Die Reisenden - Regina Porter - E-Book
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Die Reisenden E-Book

Regina Porter

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Beschreibung

Zwei Familien, zwei Hautfarben und die gemeinsame Sehnsucht nach Versöhnung: Von den Bürgerrechtsbewegungen bis zur Obama-Ära spannt Regina Porter ein schillerndes Zeitpanorama und verdichtet die Geschichte zweier Familien - die eine weiß, die andere schwarz - zu einem intimen und gegenwärtigen Familienepos. Anfang der Sechziger weht Hoffnung durch das Land. Martin Luther King marschiert auf Washington, Amerika hat einen Traum. Der junge James will seine ärmliche irische Herkunft hinter sich lassen und träumt von einer strahlenden Zukunft als Anwalt. Nur wenig später wird die junge, schöne Afroamerikanerin Agnes auf der Heimfahrt von ihrem ersten Date von einem weißen Polizisten angehalten. Schreckliche Momente folgen. Agnes zweifelt, ob sie überhaupt eine Zukunft hat. Beide ahnen nicht, auf welch unerwarteten Wegen die Geschichte der nächsten Jahrzehnte sie und ihre Familien zusammenführen wird. Eine scharfsinnige Erkundung des heutigen Amerikas und der Traumata von Rassismus und Ungleichheit, die nach wie vor unsere Welt bewegen - erzählt von einer neuen aufregenden Stimme der Weltliteratur.

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Regina M. Porter

Die Reisenden

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]ErbfolgeDamascus RoadZigaretten gehören nicht ins KrankenhausEs werde SalzErster AktZwischenspielZweiter AktDritter AktEddie nach ’NamSommersaisonEin Reiselustiger steht stillEloise hebt abIch weiß, wo das Gift liegtMinerva, AllüberallSchreibübung für Professor Bass: SprachstrukturenDampfLee Krasner bist Du nichtHanks RegisterFarbenlandEloise hebt abDas Gewicht eines AlligatorsDanksagungDie handelnden PersonenHintergrundBildnachweise

FÜR MEINE ELTERN

 

und für die Alltagsgeschichtenerzähler, die bei uns ein- und ausgegangen sind

Erbfolge

1946 1954 1964 1971 1986 2000 2009

Als der Junge vier war, fragte er seinen Vater, warum Menschen eigentlich Schlaf bräuchten. Sein Vater antwortete: »Damit Gott den ganzen verfickten Scheiß wieder richten kann, den die Menschen verfickt haben.«

 

Als der Junge zwölf war, fragte er seine Mutter, warum sein Vater fort sei. Die Mutter antwortete: »Damit er alles ficken kann, was nicht bei drei auf dem Baum ist.«

 

Als der Junge dreizehn war, wollte er wissen, warum sein Vater wieder da sei. Seine Mutter erklärte es ihm. »Mit einundvierzig habe ich nicht mehr den Nerv, mir noch einen anderen zum Ficken zu suchen.«

 

Als der Junge vierzehn war und die Schimpfwörter seinen Freunden über die Lippen sprudelten wie Wasser aus einem undichten Rohr, übte das Wort »Ficken« keinerlei Reiz auf ihn aus. Nicht. Den. Geringsten.

 

Mit achtzehn verließ der Junge (Jimmy Vincent junior) seinen Heimatort Huntington auf Long Island, um die University of Michigan zu besuchen. Jimmy galt allgemein als hervorragender Student und als attraktiv bis zum Gehtnichtmehr. Er hätte jede haben können, doch wie es oft so ist, schoss er sich auf eine ausgesprochen unscheinbare junge Frau namens Alice ein. Jimmy redete sich erfolgreich ein, dass er Alice liebte, und die beiden Studienanfänger gaben sich beschwipst ihren sexuellen Kunststückchen hin. Alice, entzückt vor lauter Glück, zog Jimmy voller Dankbarkeit fest an sich und rief: »O Gott. Oh, ich … Ich? Fick mich, fick mich, fick mich!«

 

Nach der Michigan kehrte Jimmy an die Ostküste zurück. Er sicherte sich einen Job als Rechtsberater bei einer bekannten Anwaltskanzlei und begegnete einer hochgewachsenen Frau aus New England. Jane studierte Medizin, wäre aber auch als Laufstegmodel durchgegangen. Sie benutzte keine schmutzigen Wörter, und wo immer sie hinkam, drehten sich alle nach ihr um. Diese Frau hätte Jimmy nicht nur heiraten, sondern auch lieben können, selbst im zarten Alter von zweiundzwanzig. Am Heiligabend, der, wie es der Zufall wollte, auch ihr erster gemeinsamer Jahrestag war, fuhr Jimmy mit Jane zu seinen Eltern.

 

Nach einem wunderbaren Essen, in dessen Zubereitung Jimmys Mutter den ganzen Tag gesteckt hatte (das Rezept stammte aus ihrem Lieblingskochbuch), kam Jimmys Vater ins Wohnzimmer und setzte sich zwischen Jimmy und Jane. Er trank von seinem Madeira und erging sich in Erinnerungen an seine Kindheit im ländlichen Maine. »Heiße Kartoffeln helfen bei Gerstenkörnern. Rohe Kartoffeln unter der Achsel schlagen jedes Deo. Mit einer Kartoffel im Schuh hast du vor allen Erkältungen Ruh. Das ist das Lexikon des Farmersjungen. Ich habe einen Kartoffelacker gegen den anderen eingetauscht. Long Island war früher voll mit Kartoffeln, falls ihr das noch nicht wusstet.« Als Jane in der Küche verschwand, um nach Jimmys Mutter zu sehen, wandte sein Vater sich ihm zu und sagte: »Die fickst du also, Kleiner? Halt die bloß fest. Vergeig’s nicht, Jimmy-Boy. Da würd ich auch gern mal ran.« Jimmy, den immer alle Jimmy junior genannt hatten, beschloss umgehend, dass ihm der Name James lieber war. Als James die Zusage von der Columbia Law School bekam, ging er auf Abstand zu Jane.

NANCY VINCENTS WEIHNACHTSMENÜ

»Weihnachtlicher Rostbratentraum«

 

Klassischer Rinderrostbraten, Bratkartoffeln, frittierte Zwiebelringe, Brokkoli mit Sauce Hollandaise, pikant gefüllte Apfelringe, Aufbackbrötchen, Candle Cake, heißer Kaffee, warme Milch

aus: Better Homes and Gardens: Special Occasions. Meredith Press, New York, 1959

Als James einunddreißig war, wurde er Teilhaber seiner Firma. Er war vermögend, wenn auch nicht entsetzlich reich. James hatte miterlebt, wie Herzinfarkte zwei Teilhabern, kaum älter als er, den Garaus machten, deshalb plante er immer genügend Zeit für Reisen im In- und Ausland ein. Er genoss es, sich mit einer beachtlichen Anzahl Frauen zu treffen. Er heiratete eine hübsche Middlebury-Absolventin, unweit ihres Colleges, im Blueberry Hill Resort auf einem sanften Hügel in Vermont. James und Sigrid erstanden eine Vierzimmerwohnung mit Blick auf den Central Park. James’ schöne Angetraute hatte nur einen Makel, eine Narbe an der Nase, die milde Gabe eines Wildfremden, der sie seinerzeit von ihrem rosa Fahrrad der Marke Schwinn geschubst hatte, als sie mit ihren Eltern durch den Prospect Park radelte. »Platz da, verfickt nochmal!«, rief der elastanbewehrte Fremde und zischte auf seinen Wildlederrollschuhen an ihr vorbei. James fand diese Geschichte geradezu prophetisch. Er liebte Sigrid genauso sehr, wie sie ihn liebte. Sigrid war immer für einen Lacher gut. Die beiden bekamen einen Sohn. Sie nannten ihn Rufus. Und riefen ihn Ruff. Sigrid sagte James, sie wolle keine weiteren Kinder. Nach einjähriger Pause nahm sie ihre Arbeit als Lektorin wieder auf.

 

Als James vierzig war, regte sich nichts bei ihm. Irgendwo hatte er gelesen, in den Vierzigern werde man unglücklich, doch James war es ganz zufrieden, mit seinem Ruff zum Baseball ins Yankee Stadium zu gehen und die öde, aber einträgliche Arbeit im Büro von Freitag bis Montag ruhen zu lassen. Unversehens kam er zu einem Lehrauftrag an der Columbia, seiner Alma Mater, und stellte fest, dass ihm das besser gefiel als die Anwaltstätigkeit.

 

Als James zweiundvierzig war, regte sich sehr viel bei ihm – erst recht, nachdem er mitangesehen hatte, wie sein betagter Vater im Familiengrab in Cabot, Maine, beigesetzt wurde. Kurz vor der Bestattung nahm ein Kollege aus der Kanzlei James beiseite und sagte: »Du hast Glück, dass du deinen Vater noch als Erwachsener kennenlernen konntest. Nicht jeder wird einundachtzig.« Am liebsten hätte James erwidert: Fick dich. Ich kannte meinen Vater überhaupt nicht. Stattdessen sagte er: »Danke, dass du nach Maine gekommen bist. Vielen, vielen Dank.«

Als James vierundvierzig war, teilte ihm Sigrid mit, sie sei zu oft alleine in der Wohnung, es müsse sich etwas ändern. Sie verbrachten gerade ihren jährlichen Urlaub in Vermont, nur wenige Meter von dem Blueberry Hill Ski Resort entfernt, wo er ihr damals den Antrag gemacht hatte. Es wurde ein durchwachsenes Wochenende. James zog den Kollegen zu Rate, der auf der Beisetzung seines Vaters gewesen war. »Die Wechseljahre sind ein echtes Problem«, sagte der Kollege. »Wird wohl Zeit für was Neues.« Das schien James ein wenig verfrüht, und er bat seine Mutter, sich einzuschalten. Sie schickte ihm ein Rezept aus Better Homes and Gardens. Bei einem Teller Pilzrisotto, in dessen Zubereitung James den Großteil des Nachmittags gesteckt hatte, erklärte er Sigrid: »Das Klimakterium kann dein Feind sein oder aber dein bester Freund.« Sigrid nahm Rufus, den gemeinsamen Sohn, und zog ans andere Ende des Landes, in eine Wohnung im spanischen Stil in Los Angeles. Heute geht sie fast jeden Morgen am Strand joggen und trinkt abends Sapporo-Bier mit ihrem Freund.

