vor sich selbst.

»Guten Tag. Gertrud Willumeit ist mein Name. Ich rufe vom Pflegestift Sankt Johannes in Magdeburg an. Entschuldigen Sie die Störung. Ich brauche Ihre Hilfe. Bei Ihnen hat sich eine ehemalige Pflegerin unseres Stifts beworben, soviel ich weiß. Leider. Nun ja, ich will es kurz machen. Ich brauche unbedingt Kontakt zu ihr.«

Eine Sekunde Schweigen. Eine Sekunde, die den Herzschlag in die Unentschlossenheit trieb.

»Wenn es um Bewerbungen geht, kann ich Ihnen nicht helfen, aber ich verbinde Sie gerne weiter.«

Mehr als eine Minute drang blechern und aufdringlich die kleine Nachtmusik von Mozart an ihr Ohr. Dabei fragte sie sich immer wieder, was sie überhaupt tat. Im Zeitalter moderner Technik konnte man schließlich sehen, woher ein Anruf kam. Vorher wie nachher, falls ein Interesse bestand. Sie musste unbedingt daran denken, vom Betreiber schnellstens ihre Nummer verbergen zu lassen, unbedingt. Das hatte mehrere Vorteile, über die sie jetzt nicht weiter nachdenken wollte. Nur über eines dachte sie nach: Jetzt könnte sie noch auflegen.

»Um eine Bewerbung geht es?« Die neue Stimme klang gestresst und weniger fröhlich.

»Nicht direkt. Nicht ich will mich bewerben. Ich suche nach meiner bisher besten Pflegekraft Lola Gardner. Die hat sich bei Ihnen beworben und ich muss sie unbedingt sprechen. Sie bekommt noch einen Teil ihres letzten Monatslohnes von uns.«

»Tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Eine solche Bewerbung hatten wir nicht.«

Lola gab Laute von sich, die hoffentlich verzweifelt klangen.

»Ach«, hörte sie vom anderen Ende. »Wenn es um Geld geht, dann meldet die sich schon bei Ihnen. «

»Sie kennen Lola nicht. Entschuldigung, Sie sind meine letzte Rettung. Wenn Lola bis jetzt noch nicht da war, dann kommt sie noch. Ganz bestimmt. Es sei denn, eine andere Einrichtung hat sie Ihnen schon weggeschnappt. Aber wenn sie kommt, könnten Sie ihr bitte etwas ausrichten … «

»Was soll das heißen – weggeschnappt?« Die Worte klangen jetzt freundlicher. Lola blieb einen Moment länger stumm, als sie es auszuhalten glaubte. Dann ließ sie heiße Luft gegen die Sprechmuschel strömen und gestand sehr brav:

»Ich rede gewöhnlich nicht über jemanden, der sich nicht rechtfertigen kann. Aber ich rede ja nicht schlecht. Wenn Lola Gardner nicht zu Ihnen kommt, kann ich Sie nur bedauern. Lola hat etwas, das schafft keine andere. Aber das finden Sie früh genug selbst heraus, sofern Sie das Glück haben ... «

»Heißt das, Sie bedauern den Weggang dieser …?«

»Lola Gardner? Sehr sogar. Und Lola bedauert ihn auch. Aber die Gesundheit und das Leben ihres Mannes gingen ihr vor. Das muss man akzeptieren. Sie war die Beste, die wir je in der Männerabteilung hatten. Das lag wohl auch daran, dass sie ganz persönliche Erfahrungen im Umgang mit ihrem hilflosen Mann gesammelt hatte. Das Leben ist hart. Wer weiß das besser als wir, nicht wahr?«

»In der Tat. Ich werde dieser Frau – wie hieß sie doch gleich?«

»Gardner heißt sie übrigens noch immer.«

»Natürlich. Dieser Frau Gardner richte ich es aus, wenn sie vorsprechen sollte.«

»Mit wem habe ich gesprochen?«

»Hegewald. Ich bin die Heimleiterin.«

»Herzlichen Dank, Frau Hegewald, und entschuldigen Sie meine Bitte.«

Lola ordnete das Chaos, das nun auch in ihrem Kopf herrschte, mit einem Lächeln. Manchmal sind solche Wege unumgänglich. Zu dumm, dass eine Anruferin aus Magdeburg nicht danach fragen konnte, wo genau die Adresse Sandberg zu finden war, aber dafür würde es irgendwo einen hilfsbereiten Menschen geben.

