Die Reliquienjägerin - Sabine Martin - E-Book
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Die Reliquienjägerin E-Book

Sabine Martin

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Beschreibung

Bayern, 1349: In ganz Europa wütet die Pest. Überall werden die Juden für den schwarzen Tod verantwortlich gemacht. Und so muss die Jüdin Rebekka fliehen, um der nahenden Hetze der Christen zu entkommen. Auf ihrer Flucht nach Prag trifft sie den Ordensritter Engelbert, der im Auftrag des Königs Reliquien aufspürt. Doch als Engelbert verletzt wird, muss Rebekka ihm helfen und begibt sich auf eine gefährliche Reise, auf der verborgene Schätze, mächtige Gegner und ungeahnte Gefühle auf sie warten...

Ein packender historischer Roman; liebevoll ausgestattet mit Glossar und Karte.

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Seitenzahl: 673

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Karte

PROLOG

DIE DUNKLE BEDROHUNG

STADT DER HOFFNUNG

DER UNSICHTBARE FEIND

DIE GESCHMOLZENE BURG

DAS VERBORGENE PARADIES

DER FALSCHE FREUND

DAS UNSICHTBARE VERMÄCHTNIS

DIE HÜTERIN DER CHRISTENHEIT

DIE GEHEIME BIBLIOTHEK

DER DRACHENTÖTER

VIELEN DANK FÜR DIE HILFE

NACHWORT

GLOSSAR

Leseprobe

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Die Hüterin des Templerschatzes

Die Königin der Diebe

Über dieses Buch

Bayern, 1349: In ganz Europa wütet die Pest. Überall werden die Juden für den schwarzen Tod verantwortlich gemacht. Und so muss die Jüdin Rebekka fliehen, um der nahenden Hetze der Christen zu entkommen. Auf ihrer Flucht nach Prag trifft sie den Ordensritter Engelbert, der im Auftrag des Königs Reliquien aufspürt. Doch als Engelbert verletzt wird, muss Rebekka ihm helfen und begibt sich auf eine gefährliche Reise, auf der verborgene Schätze, mächtige Gegner und ungeahnte Gefühle auf sie warten …

Über die Autorin

Sabine Martin, das sind Sabine und Martin, oder genauer, die beiden Autoren Sabine Klewe und Martin Conrath. Normalerweise schreiben sie allein, doch hin und wieder setzen sie sich zusammen und hecken gemeinsam eine Geschichte aus, die sie dann unter dem Pseudonym Sabine Martin veröffentlichen.

Mehr erfahren Sie unter www.sabinemartin.com

Sabine Martin

DIERELIQUIEN-JÄGERIN

Historischer Roman

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Kai Lückemeier

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © faestock/shutterstock; © Sakemomo/shutterstock; © Tom Tom/shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0617-9

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Die Hüterin des Templerschatzes« von Sabine Martin.

be-ebooks.de

lesejury.de

»WENNESEINEN GLAUBENGIBT,DER BERGEVERSETZENKANN,SOISTESDER GLAUBEANDIEEIGENE KRAFT.«

Marie von Ebner-Eschenbach

PROLOG

AUGUST 1341/ELUL 5101

Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein gewaltiges Brummen, einförmig und doch vielstimmig. Der Himmel wölbte sich tiefschwarz über ihm, eine Wolke aus unzähligen Leibern verdunkelte die sengende Augustsonne.

Karl unterdrückte den Drang, sich die Ohren zuzuhalten, und reckte sein Gesicht dem Schwarm entgegen. Heuschrecken, so weit das Auge reichte, Abermillionen zierliche Körper mit schillernden Flügeln – jedes einzelne Tier ein zartes, filigranes Kunstwerk, in der Masse jedoch ein tödlicher Feind, der sich durch sattgrüne Weiden und goldene Felder fraß und ganze Regionen in Hunger und Verzweiflung stürzte.

Karl straffte die Schultern, die vibrierenden Leiber berührten sein Gesicht, ließen sich auf seinen Armen und seinem Wams nieder, Flügel streiften seine Wangen, winzige Beine krabbelten über die nackte Haut an seinem Hals und plagten seine Nase mit einem infernalischen Gestank, so, als kämen diese Wesen direkt aus der Hölle. Aber dem war nicht so. Im Gegenteil: In jeder einzelnen dieser zarten Gestalten steckte die Allmacht Gottes. Nie zuvor hatte Karl das so stark empfunden wie in diesem Augenblick. Er schwang sich von seinem Wallach und lief auf den einsamen Hügel zu, der sich über dem Berounkatal erhob, stürmte mitten hinein in die wogenden Leiber.

»Herr, seid Ihr von Sinnen? Kommt zurück! Wir sollten umkehren, bevor diese Plage uns mit ihrem teuflischen Odem vernichtet!«

Karl lachte auf und wandte sich seinem Begleiter zu. »Mein guter Montfort, ist Euer Glaube so schwach? Ich dachte, Ihr wäret ein Mann Gottes?«

Montfort schlug nach einer Heuschrecke, die sich in seinem Habit verfangen hatte. »Der bin ich in der Tat, Eure Majestät. Und genau aus diesem Grund fürchte ich seinen Zorn.« Seine Stimme wurde schrill. »Der Heuschreckenschwarm ist der nächste Vorbote der Apokalypse, Herr. Denkt an das Magdalenen-Hochwasser, das nur wenige Jahre zurückliegt! Tausende sind ertrunken! Doch die Menschen haben sich Gott nicht zugewandt. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Der Herr im Himmel zürnt uns, weil wir nach wie vor in Sünde und ohne Demut leben.«

Karl fing mit der Hand eine Heuschrecke ein und betrachtete den grünlich schillernden Körper. »Mir zürnt der Herr nicht, Montfort. Im Gegenteil, er hat Großes mit mir vor. Gerade erst hat er meinen Vater für seinen gottlosen Lebenswandel mit dem Verlust des Augenlichts bestraft. An seiner Stelle werde ich nun das Land regieren, und glaubt mir, ich werde Böhmen zu einem wahren Reich Gottes machen.« Er warf das Tier in die Luft. »Nicht nur Böhmen!«, schrie er dem Orkan der Heuschrecken entgegen. »Das gesamte Heilige Römische Reich! Ich werde mich zum Kaiser krönen lassen und dafür sorgen, dass die Ehrfurcht vor dem Herrn und seinen heiligen Gesetzen überall Einzug hält und dass die Menschen erkennen, dass Gottes Werk sich in jeder seiner Kreaturen offenbart. Das werde ich, so wahr mir Gott helfe!«

»Amen«, rief Montfort und bekreuzigte sich ein wenig zu schnell, so, als sei er nicht überzeugt von dem, was sein König sagte.

Karl unterdrückte ein Schmunzeln. Louis de Montfort war ein kluger, gebildeter Mann und der beste Ratgeber, den ein König sich wünschen konnte, doch er war ein Feigling. Unbeirrt wandte Karl sich ab und stapfte den Hügel hinauf. Die Heuschrecken ängstigten ihn nicht. Im Gegenteil, sie waren ein Zeichen der grenzenlosen Macht des himmlischen Herrn. Und dieser Herr war ihm wohlgesinnt, dessen war er sich sicher. Auf der Kuppe hielt Karl schnaufend inne. Von hier oben sah der Schwarm weit weniger bedrohlich aus, viel kleiner wirkte er, als wenn man mitten darin stand, kaum größer als ein schwarzer Nebelstreif über dem Tal. Man musste nur hoch genug hinaufsteigen, über den Dingen stehen, dann rückten sie an ihren rechtmäßigen Platz. Und es war nicht das erste Mal, dass Heuschrecken das Land plagten. Auch dieser Schwarm würde sich bald auflösen wie Nebel in der Morgensonne. Die Zeiten waren nicht leicht. Die Winter wurden immer kälter, die Sommer feuchter. Gott prüfte die Menschen, wie so oft.

»Sein Wille geschehe«, murmelte Karl in das Rauschen des Windes und der Heuschrecken. Er breitete die Arme aus. Sein rechtmäßiger Platz war hier oben, an der Spitze seines Reiches. Und hier würde er seine Burg bauen, Burg Karlstein. Gott hatte ihn hierhergeführt und ihm damit aufgetragen, eine sichere Trutzburg für die Insignien des Reiches und den unermesslichen Schatz der heiligen Reliquien zu schaffen.

»Seid willkommen, Heerscharen des Himmels!«, rief er dem Schwarm zu. »Lasst uns gemeinsam kämpfen für das Reich Gottes auf Erden, für den Sieg des wahren Glaubens über die ungläubigen Ketzer, für die stolze Stadt Prag, die ich zur Krone des Heiligen Römischen Reiches machen werde!«

DIEDUNKLE BEDROHUNG

OKTOBER 1349/TISCHRI 5110

»Mach schon, du musst los, Kind!« Esther schob Rebekka sanft auf das dunkle Loch zu.

»Aber was ist mit euch?«, rief Rebekka. »Ohne euch will ich nicht von hier fort.«

Ihr Vater trat vor und nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. »Du bist meine Tochter, Rebekka, das wirst du immer bleiben.« Er seufzte und schaute ihr in die Augen. »Aber du bist keine von uns, du bist keine Jüdin, nicht von Geburt. Gott hat ein anderes Schicksal für dich gewählt. Seiner Stimme wirst du von nun an folgen. Sie wird dich durch die Finsternis ans Licht führen.«

Die Worte ihres Vaters trafen Rebekka wie ein Faustschlag in den Magen. »Aber wie sehen wir uns wieder?« Sie vermochte kaum ihre Angst zu beherrschen.

