Die Reise der Nonnengänse - Regine Kölpin - E-Book
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Die Reise der Nonnengänse E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Wenn sich der Himmel über der Insel Langeoog mit mächtigem Flügelrauschen füllt, dann kehren die Nonnengänse heim in ihr Winterquartier. Nichts gibt der 60-jährigen Amelie so viel Trost und Kraft durch die Natur des Wattenmeers zu wandern und das Kommen und Gehen der Zugvögel zu beobachten. Vor allem jetzt, wo sie weiß, dass ihr Ende naht. Doch eine Sache würde Amelie gerne noch ins Reine bringen, wenn sie nur wüsste, wie …

Als Bente auf der Insel eintrifft, ahnt Amelie sofort, was in der 20 Jahre jüngeren Frau vorgeht, denn sie kennt die widerstreitenden Gefühle, die Bente umtreiben, nur zu gut. An langen Nachmittagen in der Natur Langeoogs, wo die beiden Frauen Amelies geliebte Nonnengänse beobachten, entsteht eine tiefe Freundschaft, die schließlich beiden den Weg weisen und ihr Leben für immer verändern wird.

Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Der Zug der Nonnengänse" und unter dem Pseudonym Franka Michels.

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Über das Buch

Wenn sich der Himmel über der Insel Langeoog mit mächtigem Flügelrauschen füllt, dann kehren die Nonnengänse heim in ihr Winterquartier.Nichts gibt der 60-jährigen Amelie so viel Trost und Kraft durch die Natur des Wattenmeers zu wandern und das Kommen und Gehen der Zugvögel zu beobachten. Vor allem jetzt, wo sie weiß, dass ihr Ende naht. Doch eine Sache würde Amelie gerne noch ins Reine bringen, wenn sie nur wüsste, wie …

Als Bente auf der Insel eintrifft, ahnt Amelie sofort, was in der 20 Jahre jüngeren Frau vorgeht, denn sie kennt die widerstreitenden Gefühle, die Bente umtreiben, nur zu gut.

An langen Nachmittagen in der Natur Langeoogs, wo die beiden Frauen Amelies geliebte Nonnengänse beobachten, entsteht eine tiefe Freundschaft, die schließlich beiden den Weg weisen und ihr Leben für immer verändern wird.

Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Der Zug der Nonnengänse" und unter dem Pseudonym Franka Michels.

Über Regine Kölpin

Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren und wuchs die ersten Jahre ihrer Kindheit auf einem alten Rittergut „Hof Hirschberg“ bei Großalmerode auf. Seit ihrem 5. Lebensjahr lebt sie an der Nordseeküste in Friesland. Die mehrfache Spiegel-Bestsellerautorin schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Ihre Arbeiten sind mehrfach ausgezeichnet worden. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie über 200 Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist mit dem Musiker Frank Kölpin verheiratet. Sie haben fünf erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf in Küstennähe. In ihrer Freizeit verreisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen.

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Regine Kölpin

Die Reise der Nonnengänse

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 8

Kapitel 9

1996

Kapitel 8

Kapitel 9

1996

Kapitel 10

Kapitel 11

1997

Kapitel 12

1997

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1998

Kapitel 19

Kapitel 26

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Nachwort

Danksagungen

Literaturnachweise

Impressum

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Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.

((Quelle: Thomas Mann. Über mich selbst, Autobiografische Schriften S 46.))

Thomas Mann

Kapitel 1

Der Herbst war plötzlich über die Insel gekommen und hatte die Wärme des Spätsommers vertrieben. Mit ihm färbte sich das Grün der Bäume über Nacht zu Gelb, der Sanddorn lockte mit seiner Farbenpracht, gepflückt zu werden, während die Beeren der Hagebutte an Fülle verloren, obwohl sie sich bis spät ins Jahr behaupten würden.

In den letzten Tagen hatte zudem der Nebel wie ein zerrupfter Schleier über den Dünen gehangen und sich nur ungern von der Sonne vertreiben lassen.

An diesem Samstagvormittag aber wehte über Langeoog ein kräftiger Wind aus Nordwest, der dem Dunst keine Chance ließ, die Wolken über den Himmel trieb und sie miteinander fangen spielen ließ. Er stritt sich auch mit dem Meer und zwang es, hohe Wellen zu schlagen und sie mit Wucht an den Strand zu werfen. Sie durften den Spülsaum nicht mehr nur sacht küssen, sondern mussten ihre Gischtzähne in den Sand schlagen und etwas davon mit zurück ins Meer nehmen.

Die Brandung dröhnte sogar bis zu Amelies Haus, das sich am Rand des Dorfes befand. Die Sechzigjährige liebte dieses Geräusch, das sie unweigerlich mit Freiheit und Glück in Verbindung brachte. Egal, ob es dieses wütende Aufbrausen war, oder ob das Wasser nur leise rauschte. Das Meer war für sie das Sinnbild des Lebens, ein Kommen und Gehen, ein Sich-Gebärden und Ruhen.

In der letzten Zeit verglich sich Amelie immer häufiger mit der Gischt, die der Wind nach eigenem Gutdünken über den Strand rollen ließ und dort platzierte, wo es ihm beliebte. Auch sie hatte leider keinen Einfluss darauf, wie es am Ende mit ihr ausgehen würde.

»Du bist eine Närrin. Reiß dich zusammen. Selbstmitleid hilft dir nun gar nicht weiter«, schimpfte Amelie mit sich selbst, während sie den kleinen Holztisch in der Küche deckte und heißes Wasser in die Kanne goss, die sie anschließend aufs Stövchen stellte.

Sie wartete auf Jan-Hauke, der täglich zum Frühstück kam, das sie recht früh am Morgen einnahmen. Meist tauchte er gegen elf ein weiteres Mal zum Tee auf und gegen neunzehn Uhr schaute er regelmäßig noch einmal bei ihr nach dem Rechten. Leider brauchte Amelie inzwischen Hilfe und sie war dankbar, dass Jan-Hauke sie unterstützte, wenn ihm auch selbst nicht mehr alles leicht von der Hand ging.

Es klopfte, und kurz darauf steckte ihr Freund seinen Kopf durch die Tür des kleinen Inselhäuschens. Dabei nahm er wie immer die Prinz-Heinrich-Mütze vom Kopf und kratzte sich hinterm Ohr. Er war im letzten Monat siebzig geworden und lebte von Kindesbeinen an auf Langeoog. Jan-Hauke hatte sich schon immer nur von der Insel wegbewegt, wenn er zum Fischen hinausgefahren war. Und auch seit er das nicht mehr tat, scheute er das Festland und weigerte sich standhaft, Langeoog zu verlassen.

»Hier bleib ich, bis ich mit den Füßen voraus aus dem Haus getragen werde«, sagte er stets und ließ beim Lachen seinen goldenen Eckzahn aufblitzen.

Jan-Hauke war nun mal Insulaner durch und durch, seine Familie mit Langeoog seit Generationen verbunden und er hier so fest verwurzelt wie der Strandhafer mit seinem starken Wurzelwerk in den Dünen.

Amelie liebte Jan-Hauke. Nicht so, wie man einen Mann liebte, den man immerzu, Tag und Nacht, an seiner Seite haben wollte, aber doch mit einer Selbstverständlichkeit, so wie man den Morgen liebte und den Mittag und den Abend, weil sie zum Leben dazugehörten.

Jan-Hauke hatte immer Zeit. Und das nicht erst, seitdem er vor fünf Jahren seinen Kutter verkauft hatte und nunmehr die Pension Dünennest mit zwei Gästezimmern führte. Eile war für ihn ein Fremdwort, sie kam in seinem Leben nicht vor, denn er war der Ansicht, dass man dadurch ein Stück Lebensqualität verlor. Deshalb agierte der alte Fischer stets mit Bedacht und großer Ruhe, wenngleich nichts, was er tat, phlegmatisch wirkte. Er glich eher einem ruhig schwingenden Pendel, das mit seiner Vorhersehbarkeit beruhigte.

