Die Rosa-Hellblau-Falle - Almut Schnerring - E-Book

Die Rosa-Hellblau-Falle E-Book

Almut Schnerring

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Beschreibung

Überarbeitete und erweiterte Auflage von 2021 mit einem Vorwort von Ferda Ataman, 3 neuen Kapiteln und Ergänzungen. Rosa ist für Mädchen, hellblau für Jungs, nach diesem Prinzip sind ganze Kaufhausabteilungen geordnet. Lego hat gerade eine neue Mädchen-Spielsteinreihe auf den Markt gebracht, für die Jungs gibt es eigene Cyber-Raketen-Roboterwelten. Als emanzipierter Erwachsener hat man Geschlechterklischees längst für überwunden gehalten, doch Eltern werden derzeit wieder unerbittlich mit ihnen konfrontiert. Alles nur gut gemeint und kein Problem? Sind Geschlechterunterschiede nicht vielleicht wirklich angeboren und damit eine Lebensrealität? Almut Schnerring und Sascha Verlan, selbst Eltern kleiner Kinder, beschäftigen sich mit den Rollenklischees, die derzeit wieder fröhlich ins Kraut schießen, eine ganze Produktindustrie am Leben halten und sich zunehmend in den Köpfen der Betroffenen festsetzen. Witzig und pointiert beschreiben sie Szenen aus dem Familienalltag, hören sich in Kindertagesstätten um, diskutieren mit Marketingstrategen, Genderforschern, Pädagogen und, natürlich, mit anderen Eltern. Wie würden unsere Kinder aufwachsen, wenn die Klischeefallen und Schubladen nicht immer wieder bedient würden? Ein Aufruf zum Widerstand, der ganz konkrete Tipps bietet, wie sich die Genderfalle im Alltag umschiffen lässt. »Dem Sohn ein rosa Ü-Ei gekauft. War ein Fernglas drin. Jetzt ist er stinksauer. Er wollte eine Elfe.« @DASNUF(TWITTER)

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Seitenzahl: 377

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Zum Buch

Rosa ist für Mädchen, Hellblau für Jungs, nach diesem Prinzip sind ganze Kaufhausabteilungen geordnet. Lego hat gerade eine neue Mädchen-Spielsteinreihe auf den Markt gebracht, für die Jungs gibt es eigene Cyber-Raketen-Roboterwelten. Als emanzipierte Erwachsene haben wir Geschlechterklischees längst für überwunden gehalten, doch Eltern werden derzeit wieder unerbittlich mit ihnen konfrontiert. Alles nur gut gemeint und kein Problem? Sind Geschlechterunterschiede nicht vielleicht wirklich angeboren und damit eine Lebensrealität?

Almut Schnerring und Sascha Verlan, selbst Eltern von drei Kindern, beschäftigen sich mit den Rollenklischees, die derzeit wieder fröhlich ins Kraut schießen, eine ganze Produktindustrie am Leben halten und sich zunehmend in den Köpfen der Betroffenen festsetzen. Hautnah und pointiert beschreiben sie Szenen aus dem Familienalltag, hören sich in Kindertagesstätten um, diskutieren mit Marketingstrateginnen, Genderforschern, Pädagoginnen und, natürlich, mit anderen Eltern. Wie würden unsere Kinder aufwachsen, wenn die Klischeefallen und Schubladen nicht immer wieder bedient würden? Ein Aufruf zum Widerstand, der ganz konkrete Tipps bietet, wie sich die Genderfalle im Alltag umschiffen lässt.

Über die Autoren

Almut Schnerring ist Kommunikationswissenschaftlerin, Journalistin und Trainerin. Als »Wort & Klang Küche« schreibt und produziert sie gemeinsam mit Sascha Verlan Hörspiele und Radiofeatures für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Almut Schnerring und Sascha Verlan leben mit ihren drei Kindern in Bonn.

Sascha Verlan ist Literaturwissenschaftler, Regisseur und Journalist. Als »Wort & Klang Küche« schreibt und produziert er gemeinsam mit Almut Schnerring Hörspiele und Radiofeatures für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Almut Schnerring und Sascha Verlan leben mit ihren drei Kindern in Bonn.

Almut Schnerring / Sascha Verlan

DIE ROSA-HELLBLAU-FALLE

Für eine Kindheit ohne Rollenklischees

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Vorwort von Ferda Ataman

#Rosahellblaufalle 2021

Die FAQs zur Rosa-Hellblau-Falle

Einleitung

1Mathe ist kein Bauchgefühl

Warum Klischees so beharrlich sind

2Von Beginn an zwei Welten

Warum wir schon vor der Geburt Unterschiede machen

3»Du wärst jetzt wohl mal die Mutter«

Rollenklischees im Kindergarten – und wie es anders geht

4Wir Gatekeeper

Im Spielzeugland der Marketingstrategen

5Strammer Max und Elfentrank

Was Ernährung mit dem Geschlecht zu tun hat

6Nachmittage zwischen Blutgrätsche und Prinzessinnen-Cup

Das Rollenbild vom echten Kerl

7»Mann redet, Frau nackig«

Geschlechterrollen in den Medien

8Hilfe für Bildungsverlierer

Allein oder zusammen – wie Schulen weiterführen

9Zwischen fünf und Sex

Körperbilder

10Wenn die Fachmännin mehr Manpower braucht

Sprache der Macht und Macht der Sprache

11Schluss

Braunäugige und Blauäugige

Dank

Literatur

Anmerkungen

VORWORT

Mal Hand aufs Herz: Sind für Sie wirklich alle Menschen gleich? Oder legen Sie nicht doch Wert auf ein akademisches Umfeld bei der Kinderbetreuung und der richtigen Schule? Lotsen Sie Ihren Sohn im Kaufhaus vielleicht unbewusst weg vom Spielzeugregal mit Puppen und Haushaltsdingen und hin zu den Angeboten für Jungs? Gibt es Verhaltensweisen oder Merkmale, die Sie als ›unmännlich‹ oder auch ›nicht weiblich genug‹ empfinden? Und prüfen Sie bei manchen Spielfreund*innen ihrer Kinder das Elternhaus etwas genauer, als bei anderen? Wenn ja, sind Sie damit nicht allein.

Gesellschaftlich normierte Sichtweisen auf Gruppen haben mit den Informationen zu tun, die wir zu einem Thema haben, und damit, wie unser Gehirn diese Informationen verarbeitet. Bei ›Indien‹ denken deshalb viele Menschen spontan an Curry Pulver oder Yoga, bei Behinderung an einen Rollstuhl und bei ›Junge‹ an Fußball. Das menschliche Gehirn arbeitet pragmatisch und nicht ausgewogen-fair, also sind unsere Denkmuster geprägt von Klischees und Schubladen.

Phänomene wie Sexismus, Rassismus, Transfeindlichkeit, Ableismus (Abwertung von Menschen mit Behinderung) und ähnliches haben mit unseren Denkmustern zu tun. Ich sage unsere, denn wirklich niemand ist frei davon. Viele haben »Mitleid« mit behinderten Menschen, finden trans Personen »nicht normal«, glauben Schwarze Kinder kommen aus Afrika und seien nicht von hier. Die Denkmuster sind da, auch wenn dahinter keine böse Absicht oder feindliche Haltung steckt.

Seit Jahren reden sich Feminist*innen den Mund fusselig, dass ›Sexismus‹ nicht erst sichtbar wird, wenn eine Frau beleidigt oder sexuell genötigt wird. Bei Sexismus geht es um die Frage, wie unsere Gesellschaft tickt: also inwieweit Männer und Frauen unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Eigenschaften zugeteilt bekommen. Dieses Verhalten ist leider problematisch für alle Beteiligten: Jungen und Mädchen werden in tradierte Verhaltensmuster gedrängt und andere Geschlechter sowie nicht-heterosexuelle Identitäten unsichtbar gemacht.