 

Als James fünfzig war und gerade mit Akemi schlief, seiner sehr viel jüngeren japanischen Assistentin, rief Rufus weinend aus Venice Beach an. »Dad, hier ist was total Schlimmes passiert. Kannst du bitte nach L.A. kommen und mich abholen?« Auf schlechte Nachrichten seines Sohnes war James nicht gefasst. Er legte einfach auf, nicht ohne Rufus zuvor noch mitzuteilen: »Tut mir leid, Ruff, aber ich versuche hier zu schlafen – damit ich den ganzen verfickten Scheiß wieder richten kann, den Gott verfickt hat.«

Akemi, deren Name auf Japanisch »große Schönheit« bedeutet, sah zu, wie James nach dem Pizzakarton von V&T auf dem Nachttisch griff. Ihr war aufgefallen, dass er neuerdings häufig im Bett aß. Sie zog sich die Bettdecke über die Schultern und gab gar nicht vor, ihn zu lieben. »Du weißt nicht, wie Altwerden geht.« James sagte ihr, er brauche etwas Zeit für sich, und als Akemi fort war, rief er Rufus an.

 

Als James achtundfünfzig war und glücklich verheiratet mit der sechsundfünfzigjährigen Adele, die er liebte, weil sie beide kein gesteigertes Redebedürfnis hatten, besuchte er seine betagte Mutter in der Senioreneinrichtung, von der sie inzwischen als »Zuhause« sprach. Seine Mutter hatte weiße Haare und ein weißes Gebiss, und er staunte, wie lebendig ihr falsches Lächeln wirkte. Er hatte seiner Mutter nie gesagt, dass sie schön war. Eine Frau wie sie hätte ein solches Kompliment kaum zu schätzen gewusst. »Wie geht es dir, Mom?«

Seine Mutter sah ihn an und sagte: »Es reicht.« Diese Bemerkung erschien James ebenso notwendig wie rätselhaft. Er überlegte, ob sie wohl erwog, den Abgang zu machen. Das war etwas für Feiglinge, aber er wäre nie so weit gegangen, es für sich selbst auszuschließen. Sie deutete auf einen alten Mann zwei Tische weiter, in einem abgetragenen Bademantel aus Seide. Der alte Truthahn war ins Gespräch mit einer fülligen Besucherin mittleren Alters vertieft, die seine Tochter sein konnte oder auch eine sehr viel jüngere Ehefrau. »Ich habe kein bisschen Ruhe. Der alte Knacker da gräbt mich ständig an.«

»Du hast’s eben noch drauf, Mom«, sagte James. Seine Mutter lächelte und kniff ihn in die Wange. Es war nicht ganz dasselbe, wie ihr zu sagen, dass sie schön war. Aber es reichte. Sie schob ihren Stuhl zurück und informierte James, sie freue sich schon darauf, ihn nächsten Sonntag wiederzusehen.

 

Als James sechzig war und sein Rufus, selbst schon etliche Jahre verheiratet und Vater von Zwillingen, ihn anrief und fragte: »Dad, wie kann ich meine Ehe retten?«, da erwiderte James nur: »Indem du dich nicht scheiden lässt.« Rufus hatte eine Schwarze namens Claudia Christie geheiratet, und Elijah und Winona, James’ Enkelkinder, waren folglich gemischtrassig, multiethnisch, zur Hälfte schwarz. Wohin James in Manhattan auch ging, überall stieß er auf solche Halblinge. Einmal hatte er den Fehler gemacht, von »Mulatten« zu sprechen. Rufus hatte ihn beiseitegenommen und ihm erklärt, dieses Wort sei streng verboten. Wenn er es noch einmal verwende, werde er seine Enkelkinder nie wiedersehen. Doch wenn James mit Elijah und Winona die Straße entlangging, waren seine Gefühle so gemischt wie ihre Hautfarbe. »Sie sind umwerfend«, sagten die Leute. Aber sie sehen kein bisschen aus wie ich, gestand er Adele.

 

An einem sonnigen Nachmittag im August spielte James draußen im Garten mit Elijah Softball. Inzwischen verbrachte er den Großteil des Sommers und Herbstes mit Adele in ihrem Strandhaus in Amagansett. Sie hüteten eine Woche lang ihre Enkelkinder, während Rufus und Claudia bei einer Joyce-Konferenz in Dublin waren. James und Adele gönnten sich mittags gern einen Martini. Die Mittagsmartinis waren in Amagansett zum Ritual geworden, Golfspielen jedoch nicht. Golfspielen war ausgeschlossen. Es erfüllte James mit Sorge, als Adele in einem Vierzigerjahre-Badeanzug im Mildred-Pierce-Stil aus der Küche kam und Winona in einem altersschwachen Schwimmkringel platzierte. Der Kringel war weißblau und mit ehemals roten Krabben verziert, doch man sah ihm sein biblisches Alter an, weil die Krabben längst rostrosa geworden waren. James teilte seine Aufmerksamkeit zwischen Winona im Pool und Elijah auf, der den Softball mit einem hundsgemeinen Schwung zu ihm feuerte. Der Junge hatte einen ordentlichen Wurfarm. Und im richtigen Licht – war das nicht komisch – sah er genauso aus wie James.

»Grandpa«, sagte Elijah, während er zum nächsten Wurf ausholte – ein Wurf, der stechendscharf auf James’ Handfläche traf. »Warum brauchen Menschen eigentlich Schlaf?«

Sie standen auf dem weiten, grünen Rasen und trugen beide Badehosen. Die Badehosen hatten denselben Aquamarinton. Adele hatte in ihrem Strandhaus gern alles farblich aufeinander abgestimmt und bunt wie in der Karibik. Die Vorstellung, ein Strandhaus ganz in Weiß zu halten, fand sie abstoßend. Apropos Adele. Wo steckte Adele? Winona trieb in ihrem Schwimmkringel und sang. Strampelte und sang. Plantschte und strampelte. Einen Moment lang kam James durcheinander. Altwerden war nicht leicht. Manchmal versuchte er, die Zeit bis ins Jahr 1942 zurückzudrehen, sein Geburtsjahr.

»Was hast du gesagt, Elijah?«

»Wie kommt es, Grandpa, dass wir alle Schlaf brauchen?«

Durch das Verandafenster sah James Adele. Sie schenkte sich einen weiteren Martini ein. Und telefonierte, wahrscheinlich mit einer ihrer Künstlerfreundinnen, um zu erörtern, wohin sie abends mit den Kindern essen gehen sollten. Jetzt, da sie alle Enkelkinder hatten, gehörte Auswärtsessen fest zum Tagesablauf. Auswärtsessen und Martinis.

»Elijah«, sagte James und wandte sich zum Pool. Winona döste. Winona war eingeschlafen. Sie hing schwer über den Rand des Schwimmkringels und trieb auf den tieferen Teil des Pools zu.

»Keiner weiß, warum Menschen Schlaf brauchen«, hörte James sich zu seinem Enkel sagen. »Schlaf ist ein Rätsel.«

Damascus Road

1966 1976 1977 1988 1999 2010

Eine Woche nach Fertigstellung der Damascus Prep, dieser Schule für reiche Kinder, die es auf keine andere schafften, schob sich ein fünfeinhalb Meter langer Alligator aus dem Sumpf, um sein einstiges Zuhause zu inspizieren. Auf dem Flur im Erdgeschoss, zwischen dem Labor und dem Werkraum, trafen der kurzsichtige Schuldirektor und der Fünfeinhalb-Meter-Alligator aufeinander. Der Direktor, ein Nordstaatengewächs und ehemaliger Professor für Latein am Amherst College, meinte, irgendwo gelesen zu haben, man solle im Zickzack laufen, wenn man in einem Tunnel einer Schlange oder einem Alligator auf dem Trockenen begegnete. Weil er seitliches Vorbeidrängen als zu langsam einschätzte, flüchtete er sich in den nahegelegenen Werkraum und rief beim Tierrettungsdienst an.

Als der sich nicht blicken ließ, verständigte der Direktor den örtlichen Sheriff. Eine Viertelstunde später traf ein pensionierter Polizeibeamter, einer der besten Schützen im ganzen Bezirk, in seinem Ford-Pickup ein und erschoss den Alligator. Der auch im Alter noch flachsblonde Beamte lehnte jede Barzahlung ab. Zusammen mit ein paar pensionierten Beamtenfreunden schleppte er den Kadaver weg. Seither kann man, so hat Agnes es gehört, den Alligator an jedem beliebigen Abend ausgestopft in der Great Byrd Lodge antreffen. Man kann einen Tipp abgeben, wie lang der Alligator zu Lebzeiten war und wie viel er gewogen hat. In der Ecke hängt eine hölzerne Tafel an der Wand, ein Stück Kreide ist mit einem Bindfaden daran befestigt. Der erste Gast des Abends, der Gewicht und Länge des Alligators mit seiner Schätzung am nächsten kommt, wird mit einem Gratisstück Pecan Pie und einem Glas des ortseigenen Brauereibiers belohnt. Agnes M. Christie, ältere Mitbürgerin und verlorene Tochter aus Buckner County, Georgia, hat noch nie in der Great Byrd Lodge zu Abend gegessen. Sie trinkt lieber Wein als Bier, und Pecan Pie ist ihr ohnehin viel zu süß. Auch bis zur Damascus Prep hat Agnes sich noch nicht vorgewagt, obwohl sie die Straße, die zu der Schule führt, nur zu gut kennt.