»Brauchst du was, Amelie?«, fragte er jetzt. Seine warme Stimme ließ die Vokale klingen, die er angenehm rund aussprach. »Ich will nach dem Tee ins Dorf zum Einkaufen, weil ich gestern Abend einen Gast bekommen habe. Den muss ich ja gut bewirten, das gehört sich so.«

Amelie lächelte ihn an. Jan-Hauke war ein Schatz. »Joghurt wäre gut. Den ohne Geschmack und die kleinen Packungen. Ich gehe gleich auch raus, weil ich an den Strand möchte. Der Wind bläst so schön. Na, und zum Friedhof will ich noch. Wie immer.«

Jan-Hauke kratzte sich wieder am Kopf. »Übernimm dich nicht, mien Deern. Joghurt bringe ich dir mit, dann brauchst du nicht auch noch in den Laden.«

Er ließ sich auf einen der Stühle fallen, wartete, bis Amelie auch saß, und gab dann ein Kluntje in jede der winzigen Teetassen, bevor er die Kanne vom Stövchen nahm und ihnen einschenkte.

»Was ist denn das für ein Gast?«, fragte Amelie. Sie griff nach dem Sahnekännchen. »Erzähl mal!«

Jan-Hauke grinste, kannte er Amelies Neugierde doch zu gut. »Eine Frau«, antwortete er jedoch wortkarg wie immer.

»Was für eine Frau? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, du Sturkopp!« Amelie klopfte mit dem Löffel auf den Tisch.

»Jo, sie ist ein bisschen eigenartig.«

»Jan-Hauke!« Amelie stöhnte.

Ihr Freund nahm erst einmal einen Schluck Tee. »Na, eben komisch. Die hat Kummer, das sieht man auf den ersten Blick. Da muss sie wohl auf Langeoog mal zu sich kommen. Heute Morgen ist sie nicht zum Frühstück erschienen, und gehört hab ich auch nix.« Er schüttelte den Kopf.

Na bitte, das klang doch interessant. »Wie lange bleibt sie denn?« Amelie liebte die Gästegeschichten von Jan-Hauke. Sie selbst kam nur noch selten mit anderen Menschen zusammen. Es strengte sie einfach zu sehr an, und sie fürchtete das Mitleid der anderen, weil jeder wusste, wie krank sie war. Von daher war es eine willkommene Abwechslung, wenn Jan-Hauke sie mit Geschichten versorgte, auch wenn sie wusste, dass immer ein wenig Seemannsgarn darin verwoben war. Doch heute wirkte er ungewöhnlich ernst.

Er zuckte mit den Schultern. »Sie hat gefragt, ob sie auf unbestimmte Zeit bleiben darf. Ich habe zugestimmt, obwohl ich in diesem Jahr eigentlich keine Gäste mehr aufnehmen wollte. Nicht einmal, wo Montag die ersten Herbstferien beginnen und heute schon der Bär steppt.« Er zuckte mit den Schultern. »Wird mir doch alles ein büschen viel.«

Jan-Hauke wollte kürzertreten. Er sagte, dass es daran lag, dass er älter wurde, aber Amelie wusste es besser. Er wollte für sie da sein. Weil es nicht mehr lange möglich war.

»Und doch hast du eine Ausnahme gemacht.« Amelie nahm den Faden wieder auf.

»Jo, bin ja kein Unmensch, nicht wahr?« Jan-Hauke rieb sich das Kinn. »Da stand diese dünne, blonde Frau doch gestern Abend einfach so vor der Tür, den großen Reiserucksack auf dem Rücken und leichenblass«, erzählte er weiter, während er sich Tee nachgoss und Sahne in die Tasse tröpfeln ließ. »Ich konnte nicht anders.«

Amelie nickte verständnisvoll. »Wie alt ist sie denn? Ungefähr?«

Jan-Hauke schürzte die Lippen. »Weiß nicht, denke so um die vierzig?«

»Hm«, überlegte Amelie laut, »die Frau wird mit dem letzten Schiff gekommen sein.« Sie wiegte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht läuft sie vor etwas davon, wenn die Anreise so spontan war. Das kennen wir ja.«

»So, kennen wir das?« Jan-Hauke zwinkerte ihr zu. Er lief nie vor etwas weg und hatte das wohl in seinem ganzen Leben noch nicht getan. Vielleicht wurde man so, wenn man tagein, tagaus die Nordsee bezwingen musste. »Dass du immer gleich alle Leute analysieren musst. Jedenfalls wohnt sie jetzt im Dünennest.« Er trank den Tee in einem Schluck aus und erhob sich. »Ich geh dann mal. Den Joghurt bringe ich mit, wenn ich heute Abend nach dir schaue.«

»Mach das, die Tür ist offen, falls ich noch unterwegs sein sollte.« Da Amelie nie abschloss, konnte Jan-Hauke auch in ihrer Abwesenheit jederzeit in ihr Häuschen kommen. Sie fand das praktisch. Und hätte sich einmal jemand anders hierher verirren sollen: Es gab nichts Irdisches, was ihr noch wichtig war.

»Hab doch noch eine Frage!«, rief sie dem alten Fischer nach, doch der war schon durch die Haustür verschwunden. Amelie sank in ihren Sessel zurück. »Ich wollte nur wissen, ob die Nonnengänse schon da sind und ob du heute schon welche gesehen hast.« Die letzten beiden Sätze waren nur noch ein Flüstern. »Ich möchte sie doch noch einmal kommen und wieder wegfliegen sehen. Nur noch ein einziges Mal.«

*

Bente erwachte in dem kleinen Pensionszimmer, weil eine laute Böe ums Haus fegte. Sie war gestern mit dem letzten Schiff nach Langeoog gekommen und erst überall im Inseldorf herumgelaufen. So lange, bis sie in der Nähe vom Sonnenhof, dem ehemaligen Haus der Sängerin Lale Andersen, in einem Seitenweg in den Dünen vor dieser kleinen Pension mit dem Namen Dünennest Halt gemacht hatte. In der Küche brannte Licht, ein älterer Mann mit Rauschbart, der aussah wie ein typischer Seebär, saß am Tisch und blätterte in einer Zeitung. Es hatte so gemütlich gewirkt. Als fordere das rote Backsteinhaus sie förmlich auf, zu klingeln und nach einer Unterkunft zu fragen.

Natürlich war es dumm gewesen, kurz vor den Herbstferien ohne Buchung auf die Insel zu reisen, aber Bente hatte schnellstmöglich von zu Hause fortgemusst. Sie hielt es dort nicht mehr aus.

Ihr Mann Daniel, der sie mit diesem ständigen Vorwurf in den Augen ansah, zwang sie, für etwas zu büßen, was sie nicht getan hatte. Jedenfalls nicht so, wie er glaubte. Sie hatte nicht tun können, wonach ihr Körper und ihre Seele lechzten. Denn da waren ihr Kind und ihr Mann, und sie wollte beides nicht leichtfertig aufgeben.

Gestern hatte Daniel Bente wieder scharf attackiert, sie mit Worten geschlagen, ihr seine Verletztheit entgegengespien und sie verstört zurückgelassen. Das war der Preis für das kurze Naschen an einem Stück schnell vergehenden Glücks, das einen Scherbenhaufen hinterlassen hatte. Wie zerschmettertes, feines Porzellan, dessen winzige Fragmente in ihren Körper schnitten.

Hilflos hatte Bente versucht, die Scherben zusammenzufegen, sie zu kitten, aber überall fehlte ein Stück oder ein Splitter, sodass sie aufgegeben hatte. Sie konnte es nicht allein wieder heil machen. Es ging nur zu zweit, aber Daniel warf lieber weiter um sich und nahm in Kauf, dass sie sich immer größere Schnittwunden zufügten.