Ein lautes Krachen verschluckte Menachem ben Jehudas Antwort. Entsetzt schaute Rebekka die enge Kellerstiege hinauf. »Sind sie schon im Haus?«

»Nein, Kind, aber sie versuchen, die Tür aufzubrechen. Los jetzt, spute dich!« Er küsste sie auf die Stirn.

Rebekka umarmte ihre Mutter ein letztes Mal, Tränen brannten in ihren Augen. »In Prag sehen wir uns wieder.«

»Ja, in Prag.« Esther lächelte und streichelte ihr über das Haar. »Lebe wohl, mein Kind. Ich liebe dich!«

Mit zitternden Fingern griff Rebekka nach ihrem Bündel und kletterte in das Loch. Sie drehte sich nicht noch einmal um, der Anblick ihrer Eltern, wie sie dort auf der schmalen Steintreppe standen, die hinunter zur Mikwe führte, hätte ihr das Herz gebrochen. Ihre Eltern. Waren sie das überhaupt noch? Sie schob den bitteren Gedanken weg, jetzt musste sie den Weg durch diesen finsteren Kanal finden. Für Grübeleien würde später noch Zeit sein. Wenn sie in Sicherheit war. In Prag.

Langsam stolperte Rebekka vorwärts. Der Gang war niedrig und eng, nach ein paar Schritten musste sie in die Hocke gehen und wie eine Ente durch den Wasserlauf watscheln. Es war stockfinster, sie sah nicht, wohin sie trat. Ein paarmal stieß sie mit dem Fuß gegen einen Stein, doch zum Glück waren ihre Reisestiefel so robust, dass sie sich nicht verletzte. In der Finsternis des Tunnels gab es nur ein einziges Geräusch: das Platschen des Wassers, das unheimlich laut von den grob gehauenen Wänden widerhallte. Es dauerte nicht lange, da hatte Rebekka jedes Gefühl für die Zeit verloren. War sie noch immer unter dem Judenviertel? Hatte sie den Ausstieg zu dem Brunnen verpasst? Gab es diesen Ausstieg überhaupt? Was, wenn sie auf eine Stelle stieß, die zu eng war, um sie zu passieren? Bei diesem Gedanken flutete Panik durch ihren Körper. Der Zulauf, der die Mikwe mit frischem Wasser versorgte, war nicht als Fluchttunnel gebaut worden. Ihr Vater hatte lediglich einen der Alten davon sprechen hören, dass er so geräumig sei, dass man hindurchkriechen könne, wenn man von zierlicher Statur war. Vor ihr hatte es noch nie jemand versucht.

Rebekka schluckte die Beklemmung hinunter und krabbelte weiter. Der Saum ihres Kleides und auch der ihres schweren Lodenmantels waren klatschnass. Wie gut, dass Mutter das wichtige Dokument erst in Wachstuch geschlagen und dann in den Saum eingenäht hatte. Den Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten hatte Rebekka bisher so hoch halten können, dass er weitgehend von der Nässe verschont geblieben war. Sie dachte an die Dinge in dem Beutel, vor allem die beiden Gegenstände, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Das alles musste ein Irrtum sein, ein böser Traum! Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals. Es war kein böser Traum, da hing es, das silberne Kettchen, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellte.

Mit einem Mal durchdrang ein schwacher Schimmer die Dunkelheit. Das musste der Ausstieg sein! Rebekka krabbelte schneller, froh, dass sie den finsteren Tunnel bald verlassen konnte.

Doch nur wenige Fuß später gelangte sie an eine Stelle, an der sich der Gang so verengte, dass nicht einmal ein Kind hindurchgepasst hätte. Nein! Musste sie etwa zurückkriechen? Zurück in das Judenviertel, wo die Häscher schon auf sie warteten? Oder noch schlimmer: hier unten stecken bleiben, bis sie vor Kälte und Hunger elendig starb?

Rebekka kroch die letzten Ellen vorwärts und bemerkte zu ihrer großen Erleichterung, dass sich unmittelbar vor dem Engpass zu ihrer Linken eine helle Öffnung auftat. Als sie hindurchspähte, entdeckte sie etwa vier Ellen unter sich eine dunkle Wasserfläche. Sie richtete den Blick nach oben. Ein großes, kreisrundes Loch zeigte ihr ein Stück des Abendhimmels, an dem bereits die ersten Sterne funkelten. Aus der Brunnenwand ragten vereinzelte Steine so weit aus dem Mauerwerk hervor, dass es möglich sein musste, hinaufzusteigen. Rebekka zögerte dennoch. Was, wenn genau jetzt eine Magd zum Wasserholen kam und sie entdeckte?

Nicht auszudenken, was die Leute mit ihr anstellen würden, wenn sie sie hier unten erwischten, denn die Christen waren davon überzeugt, die Juden würden die Brunnen vergiften. Sie würden glauben, sie hätten sie auf frischer Tat ertappt. Sie würden sie als Brunnenvergifterin ohne zu zögern in Stücke reißen. Andererseits konnte sie nicht ewig hier unten hocken. Es war eiskalt, das nasse Kleid klebte an ihrem durchfrorenen Körper. Zudem wurde sie erwartet.

Rebekka beugte sich vor und griff nach dem ersten Stein in Reichweite. Anfangs konnte sie sich nur mit äußerster Mühe mit ihren kalten, steifen Fingern festklammern, doch mit jedem Schritt nach oben wurden ihre Bewegungen geschickter. Schließlich wagte sie einen Blick über den Brunnenrand. Erschrocken fuhr sie zurück. Adonai, hilf! Mitten auf dem Marktplatz war sie, im Herterichsbrunnen. Wie sollte sie hier unbemerkt hinausgelangen?

Noch einmal äugte sie vorsichtig über den Rand. Der Platz war leer. Vielleicht war es später, als sie dachte, vielleicht hatte der Nachtwächter bereits die erste Runde gedreht. Noch einmal schaute sie in alle Richtungen, dann zog sie sich hoch und kletterte geschwind über den Brunnenrand. Einen Augenblick hielt sie atemlos inne. Von der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes drangen Geräusche herüber, laute Schreie und ein dumpfes Poltern. Hinter diesen Häusern lag das Judenviertel. Deshalb war der Platz leer! Die Meute zog durch das Viertel und versuchte die Türen aufzubrechen. Hoffentlich gelang den anderen rechtzeitig die Flucht!

Plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hauswand. »Da seid Ihr ja endlich. Kommt! Beeilt Euch!«

Rebekka fuhr erschrocken herum. Sie wollte etwas erwidern, doch der Mann, ein Knecht in einer zerschlissenen Cotte, hatte sich bereits abgewandt und lief in die Herrngasse. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Der Knecht führte sie zu einem Hoftor, stieß eine kleine Pforte auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Bevor sie eintrat, blickte sie noch einmal zurück. In der Herrngasse wohnten die vornehmen Christen, die Patrizier, die die Geschicke der Stadt Rothenburg lenkten. Ihre Häuser waren aus Stein gemauert und prächtig anzusehen. Dabei war die äußere Pracht nichts gegen die Reichtümer, die sich in ihrem Inneren verbargen. Einmal hatte Rebekka ein solches Haus betreten, heimlich, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Und obwohl ihre Eltern ebenfalls wohlhabend waren und angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde, hatte sie vor Staunen den Mund nicht zubekommen: Teppiche an den Wänden, überall Leuchter aus kostbarem Silber, Trinkgefäße aus Kristall und sogar gläserne Scheiben in den Fenstern, durch die das Sonnenlicht bunte Flecken auf den Boden warf! Das Haus, das sie kannte, lag ein Stück weiter die Herrngasse hinunter. Seufzend warf Rebekka einen Blick darauf, bevor sie dem Knecht durch die Pforte folgte.

Im Hof stand ein Fuhrwerk, ein Mann mit kantigem Gesicht und fast kahlem Schädel wartete daneben. »Da bist du ja, Metze.« Er trat näher.

Rebekka vermutete, dass es der Hausherr war, Hermo Mosbach, ein vornehmer Christ, dem ihr Vater nicht nur den Erlass sämtlicher Schulden, sondern auch ein Pfund Silber versprochen hatte, wenn er dafür seine Tochter sicher aus der Stadt brachte. Mosbach trug seidene Beinlinge, ein Wams aus Samt und einen schweren blauen Mantel, der von einer kunstvoll gefertigten silbernen Schnalle zusammengehalten wurde. »Hast du das Geld?«

»Ja, Herr.« Rebekka schluckte. »Ich habe Anweisung, es Euch erst zu geben, wenn Ihr mich wohlbehalten aus Rothenburg geleitet habt.«

»Hört, hört«, brummte der Mann. Er musterte sie von oben bis unten. Etwas Abschätzendes lag in seinem Blick, so als prüfe er die Ware eines Schlachters. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Ich habe es nicht eilig. Du aber schon, oder? Also rasch! Auf den Wagen mit dir! Die Stadttore werden gleich geschlossen.« Er reichte ihr eine Gugel. »Und zieh das über. Muss ja nicht gleich jeder sehen, wer da mit mir auf dem Wagen sitzt.«

Rebekka gehorchte, und kurz darauf rollten sie auf das Rödertor zu. Die Wachen griffen bereits zu den schweren Balken, die das Tor für die Nacht verriegeln würden.

»Haltet ein!«, rief Mosbach ihnen zu, als das Fuhrwerk vorgefahren war.