Sexistische Ansichten kommen oft als scheinbar nette Worte daher, wie etwa: »Du bist doch viel zu hübsch, um Feuerwehrmann zu werden.« Vermeintliche Komplimente wie dieses bekommen Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu hören. Und immer, wenn darüber diskutiert wird, finden sich ein paar Neunmalkluge, die meinen, man dürfe sowas nicht Sexismus nennen – weil das ›echte Fälle‹ von Sexismus verharmlose. Doch echte Fälle sind es auch, wenn Eltern, Erzieher*innen, Lehrkräfte oder die Werbung Kinder unterschiedlich behandeln, weil sie Thomas oder Yasemin heißen. Das passiert meist ohne böse Absicht. Einfach nur, weil sie Mädchen und Jungen sind. Und trotzdem leiden Kinder unter diesen Zuschreibungen.

Dieses Buch ist enorm wichtig. Es zeigt auf, wie stark Sexismus noch immer unseren Alltag prägt. Es ist nicht nur ein Elternratgeber für alle, die wollen, dass ihr Nachwuchs sich frei entfalten kann – es ist auch ein gesellschaftspolitisches Manifest. Kapitel für Kapitel hilft es den Lesenden dabei, sich bewusst zu werden über Geschlechterrollen und -zwänge, in die wir gepresst wurden und die wir an unsere Kinder weitergeben. Wer »Die Rosa-Hellblau-Falle« gelesen hat, wird die Welt um sich herum mit anderen Augen sehen.

Ich habe dank der »Rosa-Hellblau-Falle« erstmals begriffen, warum sich Sexismus so hartnäckig hält, obwohl wir doch in einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft leben. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste, wichtige Schritt, um damit reflektierter umzugehen. Der nächste ist, sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen. Ich habe dabei festgestellt, dass es vielen ähnlich geht, wie mir – dass auch sie die omnipräsenten Rollenklischees in der Erziehung, im Berufsleben oder auch im Supermarkt endlich überwinden wollen. Und das macht große Hoffnung.

Wer sich gemeinsam mit den Autor*innen auf den Weg raus aus der »Rosa-Hellblau-Falle« machen möchte, kann sich auch in den Initiativen engagieren, die von Almut Schering und Sascha Verlan gestartet wurden: dem ›Equal Care Day – Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit‹, oder bei ›Goldener Zaunpfahl - Preis für absurdes Gendermarketing‹.

Doch zuerst einmal viel Spaß mit dieser spannenden Lektüre!

Ferda Ataman

#ROSAHELLBLAUFALLE 2021

Als wir 2012 mit der Recherche für die erste Auflage dieses Buch begannen, hatten wir in unserem Umfeld kaum Gleichgesinnte, mit denen wir uns über das Phänomen der Rosa-Hellblau-Falle® hätten austauschen können. Tatsächlich gab es noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür, und wir überlegten hin und her, welchen Titel wir überhaupt wählen könnten, der unkompliziert auf den Punkt bringt, was uns mit drei Kindern jeden Tag, mal bewusster, mal unbewusst begegnete und im Weg stand: Die Zuweisung von Interessen, Eigenschaften, Farben, Fähigkeiten und Berufswünschen nach Geschlecht. Eine Gleichmacherei in Medien und Werbung, die alle Mädchen über den pinken Kamm schert und alle Jungs als wilde Raufbolde abstempelt. Die Hierarchie zwischen »Aber Hallo, an der ist wohl ein Junge verloren gegangen?!« und »Heul nicht, sonst denken die Anderen noch, du wärst ein Mädchen!«, die letztlich bis ins eigene Berufsleben hineinreicht, wo ein und dasselbe Verhalten einmal als durchsetzungsstark beziehungsweise als zickig bewertet wird, je nachdem, ob es um einen Mann oder eine Frau geht.

Die Rosa-Hellblau-Falle® war noch nicht besetzt, und so sollte es denn sein. Wir benannten unseren Blog danach, gründeten eine Facebook-Gruppe und waren schnell erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit unseren Zweifeln und unserem Staunen darüber, was so schlimm daran sein soll, wenn unser Sohn die geblümte Jacke seiner Schwester trägt, warum Tanzen und Weinen als unmännlich gilt, und wie es dazu kommt, dass Mädchen in vielen Familien so viel selbstverständlicher in die alltägliche Familienarbeit einbezogen werden als Jungen. Die Überraschungseier mit rosa Blümchen waren gerade auf den Markt gekommen, es gab neuerdings violette Legosteine, und wir dachten, jetzt wäre aber langsam mal gut mit dieser »extra für Mädchen«-Werbeoffensive, die immer so ein bisschen nach Frauenförderung klingt, aber natürlich das genaue Gegenteil meint und bewirkt. Wie naiv wir waren!

Eigentlich wollten wir uns ja am liebsten direkt wieder abschaffen, hätten uns gewünscht, die Inhalte dieses Buchs würden sich wenige Jahre später bereits wieder als irrelevant erwiesen haben. Einige Jahre sind nun vergangen seit der Erstauflage 2014, und als Autor*innen freuen wir uns zwar über das anhaltende Interesse, gleichzeitig macht es uns doch fassungslos, dass sich keins der Kapitel erledigt hat, auch heute nicht. In manchen Bereichen ist die Situation nicht nur unverändert geblieben, sondern noch extremer geworden. Gender-Reveal-Partys zum Beispiel, ein Trend aus den USA, erfreuen sich auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit: nicht nur, dass weit über 80 Prozent der werdenden Eltern gerne wissen wollen, welche Geschlechtsorgane ihr Ungeborenes hat (vgl. Kapitel 2), sie wollen sie auch klischeevoll feiern. Dafür färben sie das Innere von Kuchen, die dann beim Aufschneiden Rosa oder Hellblau enthüllen, lassen Luftballons in der entsprechenden Farbe aufsteigen oder entzünden mit Farbpulver gefüllte Raketen – in Kalifornien hat im Herbst 2020 eine solche Aktion einen tagelangen Waldbrand ausgelöst. »Was wird es denn?« – die Frage, mit der alles Leben beginnt, scheint noch wichtiger geworden zu sein.

War Rot vor einigen Jahren noch eine Farbe, die auch Jungen tragen durften (vgl. Kapitel 3), werden Eltern heute auf Spielplätzen angesprochen, gar gemaßregelt, warum sie ihrem Sohn denn eine rote Jacke gekauft hätten. Selbst Schuld, wenn das Kind dann als Mädchen angesprochen wird. Ist das so? Markieren wir neuerdings farblich das Geschlecht unserer Kinder, und suchen, damit Fremde es erkennen, die von Firmen entsprechend gelabelte Kleidung und Spielzeuge aus? Oder sollte es nicht erst einmal darum gehen, was uns und unseren Kindern gefällt, weil die individuelle Wahl doch wichtiger ist als ein Etikett? Allerdings gibt es inzwischen kaum mehr einen Produktbereich, in dem Waren nicht getrennt nach Rosa und Blau beziehungsweise Pink und Mattschwarz angeboten werden. Oft ist die pinke Version dann sogar etwas teurer. Dieses Preisgefälle in Rosa-Blau, das vor allem auf Drogerieprodukte angewandt wird, zum Beispiel bei Rasierern, bei Shampoo oder Parfum, gibt es auch in anderen Bereichen, wie eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Gender Pricing1 2017 aufgezeigt hat, die diese Strategie eindeutig als diskiminierend einstuft. Von Hersteller*innen wird sie trotzdem verteidigt, indem die Verantwortung den Konsumentinnen angelastet wird: Selbst schuld die Frauen, wenn sie für die pinke Variante mehr bezahlen. Wirklich? Und vor allem: dürfen und wollen wir das dann auch Kindern anlasten?