 

»So, wie Sie Ihre Cola trinken, haben Sie’s wohl eilig?«

Es war das Jahr 1966. Agnes Miller war neunzehn, Tambourmajorin im ersten Studienjahr am Buckner County College. Sie trug ein taubenblaues Hemdkleid und ihre Haare bauschig auftoupiert, im Stil von Diana Ross und den Supremes. Als Tambourmajorin brauchte man schöne Beine. Agnes’ Beine waren so lang, sie hätte damit den Nil überspringen können. Ihr Saum war sittsam. Sie arbeitete als Teilzeitkraft in der Collegebibliothek. Wann immer Agnes gefragt wurde, was sie einmal werden wolle, antwortete sie dem oder der Betreffenden ganz automatisch, sie wolle Lehrerin werden. Ob der Beruf ihr zusagte, war gleichgültig. Die Antwort war ebenso angemessen wie erfreulich.

»Ich bin eben sehr beschäftigt.« Agnes lächelte den dunkelbraunen, gutgekleideten Mann an, der im Kress Five&Dime am anderen Ende der Theke saß. Eigentlich hatte sie kein anderes Ziel, als nach Hause zu gehen, und außer lernen nichts weiter vor. Der Unterricht war vorbei, das Tambourmajorinnentraining schon seit zwei Stunden zu Ende. Agnes belohnte sich mit ihrem täglichen Glas Coca-Cola. Sie saß neben ihrer Schulfreundin Eloise, die nie ein Kleid anzog, wenn sie stattdessen Hosen tragen konnte. Es war später Nachmittag und gespenstisch ruhig im Lokal. Die Proteste und Sitzstreiks waren in Buckner County in Anspannung, Zurückhaltung und entschlossener Nichtachtung verstrichen. Zunächst hatten die Weißen mit Zorn reagiert, dann mit kühler Logik: Sie konzentrierten sich jetzt auf die Vororte, eröffneten dort Restaurants und Geschäfte und bauten Ranchhäuser mit versetzten Wohnebenen in neuen Vierteln, in die sich kein Schwarzer wagte.

»Na, ich heiße jedenfalls Claude und habe zufällig gerade alle Zeit der Welt.« Claude Johnson rutschte behände von Hocker zu Hocker und blieb auf dem neben Agnes sitzen. Er sei Ingenieur, sagte er. Und gerade von der Southeast Aviation eingestellt worden. Er trug ordentliche graue Hosen, einen Blazer aus Wolltwill mit Lederaufnähern an den Ellbogen, dazu Hemd und Krawatte. Trotz seines Farmersjungenkreuzes und der breiten Schultern wirkte alles leger und stimmig an ihm. Claude lud Agnes und Eloise auf eine zweite Runde Cola ein. Seine Aufmerksamkeit galt offensichtlich Agnes, doch er tat sein Bestes, Eloise ins Gespräch einzubeziehen. Alles an Eloise schrie »Finger weg!«, vor allem die Art, wie sie sich an Agnes schmiegte, wann immer Claude das Wort ergriff.

»Ich will ja nicht aufdringlich sein, aber ich rufe Sie heute Abend an«, erklärte Claude, als die drei das Kress verließen. Er erzählte den jungen Frauen, er stamme aus einer kleinen Stadt namens Tuxedo in Georgia und habe das Morehouse College besucht. In einem kurzen Anflug von Höflichkeit erwähnte Eloise, sie habe Familie in Tuxedo, setzte dann aber hinzu: »Tuxedo ist ein Provinznest. Meine armen Verwandten haben ihrerseits arme Verwandte in Tuxedo, von denen sie nichts wissen wollen.«

 

Am Abend rief Claude an. Er rief an, bevor Agnes ihre abendlichen Freiübungen absolviert hatte. Bevor im Schlafzimmer von Agnes’ Eltern im oberen Stockwerk das Licht erloschen war. Er rief an, bevor Eloise, die bei Agnes wohnte, sich aus lauter Gemeinheit mit Agnes’ Zahnbürste die Zähne geputzt und sämtliche Schubladen von Agnes’ Kleiderschrank mit den Klauenfüßen aufgezogen hatte.

»Sind Sie das, Agnes?«, fragte er.

»Bin ich, Claude. Wobei ich als angehende Englischlehrerin wohl besser ›Ich bin es‹ sagen sollte.«

»Wenn Sie gemütlich bei sich zu Hause sitzen, Süße, sollten Sie doch sagen können, was Sie wollen.«

»Ich bin aber nicht bei mir zu Hause. Ich lebe bei meinen Eltern.«

»Sind Sie glücklich dort?«

»Hm. Darüber denke ich eigentlich nicht viel nach. Aber ich glaube, ich könnte überall glücklich sein.« Agnes lachte und erschrak über den samtweichen Klang ihrer Stimme.

»Ich würde mir wünschen, dass Sie mit mir glücklich sind«, sagte Claude.

»Ich kenne Sie doch gar nicht, Claude.«

»Das können wir ändern. Wie wäre es mit Kino am Samstag? Soll ich Sie um sechs zum Essen abholen?«

»Das ist doch ein Anfang.«

Agnes legte den Hörer auf, und erst da fiel ihr ein, dass Claude gar nicht wusste, wo sie wohnte. Sie zählte. Es dauerte sechzig Sekunden, bis er noch einmal anrief. Eloise wartete in Agnes’ Zimmertür. Sie trug eines von Agnes’ Nachthemden.

»Ich hoffe, den großen Kerl bringt nicht mal einer um«, sagte Eloise. Agnes verdrehte die Augen. War Eloise denn nicht klar, wie schal solche Kleingeistigkeit war? Von Kleingeistigkeit fielen einem verfrüht die Zähne aus. Von Kleingeistigkeit bekam man schlechten Atem.

»Warum sagst du so was?«

Eloise schüttelte den Kopf. »Er wirkt einfach so.«

 

Es war in diesen Herbstnächten des Jahres 1966 nicht ungewöhnlich, dass Eloise über ihr Kissen hinweg griff und die Decke von Agnes’ Bett nach unten zog. Manchmal schoben sich dann Eloises Schenkel auf Agnes’ Beine, und Agnes blickte starr aus dem Fenster hinauf zum Mond und zum besternten Himmel, streichelte Eloises Hinterkopf, ihren Nacken, den schlanken, festen Rücken und all die anderen Stellen an Eloises Körper, die sie erregten. Sie gingen leise und zielstrebig vor – Laute oder Worte konnten sie nicht riskieren. Diakon Miller und seine Frau Lady hatten ihr Schlafzimmer gleich gegenüber.

Am nächsten Morgen erhoben sich die Mädchen dann bester Laune, bereit für einen neuen Tag.

 

Claude ging mit Agnes in Nichts als ein Mensch im örtlichen Schwarzenkino am Stadtrand. Sie aßen Popcorn mit einer Extraportion flüssiger Butter obendrauf. Nach dem Film sagte Agnes: »Mein Gott, ich möchte auch so aussehen wie Abbey Lincoln.«

»Du siehst besser aus als Abbey Lincoln«, meinte Claude.

»Was bist du für ein Lügner, Claude. Wo hast du bloß diese Gewandtheit gelernt?«

»Also, hör mal, ich habe schließlich nicht gesagt, du würdest besser singen als Abbey Lincoln. Dann wäre ich wirklich ein Lügner.«

»Stimmt. Ich kann keinen Ton halten.« Agnes kicherte. »Sie haben mich deshalb sogar aus dem Kirchenchor geworfen, dabei ist mein Vater Diakon.«

»Das ist schlimm.«

»Ich bin seither nicht mehr hingegangen.«

»Du hast deinen Stolz.«

»Du wirkst auch nicht gerade bescheiden auf mich.«

»Lass mal hören, wie du singst.«

Agnes öffnete den Mund und sang »Baby Love«, während sie zu Claudes grauem Chevrolet Impala, Bj. 1961, gingen. Nicht der Neuwagen, den sie erwartet hatte, aber sauber und mit funktionierender Heizung. Mitten in ihrer Darbietung griff Claude nach ihrer Hand.

»Also, Agnes, mit der Stimme tust du wirklich niemandem einen Gefallen, am allerwenigsten dem lieben Gott.«

Sie knuffte ihn. »Ich singe Falsett. Falsettstimmen sind selten bei Frauen.«

Er knuffte zurück. »Du weißt schon, was man über hochmütige Menschen sagt? Hochmut kommt vor dem Fall.«

 

Claude Johnson hatte eine Mietwohnung über einer Garage gut drei Kilometer südlich des vermögenderen Schwarzenviertels. In Agnes’ Gegend waren die Haustüren rotgestrichen, damit man erkannte, wessen Haus Eigentum war. Claude mietete seine Wohnung von Mr Gilbert, dem Inhaber des einzigen schwarzen Möbelgeschäfts der Stadt. Agnes streifte durch die beiden Zimmer, die Claude bewohnte, registrierte die frisch gestrichenen weißen Wände, die Bücherregale; er besaß größtenteils Fachliteratur zum Ingenieurswesen oder Sachbücher: Die tausend Tage Kennedys, die Autobiographie von Malcolm X und Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Im Wohnzimmer hingen Urkunden vom Morehouse College und dem Hampton Institute an der Wand. Auf einem Beistelltisch drängten sich etliche Fotos einer nach Agnes’ Dafürhalten gewaltigen Großfamilie, die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestand. Auf dem Couchtisch aus Walnussholz standen frische Blumen.