Als Bente schließlich allein in ihrem Zimmer saß, wusste sie nur, dass sie im Augenblick nicht bleiben konnte.

Da war ihr die Idee mit der Insel gekommen. Inseln lagen abgeschieden, man kam weder einfach so hin noch einfach so wieder weg, und sie versprachen lange Strände, Dünen und Ruhe. Hier war sie weit fort, konnte das Büßergewand für eine Weile ablegen. Sich selbst suchen und herausfinden, was sie wollte. Denn inzwischen wusste Bente es selbst nicht mehr. Daniel und sie waren sich fremd geworden – sie fragte sich inzwischen oft, wer sie eigentlich wirklich war.

Bente schob sich im Bett hoch. Es ging ihr heute schon erheblich besser, weil sie sicher war, den richtigen Schritt gemacht zu haben.

Interessiert sah sie sich um. Ihr Zimmer war klein. Ein blaues Bett mit Baldachin dominierte den Raum, an der rechten Wand stand ein zweitüriger Kleiderschrank mit geschwungenem Bogen. Die mit bunten Streublumen bedruckte Bettwäsche passte, genau wir die feinen hellblauen Gardinen, farblich zum gesamten Ambiente.

Auf der Fensterbank waren eine bemalte Holzmöwe und Muscheln in verschiedenen Größen dekoriert, und auf dem kleinen Tisch gegenüber vom Bett stand ein bunter Trockenblumenstrauß. Die Mischung aus lila Kornblumen, und Schleierkraut strahlte Fröhlichkeit aus. An die Vase war ein Kärtchen gelehnt.

Herzlich willkommen im Dünennest!

Bente schloss die Augen und atmete einmal tief durch.

Hier würde sie also eine Weile bleiben und versuchen, Fuß zu fassen. Ihre Gedanken zu sortieren und wieder sie zu sich selbst zu finden. So nah am Meer, dem Wetter und den Naturgewalten ausgesetzt, würde ihr das hoffentlich gelingen.

Unter Zeitdruck stand sie nicht, denn beruflich hatte sie sich eine Auszeit genommen, musste also für ein Jahr nicht in der Redaktion der Sonntagszeitung arbeiten. Nicht einmal das hatte sie Daniel erzählt. Sie waren einfach nicht dazu gekommen, und das sagte doch einiges über ihre Beziehung aus.

Bente seufzte. »Nicht nachdenken«, sagte sie laut zu sich. »Jetzt bist du erst einmal hier.«

Ihr Zimmer war wirklich lauschig, aber den Besitzer der Pension, ein alter Fischer, der die Geschwindigkeit nicht gerade erfunden hatte, empfand sie als gewöhnungsbedürftig. Er hatte sie zwar freundlich begrüßt, war allerdings typisch ostfriesisch wortkarg. Jeden Satz hatte sie ihm aus der Nase ziehen müssen. Immerhin hatte er ihr erklärt, dass seine Küche auch der Frühstücksraum war, und von wann bis wann er Brötchen und Tee bereithielt.

Bente schrak zusammen, als sie auf die Uhr sah. Von wegen Frühstück! Es war fast halb zwölf, und sie lag noch immer im Bett! Da hatte sie wohl alles verpasst.

Sie griff nach dem Handy, das sie auf lautlos gestellt hatte, und fand darauf zehn Anrufe von Daniel. Sollte sie gleich zurückrufen? Ihm sagen, warum sie verschwunden war – nur mit dem Hinweis, dass sie nach Langeoog fuhr, damit sie nachdenken konnte? Sie wusste selbst, dass es keine Entschuldigung dafür gab, einfach abzutauchen, aber ihr fehlte momentan die Kraft, ihre Probleme in Worte zu fassen. Und erst recht, sie zu lösen. Vermutlich würde ihr Mann jetzt auch gar nicht zuhören. Deshalb entschied sie sich gegen einen Rückruf.

Später, dachte sie und fühlte sich schlecht. Es war lange her, dass es zwischen ihnen einmal anders gewesen war.

Als ihre Worte noch von einer Leichtigkeit getragen wurden, ihre Herzen sich aufeinander freuten, und sie lieber nach Hause kamen, als von dort zu verschwinden. Wann hatte dieses Sehnen nach mehr, nach einem anderen Leben begonnen, und warum war sie außerstande gewesen, Daniel von diesen Wünschen zu erzählen? Stück für Stück war das Schweigen gewachsen, bis es schließlich nicht mehr zu brechen war.

Und dann kam Tom.

Wie durch eine Hintertür, deren Riegel Bente absichtlich nicht vorgelegt hatte, um sich die Flucht offenzuhalten. Tom mit seinen Versprechungen, Tom, der sie aus ihrem akkurat gepflegten Garten auf eine bunte Wiese entführen wollte. Wie Rotkäppchen war sie kurz vom Weg abgekommen – und hatte am Ende doch die Blume nicht gepflückt.

»Bente, was ist mit dir und diesem Tom?«, hörte sie jetzt wieder Daniels Stimme in ihrem Ohr. Tief verletzt, anklagend. Weil schon das Verlassen des Gartens ein Vertrauensbruch war. Auch ohne das Pflücken der Blume.

»Es ist nichts. Ich habe keine Affäre.«

Daniel glaubte ihr nicht. Weil er spürte, dass Tom gefährlich war. Aber Bente hatte ihm widerstanden, auch wenn es sie schlaflose Nächte gekostet hatte – und weil sie sich schämte, überhaupt so weit gegangen zu sein.

»Ich musste hierherfahren«, flüsterte Bente. Ohne Daniel. Ohne Tom. Und leider auch ohne ihre Tochter Elinor. Mit ihr sollte sie schnellstens reden.

Ihr Handy gab einen Ton von sich. Es war eine Nachricht von Tom.

Widerwillig beschloss Bente, ihm zu antworten. Sie überlegte eine Weile, was sie ihm schreiben sollte, und fand, es wäre eine gute Idee, ihm zu mitzuteilen, dass sie eine Auszeit nahm, damit er begriff, wie schlecht es ihr ging, und sie fortan in Ruhe ließ.

Ich bin auf Langeoog, weil ich nachdenken will, bitte lass mich in Ruhe. Ich brauche Abstand.

Bente hoffte, er würde ihren Wunsch akzeptieren.

Sie ging ins Bad. Doch kaum hatte sie es betreten, wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als sie Tom schrieb, wo sie sich aufhielt. Schnell rannte sie zurück und versuchte, die Nachricht zu löschen, doch sie zeigte zwei blaue Häkchen. Er hatte sie schon gelesen. Nicht, dass er sie doch wieder kontaktieren oder ihr gar folgen würde!

Bente entschied sich, Tom auf allen Kanälen zu blockieren. Das war für sie beide die sicherste Lösung, weil es die Versuchung minimierte, denn seine Nachrichten würden sie nun nicht mehr erreichen.

Erst dann machte sie sich fertig und schlüpfte in Jeans und Sweatshirt, nahm den kleineren Rucksack aus dem großen Reiserucksack und steckte ihr Portemonnaie und eine kleine Flasche Wasser ein. Nun noch rasch dick einmummeln, denn der Oktoberwind fegte forsch über die Insel. Einen solchen Wind war Bente aus Hannover nicht gewohnt.

Ihr Magen knurrte, sie würde sich gleich beim Bäcker ein Brötchen kaufen müssen, weil sie in der Pension kein Frühstück mehr erwarten konnte.

Bente trat in den Flur und schreckte zurück. Sie hatte gestern gar nicht bemerkt, wie eigenartig das kleine Treppenhaus eingerichtet war. Es strotzte vor maritimen Gegenständen. Das Verspielte und Verträumte in ihrem Zimmer spiegelte sich im Flur keineswegs wider.

An den Wänden hingen riesige Gemälde von Schiffen aus unterschiedlichen Epochen. Dazu afrikanische Gruselmasken, Walfischzähne und andere Scheußlichkeiten, die nicht nur an den Wänden platziert waren, sondern auch auf sämtlichen Kommoden und Regalen standen. Immerhin war alles sorgfältig abgestaubt.

