Equal Care - Almut Schnerring - E-Book

Equal Care E-Book

Almut Schnerring

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Beschreibung

Am Anfang und am Ende des Lebens sind wir darauf angewiesen, dass andere Menschen sich um uns kümmern, bedingungslos fürsorglich sind. Aber auch in den Jahren dazwischen: Wer kocht, räumt auf und putzt? Wer erzieht, betreut und pflegt? Wer hört zu und gibt Rückhalt? Wer ist bereit, die eigenen Wünsche zurückzustellen und sich hier und jetzt um andere zu kümmern? All diese Care-Aufgaben sind in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Im professionellen Bereich sowie im Privaten. Die Grundthese ist: Nur wenn Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht aufgeteilt wird, haben alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, politisch und wirtschaftlich, in Kultur und Wissenschaft, beruflich und privat, auf allen Ebenen und Hierarchiestufen. Ausgehend von den Fragen "Was ist Care?" (mehr als pflegen und sauber machen), "Was ist Arbeit?" (mehr als die reine Erwerbsarbeit auf jeden Fall) und "Wie privat ist Fürsorge eigentlich?" (gar nicht) beschreibt das Buch die sozialen Verwerfungen, die der Gender Care Gap in den unterschiedlichen Lebens und Gesellschaftsbereichen nach sich zieht (ja, auch Männer sind davon betroffen). Wie kommt es, dass sich allen Erfolgen der Gleichstellungsbewegung zum Trotz im Sorgebereich so wenig verändert hat?

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Am Anfang und am Ende des Lebens sind wir darauf angewiesen, dass andere Menschen sich um uns kümmern, bedingungslos fürsorglich sind. Aber auch in den Jahren dazwischen: Wer kocht, räumt auf und putzt? Wer erzieht, betreut und pflegt? Wer hört zu und gibt Rückhalt? Wer ist bereit, die eigenen Wünsche zurückzustellen und sich hier und jetzt um andere zu kümmern? All diese Care-Aufgaben sind in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Im professionellen Bereich sowie im privaten.

Die Grundthese ist: Nur wenn Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht aufgeteilt wird, haben alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe, politisch und wirtschaftlich, in Kultur und Wissenschaft, beruflich und privat, auf allen Ebenen und Hierarchiestufen. Ausgehend von den Fragen »Was ist Care?« (mehr als pflegen und sauber machen), »Was ist Arbeit?« (mehr als die reine Erwerbsarbeit auf jeden Fall) und »Wie privat ist Fürsorge eigentlich?« (gar nicht) beschreibt das Buch die sozialen Verwerfungen, die der Gender Care Gap in den unterschiedlichen Lebens- und Gesellschaftsbereichen nach sich zieht (ja, auch Männer sind davon betroffen). Wie kommt es, dass sich allen Erfolgen der Gleichstellungsbewegung zum Trotz im Sorgebereich so wenig verändert hat?

Almut Schnerring und Sascha Verlan sind ein Journalist•innen-, Autor•innen- und Trainer•innen-Team und leben mit ihren drei Kindern in Bonn. Sie arbeiten zu den Themenbereichen Geschlechtergerechtigkeit und Rollenstereotype, zur Rosa-Hellblau-Falle (rosahellblau-falle.de) und zu Zugehörigkeit, Sprache, Kommunikation und Rhetorik (training-bonn.de). Sie veröffentlichen Bücher, Artikel und machen Radiosendungen, teilen ihre Ideen in Vorträgen, Workshops, organisieren Aktionstage (equalcareday.de) und initiieren Preisverleihungen (goldener-zaunpfahl.de).

ALMUT SCHNERRING UND SASCHA VERLAN

EQUAL CARE

ÜBER FÜRSORGE UND GESELLSCHAFT

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2020

www.verbrecherei.de

Satz: Christian Walter

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

ISBN: 978-3-95732-427-6

eISBN: 978-3-95732-443-6

Printed in Germany

Der Verlag dankt Lealina Grün, Jessica Finger und Luise Römer.

INHALT

VORWORT

EQUAL CARE?