Beim Kleiderkauf erkennt man heute noch deutlicher als vor ein paar Jahren die für Jungen gedachte Abteilung an der grün-braun-schwarz-matsch Farbpalette, an Botschaften rund um Coolness-Motoren-wilde Tiere. Farbenfroh, Glitzer-Lila-Rosa, aber auch Ponys, Regenbögen, Einhörner, Herzen und niedliche Tiere sind dagegen Mädchen vorbehalten2. Ausnahme: Es soll tatsächlich einmal ein paar Wochen lang Wendepailetten-Shirts mit Dinosauriern gegeben haben! Gendermarketing, die Werbestrategie, Produkte nach Geschlecht zu sortieren, hat den Regenbogen für Jungs eingeführt – für Kinderstoffe in sogenannten Jungenfarben wird das Violett ersetzt durch Grau. Und sie hat dazu beigetragen, dass sich Eltern im Kleiderkreisel vergewissern, ob das Shirt mit Dinosaurier-Aufdruck nicht vielleicht doch ungeeignet sei für den Sohn, weil der Dinosaurier einen Hauch von rosa Wangen hat. Sie hat unterstützt, dass beim Schuhkauf die Frage nach dem Geschlecht noch vor der Frage nach der Größe der Füße kommt. Eltern müssen sich fragen lassen, ob der Säugling im Kinderwagen wirklich und wahrhaftig ein Junge sei, mit so langen Wimpern? Sie hat mit dafür gesorgt, dass die meisten Interessen, Spielzeuge und Materialien nach Geschlecht sortiert werden, obwohl Bausteine, Puppenhäuser und Strickliesel in den 1970ern für alle da waren und sich auch seit den 1990ern die meisten Schulen einig wurden, dass aus pädagogischer Sicht nichts dafür spricht, Mädchen vom Werken und Jungen vom Nähen auszuschließen. Heute untergraben Marketingteams diesen Konsens und so manche*r beginnt in Folge zu zweifeln und jongliert in biologistischer Argumentation mit Hormonen, Genen und Steinzeitbrocken.

Rollenstereotype sind Jahrhunderte alt, aber nicht so alt, wie viele vielleicht meinen (vgl. »Die Rollenverteilung des Biedermeier« im Kapitel 5). Und allein in den Jahren seit Erscheinen der Rosa-Hellblau-Falle® haben Entdeckungen und Entwicklungen gezeigt, dass das binäre Weltbild nicht annähernd so unverrückbar und naturgegeben ist, wie jene behaupten, die »Ideologie« rufen, sobald sie das Wort »Gender« hören. So haben Archäolog*innen 2016 herausgefunden, dass der berühmte Wikingerkrieger von Birka in Schweden eine Frau war – Schwerter und Pfeilspitzen wurden jahrzehntelang als typische Grabbeigaben eines Mannes interpretiert. Ein Irrtum. Oder die ‚Liebenden von Modena‘, als Symbol ewiger Liebe zwischen Mann und Frau gedeutet – 2019 stellte sich heraus, es handelte sich um zwei Männer. Weitere Meilensteine auf dem Weg #RausAusDerFalle war 2017 der Beschluss des Deutschen Bundestags zur »Ehe für alle« und im selben Jahr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für einen dritten positiven Geschlechtseintrag. In Frankreich wurde 2018 ein Gesetz gegen Sexismus und damit auch gegen sexistische Werbung verabschiedet, und in Großbritannien warnt die ASA, die britische Entsprechung des deutschen Werberates, vor den Folgen stereotyper Werbebotschaften und hat 2019 eine Selbstverpflichtung dazu veröffentlicht. Allein die Sichtbarkeit und Relevanz junger Frauen wie Greta Thunberg und Malala Yousafzai oder die zunehmende Zahl an Ländern, die von Frauen regiert werden, zeigen, dass sich viel getan hat in den vergangenen, wenigen Jahren.

Trotzdem bleibt mit dem Gender Care Gap die Hauptursache für die geschlechtliche Lohn-, Renten- und Vermögenslücke nahezu unberührt. Er verhindert darüber hinaus die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und das politisches Engagement von Frauen und verringert damit ihren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse. Das hat nicht nur negativen Einfluss auf ihr individuelles Vorankommen, sondern steht auch wirtschaftlichen wie ökologischen Zielen im Weg. Der »Global Gender Gap Report 2020«3 zeigt, dass es noch ein Jahrhundert dauern wird, bis die Gleichberechtigung weltweit abgeschlossen sein wird, wenn wir keine zusätzlichen Maßnahmen ergreifen, um die Entwicklung zu beschleunigen. Wollen wir wirklich so lange warten?

Wachsendes Netzwerk, Vereinsgründung und Projekte der Rosa-Hellblau-Falle®

Unsere Kinder sind inzwischen alle drei in weiterführenden Schulen und haben natürlich durch viele Gespräche über Rollenklischees und Alltagssexismus herausgefunden, mit welchen rosa-hellblauen Sprüchen sie uns auf die Palme bringen können. Sie sind es aber auch, die uns mit kuriosen Anekdoten aus ihrem Umfeld, aus Schulunterricht, TikTok und Insta-Feed versorgen, die wir dann in unseren Workshops und Vorträgen in Kitas, Schulen, Unis und Firmen weitererzählen dürfen. Unsere Geschichten-Sammlung wächst vor allem, weil uns jede Woche Emails, Tweets und Direktnachrichten mit dem Hashtag #RosaHellblauFalle erreichen, gesendet von Gleichgesinnten, die von absurden Momenten und unfassbaren Dialogen erzählen. Immer wieder ist etwas dabei, bei dem wir denken, das sei nun wirklich nicht mehr zu toppen. Bisher haben wir uns leider jedes Mal getäuscht.

Wichtig ist uns, dem Missverständnis vorzubeugen, es ginge uns um irgendeine Schuldfrage. Wir wollen niemanden vorführen oder von oben herab erklären, was falsch und was richtig sei. Wir stecken doch selbst mit drin in der Falle! Wir sind mit denselben binären Erwartungen aufgewachsen und haben sie verinnerlicht. Aber nur im Austausch mit unseren Kindern, im Gespräch mit anderen können diese Prägungen bewusst werden. Und dafür braucht es auch diese lustigen, erschütternden, rührenden Geschichten. Wir wollen also in erster Linie informieren und sensibilisieren. Denn Vorurteile zu haben, ist nicht so schlimm wie zu glauben, man hätte keine! Wer das von sich meint, verbreitet sie munter weiter und merkt es nicht einmal. Jedenfalls haben wir uns lange sehr zurückgehalten mit Negativbeispielen aus dem Alltag anderer. Was zur Folge hatte, dass unser persönliches Erleben oft als Ausnahme herabgespielt wurde: »Also bei uns ist das kein Problem«, gehört zu den Antworten, die wir irgendwann, als es uns dann doch zu bunt wurde, ins »Bullshitbingo der Rosa-Hellblau-Falle« mit aufgenommen haben.

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Und dann gratulieren wir! Denn es ist wirklich eine Freude, wenn jemand durchs Leben gehen kann, ohne jemals in eine Klischeeschublade gesteckt und dadurch eingeschränkt zu werden. Aber auch in deren Umfeld wird es Menschen geben, Kinder, die anderes zu berichten haben.

Der Austausch über all diese Themen hat nicht nur uns gefehlt, sondern wir durften erfahren, dass es Vielen ähnlich geht. So konnte ein Rosa-Hellblau-Falle®-Netzwerk zusammenwachsen, aus dem heraus inzwischen mehrere Projekte entstanden sind. 2018 haben wir den gemeinnützigen Verein klische*esc e.V. gegründet (klischeesc.de). Er verantwortet verschiedenen Projekte, wie zum Beispiel den »Goldenen Zaunpfahl«, Preis für absurdes Gendermarketing (goldener-zaunpfahl.de); das Freispiel-Abzeichen (freispiel-abzeichen.de), das Positivbeispiele hervorhebt, nämlich Unternehmen, die sich öffentlich und explizit gegen Gendermarketing positionieren; oder den klische*esc-Medienkoffer mit Fachliteratur und Bilderbüchern für Fachkräfte in Kindertagesstätten, die sich mit der Rosa-Hellblau-Falle® im Kita-Alltag und genderreflektierter Pädagogik befassen wollen. 2016 haben wir die »Initiative Equal Care Day« gegründet, ein Aktionstag und ein Netzwerk, in dem sich Menschen aus den unterschiedlichsten Care-Bereichen für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit einsetzen und auf den Gender Care Gap und seine individuellen wie gesellschaftlichen Folgen hinweisen.