Die Wachen drehten sich um, erkannten den vornehmen Herrn und verneigten sich. »Ihr seid spät dran, edler Herr Mosbach«, sagte einer der Männer. »Wenn Ihr jetzt noch herausfahrt, müsst Ihr die Nacht im Freien verbringen.«

Mosbach seufzte und hob in gespielter Verzweiflung die Schultern. »Was hilft es? Dringende Geschäfte auf meinem Gut. Sie dulden keinen Aufschub. Also bitte, lasst mich und meine Magd ausfahren, seid so gut, Hauptmann.«

Rebekka senkte den Kopf so tief, dass die Wachen unmöglich ihr Gesicht erkennen konnten.

»Dann werdet Ihr und Eure Magd wohl auf dem Hof nächtigen müssen.« Der Hauptmann zwinkerte anzüglich. »Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich, Herr!« Er gab den übrigen Wachmännern ein Zeichen, das Tor noch einmal zu öffnen.

Mosbach schnalzte mit der Zunge, der Gaul setzte sich wieder in Bewegung, und der Wagen rollte aus der Stadt. Kaum waren sie auf der Landstraße, ließ Mosbach das Tier antraben. Das Tageslicht war nahezu verloschen, doch der fast volle Mond schien hell, und die Straße war breit und gut befestigt, sodass die nächtliche Fahrt nicht allzu gefährlich war.

Rebekka zog den feuchten Umhang enger um ihre Schultern. Der Winter nahte, letzte Woche hatten sie Sukkot gefeiert, das Fest der Laubhütten. Der Monat Tischri neigte sich dem Ende zu, ein sicheres Zeichen, dass die dunkle Jahreszeit endgültig angebrochen war. Verstohlen blickte sie zu dem Mann, in dessen Hand ihr Leben lag. Hermo Mosbach starrte missmutig geradeaus.

»Fahren wir die Nacht durch bis Nürnberg?«, wagte Rebekka schließlich zu fragen. In der Stadt, die etwa zwei Tagesmärsche östlich von Rothenburg lag, wartete ein christlicher Kaufmann darauf, Rebekka nach Prag mitzunehmen. Im Gegensatz zu Mosbach wusste er jedoch nicht, dass sie auf der Flucht war.

Mosbach sah sie lange an, bevor er sprach. »Nein, in einem durch geht das nicht. Das Pferd muss sich erholen. Außerdem können wir nur so lange weiterfahren, wie der Mond hoch genug steht. Danach müssen wir bis Sonnenaufgang rasten.«

Rebekka fröstelte. Rasten! Mitten in der Nacht mit einem fremden Mann im Wald das Lager aufschlagen! Ob ihr Vater das gewusst hatte? Vertraute er dem Christen so sehr? Oder war es ihm am Ende gleich, was mit ihr geschah, jetzt, wo sie nicht mehr seine Tochter war?

Schweigend fuhren sie weiter. Als der Mond hinter den Baumwipfeln verschwand, lenkte Mosbach den Wagen auf ein kleines Stück Wiese am Rand der Landstraße. Rebekka, die irgendwann vor Erschöpfung eingenickt war, erwachte von dem unvermittelten Ruckeln auf dem unebenen Untergrund und blickte sich verwirrt um.

»Hier rasten wir, bis es hell wird«, erklärte Mosbach.

Rebekka nickte stumm. Als der Wagen hielt, stieg sie mit steifen Beinen hinunter. Das Gras glitzerte feucht im Dämmerlicht. Eine kalte Brise fuhr ihr unter das Kleid. Sie blickte zu dem Gefährt. Bisher hatte sie sich nicht für die Ladung interessiert, doch nun wollte sie wissen, ob zwischen den Fässern und Ballen auf der Ladefläche vielleicht ein trockenes Plätzchen war, wo sie sich ausstrecken konnte.

Plötzlich stand Mosbach dicht hinter ihr. »Wie wäre es jetzt mit der Belohnung?«, fragte er mit rauer Stimme. »Schließlich hab ich deinetwegen ein lustiges Schauspiel verpasst.«

Rebekka drehte sich um. Erst begriff sie nicht, doch dann dämmerte ihr, was für ein Schauspiel Mosbach meinte. Die Hatz auf die Juden, denen man die Schuld an dem Schwarzen Tod gab, der im ganzen Reich wütete und bereits Tausende dahingerafft hatte. Rothenburg war bisher verschont geblieben, dennoch hatte es in den letzten Wochen immer wieder Übergriffe gegeben. Erst wenige Tage zuvor hatten einige junge Männer Simon ben David halb totgeschlagen, den jüdischen Schlachter, bei dem die Christen gewöhnlich die Teile des Fleisches kauften, die die Juden selbst nicht essen durften. Er würde die Teile anspucken, bevor er sie den Christen feilbot, hatten sie behauptet, und sie damit vergiften wollen. Und dann hatten die Rothenburger Juden auch noch den Schutz des Königs verloren. Ausgerechnet zu Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, hatte der städtische Ausrufer auf dem Marktplatz den Erlass Karls IV. verkündet. Mit ihm entband der König die Stadt von der Pflicht, die Juden zu schützen. Von dem Augenblick an waren sie Freiwild gewesen. Wie konnte der König nur so grausam sein!

Mosbach beugte sich vor. »Nun mach schon, her damit!« Er streckte die Hand aus, fuhr ihr unter den Mantel, riss ihr den Geldbeutel weg und stopfte ihn in seine Wamstasche. Dann packte er ihr grob an die Brust.

Entsetzt wich Rebekka zurück.

»Komm schon, stell dich nicht so an, du dumme Judenfotze. Kannst ruhig ein bisschen nett sein zu deinem Retter.« Er riss ihr Gugel und Kopftuch herunter und packte sie am Haar.

»Nicht! Bitte!« Rebekka schob ihn weg. »Behaltet das Geld, nehmt alles, wenn Ihr wollt, doch bitte lasst mich los!«

Mosbach schien sie gar nicht zu hören. Mit der einen Hand hielt er noch immer ihr Haar umklammert, mit der anderen griff er unter ihr Kleid und kniff ihr in den nackten Schenkel.

Rebekka schrie auf. »Adonai, steh mir bei!«

»Dein Judengott wird dir nicht helfen, du kleines Miststück«, flüsterte Mosbach ihr ins Ohr. Mit einem kräftigen Stoß warf er sie zu Boden. Der Aufprall war hart und schmerzvoll, benommen schnappte Rebekka nach Luft. Schon war Mosbach über ihr, sein schwerer, stinkender Körper presste sie ins feuchte Gras. Er drückte ihr eine Hand auf den Hals, sodass sie kaum noch Luft bekam, mit der anderen zog er ihr das Kleid hoch. Seine Knie pressten sich zwischen ihre Beine, zwangen sie auseinander. Mosbach nestelte an seinen Beinlingen herum, grunzte dabei vor Gier. Rebekka schloss die Augen, flehte stumm den Herrgott um Beistand an, doch der Griff um ihren Hals verstärkte sich. Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg, bemühte sich mit allen Kräften, ihren Peiniger abzuschütteln, bis die Atemnot ihr die Sinne raubte. Dann senkte sich Dunkelheit über sie.

***

Engelbert von der Hardenburg, Ritterbruder des Deutschen Ordens, zog den dunklen Wollumhang enger um die Schultern. Ihm war nicht kalt, im Gegenteil, er spürte Hitze aufsteigen. Der Umhang sollte ihn nicht vor der Kälte schützen, sondern vor neugierigen Blicken, die von seiner weißen Ordenstracht mit dem schwarzen Kreuz magisch angezogen wurden. Gleich würde er Abt Ambrosius gegenüberstehen, von dem er etwas haben wollte, das dieser nicht hergeben wollte: zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus, eine Reliquie von unschätzbarem Wert. Engelbert hatte eine fette Summe Geld und eine nicht unbeträchtliche Zahl an Vergünstigungen geboten, doch Ambrosius hatte den Kopf geschüttelt.

»Ich verkaufe nicht«, hatte er verkündet. »Um keinen Preis.«

So war der Stand der Verhandlungen. Engelbert wusste natürlich, was Ambrosius unter »um keinen Preis« verstand: noch mehr Silber, noch mehr Zugeständnisse, noch mehr Land und Güter. Und er wusste, dass der Abt ihn betrügen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie. Ambrosius war gefürchtet, sein Einfluss reichte weit. Nicht weit genug jedoch, um dem Gesandten des Königs ohne triftigen Grund einen Wunsch abzuschlagen.

Seit drei Wochen verhandelten sie, der Abt hatte sich immer neue Schliche ausgedacht, um alles in die Länge zu ziehen. Ende September war Engelbert gemeinsam mit dem König triumphal in Nürnberg eingezogen, nachdem der Aufstand, der vor über einem Jahr begonnen hatte, endgültig niedergeschlagen war. Karl hatte den alten Rat wieder eingesetzt, alle Urkunden des Rats der Aufständischen für ungültig erklärt und einen Landfrieden für Franken eingerichtet, den die Städte Nürnberg und Rothenburg, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, die Pfalzgrafen in Bayern, die Burggrafen Johann und Albrecht und die Fränkischen Landgrafen unterzeichnet hatten.

Karl war noch geblieben, bis die Aufständischen abgeurteilt waren. Die meisten Männer wurden mit Verbannung bestraft, einige Söhne einflussreicher Familien entgingen der Verurteilung, ja blieben sogar im Rat. Engelbert hatte die Ereignisse ohne großes Interesse verfolgt. Politik war ein schmutziges Geschäft.