Agnes griff nach einem der Familienfotos und drehte es zu Claude. »Wie viele seid ihr denn?«

»Fragte das Einzelkind.« Er lächelte. »Genug, um die Weibsleute beschäftigt zu halten.«

»Weibsleute?« Sie zog die Nase kraus und schnupperte an den Blumen, dann stellte sie das Foto wieder an seinen Platz. »Meine Grenze wären drei, eher sogar zwei.«

»Klingt vernünftig und angemessen.«

Im Hintergrund begann Abbey Lincoln zu singen, und Agnes erlaubte ihrem Körper, sich im Takt zu wiegen. Sie nickte Claude anerkennend zu und schnippte mit den Fingern.

»Du hast recht. Singen kann sie.«

Claude hatte sich auf die hellbraune Couch gesetzt, die, wie fast alle Möbel in der Wohnung, von Mr Gilbert stammte. Claude hatte den Raum mit ein paar farbenfrohen Kissen und einem Flokatiteppich verschönert.

»Eins musst du wissen, Agnes«, sagte er. »Ich will hier nicht bleiben.«

Sie schnippte weiter mit den Fingern. »Hast du die Wohnung selbst eingerichtet, Claude?«

»Ich gebe mir zwei, maximal drei Jahre. Dann geht es nach Kalifornien oder nach New York.«

»Behandeln sie dich nicht gut bei der Southeast Aviation?«

»Stell keine Fragen, wenn du die Antwort nicht hören willst.«

Sie hörte mit dem Schnippen auf. Natürlich musste Claude zu kämpfen haben. Er war groß und kräftig und dunkelbraun. Er drückte sich gut aus, trug keine abgewetzte Kleidung. »So schlimm?«

Claude beugte sich vor. »Wir werden unsere Kinder niemals schlagen, Agnes. Das schwöre ich dir, hörst du? Mein Vater glaubte fest an die Gerte. Er hatte immer im Nu eine zur Hand. Wahrscheinlich wusste er es einfach nicht besser. Ich war ein kleiner schwarzer Junge mit einem frechen Mundwerk. Er sagte immer: ›Sohn, wir sind hier im Süden. Kannst du nicht normal reden, so wie deine Geschwister? Wir müssen dir die Zunge zurechtstutzen, sonst bringst du es nie zu was auf der Welt.‹ Und weißt du was, Agnes? Ich habe den Mann so lange gehasst, aber jetzt verstehe ich ihn. Von Montag bis Freitag gehe ich zur Arbeit und stutze mir die Zunge zurecht.«

»Nur du selbst?«, fragte sie und hob die Brauen.

»Anderswo sind meine Aussichten besser. Ich bin gebildet. Und ich habe noch enge Verbindungen zu meinen Kommilitonen vom Morehouse und dem Hampton. New York, New Jersey, Washington. Vielleicht sogar Massachusetts. Das will ich alles nicht ausschließen. Aber jetzt ist die Zeit, mir meinen Ruf aufzubauen und meine Familie so gut zu unterstützen, wie ich kann.«

»Verstehe«, sagte Agnes. Sie bemerkte, dass seine honigbraunen Augen sanfter blickten.

Claude klopfte neben sich auf das Sofa. »Aber genug von mir. Jetzt erzähl mir mal, was du willst, Agnes.«

Einen Moment lang war Agnes verblüfft. Claude war der erste Mann, der sich zurücklehnte und ihr zuhörte, während sie sich ungelenk einen Traum zurechtzimmerte. »Alles, nur nicht Lehrerin werden.«

 

»Er ist mein Vetter dritten Grades«, sagte Eloise in der letzten Nacht, die sie in Agnes’ Bett verbrachte. Agnes hatte sich weggedreht und Eloise zugeraunt: »Solltest du dir nicht langsam auch einen Mann suchen?«

Eloise ließ nicht locker. »Er ist mein Vetter, mütterlicherseits. In der Familie meiner Mutter sterben alle jung.«

Agnes stieg aus Eloises schmalem Bett. »Ich kann das nicht mehr.«

Eloise hielt sie nicht zurück, auch wenn Agnes spürte, dass sie das gerne getan hätte. Doch Eloise war noch ganz mit Agnes’ Worten beschäftigt und mit diesem Gedanken, dem Gedanken, dass sie sich einen Mann suchen könnte oder sollte. »Was denn für einen Mann?«, fragte sie Agnes. »Macht Claude das Gleiche mit dir wie ich?« Agnes war aus dem Zimmer gerannt, eine Tränenflut im hübschen Gesicht, doch als sie am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, waren Eloise und sie schon wieder beste Freundinnen. Beide ließen sie sich die Rühreier mit Schinken, den Orangensaft, die Milch und die grünen Apfelschnitze schmecken, die exakt so geschnitten waren, wie Eloise es gerne hatte.

»Sie waren immer so gut zu mir«, sagte Eloise zu Agnes’ Mutter, Lady Miller. Lady Miller war Bäckerin. Fast jeden Morgen stand sie vor Tagesanbruch auf, um zur Arbeit in der jüdischen Bäckerei an der Jefferson Street zu gehen. An diesem Morgen hatte sie sich krankgemeldet. Der Geist hatte ihr eingegeben, dass sie besser daheim bleiben sollte. Wie ihre Tochter war auch Lady Miller einmal jung gewesen, und sie mochte zwar nicht allzu gebildet sein, war aber weder taub noch blind noch dämlich.

Lady machte ein Carepaket für Eloise zurecht und wandte sich dann ab, als Agnes ihre alte Schulfreundin fragte: »Wo willst du denn jetzt hin?«

»Zu meinem Vetter, King Tyrone. Das ist so ziemlich der Einzige, der was taugt.«

 

Agnes’ Eltern sagten nichts, als sie die erste Nacht bei Claude verbrachte, doch am folgenden Abend, nach dem Essen, nahm ihr Vater, ein Maurer, der ein Viertel der Gebäude in Buckner County miterrichtet hatte, Claude beiseite und fragte den jungen Mann, was er für Absichten gegenüber seiner Tochter hege. Claude rief Agnes dazu und erklärte, er wolle nicht über seine Absichten reden, ohne erst seine Freundin dazu zu befragen, für den Fall, dass ihre Absichten sich nicht mit seinen deckten. Agnes sagte, sie wolle das College beenden. Sie war im zweiten Studienjahr. Claude sagte, er werde in Buckner County bleiben, bis Agnes ihr Studium abgeschlossen habe. Agnes’ Mutter meinte, solange Claude ihrer Tochter keinen Ring an den Finger stecke, dürfe Agnes nicht mehr außer Haus nächtigen. Am selben Abend hielt Claude vor dem Jackson Quick Convenience Store, und Agnes ging hinein und erstand ein Dutzend Packungen Cracker Jacks. Aus der sechsten Packung fischten sie, ganz unten zwischen den Karamellklümpchen, einen kleinen Plastikring hervor, mit einem falschen violetten Edelstein. Die übrigen Packungen warfen sie weg.

 

Achtundvierzig Kilometer westlich der Damascus Prep liegt ein kleiner Ort, der harte Zeiten gesehen hat. Während der beiden Weltkriege hat das Städtchen ein Drittel seiner Einwohner an Fabrikjobs in verschiedenen amerikanischen Metropolen verloren. In den Neunzigern jedoch, als man den Sumpf renaturierte und das Wohnheim, den Campus, die Tennisplätze und die Wohnungen für die Lehrkräfte baute, fand ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Arbeit, bei der Instandhaltung des Campus, in der Cafeteria oder auch als Hausmeister, Wachpersonal oder Landschaftsgärtner. Die Immobilienpreise waren noch erschwinglich. Das Ambiente freundlich. Die Anmeldungen für das Internat schossen in die Höhe, die Schulgelder genauso. Die Ladeninhaber an der Main Street konnten sich jetzt Angestellte in Vollzeit leisten. Die Nachfrage nach Kinkerlitzchen und Luxusgütern blieb konstant. Der Ortsfriseur, ein beseelter Laienprediger und Teilzeittrinker, ging dazu über, mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler und die Belegschaft der Damascus Prep, jeden zweiten Sonntag zu öffnen. Sie erfreuten sich am Bluegrass, der in seinem Salon lief, und an dem Grover-Tamburin, das er rasseln ließ, während er ihnen die Haare schnitt. Das Kino, mindestens ein Jahrhundert alt und gerüchtehalber früher im Besitz eines Ghuls und zweier Gespenster, zeigte inzwischen Arthouse-Filme vor ausverkauftem Haus. Zugleich diente es auch als Konzertbühne. Und weil ein privilegiertes Dasein oft mit dem Wunsch nach frischem Gemüse und magerem, hochwertigem Fleisch einhergeht, wurden ein Bioladen und ein Feinkostmarkt eröffnet, um die Schülerinnen und Schüler der Damascus Prep sowie die gesundheitsbewusstere Bevölkerung des Bezirks zufriedenzustellen. Der Laden für Anglerbedarf nahm Designerangelruten ins Sortiment, und die ortsansässigen Fischer offerierten morgens und abends Bootstouren durch die Sümpfe. Am Ende des Schuljahrs charterten viele Familien Schiffe für die Fahrt von Georgia bis an die Küste von Maine. Eine einzelne kleine Privatschule, in einer früher einmal düsteren und einsamen Straße, die so gut wie nicht beleuchtet und bis auf das Schubbern von Grashüpferbeinen und das Quak-Quak der Ochsenfrösche Georgias totenstill war, hatte eine komplette Kleinstadt wiederbelebt. Natürlich weiß Agnes M. Christie von dieser Renaissance nicht aus erster Hand. Wenn es in der Buckner County Library, wo sie seit ihrer Rückkehr in den Süden dreimal die Woche ehrenamtlich arbeitet, einmal ruhig zugeht, liest sie viel über die Damascus Prep. Manchmal lässt man die Dinge im Alter gehen. Und manchmal hält man sie fest.