Es erleichtert ungemein zu lesen und zu hören, dass es vielen ganz ähnlich geht wie uns. Dass wir nicht alleine sind mit unserer Kritik an einem geschlechtergetrennten Angebot, das Mädchen mit einer rosa Puppenausrüstung und Putzwägelchen versorgen möchte und Jungs in die Abenteuer-Technik-Coolness-Ecke schiebt, die sich natürlich niemals pinke Knete, Feen-Müsli oder Glitzer Stifte wünschen könnten. »Sei alles, bloß kein Mädchen!« ist die Botschaft an Jungen, die immer lauter wird, anstatt als peinlicher Spruch ignoriert zu werden. »Du Mädchen« gilt nach wie vor als Schimpfwort und taucht inzwischen sogar im Bußgeldkatalog auf, macht € 200,-, wenn man es zu einem Polizisten sagt.

Ja, wir waren naiv, als wir glaubten, Chips für den Mädelsabend und Männersalz seien kurzlebige Aktionen, denn sie werden inzwischen wöchentlich abgelöst von noch absurderen Werbeideen: Ein Globus in zwei Versionen – in der Variante für Mädchen sind sogar die Ozeane pink und es schwimmt eine Meerjungfrau darin herum. Gegenderte Globuli, die Bibel für Frauen mit Blümchen, die Bibel für Männer mit Metall-Einband, Männermarzipan, Mädchen-Burger, Wasser für Ihn, Seife mit Mutti-Siegel, Tierbuggys und Fressnäpfe farbsortiert, denn für immer mehr Tierhalter*innen entscheidet nicht die persönliche Vorliebe sondern das Geschlecht von Hund, Katze, Fisch über die Farbwahl der Accessoires.

Das alles konnten wir nicht vorhersehen, weil uns die Tragweite des Begriffs »Zielgruppe« noch nicht erreicht hatte. Jedes Ding braucht seine Bestimmung, bevor es angeboten werden kann. Eine Schneeschippe für Menschen in Schneegebieten anzubieten, wäre zu schlicht gedacht. Es braucht natürlich auch eine pinke Schneeschippe, und diese nicht etwa für Menschen, die Pink mögen, sondern für Frauen, die ja, wie alle Welt weiß, die pink-rosa-lila Palette bevorzugen und deshalb ab Tag Eins in die Wiege gelegt bekommen – dass die Kausalitätskette andersherum ablaufen könnte, wer will das schon hören? Es bleibt deshalb natürlich nicht aus, dass auch das Buch selbst, »Die Rosa-Hellblau-Falle« eine Kategorie braucht, in die es gepackt werden kann, ein Regalfach, in dem es im Buchhandel von seiner Zielgruppe gefunden wird. Und das sind nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, Menschen, die sich für Geschlechterstereotype und Rollenvorbilder im Alltag, für Feminismus oder für Normierung im Marketing interessieren, sondern zuallererst jene, die sich von der Abbildung von zwei niedlich guckenden Babys angesprochen fühlen sollen: Eltern. Und da es in mancher Buchhandlung kein Fach für »Elternratgeber« gibt, sondern stattdessen das Regal »Mutter und Kind«, steht unser Buch ironischerweise oft dort: Die Rosa-Hellblau-Falle wird also in die Rosa-Hellblau-Falle® gesteckt.

Wer aber zu Beginn noch meinte, bei der Rosa-Hellblau-Falle® handle es sich um ein Spezialthema für Eltern, spürt bald, dass es sich an allen Ecken und Enden im Alltag bemerkbar macht, auch ohne Kinder. Hat man nämlich einmal den Blick dafür geschärft, wird klar, dass es sich bei der Reproduktion enger Rollenbilder um ein strukturelles Problem handelt, das an vielen Stellen institutionell verstärkt und zementiert wird. Es ist nur leichter zu erkennen, wenn man Großeltern hat, die dem Enkelsohn keinen Puppenwagen schenken wollen, wenn man ein Umfeld hat, das irritiert ist, wenn er länger in Elternzeit geht als sie und im Beruf zurücksteckt. Man kann ihm nicht so leicht ausweichen, wenn die mathebegabte Tochter aus der Berufsberatung die Empfehlung »Was mit Sprachen« mitbringt. Aber auch ohne den Blick auf Kinder wird klar, dass Interessen und Verhaltensweisen nach Geschlecht sortiert werden, auch wenn die meisten Personaler*innen überzeugt sind, »Also wir achten ja nur auf Qualität, nicht auf Geschlecht«.

Der sogenannte ›Unconscious Bias‹, die unbewussten Vorannahmen kommen immer dann an die Oberfläche, wenn wir nur behaupten, keine Unterschiede zu machen zwischen den Geschlechtern, Menschen unterschiedlicher Religion, Alter und Herkunft, aber die Auseinandersetzung scheuen mit den eigenen Prägungen … und auch den Vorteilen, die einzelne aus diesen Verhältnissen ziehen. Doch wenn sich das wirklich ändern soll und wir es ernst meinen mit dem Wunsch, dass die Fünfjährigen von heute in 20 Jahren nicht dieselben Vorträge halten und dieselben Bücher über Prinzessinnenjungs4 und das Mädchen für Alles5, über Unsichtbare Frauen6, Männlichkeit7 und die Mental Load Falle8, über Equal Care9 und Rosa-Hellblau-Falle® schreiben müssen, dann bleibt uns nichts anderes übrig als unsere eigenen Sozialisation zu reflektieren und anzuerkennen, dass sowohl Pay Gap als auch Care Gap und Alltagssexismus ihren Anfang im Kinderzimmer nehmen. Es hilft nur dann über die Lohnlücke zu diskutieren, wenn Jungen nicht weiterhin im Durchschnitt mehr Taschengeld und die teureren Geschenke bekommen als Mädchen. Es wird sich langfristig nichts ändern, wenn Mädchen zu Hause weiterhin mehr im Haushalt mithelfen müssen als ihre Brüder. Die #aufschrei-Debatte versandet, wenn wir nicht den Bezug herstellen zum Miteinander in Kitas und auf (Grund-)Schulhöfen, wo »Mädchen«, »schwul« und »Bitch« als Schimpfwörter durchgehen.

Wir kämpfen für mehr Gleichberechtigung und lassen zu, dass unsere Kinder zunehmend und immer stärker in zwei Schubladen gepresst werden, die außen schön rosa und hellblau sind und innen mit den Rollenklischees längst vergangener Zeiten ausgepolstert, damit das Erwachsenwerden nicht so weh tut. Zeit also, die Kinderwelt mit in den Blick zu nehmen bei der nächsten Sitzung oder Konferenz, bei der Zukunftsplanung, damit es nicht noch hundert Jahre dauert bis zu Gleichberechtigung und Wahlfreiheit.