Inzwischen war der König samt seinem Gefolge wieder abgereist, denn zu Allerheiligen sollte seine zweite Gemahlin Anna in Prag zur Königin gekrönt werden. Vor seiner Abreise hatte Karl nochmals betont, wie viel ihm an der Reliquie lag. Gleichwohl hatte er Engelbert vorerst verboten, das Objekt seiner Begierde zu rauben, denn noch wankte seine Stellung als König, und er musste jeden Schritt mit Bedacht tun.

»Macht ihm ein Angebot, das er nicht abschlagen kann, mein lieber Engelbert. Aber lasst Euch nichts zuschulden kommen«, hatte Karl angeordnet. »Und falls doch, lasst Euch nicht erwischen.«

Engelbert hatte sich stumm verneigt und es sich verkniffen, seine Gedanken auszusprechen: Karls Ruf war schon lange dahin, zu oft hatte er in die Truhen der Klöster und Kirchen gegriffen, ohne zu fragen, und manchmal war der Griff so ruppig gewesen, dass Blut dabei geflossen war.

Aber heute würde Engelbert das Geschäft mit Ambrosius zu Ende bringen, so oder so. Entschlossen durchquerte er die Gasse und hielt auf die imposanten Mauern des Klosters zu.

Die Pforte erschien Engelbert von der Hardenburg besonders abweisend. Es war nicht einfach eine Holztür, nein, es war ein Portal, das einer Burg würdig war. Wer hier hineinwollte, war entweder ein geladener Gast, dem bereitwillig geöffnet wurde, oder er war ein Feind – aber dann musste er erst versuchen, das harte Eichenholz und die zähen Eisenbeschläge mit roher Gewalt zu sprengen. Das ganze Kloster war wehrhaft ausgelegt und erinnerte Engelbert an ähnliche Hindernisse, die er in seiner Laufbahn als Krieger Gottes hatte überwinden müssen.

Noch bevor er den bronzenen Engelskopf, der als Türklopfer diente, mit der Hand berühren konnte, schwang die Pforte auf. Abt Ambrosius persönlich erschien auf der Schwelle.

»Mein lieber Engelbert, wie schön, Euch zu sehen. Ich hoffe, es geht Euch gut?«

Er lächelte honigsüß, und jeder, der den Abt nicht kannte, hätte ihm seine Freundlichkeit abgenommen. Er sah wie ein zuvorkommender Gastwirt aus, ganz von dem Willen beseelt, seinem Kunden den Aufenthalt zu versüßen.

Engelbert neigte leicht den Kopf. »Ganz meinerseits, verehrter Abt. Und gut wird es mir gehen, wenn wir unser Geschäft zum Abschluss gebracht haben.«

Engelbert folgte Ambrosius in dessen Schreibstube. Inzwischen kannte er dort jedes Bodenbrett und jede Einzelheit der kunstvollen Wandteppiche, die den Kreuzweg Jesu Christi zeigten. Aber heute hatte er keine Muße, sich in die Bilder zu vertiefen. Er zog einen Beutel unter dem Umhang hervor, prall gefüllt mit Silbermünzen, und knallte ihn auf das Schreibpult des Abtes.

»Was sagt Ihr dazu, Bruder Ambrosius?«, fragte er mit einem dünnen Lächeln. »Ein wahrhaft fürstliches Schmerzensgeld für den Verlust zweier winziger Knöchelchen, meint Ihr nicht auch?«

Ambrosius verzog keine Miene. »Ihr führt mich in Versuchung, in der Tat, Bruder Engelbert.«

Engelbert drohte der Geduldsfaden zu reißen. Wenn dieser selbstgefällige Abt nicht hören wollte, dann würde er fühlen müssen. »Ihr wisst, von welch tiefer Frömmigkeit unser König ist«, erwiderte er mühsam beherrscht.

»Alle Welt weiß das.« Abt Ambrosius lächelte spitz. »Es heißt, so manch einer schließe seine Reliquien in die schwersten Truhen ein und werfe anschließend den Schlüssel in den Brunnen, und dennoch seien sie vor der Sammelwut unseres hochverehrten Königs Karl nicht sicher.«

»Dummes Gewäsch.« Engelbert winkte ab. Gott sei Dank hatte der Abt nicht herausgefunden, warum Karl diese Reliquie unbedingt in seinen Besitz bringen wollte: Die Finger des heiligen Franziskus sollten im Fundament der Kapelle der Burg Karlstein ihre letzte Ruhestätte finden und Karl stets daran erinnern, dass er in Demut und Gehorsam leben wollte, dass er verzichten wollte auf Hurerei und Verschwendungssucht. »Bisher ist noch jeder angemessen entlohnt worden – wenn er eingesehen hat, dass die Belange des Königs wichtiger sind als die kleinlichen Bedürfnisse seiner Untertanen. Karl ist ein großmütiger König, aber wie jeder gute Vater weiß er auch, dass er manchmal Strenge walten lassen muss, um sein Volk auf dem rechten Weg zu halten. Falls ihm Zweifel an Eurer bedingungslosen Treue kommen sollten …«

Engelbert holte Luft und musterte sein Gegenüber. Doch er nahm keine Regung wahr. Also musste er mehr Druck machen.

»Wie Ihr wisst, hat der König in seiner Großmut bisher darüber hinweggesehen, dass der Rat der Aufständischen in Euren Mauern getagt hat.« Engelbert hob einen Zeigefinger, um jeglichen Einwand des Abtes zu unterbinden. »Und Ihr möchtet doch sicherlich nicht, dass Karl seinen väterlichen Freund Papst Clemens VI. wegen Eurer zweifelhaften Gesinnung um Rat bittet, oder?«

Engelbert ließ die Drohung wirken.

Ambrosius war blass geworden. »Aber auch die Klöster brauchen den Beistand der Heiligen«, sagte er in weinerlichem Ton.

Engelbert fiel nicht auf sein Possenspiel herein. »Und die Einkünfte durch Pilger, ich weiß. Das haben wir doch schon ein Dutzend Mal durchgekaut. Entscheidet Euch. Jetzt!«

Einen Moment schwiegen beide, blickten stumm herab auf den Gegenstand der Verhandlungen, der zwischen ihnen auf dem Tisch stand: eine kleine Schatulle, unter deren fest verschlossenem Deckel die zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus verborgen waren.

Der Abt schluckte. »Eben. Diese Einkünfte würden uns fehlen. Wie sollen wir da gottgefällig unsere Pflichten erfüllen?« Er legte die Hände zusammen, knetete sie und begann zu plappern wie ein Händler auf dem Markt. »In aller Bescheidenheit, was haltet ihr davon: Bei Sontheim, einem Ort südlich von Nürnberg, gibt es ein unwichtiges Gut mit mäßig ertragreichen Ländereien, das der König dem Bischof von Würzburg als Lehen gegeben hat.«

Engelbert kannte das Gut. Die Erträge waren nicht mäßig, sondern ausgezeichnet. Niemals würde es der König sich mit dem Bischof von Würzburg verderben, um diesem Gierschlund von Ambrosius das Maul zu stopfen. Genug war genug. Neben dem Beutel mit Silbermünzen hatte der Abt ihm schon ein Stück Land vor den Toren der Stadt abgeschwatzt. Ambrosius hatte den Bogen überspannt.

Engelbert griff nach dem Beutel. »Ich fürchte, wir kommen nicht ins Geschäft, Abt. Wirklich bedauerlich. Ich werde dem König ausrichten, dass Ihr ihm nicht gehorchen, ja dass ich annehmen muss, dass Ihr Euch sogar gegen ihn auflehnen wollt. Die Gästekammern im Verlies der Prager Burg sollen recht ungemütlich sein, man muss sie teilen mit ausgehungerten Ratten, und die Bediensteten dort unten spielen gerne mit glühenden Zangen.« Engelbert drehte sich zur Tür und ging los.

Ambrosius hob die Hände. »Aber, aber!«, rief er. »Wartet. Handelt nicht übereilt! Was für ein bedauerliches Missverständnis! Wie könnte ich mich den Wünschen meines Königs entgegenstellen? Ihr sollt die Reliquie haben. Zum vereinbarten Preis. Selbstverständlich.«

Engelbert verzog die Lippen zu einem abfälligen Grinsen und wandte sich wieder dem Abt zu. »Öffnet die Schatulle.«

Ambrosius zögerte einen Wimpernschlag, verdammt, was führte er im Schilde?

Schließlich schob der Abt den Deckel zur Seite. Auf blauem Samt lagen zwei kleine Knochen. Engelbert wusste inzwischen genug über menschliche Anatomie, um beurteilen zu können, dass es sich tatsächlich um zwei Fingerknochen handelte und nicht um Schweinezehen. Aber waren es auch wirklich Fingerknochen des heiligen Franziskus? Seine Gebeine waren sehr begehrt, man munkelte, es gebe inzwischen so viele Knochen des Heiligen, dass man fünf Gräber mit ihnen füllen könnte.

Engelbert hob den Blick. »Wo ist das Fingerreliquiar?«

Ambrosius wiegte seinen massigen Schädel. »Es ist leider zerbrochen und daher nicht mehr geeignet …«

»Ja, ja, schon gut. Die Cedula?«

Mit einer schnellen Bewegung, die Engelbert fast dazu veranlasst hätte, in Kampfposition zu gehen und sein Kurzschwert zu ziehen, zog der Abt einen kleinen Zettel hervor und reichte ihn herüber. Engelbert studierte die Cedula, alles schien in Ordnung: Fundstelle, Fundzeit, Finder und der Verweis auf das Authentizitätsdokument. Engelbert holte Luft, aber bevor er sprechen konnte, reichte der Abt ihm ein Pergament, gesiegelt und ausgestellt von Papst Clemens VI., das die Echtheit der Reliquie garantierte. Engelbert drehte das Dokument in seinen Händen und wunderte sich, dass alles anscheinend doch mit rechten Dingen zuging.