 

In Agnes’ letztem Studienjahr am Buckner County College erzählte ihr Claude, Abbey Lincoln komme nach Atlanta. Er freute sich umso mehr darüber, weil es die perfekte Gelegenheit war, bei seinen Eltern vorbeizuschauen und Agnes einigen seiner Kommilitonen vom Morehouse und ihren reizenden Frauen und Freundinnen vorzustellen. Lady Miller küsste den Cracker-Jack-Ring und gab Agnes und Claude ihren Segen. Diakon Miller steckte Claude einen druckfrischen Fünfzig-Dollar-Schein zu und erkundigte sich, ob das Benzin auch für die Fahrt reichen werde. Die Nadel der Tankanzeige von Claudes Chevrolet stand auf Voll, doch Agnes’ Vater packte ihnen trotzdem einen Reservekanister mit Benzin in den Kofferraum. »Rauchen solltet ihr lieber nicht«, schärfte er ihnen ein, ehe sie losfuhren.

 

Der Zwischenhalt in Tuxedo, einem bäuerlichen Städtchen, das sich in fünf Minuten zu Fuß komplett durchqueren ließ, verlief ohne Umschweife und zweckmäßig. Claudes Eltern waren ruhige Zeitgenossen, die ihr bestes Tischtuch und ein zusammengewürfeltes Silberbesteck aufgedeckt hatten. Sie servierten einen schlichten Braten, saftig, aber ohne jede Spur von Lady Millers Vorliebe für entkerntes Obst oder mediterrane Kräuter. Auf dem Tisch fand sich kein Tafelaufsatz und auch sonst nichts an Dekoration. Claudes Mutter schenkte Eistee in Einweckgläsern aus. Und während des Besuchs, der auf genau zwei Stunden nach Claudes Uhr begrenzt war, marschierte ein Begrüßungskomitee aus bulligen Brüdern und Schwestern auf, um Guten Tag zu sagen. Es war offensichtlich, dass sie nicht nur ihre Hoffnungen, sondern auch einiges von ihren Ersparnissen auf den kleinen Bruder gesetzt hatten. Claude umarmte sie alle einzeln und versprach, beim nächsten Besuch in der Heimat würden Agnes und er länger bleiben. »Die Arbeit, Mama«, sagte er und ließ dabei unauffällig einen Umschlag auf den Tisch gleiten, der, wie Agnes wusste, sein sauer verdientes Geld enthielt. »Ich habe noch nie krankgefeiert oder Urlaub genommen. Das hebe ich mir auf, bis ich es richtig genießen kann.«

 

Auf der Rückfahrt von Atlanta – nach dem Abbey-Lincoln-Konzert, das eine Stunde zu spät angefangen hatte, und nach Agnes’ Begegnung mit einem Großteil von Claudes Freunden – geriet das Paar auf der U.S. 80, dem Dixie Overland Highway, in ein Verkehrschaos. Claude und Agnes ließen das Radio laufen, lachten und zerpflückten die Ereignisse des Abends, von den Songs, die Abbey gesungen hatte, bis hin zu Claudes Freunden, die Agnes offen gemustert und kommentiert hatten. »Na, Claude, das Geschenkpapier ist ja schon mal sehr hübsch und der Inhalt ebenfalls äußerst ansprechend.« Agnes’ Eindruck von Überlegenheit gegenüber Claudes Familie war in Gegenwart seiner Freunde dem Gefühl gewichen, dumm und oberflächlich zu sein, weil sie alle sehr viel aktiver in der Bürgerrechtsbewegung waren als Agnes und ihre Eltern. Sie nahm sich selbst das stumme Versprechen ab, Claudes Sachbücher mit mehr als nur flüchtigem Interesse zu lesen.

»Du hast dich gut geschlagen«, sagte Claude.

»Ein paar von deinen Freunden fand ich ungeheuer anmaßend«, sagte Agnes. »Ich weiß nicht, wie du das aushältst.«

»Wenn man nur lange genug wartet, zeigen die Menschen einem, wer sie wirklich sind«, sagte Claude. »Ich habe einfach abgewartet, bis sie mir ihr wahres Ich offenbart haben.«

 

Um zwei Uhr morgens bog Claude in die Damascus Road ein, eine lange, einsame Strecke, die er normalerweise gemieden hätte, wenn sie nicht eine Abkürzung nach Buckner County gewesen wäre. Er hielt sich peinlichst an die Geschwindigkeitsbegrenzung, obwohl er das Gaspedal etwas weiter durchtrat als sonst. Weder Claude noch Agnes bemerkten den Streifenwagen, bis er auf die Fahrbahn fuhr und der Beamte Blaulicht und Sirene einschaltete. Claude drosselte unverzüglich das Tempo und hielt am Straßenrand. Der Mond stand hoch, der Himmel war schwarz wie Obsidian, und sie waren von niedrigen, von Moor und Sumpf verkrüppelten Bäumen umstanden. Als der Polizist sich zum Fahrerfenster hereinbeugte und seine Taschenlampe anknipste, hatte Claude seinen Führerschein bereits gezückt.

»Guten Abend, Officer«, sagte er, sah den Mann dabei nicht direkt an, schaute aber auch nicht weg.

»Jagen Sie den Mond?«, fragte der Polizist.

»Wie bitte?«, fragte Claude.

»Sieht aus, als hätten Sie’s eilig.« Der Polizist war ein magerer Mann, so mager, wie Claude kräftig war. Sein aschbraunes Haar lichtete sich oben bereits, aber er hatte einen vollen Schnurrbart, der sich an den Rändern leicht kräuselte.

»Bin ich zu schnell gefahren, Officer?«, fragte Claude in neutralem Ton.

Der Polizist griff nach dem Führerschein. »Das will ich meinen.«

Wie Claude blickte auch Agnes stur geradeaus.

Der Polizist beugte sich noch tiefer in den Wagen hinein und schien schon im Begriff, Claude den Führerschein zurückzugeben. Mit Blick auf Agnes legte er zwei Finger an die Mütze. »Mit so ’ner Ladung an Bord würde ich wahrscheinlich auch zu schnell fahren.«

Agnes bemerkte Claudes Zucken. Sie legte ihm die linke Hand auf den Ellbogen. Der Polizist bedachte Claudes Führerschein mit einem zweiten, langen Blick. »Ich geb das mal schnell durch. Sie warten hier.«

Während der Polizist zum Streifenwagen zurückging, entfuhr Claude ein leiser Pfiff. Es war eine kühle Nacht. Kühler als sonst, Claude konnte seinen Atem sehen.

»Ich lasse jetzt den Wagen an, Agnes«, sagte Claude.

»Claude, er will doch, dass du irgendetwas tust. Genau das will er.«

»Der ist mir wirklich suspekt.«

»Bleib einfach höflich. Bleib einfach ruhig.«

»Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Claude hielt das Lenkrad fest umklammert. »Diese Straße zu nehmen.«

Officer Jamie Haig forderte Verstärkung an. Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis William Byrd, ein Polizistenkollege und der beste Schütze im ganzen Bezirk, am Ort des Geschehens eintraf. William Byrd war breitschultrig und glatt rasiert, und wenn er lächelte, was selten vorkam, waren seine Augen pfauenblau. Er hatte flammend rote Wangen und flachsblondes Haar, an dem er bis ins hohe Alter festhalten sollte. Der dürre Officer Haig beriet sich mit dem breiten Officer Byrd, und die Männer kamen zu dem Schluss, dass Claude und Agnes aussteigen sollten, damit sie sich den Wagen vornehmen konnten. Als Claude sich, im höflichsten Ton, den er zustandebrachte, erkundigte, was genau sie denn zu finden hofften, legte Officer Byrd seine schwere Hand ans Gewehr und erklärte Claude, er tue besser daran, die Durchsuchung nicht zu behindern. Die Polizisten schauten in den Kofferraum und zwischen die Polster von Rück- und Vordersitzen des Chevrolets. Sie durchwühlten das Handschuhfach und steckten den Kopf unter die Motorhaube, dann forderten sie Claude auf, wieder einzusteigen. Claude wollte Agnes zuerst auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen.

Officer William Byrd schüttelte entschieden den Kopf. »Wir müssen noch einen Blick in ihre Handtasche werfen.«

Agnes öffnete die elegante schwarze Abendtasche, ein Geschenk ihrer Mutter. Ein neues Kleid und eine neue Handtasche. Damit du für das Abbey-Lincoln-Konzert was Schönes zum Anziehen hast. Während sich ihr Magen immer mehr zusammenzog, sah Agnes zu, wie die plumpen Finger des Polizisten ihren persönlichen Besitz betatschten.

»Jamie«, sagte Officer William Byrd zu seinem schmalen Kompagnon, »ich glaube, wir müssen uns die junge Dame noch mal zur weiteren Befragung vorknöpfen.«

»Was denn für eine Befragung?« Claude trat unwillkürlich näher an Agnes heran.

