Die Realität kommt - Rudi Nuss - E-Book

Die Realität kommt E-Book

Rudi Nuss

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Längst sind virtuelle Welten genauso real wie die Lebenswelten virtuell. Conny lebt in einer kleinen ­Küstenstadt, in der sie mit ihren Freunden Nikita und Wolfgang aus angeschwemmtem Müll Drogen destilliert. In der einst marktmächtigsten VR namens Avalon, die längst nicht mehr gewartet wird, lernt sie den großen Vogel Marlo kennen. Zusammen mit ihren Freunden machen sie sich auf, um nach der letzten Kopie der sowjetischen Utopie-VR Arkadi 3 zu suchen, in der das Licht weich und das Leben noch weicher ist – während immer mehr ­Menschen auf der Suche nach der reinen ­Wirklichkeit in den tiefen Pools der »Neuen Immersion« verschwinden.


»Die Realität kommt« ist ein zutiefst gegenwärtiger Roman, der von der Digitalisierung noch jeden Gefühls erzählt, aber auch davon, dass »unter all den Schichten aus Lethargie noch ein Herz schlägt«.

 

»Astralkörper wechseln die Dimension, Avatare verlieben sich, melancholische Mischwesen befragen das Universum. Wenn es das Gegenteil von Doomscrolling gibt, ist es dieser Roman.« Joshua Groß

 

»Die Realität kommt ist eine literarische Überschuss­maschine. Das Hirn kommt den Augen beim Lesen kaum hinterher. Rudi Nuss leitet den glitch turn der deutschsprachigen Literatur ein.« Juan S. Guse

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 287

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Die Realität kommt

Rudi Nuss

Die Realität kommt

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

DIAPHANES

Die Arbeit an diesem Roman wurde mit

einem Literaturstipendium des Berliner Senats gefördert.

 

 

 

 

 

1. Auflage 2022

© DIAPHANES, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

 

Satz und Layout: 2edit, Zürich

Druck: Steinmeier, Deiningen

 

ISBN 978-3-0358-0508-6

www.diaphanes.net

für N

Inhalt

I

1 Partikel

2 Schwund

3 Ultra

 

II

1 Ich falte die Wäsche

2 Im Licht

3 Langsam hebt sich die Decke

4 Bambina scheint durch die Fenster

5 Manche Räume sind realer als andere

6 Durch die Wälder von Whittier

7 Ich sehe das Reh noch kurz

8 Alias

I

Du stehst schon immer in ihr. In der Landschaft. Dort wachsen Flechten und Kupferdraht, da heulen Hunde aus Kunstharz, gammelt ein Terabyte im Waldboden. Die Landschaft endet nicht an deinen Displays; sie ragt in dich und du in sie. Was auch immer du da tust, stell dich der Fläche. Stell dich der Geschwindigkeit, mit der die Welt zerfällt.

1 Partikel

Als die Programmierer verschwanden, blieben die untergehenden Sonnen aller Inseln am Horizont hängen. Das Interface lag weit verteilt in der Landschaft, durch Schlehdornsträucher glitchten ab und an Daten längst vergangener Userx, Messages und Posts von wirren Sexts voller Typos über rassistische Shitposts und in Gewässern gelöstem Discourse bis hin zu irrelevanten, vergessenen Cartoonserien, Amateurporn zarter Otter und flauschiger Dykes; alles in steter Mutation, kleine Wesen aus Daten, lebendige Polygone, neue Tiere. Einzelne Artefakte zeugten noch von der einstigen Anwesenheit der ehemaligen Userin @soft_caribou, Fragmente einer Kurzbio zwischen Metallfragmenten im Sand, the gayest of the gay, living in they/themlandia, gelikte Fotosets mit kleinen, sovietcozy Plattenbauten in Sibirien und Bilder halbnackter Cartooncharaktere in obszönen Posen. Ich verbrachte Stunden, Tage damit durch ihre Likes zu wischen, auf einem Interface gut versteckt zwischen Gräsern und Farnen. Ich wollte mit eigenen Augen denselben Content sehen, den auch ihre Augen erblickt hatten. Ihr letzter Like war nur einige Wochen alt: die Zeichnung einer hellblauen, geängstigt und verirrt umherblickenden Fledermaus, kopfüber hängend von den Brennstäben eines sowjetischen Nuklearreaktors. So lange konnte sie nicht weg sein, dachte ich und wischte weiter dem tiefen Ende der Timeline entgegen.

 

Ein computergenerierter Lavendelduft, der genauso roch wie chemisch erzeugter Lavendelduft, legte sich hier über alle Dinge. Ich lag schon seit Tagen auf der Insel wie ein aufweichender Keks. Ich aß ungekochte Instantnudeln, reichlich mit Gewürzpulver be­­streut, direkt aus der Verpackung, cyberstalkte die ehemalige Userin und schaute mir auf Grund eines Codefehlers, den schlechtbezahlte, müde Programmierer nicht willens waren zu korrigieren, unbegrenzt Serien und Filme auf der Oberfläche einer schlecht gerenderten Trauerweide an. Ich wünschte mir, wie ich da so lag, ein Plastikpolymer im Ozean zu sein, mich langsam an mir selbst zu zerreiben, irgendwann erst im Grundwasser und dann in den Nieren wahlloser Personen abzusetzen, bis diese an Niereninsuffizienz starben und ich mich langsam wieder aus ihren sich zersetzenden Körpern löste, um dann ins Grundwasser und weitere Nieren zu sickern, einfach ein grundlos unproduktives, ein wenig hilfreiches Ding in der Welt zu sein.