Er verkniff sich ein zufriedenes Grinsen. »Gut. Dann will auch ich meinen Teil der Abmachung erfüllen.«

Es widerstrebte Engelbert, ausgerechnet den Dominikanern, die eigentlich zur Armut verpflichtet waren, wieder ein Stück Macht durch neuen Landbesitz zu übertragen. Aber sein König und Herr, Karl von Luxemburg, wollte es so, und Engelbert war ihm treu ergeben.

Ambrosius verzog keine Miene. Unmöglich zu sagen, was hinter seiner Stirn vorging. Engelbert musste auf der Hut sein, der Abt war ein abgebrühter Hund.

Engelbert ließ sich Pergament, Tinte und Feder reichen und setzte ein Schriftstück auf, mit dem er dem Dominikanerkloster zu Nürnberg im Namen Karls IV. die Erträge des versprochenen Stück Landes vor der Stadt übertrug. Ein echter Leckerbissen, weit entfernt von den fiebrigen Sümpfen der Pegnitz. Zum Schluss versah er die Urkunde mit dem Siegel des Königs und überreichte sie dem Abt, der sie mit zusammengekniffenen Augen studierte. »Gut, gut«, murmelte er. »Ich werde die Schatulle mit dem kostbaren Inhalt ebenfalls mit einem Siegel verschließen, nur zur Sicherheit.«

Engelbert hob die Hände. »Nur zu, werter Abt. Solange ich sehe, was Ihr tut.«

Ambrosius verzog keine Miene und trat zu einem Wandschrank. Mit dem Rücken zu Engelbert hantierte er daran herum. Engelbert trat ans Fenster. Die Läden waren bereits verschlossen, obwohl die hereinbrechende Nacht das letzte Tageslicht noch nicht vollständig verschluckt hatte. Engelbert vergewisserte sich, dass der Abt noch beschäftigt war, dann schob er rasch den Riegel des Ladens zur Seite, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und stellte sich vor ein Bücherbord neben dem Fenster, scheinbar vertieft in das Studium der Buchrücken.

»Eine vortreffliche Sammlung frommer Schriften, findet Ihr nicht auch?«, hörte er hinter sich die Stimme des Abtes.

»In der Tat«, pflichtete Engelbert ihm bei und meinte es auch so. »Ihr besitzt alle Kommentare zu Aristoteles, die Albertus Magnus verfasst hat. Beneidenswert.« Er wandte sich um.

Der Abt zeigte auf die Schatulle und die Knochen, schloss den Deckel, zog mehrere bunte Schnüre durch das Schloss und presste die Enden mit gelbem Siegelwachs zusammen. Engelbert griff nach der Schatulle. »Der Dank seiner königlichen Hoheit ist Euch sicher, verehrter Abt Ambrosius.«

»Das will ich meinen«, brummte der Kleriker. »Mögen die Knochen des heiligen Franziskus unseren geliebten König allzeit beschützen.«

Engelbert folgte dem Abt zur Klosterpforte. Der Abschied war kurz und reserviert. Engelbert konnte gut verstehen, dass der habgierige Alte ihn rasch los sein wollte.

Vor der Klosterpforte blieb Engelbert kurz stehen. Ein leiser Schauer lief ihm über den Rücken. Etwas stimmte nicht. Obwohl der Abt sich wahrlich lange gesträubt hatte, war er letztlich zu schnell auf das Geschäft eingegangen. Das verhieß nicht Gutes. Engelbert fuhr mit den Fingern über das Holz der Schatulle. Er musste Gewissheit haben, er durfte es nicht wagen, Karl eine Fälschung zu bringen. Inzwischen war es dunkel; Zeit, ein schützendes Dach aufzusuchen. Wer jetzt noch in der Stadt umherlief, riskierte, vom Nachtwächter aufgegabelt und bis zum Morgen in den Turm geworfen zu werden.

Engelbert hatte zwar Möglichkeiten, sich einem solchen Schicksal zu entziehen, doch er wollte sich nicht als Gesandter des Königs zu erkennen geben. Niemand sollte wissen, dass er in Nürnberg war. Das war schlecht fürs Geschäft. Engelbert wollte bei seinen Brüdern vom Deutschen Orden nächtigen und am nächsten Morgen in aller Frühe gen Prag aufbrechen. Doch noch war an Nachtruhe nicht zu denken.

Engelbert lief die wenigen Schritte vom Dominikanerkloster zur Sebalduskirche und trat ein. Das Gotteshaus war leer, doch wie erwartet brannten vor dem Marienaltar eine Reihe Kerzen, die ausreichend Licht spendeten. Er kniete nieder, schlug das Kreuz und sprach ein Ave Maria. Dann beschwor er die himmlische Jungfrau: »Heilige Maria«, bat er, »steh mir bei, auf dass ich nicht mit leeren Händen zu meinem König zurückkehren muss. Sollte meine Unternehmung gelingen, werde ich Seine Majestät überreden, hier in Nürnberg eine Kirche zu deinen Ehren zu errichten.«

Er bekreuzigte sich, stand auf und verließ das Gotteshaus. Es gab nur einen Menschen, der ihm jetzt helfen konnte, und das hieß, dass er sich ins Judenviertel begeben musste. Die Stimmung in der Stadt war gereizt. Wer immer das Haus eines Juden betrat, setzte sich dem Verdacht aus, mit den »Gottesmördern« gemeinsame Sache zu machen. Was sagte man diesem Volk nicht alles nach, von Brunnenvergiftung bis zu Kindsmord. Wie närrisch! Und wie gefährlich. Seit der Schwarze Tod im Reich wütete, wurde es täglich schlimmer. Ein Besuch in einem jüdischen Haus bedeutete ein Wagnis, vor allem zu dieser Stunde. Doch Engelbert fürchtete sich nicht. Im Gegenteil, er liebte die Herausforderung und die Gefahr.

Wie ein Schatten huschte Engelbert durch die Gassen, duckte sich in einen Winkel, wenn ein Nachtwächter sich lautstark näherte, wich Betrunkenen aus und gab einem Schwein, das sich verlaufen hatte, einen Tritt, damit es ihm nicht folgte.

Schweißgebadet traf er endlich im Judenviertel ein. Auch hier waren bereits alle Türen verschlossen. Schnell fand er, was er suchte: das Haus des Aaron ben Levi, Medicus und Chirurgicus. Engelbert klopfte dreimal, wartete, dann klopfte er zweimal und nochmals dreimal. Die Tür öffnete sich, Engelbert schlüpfte hinein. Vor ihm stand Aaron, die weißen Haare waren lichter geworden, aber seine Augen hatten nichts von ihrer Wärme und Weisheit verloren.

»Engelbert von der Hardenburg! Welch eine Freude. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«

»Zu lange, kein Zweifel, mein Freund.«

Engelbert umarmte Aaron. »Und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich erst jetzt komme, wo ich deine Hilfe brauche …«

Aaron winkte ab. »Wozu sind Freunde da? Wie kann ich dir dienlich sein? Bist du hungrig?«

Engelbert schüttelte den Kopf. »Hab Dank, aber ich bin in Eile.«

Er trat in den Wohnraum, stellte die Schatulle auf den Tisch und öffnete sie.

»Was siehst du, Aaron?«

Aaron beugte sich über die Knochen. Er hielt sich mit einer Hand ein Sehglas vor die Augen, während er mit der anderen bedächtig eine Kerze über die Reliquie schwenkte.

»Zwei Fingerknochen. Ob sie von einer einzigen Hand sind, kann ich nicht sagen. Aber wer immer der Besitzer war, er ist um sein Alter ebenso zu beneiden wie um sein gutes Leben, obwohl er zuletzt große Schmerzen gehabt haben muss.«

Engelbert begann zu schwitzen. »Wie alt?«

»Mindestens sechzig, eher siebzig Jahre.«

Verflucht! Das bestätigte seine Befürchtungen. Der heilige Franziskus war nur wenig älter als vierzig Jahre geworden. Engelbert juckte es in den Fingern, das ganze Kloster dieses verlogenen Abtes in Schutt und Asche zu legen.

»Schau her.« Aaron zeigte auf Verdickungen an den Enden der Knochen. »Sehr weit fortgeschritten, das Zipperlein. Die Gicht. Zu viel Wein, zu viel Fleisch, zu viel Fett. Dieser Mensch hat Ausschweifungen geliebt, über Jahrzehnte hinweg.«

»Das sollen Knochen des heiligen Franziskus sein«, sagte Engelbert tonlos.

Aaron lachte leise. »Nun ja, alles, was ich über Franziskus von Assisi weiß, ist, dass er regelmäßig gefastet hat und dennoch recht jung gestorben ist. Nein, er mag blind gewesen sein, aber die Gicht hatte er mit Sicherheit nicht.«

Engelbert schlug mit der Faust in seine Hand.

»Man hat dich betrogen, nicht wahr?« Aaron seufzte.

»Ja. Abt Ambrosius, der Hund. Aber ich werde es ihm heimzahlen, darauf kannst du wetten.« Er griff nach der Schatulle. »Eins noch: Ich rate dir, Nürnberg zu verlassen. Es steht zu befürchten, dass Karl …«

Aaron hob eine Hand. »Ich weiß. Wir sind gewarnt. Danke. Kann ich noch etwas für dich tun?«

Engelbert nickte. »Hast du zufällig ein paar Hühnerknochen für mich?«

***

Rebekka kam keuchend zu Bewusstsein. Etwas Schweres bewegte sich auf ihr, drückte sie auf den feuchten Untergrund und stöhnte genüsslich. Mosbach! Voller Entsetzen spürte sie, wie sein entblößter Unterleib sich zwischen ihre Schenkel drängte. Sie schrie so gellend, dass der Christ für einen Moment innehielt und sie ungläubig anstierte.