Im Augenblick war sie nichts als erleichtert. Wenn ihre Bewerbung jetzt nicht von Erfolg gekrönt sein würde, dann brauchte die Einrichtung wirklich keine Leute, was aber angesichts der miesen Bezahlung und angesichts der ständig anwachsenden Pflegebedürftigkeit generell kaum anzunehmen war.

Der peinliche Moment der Lüge war schnell vergessen, und in Lola meldete sich die Stimme der Vernunft. Sie war überzeugend gewesen, ohne Frage. Wenn sie aber ehrlich zu sich war, dann hatte sie in einem anderen entscheidenden Moment versagt. Wer nicht nett zu den Menschen ist, die gut zu einem sind, der muss später schwer zu Kreuze kriechen. Dieser Moment sagte ihr sehr deutlich, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, zu diesem Suffi zu gehen und ihn zu fragen, wie man zur Adresse Am Sandberg kommt. Andere Nachbarn kannte sie nicht. Tatsächlich ging sie sofort zur Tür, doch da war noch ein Fehler, den sie begangen hatte. Sie hatte ihn nicht danach gefragt, wo er wohnte oder wie er hieß. Es war wieder diese verflixte Oberflächlichkeit, die sie in ihrer verkorksten Kinderstube in die Wiege gelegt bekommen hatte. Die Gründe spielen keine Rolle, wenn man versagt. Allein das Versagen ist entscheidend. Und darin musste Lola Gardner für ihr neues Leben noch höllisch viel lernen.

Der Mann für alle Fälle

Der Moment kam eher als erwartet. Gerade hatte sie Kaffee angesetzt und sich eine Zigarette angezündet, als ein kurzer Ton sie erschreckte. Noch nie hatte einer an ihrer Tür geläutet und sie wusste nicht, ob es an der Haustür oder an der Wohnungstür gewesen war. Auf blanken Füßen schlich sie in den Flur und blinzelte durch den Spion. Ein kleiner Schreck fuhr durch ihre Glieder und sie fragte sich, was eigentlich mit ihr los war. Ihre Unsicherheit war wieder da, die weit über das Maß hinausging, das sie für den Augenblick als normal bezeichnen konnte. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie geschworen, diesen Kerl schickte der Himmel. Aber gerade der konnte es nicht sein. Nicht der Himmel und nicht für sie.

Die Tür bewegte sich lautlos und ließ nur einen Spalt breit ihren Blick auf den Mann zu. Eigentlich lag ihr daran, dass es in umgekehrter Richtung so war. Ein Schatten huschte über das fahle Gesicht, nur einen Augenaufschlag lang, aber doch lang genug, dass Lola es bemerkte. Der Mann fuhr mit seiner Hand durch das Haar, das streng aus dem Gesicht gestrichen dennoch in kleinen Wellen seinen schmalen Kopf umspielte und feucht und schwer in seinen Nacken fiel. Es glänzte, dabei war nicht auszumachen, ob es von Pomade glänzte oder noch feucht vom Waschen war. Die Spuren auf dem Hemd ließen den Schluss zu, es sei frisch gewaschen, und zumindest dieser Umstand rührte Lola in gewisser Weise. Nicht, dass es darauf ankam. Nicht, dass sie ihr Vorhaben, ihn nach der Adresse zu fragen, von seiner Erscheinung abhängig machen wollte. Sie hatte bisher noch keinen Gedanken daran verwendet, was genau sie ihm erzählen wollte und was nicht. Immerhin brauchte nicht jeder in der Nachbarschaft zu wissen, dass sie völlig fremd war in der Stadt. Andererseits verband sie einen neuen Gedanken mit der Anwesenheit dieses Mannes. Über ein »Wie und Warum« hatte sie nicht tiefer nachgedacht. Nur über ein »Dass«, und das musste fürs Erste genügen.