Eine erste Bestandsaufnahme

ZUR BEGRIFFSKLÄRUNG

Was ist Care?

Mental Load – die Last der Verantwortung

Who Cares?! – Ein Exkurs in Fragen I

Ein Kind kommt auf die Welt

Das Kind wird älter

Die Familie als Team

Später

Und was ist eigentlich Arbeit?

Gender Gaps – die heimliche Grundlage des Wirtschaftssystems

DER CARE GAP BEGINNT IM KINDERZIMMER

Frühkindliche Prägungen

Live fast, die young – das Paradoxon männlicher Sozialisation

Puppen haben keine Väter

Männliche Fürsorge unter Generalverdacht

Vorbilder und Normalität – Männer in der Pflege

Gendermarketing und die Macht der Bilder

Care Chains und die Auslagerung erzieherischer Verantwortung

VORAUSSCHAUENDE RÜCKSICHTNAHME

Lösungsansätze für ein altes Problem

Macht Care-Arbeit einsam?

Wie wir über Sorgearbeit reden

Fürsorgliche Kommunikation

Fürsorgliche Kommunikation in den Medien

Blickkontakt statt Rechthaberei

Teilen und Herrschen – die Aufspaltung der Gesellschaft

Führung ist Pflege

Ideale statt Machbarkeitsstudien

Care-Konten

Fürsorge im Unternehmen

Who Cares? – Exkurs in Fragen II

Unternehmerische Fürsorge

Ich sorge, also bin ich – ein neuer ökonomischer Imperativ

Fürsorgliche Erziehung

Erwerbsbiografie vs. Care-Biografie

Quality Time mit dem Care-Roboter

Umwelt und Technik

Zur Rolle des Staates

WEGE IN EINE FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE

VORWORT

Unsere Tochter kam neulich mit einer Aufgabe aus dem Englischunterricht nach Hause, sie solle in der nächsten Stunde jeweils eine Utopie und eine Dystopie in Literatur oder Film vorstellen. Wir sitzen zu fünft beim Abendessen, Familienbrainstorming ist angesagt. Dystopien? Kein Problem: »1984«, »Matrix«, »Tribute von Panem«, »Stranger Things«, der ganze DC- und Marvel-Kosmos, die Literatur- und die Filmgeschichte sind voll von Weltuntergangsszenarien. Und jetzt Utopien? Es wird still am Tisch. Klar, Thomas Morus und sein »Utopia«, Christine de Pizan und »Das Buch von der Stadt der Frauen«, zugleich ein erstes feministisches Manifest von 1405, vielleicht Platons »Staat«? Aber ein Beispiel aus heutiger Zeit und Perspektive und so populär, dass uns spontan etwas einfiele und das Thema Jugendlichen geläufig wäre? »Avatar«? Geht so. »Zootropolis« vielleicht? Oder »Valerian«? »Tomorrowland«? Wenn so etwas wie eine utopische, bessere Welt in Literatur und Film vorkommt, dann nur als ferne Verheißung (fürs Happy End) oder als Parallelgesellschaft, die nicht weiter beschrieben wird. Doch selbst in diesen Beispielen wird der Weltuntergang in immer neuen Facetten und immer noch spektakuläreren Bildern in Szene gesetzt und heraufbeschworen, um die Guten in vielleicht letzter Sekunde doch noch zu retten. Meist wird die Rettung verkörpert durch einen männlichen Helden, einen starken Mann, der weiß ist und weiß, was er tut, der seinen Plan ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzt und uns allen als Hauptidentifikationsfigur angeboten wird.

Selbstverständlich gibt es Filme und Bücher, in denen es um zwischenmenschliche Beziehungen und das gesellschaftliche Miteinander geht. Die spielen allerdings auf einer sehr persönlichen Ebene und handeln meist von Liebe, neue Gesellschaftsentwürfe bieten sie eher nicht. Wo also sind die populären Filme und Bücher, die uns eine bessere Welt zeigen, die einmal im Detail durchspielen, wie eine solche Welt aussehen und funktionieren könnte? Die uns herausfordern, über unsere Welt und Zukunft nachzudenken, eine eigene Vision zu entwickeln von einer besseren Gesellschaft? Stattdessen gewöhnen wir uns an Katastrophenbilder und Weltuntergangsszenarien und sind schließlich wenig erstaunt, wenn vergleichbare Bilder auch in den Nachrichten auftauchen. Und weil die Wirklichkeit im medialen Vergleich so blass und unscheinbar wirkt, nehmen wir die realen Krisen möglicherweise sogar weniger ernst.