Verzweifelt tastete sie im nassen Gras umher. Wenn sie nur irgendetwas zu fassen bekäme, mit dem sie sich wehren konnte! Einen Stock, einen Stein, irgendetwas!

Mosbach erholte sich schnell von seinem Schreck und presste mit seinen Beinen ihre Schenkel weiter auseinander.

Rebekka drückte, so fest sie konnte, in die entgegengesetzte Richtung, doch ihre Kräfte ließen bereits nach, ihr ganzer Körper bebte vor Angst und Anstrengung. Da! Ein Stein! Gerade als Mosbach mit einem gierigen Stoß in sie eindringen wollte, versetzte ihm Rebekka mit aller Wucht einen Hieb auf die Schläfe.

Mosbach grunzte leise und sank auf sie nieder.

Angewidert rollte Rebekka den stinkenden Leib von sich hinunter und erhob sich mühsam. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie kaum gerade stehen konnte. Lauf, befahl sie sich selbst. Lauf, so weit dich deine Füße tragen!

Sie taumelte zum Wagen und suchte nach ihrem Bündel. Wo hatte sie es gelassen? Vor dem Bock? Auf der Ladefläche? Ihr Herz raste, das Kleid klebte an ihrem schweißnassen Körper. Endlich entdeckte sie das Bündel auf einem Baumstumpf vor dem Wagen. Hastig griff sie danach. Als sie durch das Gras auf die Landstraße stolperte, stöhnte Mosbach hinter ihr. Zu Tode erschrocken rannte sie los.

***

Lautlos erklomm Engelbert die Klostermauer. Es fiel ihm nicht schwer. Sie war zwar hoch, aber das Mauerwerk bot viele Ritzen, sodass er leicht Halt fand. Wie gut, dass er vorgesorgt hatte, und wie gut, dass ihm der Tagesablauf im Kloster bekannt war. Die Mönche waren alle zur Komplet in der Kirche versammelt, der Zeitpunkt war ideal. Lautlos schlich Engelbert durch den Klostergarten. Von der Kirche fiel zuckendes Kerzenlicht über die von schmalen Wegen gerahmten Kräuterbeete und die Wiese mit den abgeernteten Obstbäumen. Das inbrünstige Gebet der Mönche war gedämpft zu vernehmen. Vor den Fenstern der Schreibstube des Abtes blieb Engelbert stehen und horchte. Bis auf das entfernte Murmeln aus der Kirche war alles still. Kein Lichtschimmer drang durch den Ritz zwischen den Fensterläden nach draußen.

Engelbert holte Luft, fuhr mit den Fingerspitzen zwischen die beiden Flügel und zog. Dem Himmel sei Dank! Der Riegel war nicht wieder vorgeschoben worden. Lautlos schwangen die Läden auf und gaben den Zugang zur Schreibstube frei. Gläserne Scheiben gab es nicht, nur die Kirche war damit ausgestattet. Vermutlich klemmte der Abt im Winter einen mit Pergament bespannten Rahmen in die Öffnung, um die Zugluft fernzuhalten. Doch auch der wäre für Engelbert kein Hindernis gewesen.

Aufmerksam spähte er ins Innere. Der Mond spendete genug Licht, um den Raum zu erhellen. Alles sah noch genauso aus wie bei seiner Unterredung mit dem Abt. Hoffentlich hatte dieser Betrüger die echte Reliquie noch nicht in den Schrein im Inneren der Kirche zurückgebracht! Das würde die Mission erheblich erschweren, vielleicht sogar unmöglich machen.

Engelbert zog sich hoch und sprang in den Raum. Noch einmal horchte er. Nichts. Auf Zehenspitzen schlich er auf das Pult zu. Unter der Schreibfläche war ein Fach, in dem die Schreibutensilien verstaut werden konnten. Es war verschlossen. Engelbert zog sein Messer aus der Scheide und schob es in den Schlitz unter der Schreibfläche. Behutsam tastete er nach dem Stift, der die Verriegelung sicherte. Verflucht! Er war widerspenstiger, als er gedacht hatte. Wenn das Schloss nicht bald nachgab, würde er das Pult mit Gewalt aufbrechen müssen. Das allerdings würde bedeuten, dass der Abt den »Diebstahl« zu schnell bemerken würde.

Endlich klickte es, und das Schloss gab nach. Langsam hob Engelbert die Klappe an. Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Zwischen Tintenfass und Lesestein lag das Fingerreliquiar.

Engelbert schlug das Kreuz. »Dank sei dir, Herr im Himmel«, murmelte er.

Flugs nahm er die echten Fingerknochen des heiligen Franziskus heraus, wickelte sie in ein dickes samtenes Tuch ein und verstaute sie in einem Reisereliquiar, das er sorgfältig an seinem Gürtel befestigte. Dann legte er die zwei Hühnerknochen in das Reliquiar des Abtes, klappte das Pult zu, kletterte aus dem Fenster und verschloss die Läden. Keinen Augenblick zu früh. Während er über die Obstwiese zurück zur Mauer eilte, sah er aus den Augenwinkeln, wie einer der Dominikanerbrüder beim Refektorium um die Ecke bog, ein riesiges Schlüsselbund in der Hand. Bestimmt überprüfte er, ob sämtliche Tore und Pforten gut verschlossen waren. Der offenstehende Fensterladen wäre ihm sicherlich aufgefallen.

Wenig später verließ Engelbert die Stadt Nürnberg durch eine kleine Pforte im Laufer Tor. Der Torwärter hatte sich mit ein paar Hellern zufriedengegeben und ihm wortlos geöffnet. Engelbert atmete die kalte Nachtluft ein. Nach seinem unerbetenen Besuch im Kloster hatte er nur kurz an die Hintertür eines Mannes geklopft, der eine Garküche im Südteil der Stadt betrieb und gelegentlich Botendienste für Engelbert übernahm, um sein Bündel abzuholen und sich ein wenig Verpflegung aushändigen zu lassen. Da er nicht wusste, wie lange der Abt brauchen würde, bis er den Diebstahl entdeckte, war es ihm sicherer erschienen, unverzüglich so viele Meilen wie möglich zwischen sich und die Stadt zu bringen.

Immerhin war seine Mission ein voller Erfolg gewesen. Nun galt es, sich einem Händlerzug anzuschließen und die kostbare Beute so bald wie möglich bei seinem Herrn in Prag abzuliefern. Schade nur, dass er nicht zugegen sein würde, wenn der ehrenwerte Abt Ambrosius den päpstlichen Legaten erklären musste, warum er Hühnerknochen als heilige Reliquien ausgab!

***

Rebekka lehnte sich mit dem Rücken gegen das Weidengeflecht des Käfigs und schloss die Augen. Sie konzentrierte all ihre Gedanken auf die Wachstafel, die der Vater ihr am Abend zuvor gezeigt hatte. Einen Namen hatte er in das Wachs geritzt, und einen groben Plan der Stadt Nürnberg, auf dem er den Standort eines Hauses markiert hatte. Ein Marktplatz war da gewesen, nördlich einer großen Kirche, die zu Ehren des heiligen Sebaldus errichtet worden war. Auf halbem Weg dazwischen eine Reihe mit dreistöckigen Kaufmannshäusern. Das Haus an der Ecke zu einer schmalen Gasse. Jetzt noch der Name. Langurius. Ja, sie erinnerte sich ganz genau, Egmund Langurius, Pelz- und Tuchhändler zu Nürnberg.

Wie gut, dass sie ein solch gutes Gedächtnis für Bilder hatte. Ein besonderes Geschenk Gottes hatte ihr Vater es immer genannt. Was sie anschaute, brannte sich in ihr Gedächtnis ein, sodass sie es später nicht nur genau erinnern, sondern auch detailgetreu aufzeichnen konnte. Gleichgültig, ob es sich um ein Gesicht, den Schnitt eines Gewandes oder um Schriftzeichen handelte: Wenn sie einmal einen Blick darauf geworfen hatte, blieb das Bild für immer in ihrem Kopf haften.

Ihr Vater hatte ihr außergewöhnliches Talent entdeckt, als sie gerade vier Jahre alt gewesen war. Er hatte ein Buch mit den religiösen Versen des Rabbi Meir ben Baruch auf dem Tisch liegen lassen. Rebekka war auf einen Stuhl geklettert, hatte die aufgeschlagene Buchseite betrachtet und die verschlungenen Zeichen bewundert, deren Sinn sie nicht verstand. Später hatte sie die Zeichen auf dem Hof hinter dem Haus mit einem Stöckchen in den Sand gezeichnet, Wort für Wort genau in der Reihenfolge wie in dem Buch. Ihr Vater war zuerst rasend vor Wut gewesen, hatte er doch angenommen, seine kleine Tochter hätte das kostbare Buch mit nach draußen genommen. Doch als sie immer wieder beteuerte, sie habe es gar nicht angerührt, hatte er sie eine zweite Seite betrachten und aus dem Gedächtnis in den Sand zeichnen lassen.