 

Die Pixelruine auf der Insel der ehemaligen Userin war vermüllt worden von verschiedenen Kollektiven, die durch verlassene Inseln der stetig untergehenden Sonnen wanderten und wilde Partys feierten, wie die Grinder, die ihre Körper durch das Einverleiben von Code transformierten, mit der Projektion von Tieren verschmolzen, zu Wolfsmenschen und Hirschziegenantilopen wurden (die weder mit Hirschen noch mit Ziegen große Gemeinsamkeiten hatten). Sie wateten durch den Schlamm verwilderter Inseln und erjagten Zobel, kauten Gras zu Brei. Nie konnte man sich wirklich sicher sein, ob da in den Augen eines Rehs der hilflose Blick einer verlorenen, verwandelten Userx steckte. Manche Grinder wandelten sich zu Maschinen, zu rollenden Metallfragmenten, bewaffneten Kampfdrohnen, korrodierten Kränen, mechanischen Ziegen aus Küchengeräten. Einmal sah ich eine Steinformation, von deren Lebendigkeit ich fest überzeugt war. Dort draußen, auf den Abermillionen Inseln, existierten unbekannte Gemeinschaften, die sich, in virtuellen Coworking Spaces eingenistet, an brennenden Akten erwärmten, an mit Fettreif ummantelten Schokoriegeln knabberten und in aus Moos drapierten Betten schlummerten. Tief in den Wäldern mancher Inseln lebten verlorene Kollektive, die rein niemand verstand. Sie zogen umher, injizierten sich Erinnerungen aus dem Leben vergangener Userx, ihrer Freunde, ihrer Familien, ihrer Likes, aßen Pilze und Flechten und sprachen kein einziges Wort.

 

Beim Aufstehen wurde mir schwindelig. Ich war mir nicht mehr sicher, wie lange ich schon dagelegen hatte, oder warum. Ich klopfte vertrocknete Nudelpartikel von meinen Schenkeln und machte mich am Gewässer frisch. Ich musste aufpassen. Zu leicht konnte man sich auf den Inseln vergessen. Seitdem Avalon nicht mehr gewartet wurde, seitdem das Interface, die Grenze zwischen Userx und VR durchlässig geworden war, konnte ein jeder plötzlich in den Schichten aus Code verschwinden. Man musste achtgeben. Man musste sich konzentrieren, ab und an waschen, das Gesicht unter kaltes Wasser halten und fühlen, dass unter den Schichten aus Lethargie noch ein Herz schlug.

 

 

 

 

 

Auf der anderen Seite spülten Wellen Elektroschrott, Bildschirme, Kühlschränke, Scanner, Neonröhren, Handys, CPUs, Kabel, Platinen, Reste von Beryllium, Cadmium und Blei an die Küste der kleinen Stadt Enden. Baden war hier auf Grund der vielen scharfen Metallfragmente im Wasser und Sand nicht möglich, ohne sich die Haut aufzuschlitzen, und weiter meereinwärts leuchteten nachts einige Stellen in einem wunderschönen Farbspektakel auf; so wurde es niemals wirklich dunkel, immer gab es etwas zu sehen.

 

Ich ging die Küste entlang. Ich versuchte, nicht mehr so oft auf den Inseln zu sein, viel echte Luft zu atmen, an mir zu arbeiten, mich nicht zu ergeben. Trotzdem schien ein Teil meines Gehirns unwiederbringlich in Avalon festzuhängen, immerzu sah ich halbwitzige Posts zu halbgarem Discourse in meinen Augenwinkeln, in meinen Träumen. Meine Beine waren schwach und zitterten leicht. Ein intensives Ultramarin legte sich über alle Dinge, eine Begleiterscheinung nach längerem Aufenthalt auf den Inseln. Einige Stunden später würde das Blau abklingen, bis dahin würde mir aber die Realität unwirklich und kalt erscheinen, als hätte sich der Bluescreen einer kritischen Systemmeldung zwischen mich und die Welt gelegt. Ich sammelte den angespülten Schrott am Strand für Nikita ein. Ich fand eine Tastatur im Sand, eine alte Handheldkonsole und einen Vibrator. Das ganze Zeug kam aus dem Meer, auf dessen Grund sich große subaquatische Müllberge gebildet hatten, die schon intelligentes Verhalten aufwiesen. In Form von längst ausgestorbenen Trilobiten knabberten sie an Unterseekabeln und verleibten sich das ganze Lichtfasernetz ein, so hatte es Nikita mir erzählt. Sie fingen an zu leuchten wie Engel und eines Tages würden sie aus dem Meer emporsteigen, die übriggebliebenen Menschen verschlingen und in petrolfarbenen Säften verdauen.

 

Die Stadt wurde immer leerer. Ich sah vereinzelte Menschen, sogar ein Pärchen am Strand spazieren, und am Horizont einen Supercarrier, von dem eine CAMP F/A 9 Drohne einen Testflug startete. Ferne Detonationsgeräusche bildeten ein konstantes Hintergrunddröhnen.

 