Vermutlich standen die Urlauber auf dieses maritime Ambiente, wenn sie auf eine Insel reisten. Oder sie waren darum bemüht, schnell in ihren Gästezimmern zu verschwinden.

Aber was kümmert mich das Drumherum? Ich wollte auf die Insel. Und da bin ich nun, dachte Bente.

Sie schaute noch kurz in die Küche, doch der Alte hatte den Frühstückstisch natürlich längst abgeräumt. Bente zuckte mit den Schultern. Weit war es nicht zum Bäcker.

Sie öffnete die Haustür und sog die klare Nordseeluft ein. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als ihr heftiger Wind entgegenschlug. So hatte sie es sich vorgestellt. Sie musste raus. Ans Meer. Sich den Kopf freipusten lassen.

Bente steuerte zunächst den Ortskern an und kaufte sich beim Bäcker ein Käsebrötchen und einen Kaffee. Sie setzte sich an einen der Bistrotische und genoss, das in Ruhe tun zu können. Dieses unerträgliche Bohren im Bauch ließ dabei ein wenig nach.

Nur wenig später steuerte Bente den Kursaal an und lief von dort in Richtung Dünenkette. Der Herbstwind umwehte sie nun noch stärker, und sie zog sich den Schal vor den Mund. Zum Glück waren die Temperaturen erträglich und fühlten sich lange nicht so unangenehm an, wie Bente befürchtet hatte. Das Rauschen des Meeres wurde immer lauter, es dröhnte ihr entgegen wie die temperamentvolle Melodie eines Symphonieorchesters, das sich so richtig in Fahrt gespielt hatte.

Bente schloss die Augen und lauschte, ehe sie den Dünenkamm erklomm. Sie wollte diesen einzigartigen Moment genießen, denn sie wusste von früheren Reisen, was sie gleich erwartete. Diese Endlosigkeit, der Horizont, der einem vor Weite den Atem raubte, die weiße Gischt der sich an den Strand werfenden Wellen. Das wollte sie auskosten, mit allen Sinnen in sich aufsaugen, jede Zelle damit fluten. Sich verlieren in der Macht der Natur, die so gewaltig war, dass ihre eigenen Probleme darin zusammenschrumpften und am Ende einem Sandkorn glichen, das davongeweht wurde. Sie war in diesem Spiel, das sich seit Jahrtausenden gleichermaßen gebärdete, ein Nichts. Ehrfürchtig setzte Bente einen Fuß vor den anderen, bis sie oben angekommen war.

Da lag es vor ihr! Das weite Meer. Und es war so, wie sie es erwartet hatte. Die Wellen peitschten an den Strand und sangen dabei ein eigenartiges Lied. Es wirkte durchkomponiert wie eine Mischung von unbändiger Kraft und kosmischer Energien. Es waren Töne der Vergänglichkeit, weil die Wellen brachen, Töne der Freude, weil sie ein wunderbares Schauspiel boten – und ein ganz leiser Ton, wenn die Gischt aufspritzte und vom Wind in die Unendlichkeit davongetragen wurde.

Bente zog den Schal vom Mund, wollte diese Frische kosten. Sich mit dem auseinandersetzen, was die Natur ihr anbot. Sie spreizte die Arme, hob den Blick gen Himmel und überließ sich dem Wind, dem Meer und den Strand.

Nehmt mich, umtanzt mich! Befreit mich!

Dann lief sie langsam auf die See zu, machte sich damit kleiner, verletzbarer, denn sie wurde nicht mehr von der Erhabenheit der Dünen geschützt.

Am Spülsaum angekommen, bot sich ihrem Auge kein regelmäßiges Bild. Das Meer hatte einen Bogen gemalt, den die Wellen ständig neu formten. Mal spritzte die Gischt weiter in den Sand, mal blieb sie ein Stück weiter seewärts.

Möwen zogen ihre Kreise und versuchten gegen das Tosen des Windes anzukreischen. Die wenigen Menschen, die Wind und Wetter trotzten, wirkten wie bunte Farbtupfer, die sich wie zufällig immer wieder anders platzierten, wenn sie sich weiterbewegten.

Bente verlor jegliches Zeitgefühl, als sie in dieses Spiel abtauchte, doch nach einer Weile begann sie zu frösteln. Sie rieb sich über die Arme, spürte ihrem Herzschlag nach und atmete noch einmal tief durch. Sie war auf Langeoog, um bei sich selbst anzukommen und sich zu verstehen.

*

Daniel lief in der Küche auf und ab. Es war bereits Mittag. Er konnte Bente nicht erreichen, dabei war es doch so wichtig, dass sie endlich miteinander sprachen! Er hatte gestern überreagiert, sich benommen wie ein Idiot. Wo war ihr Vertrauen zueinander geblieben? Das Manifest, auf dem sie ihre Liebe nun schon seit sechzehn Jahren aufbauten?

Er setzte sich an den kleinen Küchentisch, der als Tresen an die Arbeitsfläche gebaut war und exakt drei Menschen Platz bot. Ihm, Bente und ihrer vierzehnjährigen Tochter Elinor.

Der eine Stuhl würde gleich besetzt sein, der andere aber … Plötzlich schossen Daniel Tränen in die Augen. Er legte seine Unterarme auf den Tisch, ließ den Kopf darauf fallen. So saß er eine ganze Weile.

Elinor schlief zum Glück noch und hatte deshalb von seiner Verzweiflung bisher nichts mitbekommen. Er hatte sie gestern Abend vertröstet und behauptet, Bente hätte kurzfristig zu Oma gemusst, doch diese Lüge würde schon bald auffliegen. Elinor ließ sich nicht so leicht etwas vormachen, und ein Anruf bei ihrer Großmutter würde genügen. Deshalb war es wichtig, schnell mit Bente zu sprechen, damit er Elinor die Wahrheit sagen und ihr zugleich eine Perspektive bieten konnte.

Daniel versuchte erneut, seine Frau anzurufen, aber wieder ging nur die Mailbox an. Frustriert legte er das Handy beiseite.

Die Tür klackte, und Elinor trat in die Küche. Sie steckte noch in dem übergroßen Shirt, das sie zur Nacht trug, und rieb sich die Augen. »Wann gibt es was zu essen?«

Daniel schrak zusammen. Daran hatte er gar nicht gedacht, weil ihm der Appetit im Augenblick gründlich vergangen war.

»Willst du einen Toast?«, bot er ihr an.

Elinor sah auf die Uhr und grinste. »Nee, was Warmes. Ist doch schon Mittag.« Sie gähnte ausgiebig und reckte sich so heftig, dass die Gelenke knackten. »Ich dusche dann mal. Vielleicht gibt es ja danach etwas zu essen?«

Daniel nickte fahrig. Er würde zwei Spiegeleier braten, das war in der kurzen Zeit zu schaffen. Fürs Kochen war immer Bente zuständig, er war darin einfach nicht so erfahren und kümmerte sich lieber um handwerkliche Verrichtungen und den kleinen Garten, der sich hinter dem Haus erstreckte.

Gewaltenteilung, wie sie es stets scherzhaft genannt hatten, weil ihm für alles, was mit dem Haushalt zusammenhing, die Lust fehlte, Bente es aber gern tat. Oder doch nicht? Hatte sie es nur gemacht, um ihn nicht zu belasten? Und so manch andere Dinge, weil sie den Frieden in der Familie höher bewertet hatte als ihre eigenen Bedürfnisse? Daniel wischte den Gedanken weg, das führte jetzt zu nichts. Seine Frau war fort, und er musste dafür sorgen, dass sie schnell wieder nach Hause kam.

»Wann kommt Mama denn zurück? Ich habe doch Ferien«, fragte Elinor noch, bevor sie ganz aus der Küche verschwand.