Wer inspiriert da eigentlich wen? Der Einsatz dokumentarischer Bilder und Perspektiven im Spielfilm und narrativer Strategien in der Berichterstattung trägt dazu bei, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität immer weiter verschwimmen, dass es zunehmend schwerfällt, Wirklichkeit und Fake News zu unterscheiden. Und tatsächlich gibt es in der realen Welt oftmals den Wunsch nach klaren Verhältnissen, nach einem starken Mann, der alles richten soll – ungeachtet des Faktes, dass diese »starken Männer« in unserer Wirklichkeit gerade alles nur noch schlimmer machen, siehe etwa Putin, Trump oder Bolsonaro.

Es mag sein, dass die fortlaufende Rettung untergehender Welten unterhaltsamer ist als die konstruktive Auseinandersetzung mit einer besseren Gesellschaft – aber wer weiß das schon, utopische Gesellschaftskonstruktionen wurden in Literatur und Film nie wirklich ausprobiert und in der Realität schon gleich gar nicht. Die allabendliche Dystopisierung der Welt jedenfalls verändert unsere Vorstellungen von der Zukunft und drängt wichtige Fragen in den Hintergrund: In welcher Welt wollen wir leben? In welche Welt hinein wollen wir einmal alt werden, sollen unsere Kinder hineinwachsen? Und mit zunehmendem Alter kommt die Frage hinzu: Von wem wollen wir später einmal abhängig sein? Wer soll uns aus welchen Gründen unterstützen und versorgen? Und haben wir dann noch die Möglichkeit und auch das Recht, Forderungen zu stellen? Wir können jetzt die Welt mitgestalten, in die hinein wir alt werden, dafür sorgen, dass in 30, 40, 50 Jahren ein gesellschaftliches Klima und ein sozialer Umgang vorherrschen, die uns einen schwierigen, vielleicht schmerzhaften Verlust der eigenen Selbstständigkeit erleichterten, einfach, da wir wissen, dass da eine Gesellschaft kommt, die unseren bisherigen Beitrag zu ihrem Erhalt wertschätzen wird.

Wie sollte diese Welt aussehen? Wie sollen die Menschen in dieser Welt zusammenleben und miteinander umgehen? Und was könnten wir vielleicht heute schon tun und in die Wege leiten, dass diese vielleicht sogar unrealistisch erscheinende Utopie dennoch Wirklichkeit werden kann? Wir wollen mit diesem Buch den Blick nach vorne richten. Es geht nicht darum, den Status quo zu erklären und zu rechtfertigen. Die Analyse von Vergangenheit und Gegenwart ist wichtig, aber nur dann, wenn sie ein Mittel zum Zweck ist, nämlich Vorstellungen und Visionen zu entwickeln, die Welt von morgen mitzugestalten. Unsere Utopie ist eine Welt, in der Cura, die Fürsorge, wertgeschätzt und honoriert wird, dem lateinischen Wortursprung entsprechend: geehrt und belohnt.

Und weil das so ist, übernehmen in unserer Utopie alle Geschlechter gleichberechtigt und in gleichen Maßen die Care-Aufgaben, ohne die es weder Leben noch Gesellschaft geben könnte – und somit auch keine Wirtschaft. Und weil das so ist, wissen wir alle, was Care-Arbeit bedeutet und im Detail umfasst. Und weil das so ist, können die meisten Menschen auch für sich sorgen und ein im Wortsinn selbstständiges Leben führen. Und weil das so ist, haben wir verinnerlicht, dass Menschen zwar selbstständig, aber nie unabhängig sein können, dass wir ohne unsere Mitmenschen nicht wirklich sind, ohne jene Menschen, die hin und wieder für uns kochen, Wäsche waschen oder die Toilette putzen, die Kinder versorgen und Eltern pflegen, die mit uns reden und unsere Sorgen und Freude teilen. Und weil das so ist, können wir ganz anders über Care-Arbeit reden, weil es plötzlich nicht mehr um Macht und Ohnmacht geht, sondern wir einander auf Augenhöhe begegnen, mal mehr Fürsorge brauchen, mal mehr Sorgearbeit geben können.