Nikita war besorgt, als ich wieder heimkam, aber auch sehr, sehr high von dem Destillat, das er aus geschmolzenen Computerplatinen und sonstigem Elektroschrott gewann, den ich am Strand fand, und an dem er und Wolfgang manchmal für Stunden schnüffelten, um sich zu beruhigen. Nikita freute sich über den Vibrator, den ich am Strand gefunden hatte. Wolfgang auch. Seit zwei Jahren schon wohnte ich bei den beiden in dem Container auf dem Schrottplatz nahe dem Strand, nahe der Stadt. Nachdem ich von Zuhause ausgebüxt war, eine Zeit lang unbemerkt in einem sehr großen Pappkarton in der Lagerhalle eines Onlineversandhandels gelebt hatte, bis man mich dabei erwischte, wie ich Sextoys klaute, benutzte und wieder heimlich in die Kisten packte, lief ich einsam an der Küste entlang, für Tage, mit nichts Weiterem als ein paar DVDs, die ich aus der Lagerhalle hatte mitgehen lassen. Als Wolfgang mich fand, zwischen ausrangierten Flachbildschirmen auf dem Schrottplatz, da schwafelte ich nur, ich würde fallen, so fühle es sich gerade an, ich falle in den Himmel, oh je. Wolfgang nahm mich mit in den Container und kochte mir mehrere Liter Kamillentee. Er entdeckte die DVDs in meinem Rucksack und freute sich unheimlich über die gesamte Horrorfilmreihe Schrecken in der Erdkruste, in der es um intelligente Lava geht, die erst intelligente Magma war, und als Lava langsam über die Erde kriecht und mordet (das ganze Innere der Erde hat, wie man im fünften Teil erfährt, ein Bewusstsein und versucht alles Leben auf der Oberfläche auszumerzen), und zusammen mit Nikita schauten wir in den darauffolgenden Tagen alle Filme. Ich würde noch lange an die wohlige Wärme des Kamillentees denken, das warme Gelb, kurz Zentrum all meiner Sinne.

 

Am Rande der Stadt, am Rande des Waldes, am Rande des Landes türmten sich die Schrottberge zwischen Sanddünen, Süßgräsern und rostigen Antennen. Und irgendwo zwischen den Bergen und Dünen, gut versteckt vor den Blicken der Welt, stand der Container. Und im Container gab es drei Räume: ein etwas muffiges Wohnzimmer, ein Drogenlabor und ein Schlafzimmer. Das Klo war draußen neben der Schrottpresse. Das kleine Schlafzimmer der beiden wirkte noch kleiner, als es war, da jede Ecke vollgestopft war mit Kuscheltieren. Nikita hatte irgendwann eine Obsession für die Wesen aus Plüsch entwickelt. Als Kind verbrachte er viel Zeit mit seinem Plüschhasen Zájka. Wann immer er sich einsam fühlte, sprach er mit diesem tierischen Wesen und es antwortete ihm in einer unendlichen verzeihenden Stimme, die keiner Worte bedurfte. Nikita wäre schon immer gerne selbst ein Kuscheltier gewesen, ein unschuldiges, hilfloses Geschöpf, voll von Watte und Polyester, zusammengehalten von liebevollen Nähten, und wann immer Wolfgang und er sich liebten, ließ Wolfgang Nikita ein Plüschtier sein, stopfte ihm Watte unters Shirt und in das Höschen. Ab und an kuschelte ich mich zu den beiden ins Bett, was sie nicht zu stören schien. Als wäre ich ihr Kind, das sich davor fürchtete, allein zu schlafen. Draußen pfiff der Wind durch die Müllberge und manchmal versank nachts ein Reh bei der Nahrungssuche im Schrott, schrie einen kurzen Rehschrei und wurde von einer rostigen Gardinenstange aufgespießt.

 

Wolfgang saß, wenn er nicht malte oder sich Horrorfilme ansah, auf dem Dach des Containers in einem Gartenstuhl. Ich setzte mich gerne zu ihm und wir schauten auf die am Himmel aufscheinenden Werbeblöcke für billige Softdrinks und Pralinen aus Mohn. Wir sahen uns manchmal für Stunden die Ads aus Licht an, ohne miteinander zu sprechen. Wolfgang war schon seit Jahren so erschöpft, dass er kaum noch den Container verlassen konnte. Lange Zeit war kein Arzt imstande gewesen, ihm zu erklären, warum er ganz plötzlich ohne ersichtlichen Grund selbst bei kleinsten Tätigkeiten eine immense Erschöpfung empfand, als wäre alle Energie aus seinem Körper gewichen. Und so recht glaubte es ihm auch keiner, erzählte er mir. Nikita kümmerte sich um Wolfgang, so gut er konnte, arbeitete in dem Supermarkt nahe der Mall, vertickte Platinensaft in der Stadt und schaute in seiner Freizeit zusammen mit Wolfgang Horrorfilme und lustige Homevideos im Internet an. Wolfgang malte, um der Sinnlosigkeit seines nahezu bettlägerigen Alltags zu entkommen, mit Acryl tiefschwarze Löcher in weite Landschaften hinein.

Wie sich nach einigen Untersuchungen des Blutbildes herausstellte, lebte eine bis dahin nicht entdeckte, winzig kleine Quallenart im Blutkreislauf Wolfgangs, die sich im Blutstrom treiben ließ und gelegentlich an Blutkörperchen knabberte. Der Widerstand der Quallenschirme führte zu niedrigem Blutdruck und damit ­einhergehender Erschöpfung. Der Arzt, der Wolfgangs Blutbild untersucht und die kleinen Quallen als erster Mensch entdeckt hatte, verstand die Welt nicht mehr und stürzte sich von einer nicht allzu hohen Klippe, wodurch er sich lediglich ein Bein brach. Die vampirösen Quallen waren unmöglich aus dem Blut zu filtern, da sie eine parasitäre Symbiose mit dem Körper des Wirtes eingingen. Der Wirt, Wolfgang, gewöhnte sich so sehr an die Erschöpfung und die allgemeine Passivität, dass ein aktives Leben für ihn den Tod bedeutet hätte. Die Quallen befriedigten einen uralten Atavismus in einem irrsinnig gut versteckten Gen-Segment aus einer Zeit, als der Mensch noch kein Mensch war, sondern ein mehrzelliger Glibber im Urmeer, der noch keinerlei Konzept von Zeit, Stress oder Ehrgefühl entwickeln konnte. Wolfgangs Bilder hingen überall im Container, klaffende Löcher in Landschaften. Manchmal betrachtete ich das Schwarz der Abgründe und fühlte mich geborgen.