»Später.« Daniel wich der Frage aus. »Ich mache uns ein Spiegelei.«

Elinor verzog das Gesicht. »Spiegelei? Ist das dein Ernst, Papa? Kein Frühstück und zum Mittag Ei?«

»Wir haben gerade nichts anderes«, antwortete Daniel. »Geh du doch bitte erst duschen, okay?«

Seine Tochter trollte sich.

Daniel öffnete den Kühlschrank und schaute nach, was da war. Ein Paket Eier stand im mittleren Fach, eine ungeöffnete Packung Schinken lag daneben. In einer Dose war Käse zu finden, ein Stück Butter befand sich in der Klappe. Etwas Salat lag noch im unteren Kühlfach. Gut gefüllt war der Kühlschrank nicht, aber es reichte fürs Erste. Notfalls war auch in der Truhe genug eingefroren.

Bente hatte gestern vor ihrem Streit angedeutet, dass sie erst am Montag einkaufen gehen konnte, weil sie zuvor nicht dazu gekommen war. Im Redaktionsbüro hatte sich wohl so einiges angestaut. Überhaupt hatte sie in der letzten Zeit übermäßig viel gearbeitet. Als müsse sie einen Berg abtragen.

Daniel hatte das akzeptiert und auch nicht über den fehlenden Einkauf gemosert, aber er war selbst ebenfalls nicht losgezogen. Schließlich gab es ja den Bringservice der Restaurants. Oder sie wären ausgegangen. Für solche widrigen Umstände musste man Lösungen finden und nicht lamentieren. Sie konnten es sich schließlich leisten, weil er gutes Geld verdiente.

Daniel beschloss, noch ein bisschen Schinken zu den Eiern zu braten und einen Salat anzurichten, damit das Mittagsmahl nicht allzu dürftig ausfiel. Heute Abend konnten sie sich Pizza bringen lassen, das würde Elinor besänftigen. Pizza war für sie immer ein Fest.

Das Zubereiten des Essens lenkte Daniel ein bisschen von seinen schweren Gedanken ab. Schon bald zog der Duft des gebratenen Schinkens und der Eier durch die Küche. Das Schälen der Zwiebeln trieb Daniel Tränen in die Augen, aber er fand, dass ihm das Salatdressing vorzüglich gelungen war.

Als Elinor zwanzig Minuten später frisch geduscht in die Küche trat, war der Tisch gedeckt, doch es fehlte das Behagliche, das gewisse Etwas. Bentes leerer Stuhl wirkte wie eine Provokation. Sie fehlte.

Daniel vermisste sie, ja, und doch war da auch dieses andere Gefühl. Er wollte es nicht Wut nennen, es war mehr wie eine Bisswunde, die heftig blutete und über die er einen Verband geklebt hatte, damit sie nicht auffiel. Doch Bisswunden konnten sich böse entzünden und sie schmerzten lange.

»Keine Kerze?« Elinor deutete zu einem Arrangement. »Die kannst du doch anzünden, das macht Mama auch immer.«

»Sie ist aber nicht da«, schoss es aus Daniel heraus. Unwirscher, als er es gewollt hatte. »Ich habe mir Mühe gegeben«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu.

»Ist schon okay.« Elinor setzte sich. »Es wirkt alles eben nur arg … spartanisch.«

»Heute Abend gibt es Pizza. Ich hole sie von Maurizio. Versprochen.«

»Wann kommt Mama denn nun zurück?« Elinor schob sich eine Gabel Salat in den Mund und kaute genüsslich. »Lecker.« Sie wirkte unbedarft und fröhlich. Daniel tat sich schwer damit, ihr diese Unbefangenheit zu nehmen.

Er legte seine Gabel auf den Teller. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.«

Elinor schluckte den Salat hastig hinunter. »Wie, du weißt es nicht? Ist was mit Oma? Ich meine, wenn Mama länger dableiben muss …« Ihre Augen weiteten sich. »Sag, dass nichts mit Oma ist!«

Daniel senkte den Kopf und atmete einmal schwer ein und aus. Er musste es ihr mitteilen. »Ich habe dich gestern angelogen.«

Nun legte auch Elinor das Besteck beiseite. Ihre Hände zitterten leicht. »Was ist mit Mama los?«

Daniel rang mit sich, ehe er antwortete: »Sie ist … weg.«

Elinor runzelte die Stirn. »Papa, ich versteh nicht … Mama kann doch nicht weg sein!«

Es war eine vertrackte Situation. Wie erklärte man einer Vierzehnjährigen eine Ehekrise? Indem man dicht an der Wahrheit blieb. Trotzdem druckste Daniel herum. »Wir haben uns gestern sehr gestritten. Und dann ist Mama nach Langeoog gefahren. Ich weiß nicht, wie lange sie fortbleiben will. Sie muss nachdenken.«

Elinor sprang auf. »Mama kann doch nicht einfach so abhauen! Das machen kleine Kinder!«

»Doch, kann sie, das siehst du ja.« Daniel tat es plötzlich gut, die Tochter auf seiner Seite zu wissen. Es war nicht in Ordnung, vor ihnen wegzulaufen und sich einem Gespräch zu entziehen.

Doch dann kamen sie wieder, diese Gedanken, die ihn schon die ganze Nacht gequält hatten.

Du hast sie beschuldigt, einen anderen Mann zu begehren, und das nicht zum ersten Mal. Du hast ihr nie zugehört!

Daniel verdrängte die Stimme.

Bente war fort.

Die Wunde platzte mit einem Mal auf, und sie blutete heftig.

»Es geht um einen anderen Mann«, rutschte es Daniel heraus. »Sie mag jemand anders.«

Elinor schossen Tränen in die Augen. »Das stimmt nicht! Mama liebt dich, du bist ihr Mann.«

Daniel zuckte mit den Schultern und biss sich auf die Zunge. Er hatte schon zu viel gesagt, und es entsprach auch nicht ganz der Wahrheit. Aber es schmerzte so, dass es diesen Tom gab! Der Bente ständig schrieb, ja sogar die Frechheit besessen hatte, vor der Tür zu stehen. Auch wenn da vielleicht wirklich nicht mehr gelaufen war.

»Redest du von Tom?«, fragte Elinor nun.

»Ja«, antwortete Daniel erstaunt. »Du kennst ihn?«

Elinor zuckte mit den Schultern und wirkte eine Spur zu lässig. »Mama hat gesagt, er ist nur ein Kollege.« Jetzt gelang es ihr nicht mehr, die Fassung zu wahren, und Tränen tropften auf das Spiegelei, das erkaltete und hart wurde.

Daniel ergriff die Hand seiner Tochter, und dann weinten sie beide.

Kapitel 2

Gelbe Gummistiefel tragen auf den Inseln doch meist nur Touristen, dachte Bente, als sie, nachdem sie sich aufgewärmt hatte, am späten Nachmittag noch einmal zum Strand gegangen war. Sie spazierte an der Wasserkante entlang und beobachtete eine ältere Frau, die langsam an ihr vorbeischlurfte. Sie hielt den Blick gesenkt und nahm ihre Umgebung kaum wahr.

Mit den großen Stiefeln war die Frau eine merkwürdige Erscheinung und sie hatte wirklich so gar nichts von einer Urlauberin. Sie erweckte eher den Anschein, ein Teil dieser Insel zu sein.

Gekleidet war sie mit einer Latzhose, in der die zierliche Frau beinahe verschwand. Darunter trug sie einen hellgrauen Fleecepullover, den sie an den Armen aufgerollt hatte. Die blau gemusterte Norwegermütze bedeckte ihre Ohren, und den Schal hatte sie bis zum Kinn hochgezogen.

Was kümmert mich die Fremde, dachte Bente, wandte sich dem Meer zu und öffnete die Arme breit. Ich bin frei. In diesem Moment gibt es nur mich ganz allein.