Danach war ihr Vater ganz aufgeregt gewesen. Er hatte Rebekka zu Rabbi Isaak gebracht, dem sie das Wunder erneut hatte vorführen müssen. Der Rabbi hatte in seiner Weisheit entschieden, dass diese besondere Begabung gefördert werden müsse. Und da Rebekka nicht mit den Jungen zur Schule gehen konnte, hatte er beschlossen, sie höchstselbst zu unterrichten. So war Rebekka jeden Nachmittag, nachdem sie mit ihrer Mutter die häuslichen Pflichten erledigt hatte, zum Haus des Rabbi Isaak gelaufen, um bei ihm Unterricht zu nehmen.

Rebekka seufzte und öffnete die Augen. Offenbar hatte ihr Vater Hermo Mosbach nicht völlig vertraut, sonst hätte er ihm den Namen und das Haus in Nürnberg genannt, anstatt es seiner Tochter auf eine Wachstafel zu kritzeln und sofort wieder zu löschen. Wenn Menachem ben Jehuda allerdings geahnt hätte, wie verderbt der vornehme Rothenburger Bürger tatsächlich war, hätte er ihm niemals seine Tochter anvertraut.

Unwillkürlich fuhr Rebekka sich mit der Hand an den Hals. Sie hatte die roten Striemen so gut es ging mit dem Kragen des Mantels verborgen. Die blauen Flecke, die der Kampf mit Mosbach auf ihren Armen und Beinen hinterlassen hatte, waren glücklicherweise durch ihr Kleid verdeckt. Rebekka schauderte. Wie knapp sie entkommen war! Doch sie hatte einen hohen Preis für ihre Rettung bezahlt. Sie war so kopflos geflüchtet, dass sie alles Geld, das sie besaß, bei Mosbach zurückgelassen hatte. Bis auf den Kreditbrief, den Mutter ihr in den Saum eingenäht hatte.

Trotz der Angst, ihr Peiniger könne sie einholen, hatte sie es nicht gewagt, die Landstraße zu verlassen. Die ganze Nacht durch war sie gelaufen. In der Morgendämmerung war sie auf einen Fluss gestoßen, hatte sich entkleidet und in dem eisigen Wasser ein Bad genommen. Danach hatte sie sich ein wenig besser gefühlt. Doch die Wirkung hatte nicht lange angehalten. Sie fühlte sich beschmutzt und entehrt. Auch wenn Mosbach sein Vorhaben nicht hatte zu Ende führen könnten, spürte sie noch immer seine dreckigen Finger auf ihrem Körper, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Schenkeln. Ob sie es wagen konnte, im Nürnberger Judenviertel die Mikwe aufzusuchen? Würde sie sich danach besser fühlen?

Der Karren ruckelte und riss Rebekka aus ihren Gedanken. Etwa eine halbe Meile zuvor war sie von einem Ochsenkarren eingeholt worden, mit dem ein älteres Bauernpaar Käfige mit Geflügel nach Nürnberg zum Markt brachte. Die beiden Alten hatten Rebekka angeboten, sie mitzunehmen. Dankbar hatte sie angenommen und sich hinten zwischen den Käfigen ein Plätzchen gesucht. Inzwischen hatte sich die Landstraße mit Reisenden und Fuhrwerken gefüllt, die in einer langen Reihe auf die Stadt zustrebten. Es konnte nicht mehr weit sein.

Rebekka schnürte ihr Bündel auf und nahm eine kleine Decke aus fein gesponnener Wolle heraus. Sie war von zartem Gelb und von einer Seidenspitze gleicher Färbung gesäumt. Ein kostbares Stück Handwerkskunst, keine Frage. In den Rand einer der Längsseiten war oberhalb der Spitze mit dunkelgelbem Seidenfaden ein Name eingestickt: Amalie.

Ihr Vater hatte ihr gestern Abend das Deckchen in die Hand gedrückt und gesagt: »Das ist alles, was du am Leib trugst, als wir dich vor unserer Tür fanden. Das Deckchen und ein silbernes Kruzifix. Wir wussten gleich, dass du ein Christenkind bist.«

Rebekka hatte ihn fassungslos angestarrt, doch er hatte einfach weitergesprochen. »Am Tag des Schawuotfestes des Jahres 5092 war das. Du warst erst wenige Wochen alt. Mehr als siebzehn Jahre ist das nun her.«

»Aber Vater, …« Rebekka hatten die Worte gefehlt. Ihre ganze Welt drohte zusammenzubrechen. Sie war ein Findelkind! Sie war keine Jüdin, ihre Eltern waren nicht ihre Eltern, Rothenburg, die Stadt, in der sie aufgewachsen war, war nicht ihre Heimat. Vater musste sich irren! Hatte er selbst sie nicht als Kind des Öfteren angesehen und eine Bemerkung darüber fallen lassen, wie ähnlich sie ihrer Mutter sähe? Hatte er nicht wieder und wieder betont, dass sie das gleiche kastanienbraune Haar habe wie seine geliebte Esther, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen fast schwarzen Augen?

»Dein wahrer Name ist Amalie, mein Kind«, hatte ihr Vater weitererzählt. »Amalie Belcredi. Das zumindest nehmen wir an. Denn in dem Körbchen, in dem du lagst, fanden wir ein in Lammleder gebundenes Büchlein, die Bibel der Christen, geschrieben in lateinischer Sprache. Ganz vorn in dem Büchlein standen zwei Wörter und eine Zahl: Belcredi, Prag 1332. In der christlichen Zeitrechnung ist 1332 das Jahr, das unserem Jahr 5093 entspricht.«

Benommen hatte Rebekka die Gegenstände in ihrem Beutel verstaut, während der Mann, den sie ihr ganzes bisheriges Leben lang für ihren Vater gehalten hatte, ihr mit eindringlichen Worten erklärte, dass sie fliehen müsse. Er erzählte ihr von seinem Plan, von dem Wassertunnel, der von der Mikwe zu einem Brunnen außerhalb des Judenviertels führte, von Hermo Mosbach und von dem Kaufmann in Nürnberg, der sie nach Prag bringen sollte, damit sie dort nach ihrer Familie suchen konnte. »Der Kaufmann denkt, du seist eine christliche junge Frau, die von ihren Eltern ins Kloster geschickt wird. Er wird dich vor dem Tor des Klosters St. Georg in Prag absetzen, eine der Benediktinerinnen ist angeblich deine Tante.«

»Und ihr?«, hatte Rebekka gestammelt und verzweifelt erst ihren Vater und dann ihre Mutter angesehen. »Was wird aus euch?«

»Wir werden ebenfalls fliehen und kommen nach«, hatte ihr Vater versichert. »Hab keine Angst. In Prag werden wir uns wiedersehen.«

Rebekka klammerte sich an dieses Versprechen wie eine Ertrinkende, obwohl sie gesehen hatte, wie ihre Mutter den Blick senkte, als ihr Vater diese Worte sprach.

Behutsam strich Rebekka einmal über das Deckchen, dann verstaute sie es wieder in dem Beutel. Außer ihm und der kleinen Bibel befanden sich nur ein Paar Fellhandschuhe, eine Fellmütze und etwas Wegzehrung darin.

Rebekka verschnürte den Beutel und blickte auf. Gerade rollten sie an einer Ansammlung imposanter Steingebäude vorbei, einer Art Stadt vor den Toren Nürnbergs, mit wehrhaften Mauern, zwei Gotteshäusern und einem Spital. Das große Tor, das in die Mitte des zentralen Hauses eingelassen war, wurde soeben aufgestoßen, und eine Gruppe Reiter sprengte heraus, Männer in blinkender Rüstung, über der sie einen weißen, mit einem schwarzen Kreuz versehenen Umhang trugen. Es waren Ritter des Deutschen Ordens, wie Rebekka sie aus Rothenburg kannte. Mitglieder einer Bruderschaft, die für ihren Glauben nicht nur das Kreuz, sondern auch das Schwert trug, und die so mächtig war, dass sie an der Nordgrenze des Reiches sogar einen eigenen Staat besaß.

Kurz nachdem sie die Kommende des Deutschen Ordens passiert hatten, rollte der Karren vor das Stadttor. Rebekka bedankte sich bei den beiden freundlichen Alten und machte sich zu Fuß auf die Suche nach dem Haus von Egmund Langurius.

Überall drängten sich Menschen, nie zuvor hatte Rebekka so viele Leiber so dicht beieinander gesehen. Sie musste die Pegnitz überqueren, um in den nördlichen Teil der Stadt zu gelangen. Mühsam bahnte sie sich einen Weg, vorbei an Mägden mit Waschkörben, Händlern mit Karren voller Waren, Bettlern, Bauern, schmutzigen Kindern, streunenden Hunden, Schweinen und Hühnern. Am anderen Flussufer war der Boden morastig, die Regenfälle der letzten Wochen hatten die Pegnitz über die Ufer treten lassen. Hier und da waren Bretter auf die Straße gelegt worden, damit die Fuhrwerke passieren konnten, ohne stecken zu bleiben. Der Fluss schien in diesem Teil der Stadt regelmäßig die Straßen zu überfluten, denn einige der Häuser waren auf kurze Pfähle gebaut, um sie vor den Wassermassen zu schützen. An manchen Türpfosten entdeckte Rebekka Mesusot, und ihr Herz schlug höher. Hier lebten Menschen ihres Volkes. Wie gern hätte sie an einem der Häuser geklopft und dort um Beistand gebeten. Doch das durfte sie nicht wagen. Nicht nur, weil sie ihrem Vater Gehorsam schuldete. Im Judenviertel würde Mosbach sie zuallererst suchen.

Vom sumpfigen Ufer aus ging es bergauf, und schon bald erreichte Rebekka die Sebalduskirche. Der Lärm der Marktschreier war bereits zu hören. Rebekka umrundete die Kirche, stand wenige Augenblicke später vor einer schweren Holztür und klopfte.