 

Dass ich nicht einfach so lange verschwinden könne auf die Inseln, sagte Nikita. Wie besorgt er um mich gewesen sei, erzählte er mir, während er den Vibrator, den ich am Strand gefunden hatte, in eine Kiste zu den anderen Vibratoren packte. Den Elektroschrott hatte Nikita feinsäuberlich im Labor sortiert. Jeder Schrott hatte seine eigene Kiste, die Kabel, die Lampen, die Mobiltelefone, die Headsets, die Uhren, die Toaster, LEDs, Kaffeemaschinen, Unidentifizier­bares. Es roch nach Plastik und altem Auto, ein angenehmer Kon­trast zum allzu organischen Mief im Wohnzimmer.

»Bei all dem Shit gerade, da kannst du doch nicht einfach so verschwinden«, sagte Nikita und wühlte sich durch die Vibratorkiste. Ich schaute zu einem Lochgemälde an der Wand des Labors. Es war eine flache Schneelandschaft, in der ein tiefschwarzes Loch klaffte, aus dem kleine Punkte emporstiegen, ich glaubte, Vögel. Wolfgang musste es wohl in den letzten Tagen gemalt haben, als ich auf der Insel der ehemaligen Userin Serien auf schlecht ­gerenderten ­Trauerweiden geschaut hatte über schöne, reiche Menschen in Häusern, die mehrere Badezimmer hatten und angewärmtes Toilettenpapier.

»Wusstest du«, sagte ich beim Betrachten des Gemäldes, »dass wirkliches Schwarz nur im Kontrast zu hellen Flächen entstehen kann. Deswegen sehen wir nachts bei totaler Dunkelheit, im Bett liegend, wenn unsere Augen nichts unterscheiden können, auch nur dieses blaugraue Schwarz. Ein waberndes Blau, in dem die Monster leben.«

»Conny«, sagte Nikita ernst, »ich konnte neulich in eines der Becken sehen. Die Becken, Conny. Der Horror! Gilligan hatte mich da reingelassen, in einen dieser Stores.«

 

Die Becken. Ich hatte sie schon einmal als Kopien nachgebaut in Avalon gesehen. Sie waren hier auf der anderen Seite plötzlich aufgetaucht, quadratische Becken im Boden, etwa so groß, dass eine Person darin Platz fand, aber hunderte Meter tief in die Erde reichend, angefüllt bis oben hin mit einer klaren Flüssigkeit, die Nikita immer bloß magische Pisse nannte. Die neue Immersion hießen die Anhänger der Pools, in denen immer mehr Menschen verschwanden. Auch die Menschen von Enden gingen in die Filialen, in denen Priester in verchromten Ganzkörperanzügen und Roben ihnen irgendwas von einer neuen, schimmernden Einheit ihres Selbst erzählten, bevor sie die Userx zu den Becken führten, in die sich diese dann fallen ließen, langsam in die Tiefe sanken und nie wieder auftauchten.

 

»Ich konnte in die Tiefe schauen«, sagte Nikita, während er Schaltkreise aus Vibratoren pulte wie Erbsen aus ihren Schoten. »Und während Gilligan mir zeigte, wie eine Packung Lakritzschnecken in der magischen Pisse versank – die Flüssigkeit erzeugt nämlich keinen Auftrieb, sie ist ein einziger Sog –, während also diese Lakritzschnecken langsam hinuntersanken, war ich nur erstarrt vor Angst. Ich kam in Erwartung, zumindest einen Hauch der Heiligkeit zu erblicken, die diese Immersionsfuzzis in den Pools sehen, aber ich sah lediglich das Ende. Da hört die Realität auf. Das sind keine Portale in eine neue Welt. Das sind Löcher.«

»Diese Tiefe verfolgt mich in meinen Träumen«, sagte ich. »Ich träume viel von einem Gewitter. Da sind furchtbar dunkle Wolken, fast schwarz, sie türmen sich auf wie ein Gebirgsmassiv am Horizont. Und du, Nikita, und ich stehen auf einem Parkplatz und schauen nach oben in die Wolken, die nicht flach wie gewöhnliche Wolken wirken durch die perspektivische Verzerrung, sondern tief, richtig tief, wie die Pools. Es fängt nicht an zu stürmen, aber ich weiß, irgendwas verheerend Schlimmes wird passieren. Ich bin so angsterfüllt und auch du bist so angsterfüllt. Ich gerate in noch größere Panik, als ich sehe, wie ängstlich du mich anschaust. Und dann verstehe ich. Es sind nicht die Wolken und was sich in ihnen aufbauscht. Da ist ein Mann auf dem Parkplatz. Wir sehen ihn nicht, aber er ist da und er weiß ganz genau, wo wir sind. Er sitzt in einem Auto und sobald ich mich zu ihm hinwende, ist er plötzlich hinter mir und fasst mir an die Schulter und ich finde mich auf dem dunklen Grund der Pools wieder, ich sehe über mir ein perfektes Quadrat Licht, ungebrochen von der stillen Wasseroberfläche. Ich versuche den Atem anzuhalten und fange doch krampfhaft an, die magische Pisse einzuatmen, die meine Lungen füllt. Aber ich kann das Zeug nicht atmen, sondern ertrinke erbärmlich und denke in meinen letzten Sekunden nicht an dich oder Wolfgang oder die ehemalige Userin, sondern sehe vor meinem Auge eine Ad für CBD-infused Klopapier, die ich nicht überspringen kann, und ich sterbe.«

»Die ehemalige Userin?«

»Vergiss es.«

»Die Pools sind ein Akt des Glaubens«, rief Wolfgang in Unterhosen auf der Couch liegend vom Wohnzimmer aus. »Und ich glaube nicht an Erlösung, der Scheiß geht immer weiter, da gibt’s kein Ende. Da können die Immersionswixer noch so schimmern.«