Sie ließ das Donnern der Wellen auf sich wirken. Die Wucht jeder Woge durchfuhr ihren ganzen Körper. Es war gut, dass sie hier war, es war gut, nach Langeoog gekommen zu sein. Hier, am Saum der Unendlichkeit, waren ihre Probleme so klein wie eine der Muscheln, die von der Brandung geschaukelt an den Strand geworfen wurden und ihr Schicksal annahmen.

Bentes Gedanken reinigten sich plötzlich von allein, und endlich konnte sie einen Entschluss fassen.

Wenn ich wieder in der Pension bin, werde ich Daniel anrufen und mit ihm und Elinor sprechen, dachte sie. Ich muss versuchen, ihnen zu erklären, warum ich diese Tage für mich brauche. Eine kleine Auszeit, in der Hoffnung, dass es nicht endgültig war. Ihr ging es so verdammt mies, das musste vor allem Daniel endlich verstehen. Daniel, der in seiner Schönwetterblase lebte und jede Wolke am Himmel geflissentlich ignorierte. Und der jetzt wie ein begossener Pudel dastand, weil er das aufkommende heftige Unwetter ebenfalls nicht wahrgenommen hatte oder nicht wahrnehmen wollte.

Doch dann hatte es ihn überrascht, und er hatte Bente beschimpft, ihr kein bisschen zugehört oder wenigstens versucht, zu begreifen. Auch wenn sie ihn verstehen konnte, war sein Schwert zu scharf gewesen.

Bente hatte sich dagegen entschieden, Tom einen Platz in ihrem Leben einzuräumen, auch wenn sie kurz den Gedanken zugelassen hatte, es zu tun, weil sie und Daniel gerade in verschiedenen Formationen tanzten.

Ihr Mann mochte den beständigen Walzer, immer im Dreivierteltakt, immer die gleichen Drehungen. Sie aber liebte die Abwechslung und Spannung von Samba und Lambada. Sich Öffnen und Lösen und wieder aufeinander zu tanzen, den Körper mit jedem Muskel fordern und neue Bewegungen kreieren.

War es ein Synonym für all das gewesen, dass Daniel in der letzten Woche ausgerechnet den schon gebuchten Tanzkurs für lateinamerikanische Tänze mit einer Selbstverständlichkeit abgesagt hatte, wie er alles, was er tat, für selbstverständlich erachtete? Natürlich hatte er es nach außen hin bedauert, dass ihm nun doch die Zeit dafür fehlte, aber wirklich geknickt war er nicht gewesen. Für ein Bier mit seinem Kumpel Bernd hatte er nämlich ebenso eine Lücke in seinem Terminplan gefunden wie für die tägliche Joggingrunde.

Es geht immer nur um ihn, dachte Bente. Er ist die Sonne, um die alle kreisen sollen, und wer das nicht akzeptiert, wird eben nicht mehr gewärmt. Vermutlich bemerkte Daniel das gar nicht, denn es war ein schleichender Prozess gewesen. Es hatte mal den anderen Mann gegeben, der, in den sie sich verliebt hatte und mit dem sie bis ans Ende durch Dick und Dünn gehen wollte.

Vielleicht hatte Bente selbst zu spät erkannt, dass sie sich kontinuierlich voneinander fortbewegten, und als es ihr auffiel, hatte auch sie es zunächst hingenommen.

Es würde schwer werden, Daniel das zu erklären, denn aus seiner Sicht tat er schließlich alles, was ein guter Familienvater tat. Er verdiente genug Geld, dass sie sich einen gewissen Luxus leisten konnten. Ein Haus, einen schicken Wagen. Elinor konnte Reitstunden nehmen. Er war treu, und Bente konnte sich auf ihn verlassen.

Aber für diese Rolle forderte er ein, dass er bestimmte, wo es langging. Freundlich und mit einer großen Bestimmtheit, die sich über sie gestülpt hatte und aus der es lange kein Entrinnen gab.

Da passte ein Tanzkurs eben nicht, weil er zu wild war und Daniels ebenmäßigen Tritt gestört hätte. Doch nun war Bente ausgebrochen …

Denn es gab doch auch noch sie. Mit ihren Träumen, ihrer Lust nach Farbe und aufregenden Rhythmen.

Sie sog die Luft noch einmal tief ein, wandte sich vom Meer ab und spürte den Wind und den Gesang der Wellen nun im Rücken.

Die Frau überquerte gerade ein Stück weiter hinten den breiten Strand in Richtung der Dünen. Ihr Schritt hatte sich merklich verlangsamt, und aus der Ferne wirkte ihr Gang gebeugt.

Warum ist gerade sie mir wieder aufgefallen?, dachte Bente. Es waren zwar nur wenige Menschen unterwegs, aber auf die Hundebesitzer, die ihre Stöckchen warfen, achtete sie schließlich auch nicht. Sie interessierte sich ebenso wenig für das verliebte Paar, das sich so dicht aneinander gekuschelt hatte, dass sie fast wie eine Person wirkten. Inzwischen hatte die Frau die Dünenkette fast erreicht.

Bente schrak zusammen, weil eine heranrauschende Welle ihr Hosenbein durchnässte.

»So ein Mist!«, fluchte sie lachend. »Ab nach Hause, verdammt. Das ist echt kein Wetter für nasse Klamotten.«

Bente nahm denselben Dünenüberweg wie die Frau, weil er am nächsten lag. Sie wollte so schnell es ging zurück zur Pension, denn sie fror jetzt erbärmlich, zudem gab der Turnschuh schmatzende Laute von sich, weil er ebenfalls eine heftige Ladung Wasser abbekommen hatte.

Bente erklomm den Dünenkamm und musste sich kurz orientieren. Sie sah sich um. Der Ort lag rechts, wenn sie einfach weiter geradeaus lief, müsste sie zum Dünennest gelangen.

Kurze Zeit später passierte Bente den Zugang zum Friedhof. Sie blieb kurz stehen und schaute neugierig zu den Gräbern. Im Reiseführer hatte sie gelesen, dass hier die berühmte Sängerin Lale Andersen begraben war. Es sah so friedlich aus, und Bente fühlte sich magisch angezogen.

Ich kleide mich schnell um und dann besuche ich das Grab, beschloss sie. Bente fand, das war ein guter Tagesabschluss. Dort konnte sie sich ganz in Ruhe ihre Worte zurechtlegen, bevor sie mit Daniel und Elinor sprach und sich anschließend ein Restaurant für das Abendessen suchte.

In Wahrheit wusste sie jedoch, dass sie sich die Situation schönredete und Ausflüchte suchte, denn der Besuch auf dem Friedhof war nur ein weiteres Verschieben ihrer Verantwortung.

Rasch stürmte Bente weiter. In Windeseile schlüpfte sie in ihrem Zimmer in eine trockene Hose und wühlte hernach im Reiserucksack nach neuen Socken. Zum Glück hatte sie auch zweites Paar Schuhe eingepackt. So ausgestattet ging es ihr besser.

Das Handy lag noch immer auf dem Tisch, aber sie widerstand der Versuchung, es in die Hand zu nehmen.

»Später«, flüsterte sie. »Ich kann noch nicht.«

Sie trat erneut vor die Tür. Der Wind hatte ein Loch in die dichte Wolkendecke geblasen, und über ihr zeigte sich ein rundes Stück blauer Himmel. Allerdings stand die Sonne schon recht tief, und es war merklich kälter als vorhin. Zudem sah es nicht aus, als würde es lange trocken bleiben, denn es wehte aus Nordwest, und über dem Meer türmten sich blauschwarze Wolken.

Kaum hatte Bente den Friedhof betreten, hielt sie kurz den Atem an – die kurzhaarige Frau mit den gelben Gummistiefeln schlurfte in gebückter Haltung an ihr vorbei. Sie blieb stehen und musterte Bente mit ihren dunkelgrünen, warm schimmernden Augen. Dann glitt ein feines Lächeln über ihr zartes Gesicht. »Moin!«

Bente war es nicht gewohnt, von einer Fremden angesprochen zu werden. Vermutlich war das auf einer Insel anders als in der Großstadt. Trotzdem bemühte sie sich um Freundlichkeit.