Officer William Byrd deutete auf die Handtasche. »In der Tasche da ist Schmuggelgut.«

Agnes fuhr auf, nun selbst vom Zorn überwältigt. »Ich habe doch kein Schmuggelgut in der Tasche. Da sind nur Lippenstift, Parfüm und mein Ausweis drin!«

»Jamie«, sagte Officer Byrd mit beiläufiger Gewissheit, »ich glaube, wir müssen vielleicht noch weitere Verstärkung anfordern.«

»Jetzt passen Sie mal auf.« Mit zuckendem Schnurrbart wandte sich Officer Haig Agnes zu. »So was lässt sich nicht in ein paar Minuten abhandeln. Am besten, wir klären die Sache mit einem kleinen Spaziergang dort entlang.« Er deutete auf einen kurvigen Pfad, der von Trauerweiden und Sumpf bedrängt wurde.

»Ihr Kerl.« Officer William Byrd deutete mit dem Kopf auf Claude, dessen Fäuste sich ballten. »Scheint mir’n bisschen unruhig.«

»Lieben Sie den Mann?«, fragte Officer Jamie Haig.

Agnes sah Claude an. Sie dachte an Eloises Worte. Die Männer in meiner Familie sterben alle jung. Sie dachte an den bulligen Polizisten, dessen Finger schon wieder sein Gewehr kraulten.

»Das geht nur uns etwas an«, sagte Claude, und sein Körper bebte vor beherrschtem Zorn.

Agnes nickte. »Ja, ich … liebe.«

Der flachsblonde Officer William Byrd ging den Pfad entlang und nahm Agnes mit sich zwischen Bäume und Sumpf. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er sein bleiches Gesicht wieder sehen ließ und ohne Agnes zurückkam. Auf seinen ohnehin roten Wangen lag eine tiefe nächtliche Röte, und er grinste Claude offen und fröhlich an. Er zog einen Flachmann mit Whiskey aus der Hemdtasche, hielt ihn hoch, nahm ein paar Schlucke. »Jamie, ich glaube, die Kleine hat doch kein Schmuggelgut bei sich, aber du weißt ja, wie schlecht meine Augen sind.«

Claude trug inzwischen Handschellen. Ein Rinnsal Blut floss langsam, Zentimeter für Zentimeter, seinen Hinterkopf hinab, der einen höchst gewaltsamen Zusammenstoß mit Officer Jamie Haigs Gummiknüppel erlitten hatte. Bevor Officer Haig sich zurückzog, raunte er Claude zu: »Versuch bloß nicht bei Willie, was du bei mir versucht hast. Das will ich dir nicht geraten haben.« Officer Haig fuhr sich mit den Fingern durch das schüttere Haar und lief um den Wagen herum, hinein in die Dunkelheit.

»Nach ’nem Drink geht’s dir sicher besser.« Officer William Byrd pirschte sich an Claude heran und trat ihm die Beine weg. Dann setzte er Claude den Flachmann an den Mund und schüttete ihm Whiskey ins Gesicht. Claude drehte den Kopf weg, verschloss die Lippen. Er würde nichts von der Flüssigkeit trinken, die wie heiße Suppe in seinem Gesicht brannte.

Wenig später kam Officer Haig neben Agnes den Pfad wieder hinauf. Er hielt ihr die Beifahrertür auf, und Agnes stieg ein, den Blick die ganze Zeit starr geradeaus gerichtet. Officer Haig schob ihr die Handtasche auf den Schoß. Der Schwung ihrer bauschig auftoupierten Haare war dahin.

»Jetzt macht aber mal, dass ihr heil nach Hause kommt, ihr zwei«, sagte Officer William Byrd. Er nahm Claude die Handschellen ab und drängte ihn ans Steuer des Chevrolets. »War für uns alle ein langer Abend. Und insgesamt hätte die Sache doch viel schlimmer ausgehen können.«

Claude drehte den Zündschlüssel und fuhr davon. Er merkte es nicht, aber er weinte. Agnes wahrte die Fassung, blinzelte nur, als Claude sie fragte, ob er sie ins Krankenhaus bringen solle. Blinzelte nur, als er sie fragte, ob sie bei Mrs Francine halten sollten, der farbigen Hebamme, die es gewöhnt war, zu den unchristlichsten Zeiten herausgeklingelt zu werden. Erst als er wissen wollte, ob es sehr schlimm sei, blickte Agnes auf ihre Hände und merkte, dass der Cracker-Jack-Ring nicht mehr an ihrem Finger steckte. Heulend und hysterisch fuhr sie zu Claude herum, flehte ihn an umzudrehen.

»Agnes«, sagte Claude. »Baby, ich werde dir tausend Cracker-Jack-Ringe kaufen. Aber wenn wir jetzt zurückfahren, bringen die Kerle uns um. Ich kann nicht umdrehen.«

»Dann bring mich heim«, sagte Agnes. »Bring mich sofort heim.«

 

Als Agnes in den Tagen danach nicht ans Telefon kommen und Claude auch nicht zurückrufen wollte, ging Lady Miller davon aus, dass der Besuch bei Claudes Familie wohl nicht gut verlaufen war. Diakon Miller, ein Booker T. Washington im Geiste, war als Kind wegen seiner dunklen Haut heftig angefeindet worden. Er vermutete, die hellhäutigeren Intellektuellen aus Atlanta hätten seine einzige Tochter brüskiert, und Agnes mache jetzt das Beste daraus und brüskiere sie ihrerseits.

Eines Sonntagmorgens, vor der Messe, stand Claude vor der Tür. Seit zwei Wochen hatte er sich nicht mehr sehen lassen. Diakon Miller bat ihn nicht ins Haus, doch Agnes willigte ein, zu ihm nach draußen auf die Veranda zu kommen. Claude kniete vor ihr nieder, er beugte die Knie und machte ihr einen Antrag, zeigte ihr einen glitzernden Verlobungsring mit dem größten Diamanten, den sie je gesehen hatte. Es musste seine kompletten Ersparnisse aufgezehrt haben, so einen Ring zu erstehen.

»Claude«, sagte sie. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Agnes«, sagte Claude, er sagte ihren Namen, wieder und wieder.

Doch sie wollte nicht einwilligen, ihn zu heiraten. Um sicherzugehen, dass Claude sich von ihr fernhielt und sie nicht weich würde, lotete Agnes ihre Möglichkeiten aus. Einen Monat später lernte sie bei der Hochzeitsfeier ihrer Cousine Charlotte Edward Christie kennen, einen aufgeschlossenen, stämmigen kleinen Mann. Agnes war einen guten Kopf größer als Eddie Christie, der ihr gleich bei der ersten Verabredung einen Antrag machte. Es blieb nicht einmal Zeit für eine kirchliche Trauung. Lady und Diakon Miller waren die verblüfften, untröstlichen Trauzeugen bei der standesamtlichen Hochzeit ihrer einzigen Tochter. Agnes packte ihre Koffer und zog nach Norden, zur Familie ihres Mannes. Sechs Wochen nach der Eheschließung erhielt Eddie seinen Einberufungsbefehl nach Vietnam.

 

Eddies Eltern besaßen ein Backsteinhaus im Süden der Bronx, nur wenige Straßen von Little Italy entfernt. Für eine junge Frau aus dem Süden, deren Welt nur aus Schwarz und Weiß bestand, war Little Italy eine neue Erfahrung. Es war die Zeit vor den Aufständen in der Bronx. Agnes, hübsch und charmant, lernte Italienisch von den Italienern, denen die große junge Frau, die stets ein Bitte, ein Danke und ein Wie geht es Ihnen heute? auf den Lippen hatte, gut gefiel. Agnes schrieb sich an der Fordham University ein, wo sie den Abschluss nachholte, der durch die Damascus Road unterbrochen worden war.

 

Agnes wurde nicht Englischlehrerin. Ihre erste Anstellung fand sie bei der Stadt, als Projektassistentin. Was als sicherer Posten im öffentlichen Dienst mit guten Pensionsaussichten begann, sollte schließlich in eine lohnende Karriere im Bereich Stadtentwicklung münden. Ihr erstes Kind (das neun Monate nach der Hochzeit zur Welt kam) nannten Agnes und Eddie Beverly, nach Eddies Großmutter. Sobald Beverly krabbeln konnte, folgte sie Agnes auf Schritt und Tritt. Ihre Anhänglichkeit erfüllte Agnes mit Zweifeln und Zerknirschung, alles in allem war Beverly aber ein gutes Kind, eine Frohnatur wie Eddie.

 

Eddie Christies Auftritte und Abgänge machten es leichter, glücklich verheiratet zu bleiben. Agnes brauchte keine Liebe zu heucheln, wenn ihr Mann nach Hause kam. Liebe war ein Muskel. Man benutzte ihn. Man trainierte ihn, und die Liebe lohnte es einem mit Kraft und Beweglichkeit.

 

Im Frühjahr 1969, ein Jahr, nachdem Dr. King in Memphis ermordet worden war, erhielt Agnes um Mitternacht einen Anruf von Eloise, die gerade bei Verwandten in Buckner County zu Besuch war.

»Agnes«, sagte Eloise, »ich hätte deine Mutter fast abmurksen müssen, damit sie deine Nummer rausrückt.«

Beim Klang von Eloises Stimme legte Agnes eine schützende Hand auf ihren Bauch. Sie erwartete ihr zweites Kind, war im letzten Drittel der Schwangerschaft.

»Wie geht es dir, Eloise?«, hörte sie sich sagen.