Ich schaute aus dem verschmierten Fenster des Labors. Durch eine Schneise in den Schrottbergen und den Dünen sah ich den Strand, das ruhige Meer. Die Stadt wurde immer leerer. Eigentlich die Welt selbst. POOL war das neue Medium, völlig ohne Sprache, ohne Bilder spielte sich die Kommunikation dort in der Welt der Geräusche ab. Knistern, Hall, Brüche. All das, was in der Sprache nicht zur Sprache kam, die rauen Kurven eines Keuchens und die Sanftheit eines Seufzers. POOL ermöglichte eine neue Verständigung, ohne Missverständnisse, ohne rhetorische Tricks, ohne die gravitative Kraft der Bilder, welche die Realität aufzulösen drohte, wie es der POOL-Gründer und Medientheoretiker Miguel García Expósito immer wiederholte. All die vorherigen VR – Avalon, ­Arkadi, HYPHm, Land XVIII, Terra Nova, Nomad, Life Peak – waren nur ein halbgarer Ersatz für die Realität.

 

IS THIS REAL? stand in großen Lettern auf einer transparenten Plakatwand vor der örtlichen Mall. Sie gab den Blick frei auf die dahinterliegende Landschaft, den Parkplatz, die Mall, einsame Einkaufswagen, Menschen. Wie auch Nikita und Wolfgang hatte ich Angst vor den Pools, vor der Ungewissheit ihrer Tiefe. Auch wenn wir alle schon mit dem Gedanken gespielt hatten, in ihnen zu versinken.

 

Die Immersionswixer erinnerten Nikita an die Geschichten seiner Eltern über eine gewaltsame ultratechnophobe Bewegung namens Null, die die gesamte Landschaft Südkasachstans in ultramarinfarbenen Stoff gehüllt hatte, um eine ganz neue, einfache Realität zu schaffen. »Keine Ahnung«, sagte Nikita beim ­Schaltkreisepulen, »woher die all den Stoff hatten. Aber alles erstrahlte in diesem Blau.« Im Dezember 1986, als Regierungstruppen die studentischen Demonstrationen niederschlugen, hatte die Null Die ultimative Realität ausgerufen, erzählte Nikita, während er die Schaltkreise der Vibratoren in einen modifizierten Reiskocher gab. Für sie machte die Erweiterung der Realität keinen Sinn. All die VRs, die propagierte Realität des staatstragenden Arkadis oder die bunte Konsumwelt Avalons waren ihnen zuwider. Es war ihnen zu viel. Die Null sprengte Serverfarmen in der ersten Realität, sorgte so für Systemcrashs, Verlust tausender Userxdaten, und wickelte Berge und Wälder in ihren geliebten ultramarinen Stoff, der immersivsten aller Farben. Schaute man nur lange genug auf die Farbflächen, da waren sich die Anhänger der Null sicher, erreichte man eine ­Seelenstasis, die absolute Ruhe, ohne Ablenkung, ohne das störende Wimmern des Seins. Wenn erstmal alles in das Blau gewickelt wäre, dann würden die Dinge so sein, wie sie sind. Niemand war mehr sicher in den drei Realitäten, nicht in der ersten Realität, nicht in Avalon oder Arkadi. Die Null besetzte strategisch wichtige Punkte im Süden Kasachstans, wie den Weltraumhafen Baikonur – mit dem sie erhofften, den Weltraum als Einflussraum zu erobern.

 

Während Nikita weiter erzählte, lief aus einem kleinen Hahn an der Seite des modifizierten Reiskochers ein petrolfarbener Saft in ein Schälchen. Der Platinensaft, fertig zum Schnüffeln, Trinken oder als Sirup auf Pfannkuchen.

 

Nikitas Eltern selbst waren kurz nach dem Zerfall der UdSSR vor dem Aufstand der Null aus der Kasachischen SSR hierher, an die Küste nach Enden geflohen, in eine winzig kleine Ein-Zimmer-Wohnung, wo sie schliefen, kochten, duschten, für Sprachkurse lernten und Nikita zeugten. Etwa zur selben Zeit am anderen Ende der Stadt zeugten Wolfgangs Eltern Wolfgang. Beide Kinder lebten in Enden, ohne sich – durch eine Kette kleiner und großer Zufälle – jemals über den Weg zu laufen. Dann, eines Tages, begegneten sie sich als Zwanzigjährige im hiesigen Marinemuseum zwischen Kriegsartillerien und Plastikmodellen von Seeschlachten, verliebten sich auf der Stelle und fickten auf einem öffentlichen WC, laut und unglaublich schnell. Ich stellte mir vor, wie ihr Stöhnen durch das menschenleere Museum hallte, an Schiffsmodellen, Kanonen und Sonargeräten und dann am Kartenschalter vorbei hinaus in die Innenstadt. Seit diesem Tag waren die beiden eigentlich fast immer am selben Ort anzutreffen. Die Geschichte mit dem Museum hatte Wolfgang mir nach einigen Drinks auf dem Dach des Containers erzählt, gerade als eine ewig lange Werbung für Werwolf-Erotika von den dröhnenden Fata-Morgana-Maschinen am Horizont an den Himmel der Sommernacht projiziert wurde.

 

Nikita füllte den Platinensaft aus dem Reiskocher in ein Fläschchen, brachte es ins Schlafzimmer und stellte es auf einen Nachttisch aus Pappkartons neben dem Bett, wo jemand zwischen der Armee aus Kuscheltieren schlief.

Es war Gilligan.