Mit vielen Grüßen von

Almut Schnerring und Sascha Verlan

Insta: @RosaHellblauFalle

Twitter: @AlmutSchnerring + @SaschaVerlan

Seite: wu2k.de

Blog: rosa-hellblau-falle.de

DIE FAQS ZUR ROSA-HELLBLAU-FALLE®

Die Rosa-Hellblau-Falle® polarisiert, denn sie vermittelt keine Technik in zehn Schritten, sie gibt keine Handlungsanweisung, die für jede Situation passen würde, sondern reicht viel weiter: sie stellt den eigenen, bisherigen Blick auf die Welt infrage und rührt an verinnerlichten Regeln zu dem was »richtig« und »normal« sei. Deshalb werden Gespräche über das Thema schnell emotional, wenn sie nicht sogar direkt abgeblockt werden. Wem es aber gelingt, sich darauf einzulassen und mit anderen darüber in den Austausch zu kommen, gewinnt oft spannende Einsichten, erfährt rührende Erinnerungen und kommt sich näher. Wir laden deshalb dazu ein, die eigenen Vorstellungen darüber, »was sich gehört« und was »schon immer so war« für eine Weile zur Seite zu schieben und zurückzuschauen, wie sich das angefühlt hat damals als Kind, als Erwachsene die Regeln darüber aufgestellt haben, was ein Mädchen sollte und was einen typischen Jungen ausmacht. Wie geht es einem Kind, das bei Erwachsenen aufschnappt: »Sie mag ja mehr so typisches Jungsspielzeug.«, »In dem Punkt ist er ein richtiges Mädchen.«, »Also ich finde diesen Mädchenkram furchtbar!«, »Er hätte sich ja lieber einen Sohn gewünscht«… ? Herzliche Einladung also, zum Austausch über Normen und Kategorien.

Für den Einstieg haben wir im Folgenden sieben der häufigsten Fragen beantwortet, die uns immer wieder gestellt werden von skeptischen Besucher*innen unserer Vorträge. Auf unserem Blog rosa-hellblau-falle.de/faqs beantworten wir noch mehr davon und erweitern die Liste nach und nach.

Rosa und Hellblau, das sind doch nur Farben, was wollt Ihr bloß?

Rote Herzen, gelbe Smileys, grüne Umweltsiegel, blaue Logos von Banken, alles bloß Farben? Gendermarketing hat mit dazu beigetragen, dass Rosa heute als niedlich und sexy gilt. Die Rosa-Violett-Rot-Palette wird vereinnahmt von der Werbeindustrie und zunehmend mit Schönheit, Anmut und Zartheit in Verbindung gebracht. Ganze Produkt- und Interessensbereiche sind nach Geschlecht getrennt und farblich gelabelt, es sind also mitnichten »nur« Farben. Deshalb lässt sich erst dann, wenn Spielzeug aus den Bereichen Schönheit, Pflege, Haushalt auch öfter mal in schwarz oder grün verpackt wird und erst dann, wenn auch Experimentierkästen und Konstruktionssets, deren Verpackung mit Jungs bebildert sind, in Pink beworben werden, vielleicht sagen »Es sind einfach nur Farben«.

Aber Mädchen mögen nun mal Rosa, wollt Ihr ihnen das verbieten?

Im Gegenteil, wir wollen Rosa, Lila, Pink allen ermöglichen, die diese Farben mögen, denn da spricht überhaupt nichts dagegen. Worin liegt der Nutzen für Kinder, dass die Farbe Mädchen vorbehalten ist (»Der Tim hat ein Shirt mit Määädchenfarben!«). Sie den einen verbieten und bei den anderen fördern, also eine bloße Umkehrung, die in manchen Familien passiert, ändert nichts an der Geschlechtertrennung und ist deshalb keine Lösung. Heute lernen Mädchen von Geburt an, dass sie mit Rosa als Lieblingsfarbe richtig liegen und mit grün als Ausnahme gelten – in 100 Jahren könnte das wieder ganz anders aussehen. Vergleicht man Klassenfotos von heute mit Gruppenbildern der 80er, 90er Jahre, sieht man, dass bunt nicht mehr für alle da ist, und die Frage nach der Lieblingsfarbe wird neuerdings mit Chromosomen und Hormonen in Verbindung gebracht. Hat sich die DNA von Mädchen also in ein paar Jahrzehnten verändert? Wohl kaum. Und wenn man bedenkt, dass Rot in allen seinen Abstufungen die Farbe der Herrschenden war, eine Farbe, die Könige trugen, (der Papst trägt bis heute Violett), wird deutlich, dass es hier um kulturelle Zuschreibungen geht und nicht um angeborene Lieblingsfarben. (Vgl. Kapitel Rosa… )

Dann sollen Jungs jetzt also alle mit Puppen spielen?

Nein, nicht alle. Nur die Jungs, die das wollen. Und damit sie das selbst herausfinden können, ist es Aufgabe der Erwachsenen, ihnen Spielzeug und Kleidung ohne Geschlechterlabel und ohne einschränkende Kommentare anzubieten. Wahlfreiheit ist das Stichwort. Leicht wird das nicht werden, denn durch Werbung, durch Bilder- und Schulbücher, Familienmitglieder und andere Erwachsene und natürlich von vielen Gleichaltrigen erfahren sie, dass Puppen »was für Mädchen« seien. Und genau das ist die Rosa-Hellblau-Falle, die immer bereit steht im Alltag von Kindern, und die es ihnen so schwer macht, individuelle Entscheidungen zu treffen. Denn wer will schon »anders« sein und von anderen als »untypisch« belächelt werden. Doch Kinder, die ein starkes Selbstbewusstsein haben und von ihren Eltern Rückendeckung bekommen, wenn sie in ihren Entscheidungen und ihrem Tun nicht dem Klischee entsprechen, haben es leichter, an ihren Vorlieben festzuhalten. Erwachsene können ihnen helfen, dass sie individuelle Wünsche nicht aufgeben müssen, bloß weil sie nicht der entsprechenden Geschlechternorm genügen.

Und wenn ein Junge Röcke anziehen möchte, muss man ihn dann nicht schützen vor den Hänseleien der Anderen?

Wir verstehen die Sorge dahinter und das Bedürfnis, geben aber zu bedenken, dass Eltern sich dadurch genau jene Regeln zu eigen machen und sie ihrem Kind weiterreichen, die ja erst zu der befürchteten Ausgrenzungssituation führen. Dem Kind Dinge zu verbieten (oder ihm nahezulegen, sich dagegen zu entscheiden), die dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden, steht im Widerspruch zur Überzeugung, selbst keine Rollenklischees weiterzureichen. Ist es nicht viel mehr Aufgabe der Eltern, dem Kind den Rücken zu stärken und es in seinen Wünschen zu unterstützen? Schließlich muss nicht das Kind, das sich untypisch kleidet, lernen, mit Hänseleien umzugehen, sondern die hänselnden Kinder (Eltern und Fachkräfte) müssen lernen und verinnerlichen, dass »anders« nicht gleich »falsch« ist. Sie sind es, die lernen müssen, dass ihr Hänseln, ihre Intoleranz, ihre engen Vorstellungen von einem »richtigen« Jungen Kritik erfährt und nicht akzeptiert wird! Und nicht das Kind mit dem altmodischen Pullover, jenes mit der dunkleren Haut oder der Junge mit rosa Hausschuhen, oder das Kind, das seinen Papa nicht kennt, das eine Gehhilfe hat oder das Mädchen, das (noch) kein Deutsch versteht.

Die Entscheidung gegen Rosa, gegen aufwändige Rüschenkleidung zum Beispiel ist ja durchaus legitim, wenn sie für beide Geschlechter gilt. Würde meine Tochter sich rosa Glitzerschühchen mit Absatz wünschen, würde ich sie nämlich auch nicht kaufen. Dass mein Sohn keine hat, liegt also nicht an der Tatsache, dass er ein Junge ist, sondern, dass ich etwas gegen ungemütliche Schuhe habe, mit denen mein Kind beim Fangen Spielen wahrscheinlich am Rand steht und zuschaut.