Sie starrte in sein unrasiertes Gesicht, und die rot unterlaufenen Augen erwiderten ihren Blick, der ebenso vorsichtig und nicht minder tastend ausfiel. Es schien ihr, als war dieses Gesicht ebenso überrascht, dass die Tür sich tatsächlich geöffnet hatte.

»Ich … Entschuldigung. Ich habe mich ausgesperrt. Ham ΄se vielleicht mal ΄ne Zange oder ΄n Schraubendreher?«

Seine Hände umschlossen sich gegenseitig so fest, dass die Knöchel die Haut darüber weiß färbten.

»Guten Tag«, sagte Lola und ahnte doch, dass dieser Gruß bei einem wie dem nicht ankommen würde. Wie ein Kind hob sie die Schultern zu einem Bedauern und war auch gleich dumm genug, dieses Bedauern zu äußern, anstatt ihn hereinzubitten und so zu tun, als suche sie nach geeignetem Werkzeug. Noch immer seine Hände ringend blieb der Mann wie angewurzelt auf dem Fußabtreter stehen, der noch vom Vormieter liegen geblieben war. Er ließ sich also nicht so mir nichts dir nichts abwimmeln. Seine Jeans waren abgewetzt und die Fingernägel mit Sicherheit nicht von den untauglichen Versuchen so schwarz geworden, die Tür zu öffnen. Aber er roch nicht so unangenehm wie am Vortag, und seine Augen gehorchten ihm jetzt besser. Er blickte heute dorthin, wohin er gerade blicken wollte.

»Haben Sie den Schlüssel drinnen liegen?«

»Ich denke.«

»Dann müsste es mit einer Chipkarte gehen.«

Das hatte sie von Paul gelernt, aber das war Jahre her. Ob es heute auch noch funktionierte, konnte sie nicht sagen. Das kurze Leuchten im Blick des Mannes verriet, dass es noch gehen musste, sie war sich nur nicht gewiss, warum er es noch nicht probiert hatte.

»Kommen Sie doch kurz herein. Es muss ja nicht jeder mithören. « Erst als sie die Tür von innen hinter dem Mann geschlossen hatte, beendete sie ihren Satz, der nichts als nur ehrlich gemeint war. »Man weiß nie … Es gibt zu viele Gauner auf dieser Welt.«

Der Mann quittierte ihre Sorge mit einem heftigen Zucken der Wange, wobei seine kleinen, aber wachen Augen blitzschnell den Flur nach etwas absuchten und ganz nebenbei auch durch die offene Küchentür spähten.

Das Glucksen im Kaffeeautomaten hatte aufgehört, aber die Wohnung roch verräterisch. Das schien dem Mann zu gefallen, und Lola gefiel, dass es ihm gefiel.

»Ich bin noch nicht vollständig«, sagte sie und wies mit der Hand geradeaus, wo es ins Wohnzimmer ging. Sie hatte kein einziges Möbelstück mitgenommen, das in irgendeiner Weise mit Paul in Berührung gekommen war. Aber die neuen Möbel waren primitiv, und einige sogar äußerst schwierig zu montieren. Der Mann interessierte sich sofort für den Stapel loser Bretter, die an der Wand standen und irgendeinmal zu einem Schrankteil werden sollten.

»Das Scheiß-Zeug kenne ich«, sagte er ganz ungeniert mit einem bösen Lächeln im Gesicht. Sowohl die Wortwahl als auch die Ungeniertheit gefielen Lola nicht. Anstelle einer scharfen Antwort kam aber nichts als weiches Selbstmitleid über ihre Lippen.