Die kleine Sichtluke in der Tür öffnete sich, und eine junge Magd mit fröhlichen blauen Augen schaute sie neugierig an. »Wer seid Ihr, und was wünscht Ihr?«, fragte sie.

»Mein Name ist Amalie Belcredi aus Rothenburg. Dein Herr, der Kaufmann Egmund Langurius, erwartet mich.«

Die Magd musterte sie neugierig. »Einen Augenblick«, sagte sie und schloss die Luke. Wenig später öffnete sich die Tür. »Tretet ein und folgt mir.«

Rebekka lief hinter der Magd durch einen Korridor in eine geräumige Küche, in der eine Köchin auf einem Schemel beim Herdfeuer saß und ein Huhn rupfte. Auf der anderen Seite des Raums stand ein schwerer Tisch, auf dem allerlei Lebensmittel ausgebreitet waren: ein paar Würste, ein Korb mit Eiern, ein Laib Brot, ein Krug Milch und ein gewaltiger runder Käse. Rebekka schluckte; der Käse lag auf einem Holzbrett gleich neben den Würsten, undenkbar in einem jüdischen Haushalt, wo Fleisch und Milch streng getrennt wurden.

Die Magd deutete auf einen Stuhl. »Der Herr heißt Euch gleich willkommen. Möchtet Ihr in der Zwischenzeit etwas zu Euch nehmen? Sicherlich seid Ihr erschöpft und hungrig von der Reise.«

»Danke«, stammelte Rebekka. Was sollte sie nur antworten? War es unhöflich für eine Christin, ein solches Angebot abzulehnen? »Ich bin nicht hungrig«, log sie. »Aber ich würde gern etwas trinken.«

Die Magd schenkte ihr verdünnten Wein ein. Kaum hatte Rebekka daran genippt, als ein Mann von enormer Leibesfülle die Küche betrat. Sein graues Haar wuchs spärlich, unzählige Falten zerfurchten sein Gesicht, aber die meisten davon waren Lachfalten, wie Rebekka erleichtert feststellte.

»Ihr müsst Amalie sein«, donnerte Langurius in tiefem Bass. »Meine Reisebegleitung ins ferne Prag.«

»Die bin ich. Und ich soll Euch Dank ausrichten von meinem Vater für die Mühen, die Ihr meinetwegen auf Euch nehmt.« Rebekka presste die Worte unter großer Anstrengung hervor. Die Aussicht, wieder einem fremden Mann auf einer Reise ausgeliefert zu sein, schnürte ihr die Kehle zu. Immerhin würden sie diesmal nicht allein unterwegs sein, sondern in einem großen Handelszug reisen.

»Ihr seht blass aus, mein Kind. Hat man Euch Speis und Trank angeboten?«

»Sie wollte nur einen Becher Wein, Herr«, mischte sich die Magd ein.

Langurius nickte nachdenklich. »Sicherlich seid Ihr müde. Ada wird Euch gleich die Kammer zeigen, wo Ihr nächtigen werdet, bis der Zug aufbricht.«

»Geht es denn nicht schon heute los?«, fragte Rebekka überrascht. Sie hatte damit gerechnet, die Reise sehr bald fortzusetzen. Wenn sie länger in der Stadt blieb, lief sie Gefahr, Hermo Mosbach über den Weg zu laufen. Rebekkas Finger umkrampften den Weinbecher. Die Erinnerung an die gestrige Nacht, die sie so mühsam zurückgedrängt hatte, überrollte sie, und mit ihr kam die Angst zurück: Hatte sie den Mann schwer verletzt? Hatte sie ihn womöglich getötet? Nein, das durfte nicht sein. Auch wenn Mosbach ihr Leben und ihre Ehre bedroht hatte, wollte sie nicht an seinem Tod schuld sein. Vorhin am Fluss hatte sie gebetet und Gott angefleht, das Leben des Mannes zu schonen. Da hatte sie noch geglaubt, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

»Der Zug bricht in zwei Tagen auf«, erklärte der Kaufmann. »So habt Ihr ein wenig Zeit, Euch von dem ersten Abschnitt Eurer langen Reise etwas zu erholen.« Er berührte sanft ihren Arm. »Jedenfalls bin ich froh, dass Ihr wohlbehalten hier eingetroffen seid. Heute Morgen habe ich mir ernsthaft Sorgen um Euch gemacht.«

»Sorgen? Um mich? Aber warum denn?« Rebekka dachte an den Aufruhr im Rothenburger Judenviertel. Wusste der Kaufmann etwa doch von ihrer wahren Herkunft?

»Weil allerhand zwielichtiges Pack auf den Straßen unterwegs ist.« Langurius ballte die Faust. »Erst heute Nacht ist ein angesehener Rothenburger Bürger im Wald überfallen worden.«

Rebekkas Herzschlag setzte aus. Fieberhaft überlegte sie, was eine Christin darauf wohl sagen würde, und sie besann sich auf etwas, das jemand sie vor langer Zeit gelehrt hatte. Sie hob die rechte Hand, führte sie erst an die Stirn, dann an den Bauch, die linke und die rechte Schulter. Das Kreuz schlagen, so nannten die Christen es.

Der Kaufmann nickte und tat es ihr gleich. »Der Herr steh uns bei«, murmelte er.

»Amen«, kam es von der Köchin, die aufstand, das gerupfte Huhn auf den Tisch warf und durch eine Tür nach draußen verschwand.

Langurius verzog das Gesicht. »Der arme Kerl war ebenfalls auf dem Weg nach Nürnberg. Zuerst dachte ich, es könne sich um den Mann handeln, der Euch herbringen sollte. Doch dann hieß es, er sei allein unterwegs gewesen. Händler haben ihn am Wegesrand aufgelesen und mitgebracht. Der Ärmste hat eine schwere Verletzung am Kopf, so sagt man. Angeblich wurde er von einem wilden Judenweib angefallen. Sie soll ihn ohnmächtig geschlagen haben, um ihm sein Geschlechtsteil abzuschneiden, das sie für einen dieser gottlosen Bräuche benötigte. Und sein ganzes Geld hat sie ihm gestohlen.«

Rebekka schlug die Hand vor den Mund. Ihr war plötzlich übel.

»Entsetzlich, nicht wahr?«, sagte der Kaufmann mitfühlend. »Ich glaube ja eigentlich nicht an diesen ganzen Unfug, den man über das Judenvolk erzählt, dass sie Säuglinge stehlen und opfern, dass sie Hostien schänden und die Brunnen mit dem Schwarzen Tod vergiften. Schließlich trinken sie selbst von dem Wasser.« Er kratzte sich am Kopf. »Andererseits fanden die Kaufleute den armen Mann tatsächlich mit entblößtem Unterleib. Vielleicht stimmt es also doch.« Er ließ seine mächtige Hand auf den Tisch krachen. »Sei es drum. Der Schultheiß hat sich jedenfalls eine Beschreibung der Judenmetze geben lassen. Bestimmt wird sie bald ergriffen, und dann wird der Henker ihr flugs die Zunge lösen.«

***

Johann von Wallhausen stand am geöffneten Fenster und schaute die Herrngasse hinauf zum Marktplatz. Die frische Luft klärte seinen brummenden Schädel. Verflucht, wie viele Becher Wein hatte er gestern Abend geleert? Ein gutes Dutzend mussten es gewesen sein. Nun ja, es hatte ja auch einen ganz besonderen Grund zum Feiern gegeben. Gestern hatten sein Vater und Oswald Herwagen den Verlobungsvertrag aufgesetzt, schon bald würde er die wunderschöne Agnes Herwagen heiraten. Sie war nicht nur eine äußerst gute Partie, sondern zudem noch eine liebreizende Augenweide, die ihresgleichen suchte.

Nach der Vertragsunterzeichnung hatte Johann mit seinem Vater und seinem zukünftigen Schwiegervater angestoßen. Dabei hatte er wohl ein wenig zu viel des Guten getan. Johann runzelte die Stirn und versuchte, sich an den Abend zu erinnern, doch vor seinem inneren Auge verschwammen die unscharfen Bilder zu einem konturlosen Durcheinander. War Oswald Herwagen heimgegangen oder bis zum Schluss geblieben? Wie war er selbst ins Bett gekommen? Johann stöhnte. Verfluchter Rebensaft! In den nächsten Wochen würde er erst einmal die Finger davonlassen.

Plötzlich streifte ihn eine Erinnerung. Ein Knecht hatte spät in der Nacht an die Tür geklopft und aufgeregt etwas gerufen. Johann hatte nicht mitbekommen, worum es ging, doch sein Vater und Herwagen hatten mit einem Mal todernst dreingeblickt. Was danach geschehen war, fiel Johann ums Verrecken nicht mehr ein.

Missgestimmt fuhr er in seine Kleider, legte den Gürtel um und zog den Mantel an. Er hatte seinem Vater versprochen, heute auf dem Gut nach dem Rechten zu sehen, zu überprüfen, ob bei der Lagerung der Ernte alles ordnungsgemäß verlief. Der Ritt durch die kalte Morgenluft würde ihm den Wein aus dem Körper treiben und seine Laune heben, dessen war er sicher. Rasch eilte er die Treppe hinunter und durch die Hintertür auf den Hof. Er befahl einem der Knechte, seinen Wallach zu satteln, dann schöpfte er einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und benetzte sein Gesicht.

»Da bist du ja endlich.«

Die Stimme seines Vaters ließ Johann herumfahren. »Guten Morgen, Vater. Ich wollte gerade aufbrechen.«