Doch da das leider noch nicht so ist, wollen wir mit diesem Buch einladen, diese Gesellschaft und ihr Wirtschaftssystem einmal aus dem Blickwinkel der Fürsorge zu betrachten.

Am Anfang war es nur eine beiläufige Idee: Wenn es einen Equal Pay Day gibt, der auf die unterschiedliche Bezahlung zwischen Frauen und Männern aufmerksam macht, müsste es noch dringender einen Equal Care Day geben, dringender, weil der Unterschied und die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen ungleich größer sind. Also haben wir 2016 den »Equal Care Day – Aktionstag für mehr Wertschätzung und eine faire Verteilung der Sorgearbeit« initiiert, anfangs nur mit einigen wenigen Menschen, die uns mit Statements und Gedanken zum Thema unterstützt haben, die wir dann im Internet veröffentlicht haben. Das mediale und politische Interesse und der Zuspruch waren so überwältigend, dass der Equal Care Day ganz schnell von vielen Menschen aufgegriffen wurde, in Artikeln und Interviews, in Text und Bild, und am 1. März 2018 in die aktuelle Debatte des Deutschen Bundestages einfloss – aus der Idee wurde allmählich eine Bewegung.

Wir haben den Equal Care Day auf den 29. Februar gelegt, auf den Tag, der in drei von vier Jahren übergangen wird. Die »unsichtbaren« Tage dienen als Symbol für die unsichtbare, weil gerne übersehene Sorgearbeit. Den Schalttag wählten wir auch deshalb, weil Frauen 80 % der Care-Aufgaben übernehmen, Männer also viermal so lange brauchen, um dieselbe Menge an Sorgearbeit beizutragen.

Im Jahr 2020 tritt der Equal Care Day heraus aus der virtuellen und medialen Welt: In Berlin, Bonn und Bremen, Dortmund, Heidelberg und Freiburg, in Leipzig, Luxemburg und München, Nürnberg, Schweinfurt, Wien und in weiteren Städten treffen sich Menschen in ganz unterschiedlichen Konstellationen und Veranstaltungsformaten, um auf die ungleiche Verteilung und mangelnde Wertschätzung von Care-Arbeit aufmerksam zu machen und gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln, die über das Kleinklein der Tagespolitik hinausgehen.

Wir danken allen, die uns und unsere Idee auf diesem Weg begleitet und unterstützt haben mit ihrem Wissen, ihrer Expertise, mit Widerspruch und Anregungen, die gemeinsam mit uns nicht aufgeben, das Thema in seiner Komplexität und gesellschaftlichen Brisanz im öffentlichen Diskurs zu verankern, die schon so viel länger als wir in diesem Bereich arbeiten, geforscht und Ideen entwickelt haben, dass wir uns wie Zwerge fühlen auf den Schultern von Riesinnen, weil es sich eben auch hier in über 80 % der Fälle – okay 95 % – um Frauen handelt.

Dieses Buch und die Initiative Equal Care Day wären nicht denkbar ohne den großartigen Rückhalt, den wir von so vielen Seiten erfahren: Wir danken Elke Büdenbender für ihre Unterstützung, fürs Mutmachen, für die Kooperation und Zusammenarbeit Katja Schülke, Gertrud Hennen und der Stadt Bonn, Sebastian Scharte, Martin Schilling, Janina Kremer und der Willi Eichler-Akademie, Anna Hoff, Juliana Stockheim und der Bundeszentrale für politische Bildung, Bettina Metz und den UN Women Deutschland, Johannes Mirus von Bonn.digital, der Aktion Mensch, Gunhild Busch vom Social Impact Lab Bonn, außerdem Martina Steimer und Harald Kirsch und dem Pantheon Theater Bonn.