Nikita sagte, er habe ihn heute morgen beim Spazieren bewusstlos auf einer Wiese in der Nähe der alten Glühbirnenfabrik aufgefunden. Er sei fast erfroren, so im Tau liegend, und habe nur wirres Zeug gelabert. Nikita hatte ihn hierhergeschleppt; er sei wesentlich leichter, als er ausgesehen habe, sagte Nikita und schloss die Schlafzimmertür.

Gilligan kam öfter beim Schrottplatz vorbei. Er schaute immer verunsichert, ganz so als ob er nicht in dieser Welt sein dürfe und seine Existenz ein großes Missverständnis sei. Er sprach leise, fast flüsterte er, seine Haare wusch er selten und doch stank er nie. Das war Gilligan.

Warum er nur einen Schuh anhabe, fragte ich.

»Keine Ahnung«, sagte Nikita. »Er sprach nur von seinen Hamstern. Wie lieb er sie doch habe.«

 

Im Supermarkt moppte Gilligan tagsüber das Erbrochene hiesiger Teenager auf, die sich nachts mit Badesalzen volldröhnten, im Supermarkt Bier und Zwiebelringe kauften und auf dem Parkplatz abhingen, weil sonst nichts in der Stadt so lange offen hatte. Nachts verloren die Teenager von Enden jegliche Konturen, sie wurden zu Gespenstern, die kotzten. Nikita ließ bei seinen Nachtschichten als Kassierer die Gespenster machen, was sie wollten, ob kotzen, Erdnussflips klauen oder auf dem Kunden-WC ficken. Nikita schenkte Gilligan als Entschädigung immer etwas von seinem Platinensaft, für das ganze Putzen und so. Seit einiger Zeit schon arbeitete ­Gilligan auch in einem der POOL-Stores als Pförtner. Die Menschen kamen meist bei Nacht zu den Pools, hatte Gilligan mir erzählt. Sie hatten meist schon viel von der neuen Realität gehört, sie waren müde und ihre Augenringe dunkel wie Veilchen. Zuerst informierte ein POOL-Anhänger in verchromter Robe die Interessenten ausgiebig, auch darüber, dass es kein Zurück mehr gab in die Welt der Bilder. Hatte sich der Geist erstmal an das neue Medium gewöhnt, war er in der ersten Realität nicht mehr lebensfähig. Sachte wurden die Userx in das Becken im Garten der Filiale gelassen, bis ihre Körper von der Flüssigkeit umschlossen und langsam hinunter in die Dunkelheit gesunken waren. Gilligan beobachtete das immer aus der Ferne. Er war nach wie vor von der Bereitwilligkeit der Userx beeindruckt und abgeschreckt, sich so ohne die Chance einer Rückkehr ins Unbekannte zu begeben. Die Versprechen von POOL waren verheißungsvoll: kein Leid mehr, kein Verlust, Unsterblichkeit, das Ende der Einsamkeit, nie wieder Bürokratie, eine sanfte Euphorie, das warme Gefühl, für immer nach Hause zu kommen und vor allem: keine Screens mehr.

 

Im Fernseher lief die Wiederholung einer Dokumentation über die Weiten Patagoniens. Wolfgang schaute apathisch auf die Bilder von Steinwüsten und Gletschern und nippte dabei an einer Limo mit einem sehr dummen Namen. Nikita setzte sich zu ihm und strich Kekskrümel von Wolfgangs Bäuchlein. Ich hockte mich neben die Beiden auf den Teppichboden und schloss eine alte, nicht-allzu-immersive VR namens Blossom an einen Computer, eine der vielen VRs, die während des großen Booms Anfang der Zweitausender entstanden waren, die sich jedoch nicht gegen Avalon durchgesetzt hatten. In Blossom war man eine Pflanze, lebte das Leben einer Palme, einer Frucht, von Schlickgräsern. Als Pflanze hast du keine Probleme – Just Blossom, versprach das Sukkulentenmaskottchen in Hot Pants auf der vergilbten Produktbox. Ich quetschte meinen Kopf in den VR-Helm und betrat das Leben einer low-poly Wasser­pflanze im Norden der Türkei. Als Schwanenblumengewächs bewegte ich mich sanft, wenn der Wind das Wasser zum Kräuseln brachte, öffnete und schloss meine Blüten im Lauf der Sonne. Mit der Zeit wuchs mir krautiges Rhizom im Pflanzenunterleib, wucherte immer und immer weiter mit dem der anderen Pflanzen am Seeboden zusammen. Während der floralen Meditation fing ich nach einer Weile wieder an, unentwegt an die ehemalige Userin zu denken. Im Kräuseln des Wassers erkannte ich ihr Profile Pic, als wäre es durch die Membranen Avalons in die Blumensimulation geglitcht. Es war das auf 100 x 100 Pixel komprimierte Bild eines Moas, fast zu verwaschen, um es zu erkennen. Ich sah im Kräuseln ihren letzten Like, die Fledermaus im Kernkraftwerk, und ich sah einen Ort in Avalon, eine Insel, auf der ein Hotel namens SATURN stand. Es war einer der wenigen noch aktiven Meetingpoints in den verlassenen Schichten Avalons, den Milliarden leeren Inseln, über die stylische Banden aus Menschtierhybriden zogen, sich betranken, auf offener Straße onanierten, Einkaufswagen klauten und sich in ihnen durch die Gegend rollten wie in Kinderwagen. Im Kräuseln sah ich die ehemalige Userin, wie sie in dem unendlichen Hotel an einem Bartresen saß und sich betrank. Entweder war es eine Vision oder Teile der Insel waren in meinen Temporallappen gesickert. Vielleicht, dachte ich mir, könnte ich sie dort im Hotel finden, vielleicht könnte ich meinen dämlichen Crush real werden lassen, vielleicht starrte ich mal nicht auf Geister.