»Also bei uns werden alle Kinder gleich behandelt« oder »Lasst doch die Kinder Kinder sein«

Gut, das sind keine Fragen. Aber ein großzügiges Wegwischen all unserer Anliegen, wie wenn wir ein Problem in die Welt gesetzt hätten, das sonst niemand kennt. Tatsächlich geht die Mehrheit der Eltern davon aus, Kinder »neutral« zu erziehen. Und wenn sich die Tochter dann doch fürs Ballett entscheidet, obwohl sie einen Fußball geschenkt bekommen hat, und wenn der Sohn die Autokiste vorzieht, obwohl er sich eine Puppe aussuchen durfte, dann ziehen viele den Rückschluss, es müsse an der Biologie liegen, die Gene seien verantwortlich, die Hormone, die Steinzeit… der eigene Einfluss und die allgegenwärtigen Botschaften werden dabei komplett ausgeblendet. Tatsächlich ändern Erwachsene ihr Verhalten gegenüber einem Kind schon vor Geburt, sobald sie das Geschlecht des Ungeborenen erfahren. (vgl. Kapitel 1 »Von Beginn an zwei Welten. Warum wir schon vor der Geburt Unterschiede machen«) Und in einer Welt, die Kinder ab Tag Eins in die Kategorie Mädchen und Jungen einsortiert, noch bevor sie sie als Kinder sieht, verstärken sich Geschlechterunterschiede im Lauf der Entwicklung, egal wie klein sie zu Beginn sein mögen. Insofern ja, sehr einverstanden! »Lasst doch die Kinder Kinder sein!« Und beginnen wir damit, sie nicht mehr in zwei enge Schubladen zu stecken, sondern lassen sie selbst entscheiden und ihre Welt entdecken.

Interessant dazu: Studien, die belegen, wie unterschiedlich Kinder abhängig von ihrem Geschlecht behandelt werden: babyx.rosa-hellblau-falle.de

Aber habt ihr bedacht, dass Jungs schon allein wegen des Testosterons von Natur aus wilder sind?

Das ist ein weit verbreiteter Gedanke, bloß dass der Testosteronspiegel vor der Pubertät bei Kindern in etwa gleich hoch ist – er liegt nahe Null. Studien zeigen aber, dass von Jungen grundsätzlich ein wilderes Verhalten erwartet und akzeptiert wird, und Mädchen häufiger dazu angehalten werden, ruhig und brav zu sein. Auf diese Weise erfahren Kinder, wie Erwachsene sich einen »normalen« Jungen vorstellen und welche unterschiedlichen Normen die Gesellschaft für sie bereithält. Die Wechselwirkung von Verhalten und verändertem Hormonspiegel ist dagegen unterschätzt: Väter, die sich um ihre Kinder kümmern, haben einen niedrigeren Testosteronspiegel, der wieder steigt, wenn sie sich anderem zuwenden. Sport und Wettkampf sorgen dafür, dass der Testosteronspiegel steigt, bei Frauen wie bei Männern – was wieder belegt, dass unser Verhalten auch uns selbst verändert. Beim für uns entscheidenden Thema Bagger oder Puppe, Fußball oder Ballett und der geschlechtergerechten Pädagogik ist der Testosteronspiegel also irrelevant. (Mehr dazu im Unterkapitel »Die Testosteron-Keule«)

Ihr wollt also die Geschlechter abschaffen und alle gleich machen

Bedeutet es nicht viel mehr, alle gleich zu machen, wenn man die Unterschiede zweier Geschlechter über alles stellt, und davon ausgeht, dass DIE Jungen/Männer beziehungsweise DIE Mädchen/Frauen ähnliche Interessen hätten und die Unterschiede innerhalb ihrer Gruppe ignoriert? Die Vereinheitlichung auf beiden Seiten einer Mauer hat eine Gleichmacherei zur Folge, und darin liegt unser Kritikpunkt: Abenteuer, Technik und Bewegung Jungen zuzuschreiben und zu meinen, Mädchen interessieren sich per se für Haushaltsdinge, Make-up und Ponys. Wer findet »Jungs sind nun mal wild« und »Mädchen sind eben ruhiger«, wer also Kindern allein aufgrund ihres (zugeschriebenen) Geschlechts ganz bestimmte Eigenschaften und Interessen zuweist, kämmt alle Mädchen über einen pinken Kamm und steckt alle Jungen in dieselbe Ecke. Dadurch wird ein Kind, sobald es sich für etwas interessiert, das Erwachsene nicht für sein Geschlecht vorgesehen haben, als untypisch gelabelt. Vorlieben beim Spiel oder bestimmte Verhaltensweisen sind zunächst einmal keine Hinweise aufs Geschlecht, sondern Ausdruck der Persönlichkeit.

Mehr FAQs unter rosa-hellblau-falle.de/faqs

EINLEITUNG

Wer im Kaufhaus in die Spielzeugabteilung hinauffährt, taucht in einer zweigeteilten Welt wieder auf. Ein ganzes Stockwerk ist unterteilt in zwei Zonen: Auf der einen Seite markieren Blassrosa und Pink, »was Mädchen mögen«. Auf der anderen Seite sind die Verpackungen vorwiegend schwarz und dunkelblau und kennzeichnen das Spielzeugreich der Jungen. Links sind die Regale gefüllt mit pastellfarbenen Pferden, glitzernden Feen, kuscheligen Kuscheltieren, Mini-Küchen und allem, worauf die Puppen nicht verzichten können. Rechts blicken wilde Monster, Ritter und bewaffnete Science-Fiction-Kämpfer durch die Plastikfenster der Spielzeugschachteln, und es stapeln sich die Bausätze für Fahrzeuge und Maschinen. Auf einem ganzen Stockwerk spiegeln sich die traditionellen Rollenzuschreibungen wider, von denen wir glaubten, sie in den vergangenen Jahrzehnten überwunden zu haben.

Hier werden keine Klischees reproduziert oder gar verstärkt, sagen die Marketingstrateg*innen1 der Spielzeugindustrie, hier werden einfach die natürlichen Grundbedürfnisse von Jungen und Mädchen befriedigt. Und sie behaupten, ganz genau zu wissen, was »typisch männlich« und »typisch weiblich« ist. Zwar besteht darüber in der Wissenschaft keinesfalls Einigkeit, und weder Evolutionsbiolog*innen noch Genderwissenschaftler*innen würden allgemeingültige Aussagen dieser Art unterschreiben, aber solange dort noch geforscht wird und Uneinigkeit herrscht, lassen sich Behauptungen wie »Ritter suchen den Wettbewerb, Prinzessinnen wollen dazugehören«2 so erfolgreich verkaufen, dass Eltern und Kinder das zweifelhafte Glück haben, täglich mit einem Überangebot an Waren konfrontiert zu werden, die jeweils ein Geschlecht ausschließen. Rosa Überraschungseier sind »nur für Mädchen«, Capri-Sonne wirbt für einen ›Elfentrank‹, der »speziell auf die Wünsche von Mädchen zugeschnitten« sei. Dagegen werden Turnbeutel mit Dinosauriern ganz selbstverständlich mit Fotos von coolen Jungs beworben, es gibt ganze Buchreihen »Nur für Jungs« und »for girls only«, und auch Lego-City richtet sich an Jungen, denn bei denen »geht’s eher darum, den Schwächling zu besiegen oder auszuschließen«3, wie Dirk Engehausen von Lego sein Wissen um die Grundbedürfnisse der Jungen in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau zusammenfasst.