Wir danken Václav Demling und der Initiative Klischeefrei, außerdem Uta Meier-Gräwe, Angela Häußler, Helma Lutz und Ina Praetorius, Martin Rücker, Edith Kühnle und Karin Jurczyk, Gisela Bock, Gabriele Winker, Antje Schrupp, Birgit Strahlendorff und Milanie Hengst, Alexandra Geese und Katja Döring, Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer, Şefik_a Gümüş, Ulrike Pfaff, Franziska Günther, Patricia Cammarata und Johanna Lücke, Christine Finke, Lisa von Reiche und den Student•innen aus dem ECD-Seminar an der Uni Bonn, sowie allen Teilnehmenden an unseren Netzwerktreffen und den Aktiven von klische*esc e.V., Sonja Bastin, Hannah Schaub und Valerie Wohlfarter. Wir danken Sookee und Charlotte Brandi für den Song »Who cares?«, Lena Hällmayer, Till Lassmann und Nele Palmtag für Illustrationen und Lars Ruppel für die poetische Begleitung. Wir danken Kristine Listau und Jörg Sundermeier dafür, dass ihr euch kurzentschlossen und dann so engagiert und geduldig auf dieses Projekt eingelassen habt.

Vor allem danken wir unseren drei Kindern, die mitgemacht, die Verhältnisse öfter mal umgekehrt und für uns gesorgt haben, gekocht und eingekauft, aufgeräumt und geputzt, die sich gegenseitig mit Hausaufgaben und Vokabeln unterstützt haben, wenn wir wieder nicht vom Schreibtisch loskamen und uns in der Theorie der Sorgearbeit verloren hatten, anstatt praktisch zu arbeiten – und Martina Hahn – ohne dich hätte alles anders werden müssen, und wäre nicht annähernd so bunt geworden. Danke für Inspiration und Ideenüberfluss, für Technik, Ästhetik und Klarheit, für deinen fürsorglichen und vorausschauenden Rückhalt!

EQUAL CARE?

Eine erste Bestandsaufnahme

Ein erster Blick in die offiziellen Zahlen der Agentur für Arbeit oder des Statistischen Bundesamtes zeigt: Weit über 80 % der beruflichen Care-Arbeit in Deutschland wird von Frauen geleistet. Ihr Anteil liegt in Kindertagesstätten bei 96 % und in Grundschulen bei 90 %, private Pflegedienste 87 %, Krankenhaus und Pflegeheime 85 %, Reinigungswesen 75 % – im Gesamtdurchschnitt sind es 84 %, und in diesen Zahlen sind selbstredend auch die überproportional oft männlich besetzten Führungspositionen mit bedacht, also Männer, die mit der eigentlichen Sorgearbeit kaum mehr betraut sind. 34 % aller berufstätigen Frauen sind im Fürsorge-Bereich tätig, aber nur 8 % der Männer, selbst hier gibt es also ein Verhältnis von gut vier zu eins. Über 50 % der Frauen im Alter zwischen 30 und 65 Jahren arbeiten in Teilzeit, doch nur gut 7 % der berufstätigen Männer. Und was weiterhin zu beachten wäre, ist die Schattenwirtschaft, in der nicht angemeldete Putz-, Pflege- und Betreuungshilfen tätig sind, Frauen zumeist mit familiären Migrationserfahrungen, manche von ihnen oft nur befristet im Land, manche, die in keiner Statistik auftauchen und die in ihren Rechten eingeschränkt sind. Das ist der Gender Care Gap in der Berufswelt, eine extreme Ungleichverteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern also.