»Ich traue mich nicht ran. Bisher hatte ich immer jemanden, der mir das abgenommen hat.«

Ohne weitere Worte machte sie auf den Hacken kehrt und ging zur Küche, klapperte hörbar mit Geschirr herum, und bald erschien auf dem Tresen, den der Vormieter aus der normierten Durchreiche gezimmert hatte, ein kleines Tablett, auf dem zwei leere Tassen, ein Kännchen Milch und eine Zuckerdose standen und noch eine zweite Dose gefüllt mit Butterkeksen.

»Warum haben Sie das nicht gesagt?« Die Frage kam spät und sehr zögernd.

»Wann und wem? Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Von den anderen Mietern habe ich noch kein Rockzipfelchen gesehen, geschweige denn …«

Es war keine Frage, dass der Kerl den Einlass als Einladung verstand. Jetzt aber stand er vor ihr wie ein Pennäler und seine linke Wange zuckte:

»Ich bin der Bodo. Bodo Fichtner.« Er streckte die Hand aus, zog sie aber sofort wieder zurück. Sie sah es wohl, blieb aber ungerührt.

»Lola. Lola Gardner.«

Weiterer Höflichkeiten bedurfte es nicht, aber vorsichtshalber holte Lola etwas später zwei kleine Gläser aus dem Küchenschrank und die passende Füllung dazu. In den folgende Stunden erfuhr sie mehr über das Leben des Bodo Fichtner, als sie je zu erfahren gewünscht hatte.

»Mein Vater war in der Kohle, Mutter konnte nicht arbeiten. Wir waren sieben Kinder. Ich war der letzte…«

Bodo griff ohne erkennbaren Grund in sein Gesicht. Die Wange zuckte und seine Lippen vibrierten mehr als bisher.

»Die Schule habe ich abgebrochen. Ich war faul, mir lag das nicht, lernen und so. Heute bereue ich das, aber ich bin auch wütend auf meine Eltern, dass sie uns in die Welt gesetzt haben. Mich«, schob er nach. »Meine Geschwister haben eine Lehre gemacht. Ich nicht. Ich habe hier und da ausgeholfen. Bei einem Tischler, beim Bauern in Sielow, ich durfte sogar beim Großhandel Gabelstapler fahren. Ich bin ja nicht dumm. Ich kann lesen und schreiben …«

»Wo hast du gelebt.«

»Hier und da, nichts Festes. Noch länger bei meinen Eltern … hatte ich keinen Bock. Ich habe zu viel Prügel bekommen, wusste manchmal gar nicht warum. Da bin ich lieber los.«

»Also zu Freunden?«

Bodo schwieg

»Hast du überhaupt welche?«

»Wie jetzt? Welche.«

»Hast du Freunde, denen du alles erzählen kannst?«

»Ich habe keinen und ich brauche auch keinen.«

»Wenn du das siebente Kind warst, hast du doch sicher einen unter den Geschwistern. «

»Geschwister sind keine Freunde. Irgendwie vielleicht, aber hier nicht«, er schlug mit der linken Hand auf die Brust und gleich danach an den Kopf, »und hier auch nicht.«

»Wovon hast du gelebt? «

»Was so abfiel. Manchmal habe ich mir was geklaut. Einmal ging `s schief. Da musste ich drei Monate in die Bautzener Straße. Danach hatte ich einen Sozialbetreuer, der mir die Wohnung verschafft hat.«

Er war sichtlich erleichtert, dass es jemanden gab, der sich für sein Leben interessierte. Allerdings bestand das auf Gegenseitigkeit. Es war nichts Außergewöhnliches, was sie ihm erzählte. Eigentlich waren es nur Pendants zu seinem Leben, ähnliche Episoden, die zufällig auch ihr Leben ausgemacht hatten, und das hatte sie für zwei Stunden zu Verbündeten gemacht. Sofern er nicht flunkerte, hatte er nicht vermutet, dass eine Frau wie sie aus so armen Verhältnissen kam, wie auch er.

