Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik - Max Weber - E-Book

Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik E-Book

Max Weber

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Beschreibung

In dieser wenig bekannten Studie setzt sich Max Weber mit Musiksoziologie und Musikgeschichte auseinander. Sein überaschendes Resümee ist, dass die in unserer Kultur etablierte mathematische Teilung der Oktave keineswegs die Spitze einer kulturellen Evolution darstellt, sondern vielmehr das Ergebnis einer Rationalisierung im Zuge einer Markt- und Massenwirkung der Musik ist, die mit dem als 'bürgerlichen Möbel' etablierten Klavier einhergeht.

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Impressum

Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2012 ISBN: 978-3-934616-60-8 www.heptagon.de

Der Text ist ursprünglich erschienen auf der CD-ROM: »Max Weber: Das Werk, herausgegeben von Thomas Müller. Berlin 2000.« Die zu Grunde liegende Textausgabe ist erschienen als: »Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. München 1921.« Stellen, die im Original in Anführungszeichen stehen, sind in dieser E-Book-Ausgabe kursiv gesetzt. Die Fußnoten Webers wurden übernommen.

1.

Alle harmonisch rationalisierte Musik geht von der Oktave (Schwingungszahlverhältnis 1:2) aus und teilt diese in die beiden Intervalle der Quint (2:3) und Quart (3:4), also durch zwei Brüche von dem Schema n/(n+1): sog. überteilige Brüche, welche auch allen unseren musikalischen Intervallen unterhalb der Quint zugrunde liegen. Wenn man nun aber von einem Anfangston aus in Zirkeln auf- oder absteigt, zuerst in Oktaven, dann in Quinten, Quarten oder irgendwelchen anderen überteilig bestimmten Relationen, so können Potenzen dieser Brüche niemals auf einen und denselben Ton zusammentreffen, soweit man die Prozedur auch fortsetzen möge. Die zwölfte reine Quint gleich (2/3)12 z.B. ist um das pythagoreische Komma größer als die siebte Oktave gleich (1/2)7. Diese unabänderliche Sachlage und der fernere Umstand, daß die Oktave durch überteilige Brüche nur in zwei ungleich große Intervalle zerlegbar ist, sind die Grundtatsachen aller Musikrationalisierung. Wir erinnern uns zunächst, wie sich die moderne Musik, von ihnen aus gesehen, ausnimmt.

Die auf diesem Tonmaterial aufgebaute akkordharmonische Musik hält nun in ihrer voll rationalisierten Gestalt prinzipiell für jedes musikalische Gebilde die Einheit der durch Beziehung auf den Grundton und die drei normalen Hauptdreiklänge hergestellten, leitereigenen Tonfolge fest: Prinzip der Tonalität. Jede Durtonart hat mit einer parallelen Molltonart, deren Grundton eine kleine Terz tiefer liegt, das gleiche leitereigene Tonmaterial. Jeder Dreiklang auf der Oberquint (Dominante) und Unterquint (Unterdominante – Oktave der Quart) ist ferner tonischer, d.h. auf dem Grundton errichteter Dreiklang je einer nächstverwandten Tonart gleichen (Dur- oder Moll-) Geschlechts, welche mit der Ausgangstonart das gleiche Tonmaterial bis auf je einen Ton teilt. Und entsprechend entwickeln sich die Verwandtschaften der Tonarten in Quintenzirkeln weiter. – Durch Zufügung der dritten leitereigenen Terz zu einem Dreiklang entstehen die dissonierenden Septimenakkorde und speziell auf der Dominante der Tonart, also mit deren großer Septime als Terz, der Dominantseptimen-Akkord, welcher, da er nur in dieser Tonart, in dieser Zusammensetzung als Terzenfolge aus leitereigenen Tonmaterial vorkommt, sie eindeutig charakterisiert. Jeder aus Terzen aufgebaute Akkord verträgt die Umkehrung (die Versetzung eines oder mehrerer seiner Töne in eine andere Oktave) und ergibt dadurch einen neuen Akkord gleicher Tonzahl und unveränderten harmonischen Sinnes. Die reguläre Modulation in eine andere Tonart erfolgt von den Dominantakkorden aus; eindeutig eingeführt wird die neue Tonart durch den Dominantseptimen-Akkord oder ein eindeutiges Fragment von ihm. Einen regulären Abschluß eines Tongebildes oder eines seiner Abschnitte kennt die strenge Akkordharmonik nur durch eine die Tonart eindeutig kennzeichnende Akkordfolge (Kadenz), also normalerweise eines Dominantakkords und des tonischen Dreiklangs, bzw. ihrer Umkehrungen oder mindestens eindeutiger Fragmente beider. Die in harmonischen Dreiklängen oder deren Umkehrungen enthaltenen Intervalle sind (je nachdem vollkommene oder unvollkommene) Konsonanzen. Alle anderen Intervalle sind Dissonanzen. Das grundlegende dynamische, den Fortschritt von Akkord zu Akkord musikalisch motivierende Element der Akkordmusik ist die Dissonanz. Um die in ihr liegende Spannung zu lösen, fordert sie ihre Auflösung in einen neuen, die harmonische Basis in konsonanter Form darstellenden Akkord, die typischen einfachsten Dissonanzen der reinen Akkordharmonik: die Septimenakkorde, die Auflösung in Dreiklänge.