»Du kennst mich doch, Agnes. Ich brauche nur etwas, woran ich mich halten kann, schon geht’s mir blendend.«

»Dann geht es dir also gut?«

Es blieb kurz still. »Die meiste Zeit ja.«

»Schön.«

»Pass auf«, sagte Eloise eilig. »Claude wurde erschossen in seiner Wohnung in Dorchester, Massachusetts, aufgefunden. Man vermutet einen Raubüberfall. Ein Kollege hat ihn entdeckt.«

»Claude?«, hörte Agnes sich sagen. Sie hatte den Namen seit drei Jahren nicht mehr ausgesprochen. »Claude? Tot?« Massachusetts war keine fünf Stunden von ihrem Wohnort entfernt.

»Es tut mir leid, Agnes«, sagte Eloise. »Wir sind nun mal nicht alle für das Leben in der Großstadt gemacht.«

Agnes legte auf, ging ins Bett und blieb dort. Eddies Mutter ließ den Arzt kommen. Als er Agnes fragte, was ihr fehle, sagte sie, sie spüre tausendundeinen heftigen Stich unter der Haut. Der Arzt sagte, sie leide an einer akuten Schleimbeutelentzündung, was bei Schwangeren gelegentlich vorkomme. Lady und Diakon Miller reisten an, um ihre einzige Tochter zu pflegen, doch das Chaos in der Bronx und überall sonst in New York erwies sich als zu großer Ansturm auf ihr Gemüt. Nach zwei Wochen in der Bronx traten sie den Rückzug nach Buckner County an.

 

Vier Wochen zu früh wurde Agnes und Eddie Christie ein kleines Mädchen geschenkt. Es kam auf der Entbindungsstation des Columbia Presbyterian Hospital zur Welt. Diesmal sehnte sich Agnes danach, ihr Kind zu halten, es aus dem Brutkasten, von dem unnatürlichen Krankenhauslicht zu befreien. Es machte sie glücklich, leise mit ihrer neugeborenen Tochter zu reden und ihr Wiegenlieder zu singen, und noch viel glücklicher, als sie mit ihr nach Hause durfte. Sie nannte ihre Tochter Claudia, und als Eddie, kürzlich aus dem Krieg zurückgekehrt, anmerkte, Claudia sei aber kein Name aus der Familie, massierte Agnes nur die Schwielen an der Hand ihres Mannes und sagte: »Der Name gefällt mir einfach. Ich mag, wie er klingt.«

Zigaretten gehören nicht ins Krankenhaus

2009

Ich bin staatlich geprüfte Krankenschwester in der Notaufnahme des Columbia Presbyterian Hospital. Meine offizielle Berufsbezeichung lautet Resource Coordinator. Ich habe vier weitere staatlich geprüfte Krankenschwestern unter mir: vier Krankenschwestern, die nach meiner Pfeife tanzen. Wenn ich wollte, könnte ich hier die Diktatorin spielen. So wie diese Chirurgen mit ihrem allwissenden Angebergehabe, als hätte Gott ihnen die Heilkraft in die Fingerspitzen gelegt. Aber wenn ich zur Arbeit komme, weiß ich, dass es nicht um mich geht. Und auch nicht um meine Mitarbeiter. Es geht um die Menschen, die hier im Krankenhaus liegen. Für manche bin ich vielleicht das letzte Gesicht, das sie sehen. Das ist ein Segen. Eine Ehre. Es erdet.

Ich hätte selbst Ärztin werden können. Aber ich habe es nicht hingekriegt, mich um einen Studienplatz in Medizin zu bewerben. In meiner Pflegeausbildung hatte ich nur Bestnoten. Peanut, mein Fünfzehnjähriger, hat immer meine Hausarbeiten Korrektur gelesen. Oft hat er von einem Text hochgeschaut, den ich geschrieben hatte, und gesagt: »Mensch, Mom, du bist echt klug.«

Ich habe dann nur gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Glaubst du vielleicht, du hast alle deine Klugheitsgene nur von deinem Vater?«

Kevin, der Vater meiner Kinder, ist Polizist – Korrektur: Er war Polizist. Jetzt arbeitet er irgendwo im Westen, in der Wüste von Arizona, macht für den Grenzschutz Einwanderungskontrollen und schickt verzweifelte Menschen zurück nach Mexiko. Gut, dass wir auf der High School Spanisch hatten. Wir sind im Süden der Bronx aufgewachsen, ein paar Straßen östlich von Little Italy, wie das früher hieß. Damals wimmelte es in der Bronx von Puertoricanern, da haben wir ganz automatisch Spanisch gelernt, und in der Schule war es für uns ein leichtes Pflichtfach. Das sage ich auch meinen Kindern: Erst lernt ihr was, und im nächsten Moment bringt euch das Gelernte weiter. Am Anfang erkennt man noch nicht, worauf es hinausläuft. Geht also besser auf Nummer sicher und schaut, dass ihr den Anfang gut hinbekommt. Klar, Kevin hat mich immer aufgezogen und behauptet, ich täte mich mit Spanisch so leicht, weil mein Großvater Kubaner war, dabei gehörte der schon zu der Generation, die nur noch Englisch sprach.

Nach den Kindern – ich habe vier – blieben meine Bewerbungen fürs Medizinstudium einfach in der Schublade liegen. Kevin und ich haben vor allem versucht, mit den Rechnungszahlungen hinterherzukommen. Vielleicht mache ich irgendwann noch eine Zusatzausbildung zur klinischen Pflegeexpertin. Darin wäre ich bestimmt gut. Die Arbeitszeiten sind auch weniger extrem. So wie ich das sehe, haben Ärzte heute kaum noch Zeit. Und verdienen tun sie sowieso nicht mehr so viel wie früher. Die schneien vorbei und sind gleich wieder weg. Neulich habe ich mitbekommen, wie ein Arzt seinen Vorgesetzten angebrüllt hat. Der treibt seine Leute ständig an und sitzt ihnen im Nacken. »Wie soll ich denn an einem Tag fünfundzwanzig Patienten untersuchen? Was ist, wenn ich etwas übersehe? Ich bin Arzt. Kein Zauberer.« Die meiste Zeit kann ich den aufgeblasenen Sack ja nicht leiden. Aber in dem Moment war ich ganz bei ihm.

Und das ist also James, der alte weiße Mann. So nennt meine Schwester Claudia ihren Schwiegervater immer: den alten weißen Mann. Als sie mir das erste Mal von ihm erzählt hat, meinte ich: »Warum nennst du ihn so? Ist er Rassist oder was?« Claudia hat nur den Kopf geschüttelt. »Der ist kein Rassist«, sagte sie. »Er ist ein Verirrter.«

Der alte weiße Mann ist hier im Krankenhaus auf der neurologischen Intensiv gestrandet. Ich habe Claudia versprochen, mal nach ihm zu sehen, wenn ich Pause habe. Sie ist mit ihrem Mann Rufus irgendwo in Südfrankreich. Erst eine Konferenz in Dublin. Dann ein Frankreichurlaub. Manche Leute haben ein Leben. Jetzt sind sie allerdings auf dem Rückweg, weil der alte Knabe mit dem Kopf auf den Rand seines olympiagroßen Pools geknallt ist, als er meine Nichte Winona retten wollte, die fast ertrunken wäre. Das weiß ich zwar nicht mit Sicherheit, habe es mir aber aus den Einzelteilen zusammengereimt. Bei erster Gelegenheit habe ich mir Winonas Bruder Elijah geschnappt und ihn gefragt: »Was ist passiert, Elijah?«

Und der fünfjährige Elijah sagte: »Dieses Kringelding ist umgekippt, und Winnie musste schwimmen.«

Ich war fuchsteufelswild, als ich das hörte. Von Sorge direkt zu richtig schlechter Laune. Sofort war die ganze Gift-und-Galle-Energie meiner Schwester Claudia gegenüber wieder da. Ich hätte doch auf Winona und Elijah aufpassen können. Ich habe eine Wohnung aus der Vorkriegszeit in Washington Heights, mit vier Zimmern und einem Eins-A-Schlafsofa. Das hätte ich doch hingekriegt. Sie hätten ihre Cousins und Cousinen wiedergesehen, was ja auch nicht gerade häufig vorkommt. Wir hätten zusammen jede Menge Spaß gehabt. Ich wäre mit ihnen Pizza essen gegangen, in den Vergnügungspark oder in den Zoo in der Bronx. Da habe ich eine Familienkarte, und die Kinder hätten sich die großen bösen sibirischen Tiger angucken können. Sie hätten ins Schmetterlingshaus gehen, mit der kleinen Bahn fahren können. Claudia glaubt immer, mein Sohn Peanut wäre automatisch klug, durch irgendeinen blöden Zufall, aber ganz ehrlich: Ich mache was mit meinen Kindern. Ich lasse sie nicht im Stich. Hab ich nie. Werde ich auch nie. Manchmal habe ich auch die Nase voll, aber welche Mutter kennt das nicht? Welche Mutter sagt wirklich jeden einzelnen Tag: Ihr seid meine Kinder, ich hab euch lieb? Und hat nicht irgendwann mal Momente, wo sie nur noch rumbrüllt: FICKT EUCH FICKT EUCH FICKT EUCH!

Na, jedenfalls, dieser James Samuel Vincent liegt jetzt hier auf der Neuro-Intensiv, halb im Koma mit seinem zerdepperten Schädel, und seine Göttergattin Adele ist mit meinem Neffen und meiner Nichte zu FAO Schwarz und Dylan’s Candy Bar an der 60th Street abgezogen, vor lauter schlechtem Gewissen, weil die Kleine ihr fast ertrunken wäre. Und anstatt gemütlich eine zu rauchen, was ich eigentlich vorhatte, muss jetzt ich nach dem alten weißen Mann sehen, weil ich es Claudia versprochen habe. Ich halte meine Versprechen immer, so oder so.