Einerseits war es schmeichelhaft, andererseits fragte sie sich immer wieder, ob das der richtige Weg war. So viel Aufwand für eine kleine Auskunft? Andererseits war er heute weniger widerlich als beim ersten Mal. Bodo Fichtner bot sich ganz unkompliziert an, ihre Möbel zusammenzuschrauben und die Rollos zu montieren. Und wenn sie noch irgendeinen Wunsch habe, er stehe zu ihrer Verfügung.

Gleich am nächsten Tag sollte sie ihr Weg zur Seniorenresidenz »Am Sandberg« führen. Erst nachts, als ihr des Fusels wegen, den sie mit ihm getrunken hatte, kotzelend war und sie nicht schlafen konnte, holte sie vorsichtshalber noch einmal in ihr Gedächtnis zurück, was sie ihm erzählt hatte.

»Ein Engel war ich nie. Dafür hatte mein ärmliches Leben in einer kinderreichen Arbeiterfamilie gesorgt. Wenn wir Kinder etwas brauchten, schickte man mich – ich war das älteste der Mädchen - auf die Straße, um fremde Leute anzubetteln. Ich bettelte inbrünstig, denn ich hatte immer Sehnsucht nach den schönen Dingen des Lebens. Für mich sind leider nur Brosamen übrig geblieben, das ganze Leben lang. «

»Das kenne ich«, hatte Bodo erwidert. »Manchmal glaubt man, man müsste sich an so einem rächen, der reich ist.«

»Das Betteln hörte erst auf, als mein Vater seinen lange gehegten Entschluss umsetzte und jenseits der Grenze in das soziale Auffangnetz des anderen deutschen Staates wechselte.«

Sie hatte einen Teufel getan zu erwähnen, dass es auch diesseits der Grenze Armut gegeben hat und Unvernunft, die das letzte bisschen Geld versoff.

In der Dunkelheit der Nacht erinnerte Lola sich, wie die Feuchtigkeit in Bodos Augen gestiegen war und wie er immer öfter nach seinem Glas gegriffen und immer öfter nach Worten gesucht hatte, die ihr allerdings sehr gefallen hatten. Er hätte nie gedacht, dass es einer aus dem Westen auch so ergangen sei wie ihm. Zudem sähe sie aus wie eine von der Hautevolee, was aus seinem Munde wie heiße Wolle klang. Und sie sähe aus, als habe sie einen ganz besonderen Blick dafür, wo der Wohlstand stecke.

Vielleicht hatte er sich zuletzt nur ungeschickt ausgedrückt, vielleicht aber waren seine Blicke tatsächlich in der Lage, hinter die Fassade zu sehen. Auf alle Fälle war er voll reiner Bewunderung. Das sollte sie freuen. Aber der Kerl sollte nicht denken, sie sei eine von der Sorte, die nackten Trost suchte. Klar war sie in eine jüngere Haut geschlüpft. Klar war sie noch Frau genug, um mit einem Mann das Bett zu teilen. Aber nicht mit einem Hungerleider wie dem, auch wenn er so dumm nicht war, wie es zuerst den Anschein hatte. Nur das mit dem Wohlstand hatte sie ein wenig erschreckt. Wie kann einer, dessen Namen man nicht einmal kennt, in so kurzer Zeit etwas sehen, was man sich selbst nur widerwillig eingestand. Aber es war nicht falsch, was er sah. Ihr sehnsüchtiger Blick auf den Wohlstand hatte sie das Leben lang begleitet. Wie sonst hätte sie als Kind immer die richtigen Leute anbetteln können? Aber warum sollte eine von ganz unten ihren Neid auf die Menschen, die sinnlos dem Überfluss frönten, ihren Hass auf die Gesellschaft, die so gravierende Unterschiede zuließ, nicht tief in ihr Wesen graben dürfen. Und warum sollte sie nicht die Zeichen der Zeit nutzen, um etwas zurückzuholen, was ihr das Leben gestohlen hatte.