 

Als ich die Meditation beendete, den VR-Helm abnahm, knutschten Wolfgang und Nikita auf der Couch rum, während im Fernseher schlecht aufgelöste Bilder von Wüsten zu sehen waren.

Ich riss Wolfgang von Nikita weg, damit er mich nach Avalon begleitete. Ich wollte nicht allein gehen, wer wusste, wie lange ich mich dort wieder verlieren würde. Aber ich wollte die ehemalige Userin finden. Schon oft hatte ich mich in die Accounts fremder Userx verliebt, in ihre Daten, ihre Likes und ihre Vibes. Das war nicht die erste Insel, auf der mir das passiert war. Nur leider waren die meisten Inseln schon seit Jahren verlassen, immer mehr Userx verschwanden in den Pools oder den wilden Codeschichten nördlich der extremen Ausdehnung der Leere, einer großen Blase von zerfallendem Code im System Avalons, in dem sich das Nichts immer weiter und weiter aufblähte. Mit Wolfgang war ich schon öfter in Avalon unterwegs gewesen, wo er die Form eines Rudels metallschimmernder Kojoten mit Schneidezähnen aus Glas annahm. Wolfgang hatte es geschafft, sich in mehrere Tiere aufzuspalten. In Avalon konnte er frei und energisch in der Landschaft umhertollen, anders als in der ersten Realität, wo er eigentlich den ganzen Tag auf dem Sofa oder im Gartenstuhl auf dem Dach in wechselnden Positionen vor sich hingammelte. Manchmal stand er vom Sofa auf, kam langsam zu Nikita geschlichen, der Schrott sammelte, aufräumte, Platinensaft kochte, die Satellitenschüssel ausrichtete, die umherstreunenden Hunde verjagte, und Wolfgang fragte, ob er denn helfen könne, und Nikita lehnte immer wieder ab, du sollst dich doch ausruhen, die Quallen in deinem Blut und so weiter. Dann ging Wolfgang wieder, malte ein Loch in eine Landschaft, trank ein Glas isotonisches Sportgetränk, masturbierte, streckte sich und legte sich schlafen. Manchmal stand er auch am Strand und starrte aufs Meer hinaus und fiel dabei im Stehen um und starrte in der Waage­rechten im Sand liegend einfach weiter auf das Meer. Am Abend kuschelten Nikita und er auf der Couch und vögelten, während sie in die Couchritze rutschten, in der sich Chipskrümel und Sperma von Jahren gesammelt hatten, wie ich eines Tages, als ich die Fernbedienung gesucht hatte, feststellen musste.

 

Um nach Avalon zu gelangen, machten Wolfgang und ich alle Vorhänge des Wohnzimmers sowie die Tür zu. Wir legten uns in dem abgedunkelten Zimmer waagerecht auf den Boden und schlossen die Augen. Man musste die Augen fest verschlossen halten, sich entspannen und dann langsam versuchen, aufzustehen, ganz langsam, so langsam, dass man eigentlich liegen blieb. Eine Achtsamkeitsübung, wie es in der Anleitung hieß. Wenn man es richtig machte, löste sie einen Schwebezustand aus, der leicht in den Zehen kitzelte. Man hätte denken können, der Geist löste sich vom Körper. Dieses Gefühl war aber lediglich ein Sicherheitsalgorithmus des Systems, der überprüfte, ob man eine Seele hatte oder nicht. So recht verstand ich das nie und auch die Programmierer hatten es wohl nie verstanden. Seitdem Avalon nicht mehr gewartet wurde, ragten die Daten, Avatare, ganze Landschaften in die erste Realität. Keiner wusste so recht, wo Avalon begann und endete und wo überhaupt die Server standen, die all die Inseln berechneten. Ebenso wusste niemand, wo die erste Realität anfing und endete, das gehörte eben zum Universum, diese Unbegrenztheit.

 

 

 

 

 

Eine Serpentine schlängelte sich auf einen Hügel, auf dem das ­SATURN Hotel stand. Wir waren auf einer von Nadelbäumen bewaldeten Insel gelandet, auch hier schien das Orange der daueruntergehenden Sonne auf die Landschaft. Und wie auch auf der anderen Seite brauchte Wolfgang immer wieder mal Pausen, nicht aus Müdigkeit, sondern weil die Kojoten irgendetwas erschnüffelt hatten oder einen Baum auschecken mussten. Ich streichelte einem der Kojoten durchs Fell, in dem Splitter eines fiktiven Metalls schimmerten. Wolfgang verteilte sich auf sieben Tiere zugleich, jedes einzelne konnte eigenständig denken, lieben und seinen Unmut äußern. Es gab kein Alphatier, das gab es nie, weswegen sich auch einige Kojoten auf dem Weg von uns lösten und im Kiefernwald umhertollten, miteinander spielten, sich gegenseitig an ihren unheimlichen Hundegenitalien leckten und von wilden Beeren naschten. Zwei der Tiere folgten mir weiterhin. Sie sprachen nicht viel und wenn sie sprachen, dann simultan, ihre kleinen Münder bewegten sich wie abgestimmt. Ab und an musste ich die Kojoten daran erinnern, dass sie eigentlich ein einzelner Mensch in einer komplexen VR waren, ein Mensch mit nur einem Gehirn, ein Mensch auf einem Schrottplatz hinter Schichten aus simuliertem Fell.

 

Das SATURN war aus zinnoberroten Steinen gebaut, über dem Eingang prangte in großen, grünlich von Flechten überwucherten Lettern der Schriftzug. Aus dem Waldboden rund um das Hotel wuchsen massive Stalagmiten aus personenbezogenen Daten, die sich mit der Zeit kristallisiert hatten. In den dunkelblauen, teils durchscheinenden Polygonen der Stalagmiten erkannte ich ­einzelne Namen, Geburtsdaten, Wunschlisten und Sexualpräferenzen, wie zum Beispiel eine Userx mit dem Handle @cum_puppy, die sich gerne Bilder von Achselhöhlen im Internet ansah.