So weit wenigstens scheint alles in Ordnung, und in diesen (künstlich vereinfachten) Grundelementen wenigstens könnte das akkordharmonische System auf den ersten Blick als eine rational geschlossene Einheit erscheinen. Allein dem ist bekanntlich nicht so. Damit der Dominantseptimen-Akkord eindeutiger Repräsentant seiner Tonart sei, muß seine Terz, also die Septime der Tonart, eine große Septime dieser sein: also muß in den Molltonarten deren kleine Septime, im Widerspruch mit dem dreiklangmäßig geforderten, chromatisch erhöht werden. (Der Dominantseptimen-Akkord von A-moll wäre sonst zugleich Septimenakkord von E-moll.) Dieser Widerspruch ist also nicht nur, wie zuweilen (so auch von Helmholtz) gesagt wird, nur melodisch bedingt – weil nur der Halbtonschritt unterhalb der Oktave des Grundtons jene zur Oktave drängende Unselbständigkeit hat, die ihn als Leitton qualifiziert –, sondern liegt schon in der harmonischen Funktion des Dominantseptimen-Akkords selbst beschlossen, wenn diese auch für das Mollgeschlecht gelten soll. Bei dieser Alteration der kleinen zur großen Septime entsteht leitereigen von der kleinen Terz aus der Quint und zur großen Septime der Molltonart, der dissonante übermäßige Dreiklang, entgegen der harmonischen Terzenkombination aus zwei großen Terzen bestehend. Und den dissonanten verminderten Dreiklang enthält jeder Dominantseptimen-Akkord leitereigen, von der seine Terz bildenden großen Septime der Tonart aus nach oben. Schon diese beiden Arten von Dreiklängen sind, den harmonisch geteilten Quinten gegenüber, eigentlich Revolutionäre. Bei ihrer Legitimierung hat aber, gegenüber den Tatsachen der Musik schon seit J. S. Bach, die Akkordharmonik bei weitem nicht stehenbleiben können. Fügt man in einen, die kleine Septime enthaltenden Septimenakkord zwei große Terzen ein, so bleibt als Rest die dissonierende verminderte Terz, und bildet man aus ihr, einer kleinen und einer großen Terz einen Septimenakkord, so ist wiederum dessen Septime vermindert: es entstehen die alterierten Septimenakkorde und ihre Umkehrungen. Durch Kombination von leitereigenen (normalen) Terzen mit verminderten Terzen ferner entstehen die alterierten Dreiklänge und ihre Umkehrungen. Aus dem Material dieser Akkordkategorien lassen sich dann die vielumstrittenen alterierten Tonleitern konstruieren, denen sie leitereigen und von denen aus gesehen sie also harmonische Dissonanzen sind, deren Auflösungen sich mit den Regeln der (entsprechend erweiterten) Akkordharmonik konstruieren und zur Kadenzbildung verwenden lassen. Sie sind historisch charakteristischerweise in den Molltonarten zuerst aufgetreten und von der Theorie erst allmählich rationalisiert worden. Alle diese alterierten Akkorde führen irgendwie auf die Stellung der Septime im Tonsystem zurück. Die Septime ist auch der Störenfried bei dem Versuch, die einfache Durtonleiter durch eine Serie reiner Dreiklänge zu harmonisieren; es fehlt der verbindende Ton, welchen das Bedürfnis stetiger stufenweiser Fortschreitung fordert, von der Sext- zur Septimenstufe, und zwar nur an dieser Stelle, der einzigen, wo den Stufen das dominantische Verhältnis zueinander: der durch eine der Dominanten vermittelte Nächstverwandtschaftsgrad der für die Harmonisierung zu verwendenden Dreiklänge mangelt.