Daran musste sie erst dieser Kerl, dieser Bodo, erinnern.

Die ganze Zeit über, seit sie hier in der fremden Stadt war, hatte sich ihre feste Überzeugung ausgeprägt, niemandem etwas über sich selbst zu erzählen. Nichts war frustrierender, als eigene Pläne gescheitert zu sehen, auch wenn sie noch so bescheiden waren. Ihr neuer Plan war immerhin der erste in ihrem Leben, den sie ganz allein und vor allem zu ihrem eigenen Nutzen geschmiedet hatte. Es ging zwar um hopp oder topp, aber es ging nicht um Leben und Tod. Wenn niemand eine Forderung an sie hatte, konnte sie getrost davon ausgehen, dass ihr künftiger Verdienst sie ruhiger machen würde.

Wenn es einen gab, der sich etwas zu fordern traute, dann war es ihr ältester Sohn. Kay war nicht wie Axel. Kay war ein Hitzkopf wie sein Vater, der sein Leben nicht wirklich in den Griff bekam. Es war zu erwarten, dass er hier auftauchen würde, irgendwann. Die beiden Brüder waren zwar nicht wie Kain und Abel aus der Bibel. Axel war gutmütig und würde Kay nie im Regen stehen lassen. Sie hatte Axel einen Brief geschrieben, dass sie sich eine neue Existenz aufbauen werde, und wenn sie einigermaßen Fuß gefasst habe, werde sie sich melden. Soweit war es weiß Gott noch nicht. Sie konnte Axel nicht sagen, dass er bis dahin Stillschweigen wahren sollte, aber sie kannte ihre Söhne. Wenn es gegen die Eltern ging, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel, daran würde der Tod ihres Vaters nichts geändert haben.

Um Lolas Mund zog ein kleines Kräuseln, über ihre Haut ein unsichtbarer Schauer. Sie riss sich los vom letzten Bild des Mannes, oder von dem, was von dem Mann übrig war, der als Vater ihrer Söhne im Familienstammbuch stand.

Es war noch nicht viel Zeit vergangen, aber der Weg, den sie inzwischen zurückgelegt hatte, schien ein entscheidender, ein endlich zielführender Weg zu sein. Es war der Weg der getretenen Magd hin zur Freiheit. Ihr Leben lang hatte sie für ihren Mann und ihre Söhne da zu sein, ohne eigene Wünsche, ohne eigenes Geld und ohne das Recht, sich etwas davon einzuklagen. Jetzt konnte sie selbst bestimmen was sie tat, wohin sie ging, wem sie vertraute. Und es gab noch vieles, was sie noch gar nicht einschätzen konnte, vieles, worüber sie von jetzt an allein verfügen würde. Dieser Gedanke war zur Erotik ihres Lebens geworden und er war erregender, als alles zuvor in ihrem unerfüllten Leben.

Ein ungleiches Paar

Der Frühling war die Zeit des Aufatmens, aber der Sommer fiel erdrückend aus. Daran trugen nicht die tristen Häuser im jammervollen Stadtteil Schuld, daran trug auch die Nähe von Bodo keine Schuld, der sich angewöhnt hatte, bei ihr ein- und auszugehen und von dem sie sich angewöhnt hatte, alles Lästige erledigen zu lassen, was das Leben bereithielt.

Sie hatte mühelos die Anstellung bei der Seniorenresidenz Am Sandberg bekommen, und die schwere Arbeit bewirkte sogar eine gewisse Zufriedenheit. Aber just in diesem Moment, wo sich ihre ganz spezielle Anstrengung auf angenehme Art auszuzahlen begann, starb der Mann, der Benno Plura hieß und dessen Name in ihren Ohren einen literarischen Klang hatte - ein bisschen zumindest. Sie war ja nicht dumm, sie hatte nur nicht die besten Zensuren bekommen, weil sie nie das richtige Schulzeug besaß.