 

Im Hotel selbst tropfte es von den Decken. Das ganze Gebäude war durchnässt, überall nieselte es leicht auf kleine Pfützen am Boden. Die beiden Kojoten sprangen in den großen Brunnen in der Eingangshalle, um sich zu erfrischen. Etwas perplex von dem heruntergekommenen Zustand des SATURNS setzte ich mich zum Brunnen, trat dabei fast in einige herumliegende Spritzen und benutzte Kondome, die wild auf dem roten, nassen Samtboden verteilt lagen. Ich schaute zur Decke, an der sich die Wasserreflektionen des Brunnens spiegelten und entspannte für einige Minuten.

»Das SATURN war einst ein Hotspot Avalons«, sagten die Kojoten auf dem Rücken im Brunnenwasser umhertreibend. »Eine glorreiche Zeit, in der die Werbealgorithmen noch unausgegoren waren, die Plattform praktisch keine Gewinne für ihre Investoren abwarf und die Userx frei und wild durch die Inseln ziehen konnten. Ohne Angst davor haben zu müssen, dass die Existenz in einer nicht gewarteten VR Schäden an Leber, Nieren und der allgemeinen Ordnung der Hirnareale hervorrufen könnte.«

Ich schaute in die leeren Gänge, dachte an die Pools und konnte nicht glauben, wie viele schon in ihnen verschwunden waren. Neben der Rezeption hing ein zerfetztes, nasses Banner auf dem mehrmals untereinander WO IST DER VERFICKTE UPLOAD??? stand. Ich schaute mich im Hotel um, lief barfuß über den nassen Teppich weiter ins Innere des SATURN. Jeder Schritt gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Die Kojoten blieben im Brunnen, summten ein Lied, welches nur Kojoten verstanden.

 

Es sei das erste Hotel, welches das Unendlichkeitsverfahren der Orkus-Prozessoren auf den Raum angewandt hatte, stand auf einer silbernen Tafel beim Treppenhaus, um unendlich vielen Gästen ein Zimmer bieten zu können. Ich schaute vom Treppengeländer hinunter, in den dunklen Abgrund des Hotels. Ich schaute hinauf, in einen ebenso dunklen Abgrund über mir. Ab einer gewissen Tiefe beziehungsweise Höhe war wegen der Stromkosten die Hotelbeleuchtung abgeschaltet worden. Ich musste an Wolfgangs Gemälde denken, an die Löcher in weiten Landschaften. Einige Stockwerke unter mir hörte ich ein bedrohliches Dröhnen, das aus den Abgründen des Treppenhauses zu kommen schien. Über das Geländer gelehnt konnte ich die Hotelbar ausmachen, ein Stockwerk unter mir, ganz wie in meiner Vision in der Pflanzensimulation. Ich hörte Gläser klirren. Auf dem Weg zur Bar kam ich an den Relikten früherer Partys vorbei, leeren Sektflaschen, Bierdosen und auffällig vielen aufgerissenen Packungen Fruchtgummi.

Und als ich durch eine kitschige Western-Saloon-Tür hinein in die Bar trat, sah ich sie. Die ehemalige Userin. Ein riesiger, ausgestorbener Vogel, am Bartresen sitzend in rötlicher Beleuchtung. Ein Moa, einer der größten Vögel, der je über diese Erde gewandelt war, saß da mit seinem riesigen Vogelkörper auf einem winzigen Barhocker und naschte Fruchtgummis mit seinem massiven Schnabel.

Ich starrte viel zu lange auf den gefiederten Hintern. Ich war verblüfft, hatte ich bis jetzt doch noch keine ausgestorbene Spezies im Character Creator entdecken können, das Erscheinungsbild der ehemaligen Userin musste eine Eigenkreation sein, so wie auch Wolfgangs siebenfacher Kojote die Arbeit mehrere Jahre der Transformation war. Das Wasser tropfte von der Decke auf den von Ranken umwachsenen Bartresen.

»Was ist das für ein Dröhnen«, fragte ich und setzte mich neben den warmen Vogelkörper an die Bar.

Ohne zu antworten, bog der Vogel seinen Kopf samt Meter langem Hals zum Spirituosenschrank und schnappte sich eine Flasche Wodka, goss wenig galant zwei Shotgläser voll.

»Keine Ahnung«, sagte er, nahm sachte den Shot in den Schnabel und kippte ihn sich in den langen Hals. Ich tat es ihm gleich.

Unvermittelt fing der trunkene Vogel an, mir von einer besseren Realität zu erzählen. Eine, in der man sich nicht davor zu fürchten hatte, in die Schichten aus Code zu fallen und in der Ausdehnung der Leere als Datenschrott zu enden oder durch den langsamen Zerfall der Server für alle Ewigkeit gelöscht zu werden. »Eine Realität mit unendlichen Ressourcen, jaja! Freien Kommunen, Gemeinschaften fernab der Menschheit mit fairer, sinnstiftender Arbeit, freiem Austausch von Gedanken, Nähe und Sensibilitäten. Einer Realität«, sagte der Vogel, »in der Zeit anders verläuft als hier und sonst wo. Oh! Die Zeit verläuft dort gar nicht, sondern enthält sich selbst wie das Innere einer Sphäre, jaja.«

 

Ich kam nicht ganz mit. Wie sollte das denn gehen. Eigentlich kam ich überhaupt nicht mit. Der Vogel holte weiter aus mit seinem riesigen Schnabel, der sich nur leicht, ganz sachte beim Reden bewegte. Und jedes Wort, das diesen Schnabel verließ, war furchtbar genuschelt und gelallt.