»Moin«, antwortete sie, obwohl ihr die norddeutsche Begrüßung fremd war und nicht so leicht über die Lippen ging.

Die Frau machte keinerlei Anstalten weiterzugehen.

»Kann ich was für Sie tun?«, fragte Bente schließlich, einfach, um etwas zu sagen.

»Für mich kann keiner mehr etwas tun«, erwiderte die Frau mit ruhiger Stimme, die klang wie weicher Samt. Sie fixierte Bente, aber der enge Blickkontakt war nicht unangenehm oder peinlich.

»Wenn ich ehrlich bin, sind Sie mir schon am Strand aufgefallen«, sagte die Frau nun vorsichtig, ohne die Augen von Bente zu lösen. »Sie machen auf mich einen … nun ja, einen unglücklichen Eindruck. Entschuldigung, dass ich so direkt bin.« Sie lachte leise auf.

Bente stutzte. Sah man ihr den Kummer so deutlich an? Das war ihr doch ein wenig unangenehm. Sie wandte verlegen den Blick ab und schaute in Richtung der Gräber. »Ich will nur kurz zur Ruhestätte von Lale Andersen«, erwiderte sie und wich damit dem Gespräch über ihr Befinden aus. Herrgott, warum sprach sie so gestelzt?

»Lales Grab, ja dorthin wollen alle. Gehen Sie gern hin, aber verweilen sie länger an diesem Ort.« Die Frau wies mit einer großen Handbewegung über das gesamte Areal. »Der Friedhof gibt noch so viel mehr her. Glauben Sie mir.«

»Ich bin sonst keine Friedhofsgängerin«, erwiderte Bente. »Diese Orte haben etwas Deprimierendes, oder nicht?«

»Das kommt auf den Blickwinkel an, würde ich sagen«, antwortete die Frau. Sie streckte Bente die Hand entgegen. »Wie unhöflich, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Amelie Stelzer und lebe schon viele Jahre auf der Insel. Bin quasi ein Bestandteil dieses Sandhaufens.«

Da habe ich ja richtig getippt, schoss es Bente durch den Kopf. Amelies Hand war viel zu dünn und fühlte sich knochig an. »Freut mich. Mein Name ist Bente Meißner aus Hannover. Schön, Sie kennenzulernen.«

»Sag Amelie. In Ostfriesland haben wir das nicht so mit den Förmlichkeiten.«

Bente lächelte. »Gut, dann eben du.« Eines lag ihr aber auf dem Herzen, und ohne eine Antwort wollte sie Amelie nicht ziehen lassen. »Was meintest du eben, als du gesagt hast, es kommt auf den Blickwinkel an, ob ein Friedhof deprimierend ist oder nicht?«

Amelie deutete wie selbstverständlich auf sich. »Meinen Blickwinkel meinte ich. Für mich ist der Dünenfriedhof ein Ort des Friedens. Das steckt schließlich schon in dem Wort. – Obwohl wahrhaftig stammt das Wort von Einfrieden, aber ich drehe es mir eben lieber anders.« Sie seufzte, doch es klang nicht wehmütig. »Wer hier ruht, den plagt nichts mehr. Er kann dem Schrei der Fasane lauschen, dem Meeresrauschen …«

Ihnen kam ein Mann mit einem Buch in der Hand entgegen. Er nickte ihnen kurz zu. »Für heute wird es zu kalt zum Lesen, aber da hinten ist es still, und habe ich für eine ganze Weile windgeschützt gesessen. Nun, vielleicht morgen wieder, ich hoffe, es regnet nicht.« Er winkte kurz und verschwand in Richtung Dorf.

Amelie lächelte Bente an. »Siehst du, es gibt auch Menschen, die suchen genau hier die Ruhe zum Lesen. Inmitten der Verstorbenen. Es gibt kaum eine beschaulichere Umgebung auf Langeoog, glaube mir!«

Bente kniff die Lippen zusammen. Friedhöfe waren für sie bislang weder beschaulich gewesen noch ein Ort, wo sie gemütlich ein Buch lesen wollte. Mit Gräbern verband sie Trauer und ein bisschen Grusel. Amelie erschien ihr echt ein wenig merkwürdig. Das Gefühl bestätigte sich, als sie Bente zuwinkte und sie bat, ihr zu folgen.

»Komm doch mal mit!« Amelie war plötzlich kurzatmig, holte ein paar Mal tief Luft, lief dann aber beherzt weiter.

Neugierig folgte Bente ihr.

Der Mann von eben hatte zumindest in dem Punkt recht gehabt, dass es hier sehr windstill war. An dieser Stelle war das Meeresrauschen zwar zu hören, aber es klang harmlos, seicht und wie weichgespült.

Die gesamte Umgebung war angenehm ruhig, die Luft vom Duft der Kiefern geschwängert. An diesem kleinen Fleck Erde schien die Zeit stillzustehen. Es war, als würde die Ewigkeit genau hier beginnen. Bente bekam eine leise Ahnung, wovon Amelie eben gesprochen hatte.

Ein Hase hoppelte gemächlich zwischen den Gräbern herum, verhielt kurz und schien alle Zeit der Welt zu haben. Ihm folgte ein braunbuntes Fasanenmännchen, das nickend seinen Weg nahm. Ein paar Amseln stimmten ihr letztes Lied an, bevor die Dämmerung sich gleich über den Friedhof legen würde und die Gräber und ihre Bewohner bis zum Morgen in die Arme nahm.

Amelie stand an der Grabstelle von Lale Andersen. Es handelte sich um einen schlichten braunen Marmorstein, auf dem der Name der Sängerin zu lesen war. Die Ruhestätte war bepflanzt, hob sich aber im Wesentlichen nicht von den anderen Gräbern ab.

Bente betrachtete das Grab für eine Weile. Hier lag also die berühmte Sängerin, aber spektakulär war es irgendwie nicht. Sie überlegte, wie sie schnell wieder von diesem Friedhof verschwinden konnte. Freundlich lächelte sie Amelie an. »Danke, dann hab ich ja gesehen, was ich sehen wollte«, sagte sie.

Amelie aber nestelte in ihrer Hosentasche. »Brauchst du eine Kerze?« Sie hatte gefunden, was sie suchte, und förderte ein Teelicht zutage. »Es beruhigt, Kerzen anzuzünden. Dir wird es auch helfen, da bin ich sicher.« Sie zündete das Teelicht an und reichte es Bente.

Diese fand es rührend, wie sehr sich die fremde Frau um ihr Seelenheil bemühte. »Ich stelle die Kerze auf Lales Grab, danke.«

»Mach das.« Amelie zögerte, und wieder traf Bente dieser eigenartige Blick, der ihr durch Mark und Bein ging und sie an einer Stelle berührte, die sie gar nicht offenbaren wollte. »Am Ende stellt man die Lichter doch eigentlich für sich selbst auf«, flüsterte Amelie schließlich, und in ihrer Stimme lag große Trauer. »Genieß die Natur und die Zeit auf Langeoog. Das Meer, die Dünen. Hier auf der Insel findet man schnell seinen Frieden. Ich weiß, wovon ich spreche. – Aber jetzt muss ich gehen, meine Runde ist noch nicht vorbei, und ich mag es nicht, wenn es zu spät wird.« Sie verabschiedete sich mit einem rätselhaften Lächeln.

Bente stellte das Teelicht in eine Halterung auf dem Grab Lales und sah Amelie nach.

Die platzierte gerade ein weiteres Teelicht in einen roten Halter auf einem kleinen Grab, das weiter links lag. Das Licht flackerte auf, und ehe Bente sich’s versah, brannte ein weiteres, ein paar Meter weiter. Eine Gänsehaut überkam sie, und sie beeilte sich, zu verschwinden.