Vom Literaten Benno Pludra hatte sie nie etwas gelesen, weil nie Geld für Bücher übrig war. Aber diesen alten Benno Plura im Heim, den hat sie bemuttert, wie sie ihre Söhne nicht bemuttert hatte. Zum Dank dafür bekam sie oft einen guten Schein zugesteckt.

Für eine Weile musste sie sich merkwürdiger Fragen seiner Familie erwehren. Als ob es in dieser Zeit außergewöhnlich wäre, für Extra-Zuwendung extra belohnt zu werden. Als ob es hiesige Menschen nicht gewöhnt wären, den Ausgleich des Mangels besonders zu vergelten. Der Mangel hieß jetzt Zuwendung, gerade in Einrichtungen dieser Art.

Für eine längere Zeit hatte sie darüber nachgedacht, ob es nicht einen besseren Job geben könnte. Sie hatte sich die Arbeit leichter vorgestellt; angenehmer. Alte Männer sind kein Segen für eine attraktive Frau. Umgekehrt funktionierte die Konstellation Jung zu Alt als Segen, aber leider sah Benno nicht nur in ihren helfenden Händen einen Segen. Ein kleines Schütteln erfasst sie. Der Gedanke an seine Hände – von braunen Altersflecken übersät, mit gelben brüchigen Fingernägeln gekrönt – versetzte sie in den Zustand völliger Appetitlosigkeit. Selbst wenn er nur ihre Hände gestreichelt hätten, wäre dafür auf Dauer Überwindung vonnöten gewesen. Je öfter er in seine Geldbörse griff, desto sicherer wurde sein Griff nach anderen Körperteilen. So gesehen war sie vom Regen in die Traufe gespült worden, von Paul zu Benno, nur, dass der Benno wesentlich mehr übrig hatte als Paul, und dass er sich - laut Totenschein - nicht tot gesoffen hat.

Sie hatte für einen schwachen Moment daran gedacht, sich in die Frauenabteilung versetzen zu lassen, aber dann war sie bei ihrem Vorsatz geblieben, und vermutlich war das der einzige Weg, der ihr blieb. Schuldgefühle hatte sie nicht. Sie war ihm zwar zuletzt in einer unkontrollierbaren Sekunde an die Gurgel gegangen, aber davon hatte Benno keinen Schaden genommen. Was ihm geschehen war, war nicht ihre Schuld. Wenn es etwas gab, das sie sich vorwarf, dann den Abend danach, als sie Bodo davon erzählte, weil sie ohne Benno wieder mehr auf ihr Geld achten musste. Aus Frust haben sie sich zusammen so sehr betrunken - er an weißem Fusel, sie an Kräuterlikör - dass sie nicht mehr wusste, wie sie ins Bett gekommen war und warum Bodo in ihrem Wohnzimmer auf der Couch geschlafen und am Morgen pfeifend das Frühstück für sie zubereitet hatte.

Sie wollte ihn nicht danach fragen. Jede Gewissheit verpflichtet. Also sparte sie diesen Abend aus ihrer Erinnerung aus und ließ alles beim Alten. Bodo gab sich seitdem sehr vertraulich und mühte sich beflissen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Vielleicht weil er etwas völlig falsch einschätzte. Vielleicht weil er glaubte, noch mehr von ihr zu profitieren.

An das Zuweisen der Aufgaben für Bodo hatte Lola sich schnell gewöhnt. Sehr schnell.

Der Sommer war Vergangenheit und die Normalität war zurückgekehrt in Lolas und Bodos Leben. In ihrem Herzen aber blieb Lola zerrissen – bisweilen sanft und gütig, dann auch mal hartherzig und ungerecht, besonders zu Bodo.

Sie brauchte Bodo, und sie war sicher, in ihm einen passablen Helfer zu haben. Ohne ihn gäbe es nicht halb so viele Bequemlichkeiten in ihrem stressigen Dasein. Aber er hatte auch seine dunklen Seiten – wer hatte die nicht.