Jenes Bedürfnis nach Stetigkeit der Fortschreitung, also Verbundenheit der Akkorde untereinander, ist nun seinem Wesen nach kein rein harmonisch zu begründendes mehr, sondern melodischen Charakters. Die Melodik überhaupt aber ist zwar harmonisch bedingt und gebunden, aber, auch in der Akkordmusik, nicht harmonisch deduzierbar. Zwar hat Rameaus Formulierung, daß der Fundamentalbaß, d.h. der harmonische Grundton der jeweiligen Akkorde, sich nur in den Intervallen des Dreiklangs, reinen Quinten und Terzen, fortbewegen dürfe, auch die Melodik der rationalen Akkordharmonik unterworfen. Und es ist bekannt, wie Helmholtz das Prinzip der stellenweisen Fortschreitung zu den (nach der Ober- und Kombinationston-Skala) nächstverwandten Tönen, gerade als Prinzip der reinen monodischen Melodik, theoretisch glänzend durchgeführt hat. Aber er selbst mußte als ferneres Prinzip die Nachbarschaft der Tonhöhe einführen, welches er dann teils entsprechend den Untersuchungen Basevis, teils durch die Beschränkung der nur melodisch erklärbaren Töne auf bloße Durchgangs funktion dem strengen harmonischen System einzufügen suchte. Allein Tonverwandtschaft und Tonnachbarschaft stehen, da der Sekundenschritt, vor allem der besonders intensiv leitende Halbtonschritt, gerade zwei in der physikalischen Verwandtschaft fernstehende Töne miteinander verbindet, in unversöhnlichem Gegensatz gegeneinander, ganz abgesehen von dem allgemeinen Bedenken, daß eben doch die Obertonskala nicht vollständig, sondern unter Überspringung bestimmter Stufen in sehr prononcierter Unvollständigkeit der Harmonik zugrunde liegt. Die Melodien, selbst des strengsten reinen Satzes, sind weder stets nur gebrochene, d.h. in die Tonsukzession projizierte Akkorde, noch stets durch harmonische Obertöne des Fundamentalbasses in ihren Fortschreitungen verkoppelt, und mit bloßen Terzensäulen, harmonischen Dissonanzen und deren Auflösungen allein wäre vollends niemals eine Musik konstruierbar gewesen. Nicht nur aus den Verwicklungen kettenweiser Fortschreitungen, sondern auch aus vorwiegend distanzmäßig, aus der Tonnähe heraus, zu verstehenden melodischen Bedürfnissen erwachsen jene zahlreichen Akkorde, welche nicht auf Terzenaufbau beruhen, daher weder harmonische Repräsentanten einer Tonart, noch – infolgedessen – gleichsinnig umkehrbar sind und also auch nicht ihre Erfüllung durch die Auflösung in einen ganz neuen, aber die Tonart ergänzend charakterisierenden Akkord finden: die sogenannten melodischen oder – vom Standpunkt der Akkordharmonik aus gesprochen – zufälligen Dissonanzen. Die Akkordharmonik behandelt die harmonie- oder auch leiterfremden Töne solcher Akkorde – je nachdem – als Durchgänge, oder als ausgehaltene und wiederholte Töne neben den akkordlich fortschreitenden Stimmen, deren variierende Beziehung zu ihnen dann den spezifischen Charakter des Gebildes prägt, oder als Vorausnahmen oder Nachschläge akkordzugehöriger Töne vor oder hinter den betreffenden Akkorden, endlich und namentlich als Vorhalte: harmonisch akkordfremde Töne in einem Akkord, welche gewissermaßen die eigentlich zugehörigen Töne von ihrer Stelle verdrängt haben, daher nicht wie die legitimen harmonischen Dissonanzen, auch frei auftreten können, sondern stets vorbereitet sein müssen. Sie fordern nicht die spezifisch akkordharmonische Auflösung, sondern diese erfolgt, prinzipiell wenigstens, dadurch, daß die verdrängten Töne und Intervalle sozusagen nachträglich in ihre von Rebellen gekränkten Rechte eingesetzt werden. Eben diese akkordfremden Töne sind nun aber naturgemäß, gerade durch den Kontrast gegen das akkordlich Geforderte, die wirksamsten Mittel der Dynamik des Fortschreitens einerseits, andererseits auch der Bindung und Verflechtung der Akkordfolgen miteinander. Ohne diese durch die Irrationalität der Melodik motivierten Spannungen gäbe es keine moderne Musik, zu deren wichtigsten Ausdrucksmitteln gerade sie zählen. In welcher Art gehört nicht weiter hierher. Denn hier sollte nur an der Hand der allereinfachsten Tatbestände daran erinnert werden, daß die akkordliche Rationalisierung der Musik nicht nur in steter Spannung gegenüber den melodischen Realitäten lebt, welche sie niemals restlos in sich zu schlingen vermag, sondern daß sie auch in sich selbst, zufolge der, distanzmäßig betrachtet, unsymmetrischen Stellung der Septime, Irrationalitäten birgt, welche in der erwähnten unvermeidlichen harmonischen Mehrdeutigkeit der Struktur der Molltonleiter ihren einfachsten Ausdruck finden.

Viele primitiv rationalisierte Tonskalen begnügen sich nun mit der Einfügung nur einer Tondistanz, regelmäßig eines Ganztons, innerhalb der beiden diazeuktischen Quarten: Pentatonik. Es scheint sicher, daß die Pentatonik, welche noch heute das offizielle chinesische System und die Grundlage mindestens einer, wahrscheinlich aber ursprünglich beider javanischen Tonskalen ist, und welche ebenso in Litauen und Schottland, Irland, Wales wie bei den Indianern, Mongolen, Anamiten, Kambodschanern, Japanern, Papuas, Fullahnegern sich findet, in der Vergangenheit der Musik eine bedeutende Rolle gespielt hat, auch bei uns. Manche unzweifelhaft sehr alte Melodien westfälischer Kinderlieder z.B. zeigen sehr deutlich pentatonische, und zwar halbtonfreie (anhemitonische