Wenn Claudia sich mal die Zeit nehmen würde nachzufragen, dann wüsste sie, dass ich auch meine Probleme habe: Kopfzerbrechen XXL. Ich habe Miss Lydia angerufen, die Tagesmutter meiner Zwillinge, um zu fragen, ob meine Tochter Minerva sie abgeholt hat, weil Minerva ja nie ans Handy geht, und während ich noch mit Miss Lydia rede, simst mir Peanut: Hab ich heute Robotertechnik? Muss ich Keisha und Lamar abholen? Und ich nur noch: Herrgott, entspann dich doch mal eine Sekunde. Bitte! Peanut. Entspann dich.

Aber Minerva kam dann doch noch. Miss Lydia hat mich angerufen und mir Bescheid gesagt. Und ich hatte gleich so ein kleines Glücksflattern im Herzen. Vielleicht fängt Minerva sich ja doch wieder. Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass ihre Cousine bei James und seiner versoffenen zweiten Frau fast ertrunken wäre. Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass Adele versucht, das mit einem Abstecher zu Dylan’s Candy Bar wiedergutzumachen. Minerva hasst Dylan’s Candy Bar, obwohl sie auf Schokolade und andere Süßigkeiten sonst ganz versessen ist.

Ganz ehrlich: Dass es mit Minerva schwierig würde, wusste ich schon, als sie zehn war und ich mit ihr zu einem besonderen Mutter-Tochter-Nachmittag ins Serendipity an der Upper East Side wollte. Ich wollte mit ihr ins Serendipity, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Diana Ross sich mit ihren Töchtern immer in der Limousine dorthin chauffieren ließ, wenn sie Geburtstag hatten, um Eis mit heißer Schokoladensauce zu essen. Ich dachte, ich zeige Minerva mal, wie die Reichen und Berühmten so leben. Doch als wir ankamen, hatte das Serendipity geschlossen. Es hatte komplett dichtgemacht, und ich war natürlich nicht auf die Idee gekommen, vorher anzurufen. Ich kam mir richtig blöd vor, aber Minerva zuckte nur die Achseln und meinte: »Wo gehen wir dann jetzt hin, Mom?« Und ich schaltete sofort von blöd auf Ich hab’s im Griff. Ich wollte mein Mädchen ja nicht enttäuschen. Also gingen wir los, als hätte ich ein Ziel im Kopf. Wir laufen durch die ganze Upper East Side, und mit jedem verdammten Schritt liegt mir das Joch der Armut schwerer auf den Schultern. Das kann passieren, wenn man sich der Upper East Side aussetzt. Von den Luxusnagelstudios über die kleinen Boutiquen, bei denen man eine silberne Klingel drücken muss, um überhaupt reinzukommen, bis hin zu den schicken Cafés mit den großen Fenstern, die wie moderne Kunst aussehen. Dann kamen wir zu Dylan’s Candy Bar, und der Laden war voll mit Kunden, jungen und alten, die ihrem Zuckerjieper nachgaben. Wir blieben kurz draußen stehen und sahen uns die Leute an, wie sie rein- und rausströmten.

Ich sagte: »Komm, da gehen wir rein.« Wir folgten den Massen. Und Minerva war selig. Sie machte sich daran, Süßigkeiten aus den Plastikschüsseln in kleine Tütchen mit roten Bändern zu füllen, mit denen man sie verschließen konnte. Whoppers, Hershey’s Kisses, Gummibärchen, Pralinen mit Erdnussbutter, Florentiner und Lakritz. Und Skittles. Skittles ohne Ende. Und Minerva fragte: »Mom, wer ist denn Dylan? Und wo hat Dylan die ganzen Süßigkeiten her?« Neben uns murmelte jemand, Dylan sei die Tochter von Ralph Lauren. Und Minerva darauf: »Ralph Lauren? Der heißt doch gar nicht Lauren. In Wirklichkeit heißt er Ralph Lifshitz, und er kommt aus der Bronx, so wie wir. Das ist alles nur Fassade. Fassade, um besser dazustehen.«

Und da dachte ich mir: Wow, die ist klug. Das wird schwierig. Die musst du beschäftigt halten. Und eine Zeitlang habe ich das auch gemacht. Gymnastik. Schwimmunterricht. Spanischstunden. Die Bratsche. Sogar eine Lacrosse-Ausrüstung habe ich ihr spendiert. Aber dann ging meine Ehe kaputt und Minerva gleich mit.

Gerade könnte ich echt töten für eine Zigarette. Aber ich werde schön beim alten weißen Mann ausharren, bis meine Schicht wieder anfängt. Claudia macht mir die Hölle heiß, wenn ich mein Versprechen nicht halte. Es ist so ruhig und friedlich hier drinnen. Wie viel Ruhe und Frieden kriege ich sonst schon? Irgendwie vermisse ich bei dieser Ruhe Kevin. Ich sollte mich mal bei ihm melden, ihm sagen, er soll Minerva abholen. Der Kerl muss ja schließlich wissen, dass seine Tochter am Rad dreht. Aber dann denkt er wieder nur, ich will ihn zurück. Wenn ich ihn anrufe, denkt Kevin, es geht um Sex. Männer denken immer, es geht um Sex, wenn man anruft. Schon komisch – was wir in Beziehungen so alles falsch machen. Wir haben so viel falsch gemacht. Aber bei den Kindern waren wir meistens auf einer Linie. Und das Schwerste ist, uns das zu retten, was wir richtig gemacht haben. Weißt du, was ich meine, James? Hörst du mich überhaupt? Ich hoffe, du hörst mich. Hör gefälligst, was ich sage! Scheiße, vielleicht hörst du mich auch nicht. Kratz mir hier bloß nicht ab. Bleib im Spiel, James Vincent. Gott, warum ist das eigentlich so, dass Zigaretten nicht ins Krankenhaus gehören?

Es werde Salz

1954 1969 1979 1989 2009

Einen Moment lang blieb James Samuel Vincent dort im Krankenzimmer fast das Herz stehen. Auf das Gefühl folgte die Erkenntnis – und das Entsetzen darüber –, dass Gott nicht nur eine Frau war: Nein, siehe da, die Erlöserin der Welt war auch noch schwarz. James schwelgte im Schmerzmittelrausch, Ihr Bild trat ihm nur verschwommen vor Augen, wie einem Traum entstiegen. Er rang nach Worten, die nicht kommen wollten, mühte sich, die Arme zu bewegen, als wollte er bitten: Richte nicht über mich, ehe … Doch dann trieben seine Gedanken zurück zu einem strahlend blauen Tag und einem Schwimmbecken und dieser Enkelin, die er da hatte, Winona, wie sie durch das Loch des donutförmigen Schwimmrings glitt und unterging, trudelnde rötlich-braune Löckchen im tiefen Teil des Pools. James hatte sich umgedreht, den Fanghandschuh fallen lassen, Elijah zugerufen, er solle sich nicht vom Fleck rühren, und dann war er zum Pool gerannt, so schnell ihn seine siebenundsechzigjährigen Beine trugen, vergleichsweise schnell also, runter vom perfekt gestutzten Rasen auf die glitschige Blausteinumrandung, wo es ihm, noch bevor er in den Pool springen konnte, den nassen Boden unter den Füßen wegzog und den alten weißen Mann in die Düsternis stürzte.

 

Jimmy junior. Er war wieder der kleine Jimmy junior, ein zwölfjähriger Junge, der in der Küche unter dem Deckenventilator stand und seiner Mutter dabei zusah, wie sie das gute Porzellan zerschmiss, die Tee- und die Untertassen, alle acht Speise- und Salatteller, die Sektflöten aus Kristall. Es hatte Meinungsverschiedenheiten zwischen Jimmys Eltern gegeben. Es gab ständig Meinungsverschiedenheiten zwischen Jimmys Eltern, doch diese war zu einem ausgewachsenen Streit hochgekocht. Hässliche Worte waren gefallen, die beide weder ausradieren noch zurücknehmen konnten.

Sein Vater, Jimmy senior, hatte eine neue Stelle bei der Feuerwehr in Fresno angenommen, ohne seine Frau vorher zu fragen. Eine neue Stelle bedeutete den dritten Umzug in drei Jahren, doch Nancy Vincent liebte Portsmouth. Sicher, es war teuer (vor allem, wenn nur einer in der Familie Geld ins Haus brachte), aber es war auch ein guter Ort, um sich dauerhaft niederzulassen und den Sohn großzuziehen.

»In Fresno brauchen sie Feuerwehrleute. Sie zahlen uns sogar ein Haus.« Jimmy senior war Feuerwehrmann, doch dank der jüngsten Budgetkürzungen in Portsmouth wurden die Feuerwehrleute dort in Scharen entlassen.

Nancy Vincent brüllte an diesem Sonntagmorgen wie eine Löwin. Sie war rothaarig, aber nicht anfällig für Wut- und Tobsuchtsanfälle, solange sie nicht ernsthaft provoziert wurde. »Ich war mal bei einer Bibliothekstagung in Fresno. Fresno ist die Hölle. Auf keinen Fall kommt mir Jimmy auch nur in die Nähe von Fresno.«

Zuletzt, nur ein Jahr zuvor, hatten sie in Hartford, Connecticut, gewohnt. Als sie von Hartford nach Portsmouth zogen, hatte Nancy sich nicht beschwert. Es hatte Versprechungen gegeben. In der neuen Stadt würden sie bleiben, bis Jimmy seinen Highschool-Abschluss hatte.