Warum die Marketing- und Konsumgüterindustrie so auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern pocht, ist leicht nachzuvollziehen. Es lassen sich eben mehr Waren verkaufen, wenn Spielsachen, Zimmereinrichtungen, Bücher und andere Medien, wenn Kleidung, Schulbedarf und auch Freizeitinteressen unserer Töchter nicht gut, zumindest nicht gut genug sind für unsere Söhne und umgekehrt. Im Idealfall bringt das den doppelten Umsatz. Da verwundert es kaum, dass auch die Lebensmittelindustrie ein Stück vom Kuchen abhaben will und inzwischen verstärkt auf Gendermarketing setzt. Dies kommt alles mit dem in der Werbung verbreiteten Augenzwinkern daher und suggeriert, dass wir doch alle Bescheid wissen, dass wir die eigentlichen Klischees längst überwunden haben und ganz befreit damit spielen können. Gerne glauben wir Erwachsenen, dass wir mit den Werbebotschaften gut umgehen können, dass wir den Überblick behalten, uns nicht manipulieren lassen, doch nicht »von denen«. Aber gilt das auch für unsere Kinder? Und bleiben wir selbst wirklich so unbeeinflusst von all den Rollenklischees, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden? Sorgt nicht allein die schiere Menge an Klischeefiguren in Werbung, Film und Literatur dafür, dass sich unser Blick auf die Welt verändert, dass uns inzwischen normal erscheint, was wir bei genauerem Hinweisen gar nicht haben wollen für uns und unsere Kinder?

Viele Eltern sind von den allgegenwärtigen Geschlechterklischees genervt und nicht länger bereit, die Trennung der Kinderwelt in Rosa und Hellblau hinzunehmen. Nur lassen sie sich nicht so einfach ausblenden. Wer die Spielzeugabteilung erfolgreich umschifft hat, wird zwischen Schuhregalen wieder darauf aufmerksam gemacht. Wer beim Schulranzenkauf die Schmetterlinge und Roboter hinter sich gelassen hat, sieht sich im Sportverein beim »Prinzessinnen-Cup« wieder damit konfrontiert. Wenn Kinder aber ständig von Klischees umgeben sind, können wir dann wirklich noch behaupten, sie hätten eine freie Wahl?

Das Verhältnis der Geschlechter bietet seit Jahrzehnten konfliktreichen Gesprächsstoff unter Wissenschaftler*innen, in Politik und Medien, im Freund*innenkreis, auf dem Elternabend.* Es gibt radikale Ansichten darüber, was sich verändern sollte, und ebenso traditionsbewusste Meinungen, was es unbedingt zu bewahren gilt. Doch egal welche der angebotenen Positionen Eltern selbst einnehmen, in einem Punkt sind wir uns scheinbar alle einig: Unsere Kinder sollen unabhängig von ihrem Geschlecht die gleichen Chancen haben, sich zu entwickeln. Unser Grundgesetz garantiert in Artikel 2 allen das Recht auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Und in Artikel 3 steht: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Die Europäische Union hat ihre Strategie, die Chancengleichheit für Frauen und Männer in Institutionen, Organisationen und Politik zu verwirklichen, unter dem sperrigen Begriff ›Gender Mainstreaming‹ zusammengefasst und 1997 im Amsterdamer Vertrag verankert. ›Gender Mainstreaming‹ gilt seitdem für alle Mitgliedsstaaten als verbindliches Prinzip. Ziel ist es, »bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt«4, wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf seinen Internetseiten erklärt.

Es herrscht also ein allgemeiner Grundkonsens darüber, Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht gleichberechtigt zu behandeln und zu erziehen, wir leben schließlich im 21. Jahrhundert, und das Thema Gleichstellung ist nicht neu. Es ist im Gegenteil so alltäglich geworden, dass sich eine gleichberechtigte Behandlung unserer Kinder auf den ersten Blick gar nicht als Problem darstellt. Schon unsere Eltern waren darauf bedacht, Jungen auch mal eine Puppe und Mädchen einen Technikbaukasten zu schenken. Und wir Eltern von heute sind ja die Kinder dieser 1970er- und 80er-Jahre, in denen die Gleichbehandlung der Geschlechter hoch im Kurs stand, ebenso der Glaube daran, die gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse nachhaltig verändern zu können. Doch je tiefer dieser allgemeine Konsens Eingang gefunden hat in die deutsche und europäische Gesetzgebung, desto stärker wuchsen Unbehagen und Widerstand gerade auch bei Menschen, die eigentlich eine gleichberechtigte Erziehung befürworten. Und je vielfältiger sich die Rollenangebote und Familienmodelle entwickelten, je fließender die Grenzen, je größer also die tatsächliche Wahlfreiheit wurde für Frauen wie für Männer, desto stärker wurde zugleich das Bedürfnis nach klarer Abgrenzung, nach deutlichen Regeln und damit verbundener Sicherheit für das eigene Handeln. Deshalb wird das Konzept des ›Gender Mainstreaming‹ in der aktuellen Diskussion von vielen nicht länger als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Welt betrachtet. Das Anliegen, Frauen und Männern, Jungen und Mädchen dieselben Chancen zu ermöglichen, wird gern als Gleichmacherei abqualifiziert; von Umerziehung ist die Rede, wenn die geschlechtliche Zuordnung von Eigenschaften und Interessengebieten infrage gestellt wird. So ist es schwierig geworden, das Wort ›Gender‹ überhaupt zu verwenden, ohne sich gleich dem Vorwurf auszusetzen, evolutionsbiologische Forschungsergebnisse zu ignorieren. Auf der anderen Seite wird allerdings kaum jemand bestreiten, dass unser Verhalten und unsere Interessen durch die Gesellschaft beeinflusst werden, in die wir hineinwachsen.

Es ist ein ewiges Hin und Her: Biologie oder Sozialwissenschaften, Hormone oder Umwelteinflüsse, Frauen gegen Männer, Gene oder erzieherische Verantwortung, Jungen gegen Mädchen. Es ist ein Gegeneinander, das nicht weiterführt, sondern uns im Gegenteil anfällig macht für die Einflüsterungen der Konsumgüterindustrie. Es macht uns manipulierbar bis in unser eigenes Selbstverständnis hinein, und es schränkt die Möglichkeiten unserer Kinder empfindlich ein, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Deshalb schreiben wir dieses Buch, gemeinsam als Mutter und Vater von drei Schulkindern, zwei Töchtern und einem Sohn, weil wir der Überzeugung sind, dass wir den Weg zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft nur gemeinsam gehen können, als Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und sozialer Schicht, gemeinsam und für eine Gesellschaft, in die wir unsere Kinder gerne hineinwachsen sehen und in der wir selbst gerne alt werden möchten. Wir sind überzeugt, dass uns der aktuelle Fokus in Forschung und Marketing, nämlich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu betonen, immer weiter auseinanderführt.

Wir wollen stattdessen nach den Gemeinsamkeiten suchen, nach den Überschneidungen, nach dem, was uns verbindet. Wir wollen unseren Kindern nicht zwei Alternativen anbieten, sondern tausend. Wir wollen nicht länger in die Vergangenheit schauen und nach Verantwortlichkeiten suchen, wer wann was verschuldet oder zu welchem Zeitpunkt versäumt hat. Wir wollen uns nicht länger mit einer – oft hypothetischen – grauen Vorzeit beschäftigen, um unsere heutige zu verstehen. Wir wollen nach vorne schauen und uns Gedanken machen, was wir heute bewirken können, um dem Ideal einer geschlechtergerechten Erziehung ein Stück näher zu kommen. Die Frage ist also nicht, wie es dazu kam, dass wir so verschieden sind, die Frage lautet: Wollen wir an diesem Zustand etwas verändern? Wer in der jetzigen Situation, in der Gleichstellung der Geschlechter Verbesserungspotenzial sieht, hat allen Anlass, sich über gesellschaftliche Einflüsse Gedanken zu machen. Und da sich die Menschen in Deutschland darauf verständigt haben, Hundekacke in Plastiktüten aufzusammeln und zum nächsten Mülleimer zu tragen, sich eine ganze Infrastruktur um Hundekacktüten entwickeln konnte in den letzten Jahren, da sollte es doch möglich sein, unser Zusammenleben auch an entscheidenderer Stelle zu verändern!

Geschlechtsneutral oder geschlechtergerecht?