*

Amelie sah Bente nach. Das Teelicht flackerte verloren auf Lales Grab. Die junge Frau war wie erwartet geflohen, nachdem sie sich schon zuvor sehr zurückhaltend gezeigt hatte. Amelie beobachtete und analysierte Menschen gern und verglich sie dann mit Vögeln, denn das war sicheres Terrain, damit kannte sie sich aus. Bente war eine Nachtigall. Sie war scheu und trällerte schon gar nicht im Beisein einer Fremden ihr Lied. Vielleicht allein, in der Dämmerung, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Schade, dachte Amelie. Seit Langem war diese Frau mal wieder ein Mensch, mit dem sie sich sehr gern unterhalten hätte, denn sie umgab etwas, was Amelie anzog. Waren es die Augen, die sie fast in ihre Seele hatte blicken lassen? Erkannte sie sich selbst in Bente wieder?

Amelie atmete einmal schwer ein und schob die Gedanken fort. Sie wollte nicht an früher denken, denn sie lebte jetzt, und es war wichtig, jede Minute auszukosten, jede Sekunde zu genießen und das Glück einzufangen wie in einem Schmetterlingsnetz.

Zum Glück war sie nicht ganz allein auf ihrem Weg, der unaufhaltsam auf das große Nichts zusteuerte. Der Weg, den am Ende jeder gehen musste und vor dem sich doch alle fürchteten. Amelie war froh, dass Jan-Hauke bei ihr war und sie ihre Vögel im Wattenmeer hatte. Das waren Tausende! Und sie begrüßten sie täglich aufs Neue und auf ihre eigene Art und Weise. Sie kamen und gingen, sie schnatterten und riefen, sie brüteten und jagten. Nein, einsam war sie inmitten ihrer gefiederten Freunde keineswegs. Einsam war derjenige, der sein Schicksal nicht akzeptierte, der haderte und sich vor dem Rest des Lebens verschloss. Einsam waren Menschen, die sich über nichts mehr freuen konnten und nicht einmal mehr aufstehen mochten. Sie aber tat all das sehr gern.

Leider verstanden viele Menschen ihre Art, den Tod zu akzeptieren, nicht und hatten sich deshalb von ihr zurückgezogen, weil ihnen die ständige Konfrontation mit der Ewigkeit zu viel war. Wobei Amelie von jeher eher ein beschauliches Leben bevorzugte, jedenfalls seitdem sie auf Langeoog lebte.

Sie war die meiste Zeit am Tag am liebsten allein. Mit sich und der Natur, mit ihren Vögeln. Sehr gern mochte sie die Gänse. Und auch da liebte sie eine besondere Art noch mehr als die anderen. Sie rührten ihr Herz, diese Nonnengänse mit ihrem schwarzen Gefieder und dem hellen Kopf, der wie von einem Kopftuch umfasst wurde. Manche nannten sie auch Weißwangengänse, aber Amelie mochte den anderen Begriff lieber. Er war mystischer, hatte etwas von Demut und Liebe. Zwei Dinge, die ihr selbst unglaublich wichtig waren.

Aber auch die übrigen Gänsearten auf der Insel hatten ihre Faszination. Die Graugänse zum Beispiel. Sie liebten Langeoog genauso wie sie und flogen im Gegensatz zu den anderen Arten nicht davon.

Doch die Nonnengänse zogen fort, um wiederzukommen. Jahr für Jahr. Sie blieben den Winter über hier, oft zum Leidwesen der Landwirte, weil sie auf dem Festland durchaus Schäden hinterließen, und machten sich im Frühjahr zum Brüten auf den Weg ins russische Eismeer, ehe sie im Herbst erneut an der Nordsee überwinterten. Auf Langeoog störten sie nicht, waren Teil der unbezwingbaren Natur und Amelie mit ihrer Schönheit und Anmut, mit ihrem wunderbaren Gesang sehr willkommen.

Sie schluckte. Sie würde die Nonnengänse nur noch diesen einen Herbst einfliegen sehen … Ach, wie sie darauf wartete, dass sie endlich kamen! Aber dieses Jahr ließen sie sich Zeit.

Amelie schnappte sich eine grüne Gießkanne und füllte sie mit Wasser. Aktivitäten waren immer gut und lenkten ab. Gerade als sie eine Staude auf einem der Gräber goss, deren Blätter nach Wasser lechzten, hörte sie das Tröten von Gänsen. Sie wandte den Blick zum Himmel. Ihr Gesicht blitzte auf, ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Da hatte sie eben noch an ihre Gänse gedacht – und nun kamen sie, als hätten sie ihren Gedankenruf gehört.

Diese drei großen Schwärme waren die Vorhut und sie steuerten auf die Wiesen der Insel zu. Amelies trübe Gedanken waren wie weggeblasen! Sie winkte freudig zum Himmel. Ihre Freundinnen und Freunde waren zurückgekommen. Ihre Nonnengänse.

*

Daniel schüttelte den Kopf. Es war schon siebzehn Uhr und noch immer hatte Bente nicht angerufen. Elinor war zu ihrer Freundin geflüchtet, sie hielt es im Haus ohne ihre Mutter und in der düsteren Stimmung nicht aus.

Um sieben wollten sie Pizza bestellen, bis dahin war noch Zeit. Zu viel Zeit, um herumzusitzen, wie ein liebeskranker Teenager aufs Handy zu starren und auf einen Anruf zu warten, der vielleicht heute gar nicht mehr kam.

Kurzerhand zog Daniel seine Jacke an. Noch war es nicht so früh dunkel, er konnte ein bisschen in der Eilenriede spazieren gehen. Die frische Luft würde seinen Kopf freipusten.

Er hätte auch seinen Kumpel Hartmut anrufen können, aber er wollte nicht, dass der nachhakte, warum Bente fort war, und es womöglich seiner Frau Susanne erzählte. Die steckte ihre Nase ständig in Dinge, die sie nichts angingen, und außerdem war Daniel der Ansicht, dass Eheprobleme in der Ehe bleiben sollten. Er hoffte, dass Bente das genauso sah, denn ab und zu schreiben sich die beiden Frauen oder sie telefonierten. Wie eng sie miteinander waren, konnte er allerdings nicht einschätzen.

Das Telefon ließ Daniel bewusst auf dem Küchentisch liegen. Sollte Bente sich melden, dann musste sie jetzt eben auch mal auf ihn warten.

Er überquerte die Straße, lief in Richtung Lister Turm und gelangte von dort in das Waldstück. Vom Spielplatz her drangen laute Stimmen, die ihm schon wieder Tränen in die Augen trieben. Hier waren sie früher, als Elinor noch klein war, immer zusammen hingegangen. Es waren so schöne Zeiten gewesen, damals, als sie noch viel unternommen hatten.

Hinter ihm knirschten Schritte, und er fuhr erschrocken zusammen, als er angesprochen wurde. »Hallo Daniel!«

Er drehte sich um. »Martine?«, rief er erstaunt aus. »Was machst denn du hier? Auch unterwegs zu einem kleinem Samstagsspaziergang?«

Martine war seine Mitarbeiterin. Er schätzte sie sehr. Sie war um einiges jünger als er, kratzte altersmäßig gerade an der Dreißig, während er sich heute mit seinen vierzig Jahren unendlich alt fühlte. »Ja, ist zwar etwas windig, aber im Wäldchen geht es. Ich bin oft hier unterwegs, schließlich wohne ich nicht weit.« Sie zeigte in Richtung St. Markuskirche.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Daniel. »Am Wochenende ist immer ganz schön was los. Manchmal denke ich, dass halb Hannover in der Eilenriede Erholung sucht.«

»Ist ja auch schön hier.« Martine schabte mit der Schuhspitze über den Sand und wusste offenbar nicht, was sie sagen sollte.

»Gehen wir ein Stück?«, fragte Daniel und rettete so die Situation.