Aber was gehört zu einer geschlechtergerechten Erziehung, was bedeutet das im Detail? Wie können wir den allgemeinen Wunsch, unsere Kinder gleichberechtigt zu erziehen, konkret umsetzen? Denn rosa und hellblaue Fallen tun sich überall auf im Alltag mit Kindern. Die Zweiteilung ist uns so geläufig, dass wir die allgegenwärtige Zuordnung und die Betonung des Geschlechts gar nicht mehr wahrnehmen. Opa sagt zu Simon: »Toll, mit kurzen Haaren siehst du wieder aus wie ein richtiger Junge.« Natürlich möchte Simon »richtig« sein, er weiß jetzt: Lange Haare sind nichts für Jungen. In der Krabbelgruppe sagt eine Mutter mit Blick auf den halbjährigen Finn: »Ooch, guck, der flirtet schon mit mir, wie süß!«, und die vierjährige Svea soll nicht ohne Bikini-Oberteil ins Wasser. – Was bewegt uns dazu, Begriffe, Kleidung und Symbole von Erotik und Sexualität in die ersten Lebensjahre unserer Kinder vorzuverlegen, während Eltern in Deutschlands Südwesten gegen die angebliche »Frühsexualisierung« in Kitas demonstrieren und damit die Aufklärung über genau dieses Problem verhindern? (correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2017/05/25/fruehsexualisierung-die-angeblichebedrohung-der-kindheit/)? Es ist naheliegend, dass wir Rollenvorstellungen, mit denen wir selbst aufgewachsen sind, zunächst einmal an unsere Kinder weitergeben: Beim Familienausflug mit der Klasse spazieren 25 Kinder durch den Wald: »Annika, du machst deine Jacke schmutzig, wenn du so den Hang runterrutschst«; aber: »Los, Max, geh doch auch auf die Baumstämme hoch, du bist doch ein guter Kletterer!« Nacherzählt klingen solche Bemerkungen wie längst überholte Klischees, doch wer einmal darauf achtet, wird überrascht sein, wie viele davon unsere Kinder jeden Tag zu hören bekommen, beiläufig, unachtsam und ohne bösen Willen. Und wer einmal damit angefangen hat, die Zuschreibungen zu hinterfragen, merkt, dass ein »gleich behandeln« gar nicht möglich ist, obwohl viele Eltern ihr eigenes Erziehen genau so beschreiben. Da es aber keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, kann es auch keine geschlechtsneutrale Erziehung geben. Eine geschlechtergerechte5 oder geschlechtersensible dagegen schon. Dazu gehört, dass Erwachsene Unterschiede wahrnehmen und mehr noch, dass sie sich bewusst sind, selbst Unterschiede zu machen.*

Geschlechterrollen sind historisch gewachsen und daher veränderbar. Wer sich ein gerechtes Miteinander unabhängig vom Geschlecht wünscht, ist gefordert, sein eigenes Mitwirken an den Regeln unserer Welt aufzuspüren, eine Welt, die auf Zweigeschlechtlichkeit in allen Bereichen Wert legt und in der Heterosexualität als Norm gilt. Das bedeutet, einen Blick dafür zu entwickeln, ob im eigenen Alltag bestehende Verhältnisse stabilisiert werden oder ob eine kritische Auseinandersetzung und damit Veränderung möglich ist. Eine Erziehung, die Kindern unabhängig vom Geschlecht gleiche Chancen vermitteln möchte, ist untrennbar verknüpft mit unseren Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer in Zukunft zusammenleben sollen und was wir unseren Kindern dafür mit auf den Weg geben. Sie ist verknüpft mit Fragen zur Rollenverteilung in den Familien und der aktuellen Debatte über die Frauenquote und über die Benachteiligung von Jungen durch unser Bildungssystem. Mit der Diskussion über Pädophilie im Zuge der sexuellen Befreiung in den 70er-Jahren und dem heute selbstverständlichen Warenangebot von Push-up-BHs und Stringtangas in Größe 116. Mit der zunehmenden Unzufriedenheit kleiner Mädchen mit ihrem eigenen Körper und nicht zuletzt der #aufschrei-Debatte.

Die Rollenklischees der Kinderwelt infrage zu stellen, ist kein Nischenthema für überambitionierte Eltern, sondern die Voraussetzung für ein gleichwertiges Miteinander aller. Sie geht uns alle an, weil unsere Entscheidungen die Zukunft unserer Kinder mitbestimmen und weil die Entscheidungen, die wir im Alltag mit Kindern treffen, deren Weltbild mit prägen. Dabei ist es egal, ob es unsere eigenen Kinder sind oder die Kinder von Freund*innen, Nachbar*innen, die Kinder von Fremden, ob wir Kinder als unsere Kund*innen betrachten, als Zielgruppe oder als Publikum. Wir alle haben Einfluss darauf, weil wir als Erwachsene die Lebensumwelt der Kinder gestalten durch Werbung, Geschichten und Filme, durch Spielzeug- und Freizeitangebote, durch Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, durch unser alltägliches Zusammen- und Vorleben.

Den Einstieg ins Thema beginnen wir deshalb mit zwei Beispielen, »Mädchen und Mathematik« – »Jungen und Einfühlungsvermögen«, da hier offensichtlich wird, wie klassische Vorstellungen die Wahlmöglichkeiten unserer Kinder einschränken und zugleich Einfluss haben auf unser Zusammenleben als Erwachsene. Dann blicken wir in verschiedene Themenbereiche, die im Aufwachsen eines Kindes eine Rolle spielen. In jedem dieser Bereiche begegnen Kinder Zuordnungen zum einen oder anderen Geschlecht, die sie in ihrer Wahlfreiheit einschränken. Das beginnt schon vor der Geburt: Als zukünftige Eltern beeinflussen wir die Welt unserer Söhne und Töchter durch unsere Haltung und unsere Vorstellungen vom ungeborenen Kind. Wird sie rosa oder hellblau? Warum nicht auch gelb oder regenbogenfarbig? Wir haben die Kita Sonnenblume in der Nähe von Köln besucht und uns mit Susanne Wunderer getroffen, die Fortbildungen zu gendersensibler Pädagogik in Kindertagesstätten durchführt.

Von Werbung und Marketing werden Mädchen und Jungen immer stärker in Klischees gepresst. Ein Besuch in der Spielzeugwelt von Kuschel-Einhorn, G-Force-Heroes und Prinzessinnen-Laptop soll Antworten daraufliefern, welchen Einfluss die hier vermittelten Bilder haben. Welche Rolle spielen Barbie, High Heels, Prinzessinnenkostüme? Und haben die Rollenklischees der Werbung Einfluss auf das Körperbild unserer Kinder? Mit Stevie Schmiedel vom Verein Pinkstinks haben wir über pinkfarbenes Spielzeug und sexualisierte Werbung gesprochen.

Männersenf und Frauenbier, Elfentrank und rosa Überraschungseier: Verändert Gendermarketing unsere Essgewohnheiten? Haben unterschiedliche Freizeit- und Bewegungsangebote für Mädchen und Jungen Einfluss auf den eigenen Körper? Und wie sieht es mit Filmen, Büchern und Computerspielen aus, die sich an Jungen und Mädchen richten? Frauen gehen zur Vorsorge, Männer zur Reparatur; Mädchen wollen Topmodel werden, Jungen träumen von sich als Spitzensportler. Welchen Einfluss hat die Schule auf die spätere Berufswahl unserer Kinder, was bringen der Girls’ und Boys’ Day, und welche Botschaft kommt bei Mädchen und Jungen durch monoedukativen Unterricht an? Welches Bild der Welt vermitteln wir Kindern über die Sprache? Wir haben uns mit Lann Hornscheidt, Professx für Gender Studies und Sprachanalyse, unterhalten, um mehr zu erfahren über Sprache und Macht. Nils Pickert, Journalist, Teilzeitrockträger und Vollzeitfeminist, hat uns erzählt, warum seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft Individualität großgeschrieben wird und trotzdem nicht alle sein können, was und wie sie gerne möchten..