Ergänzend dazu wurde im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017 auf Grundlage der Zeitverwendungserhebung des Statistischen Bundesamtes der Gender Care Gap in privaten Haushalten berechnet: Im Gesamtdurchschnitt leisten Frauen 52,4 % mehr Familien- und Sorgearbeit als Männer. Gesamtdurchschnitt heißt, dass hier Singlehaushalte und kinderlose Paare mit einberechnet sind, Lebenskonstellationen, in denen verhältnismäßig weniger Care-Arbeit anfällt. Der Zweite Gleichstellungsbericht unterteilt deshalb weiter in direkte, menschenbezogene und unterstützende Tätigkeiten wie Putzen, Rasenmähen, Fahrräderreparieren et cetera. Und es zeigt sich auch hier: Je mehr Fürsorgearbeit zu leisten ist, je körpernäher diese Aufgaben sind, desto gravierender das Missverhältnis, desto größer die Belastung und Verantwortung von Frauen. Im Extremfall, in Familien mit kleinen Kindern, steigt die Diskrepanz im privaten Gender Care Gap auf über 110 % oder alltäglich über zweieinhalb Stunden, die Frauen mehr Sorgearbeit leisten (müssen). Nicht bedacht sind hierbei Familien mit einem oder mehreren Kindern mit Behinderung, auf die öffentliche Einrichtungen und Betreuungsmöglichkeiten oft nur unzureichend vorbereitet sind, die durch jedes Raster fallen und deshalb viel zu sehr auf sich alleine gestellt sind. Und auch Alleinerziehende kommen in der aktuellen Darstellung nur am Rande vor: Ungefähr 2,6 Millionen Alleinerziehende leben in Deutschland, knapp 2,2 Millionen Mütter und gut 400.000 Väter, die mit der Sorgearbeit oft so alleine sind, dass von einem Gap gar nicht mehr zu reden ist.

Der Übergang zwischen privater und beruflicher Care-Arbeit ist fließend, da nämlich, wo Familien private Sorgearbeit auslagern und anderen (Frauen) die Kinderbetreuung, das Putzen oder die Pflege von Angehörigen überlassen. Haushalte, die in der finanziellen Situation sind, besonders viel Care-Arbeit einkaufen zu können, verringern damit ihren privaten Care-Gap, wobei auch in diesen Konstellationen Frauen weiterhin die Hauptlast und -verantwortung tragen. Isoliert betrachtet lassen sich im privaten Bereich also möglicherweise Fortschritte und Erfolge feiern, obwohl sich an der tatsächlichen Aufteilung von Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern gar nichts verändert hat. Der grundsätzliche Gap, der Spalt zwischen den Geschlechtern, bleibt also, er wird nur vom privaten in den beruflichen Bereich oder in die Schattenwirtschaft verlagert.

Die statistische Grundlage für die Berechnungen zum privaten Gender Care Gap bildet die sogenannte Zeitverwendungserhebung des Statistischen Bundesamtes. Im Vergleich zu älteren Studien wird deutlich, dass die zeitliche Belastung von Frauen durch private Care-Aufgaben zwar abgenommen hat, aber nicht etwa, weil Männer hier mehr Verantwortung übernehmen würden, sondern durch haushaltstechnischen Fortschritt beziehungsweise die zunehmende Auslagerung von Sorgepflichten, und das längst grenzüberschreitend in sogenannten Care Chains – diesen Begriff prägte die Soziologin Arlie Hochschild, um damit zu beschreiben, dass Frauen (und selten Männer), die im Ausland die Fürsorgearbeit übernehmen, in ihren Herkunftsländern eine Lücke bei der Versorgung ihrer eigenen Familie hinterlassen.

Insofern verschiebt sich die Fürsorge-Lücke nur. Privater und beruflicher Gender Care Gap bedingen sich also gegenseitig, und die Vermutung liegt nahe, dass sie auch nur gemeinsam gelöst werden können: durch Equal Care, gleiche Fürsorge. Equal bedeutet in diesem Zusammenhang: Frauen und Männer übernehmen die Care-Arbeit gemeinsam, die beruflichen und privaten Dimensionen im Blick, bezahlt und unbezahlt, sozialversicherungspflichtig oder nicht, die konkreten Tätigkeiten nicht getrennt von der Gesamtverantwortung betrachtend, ressort- und fachbereichsübergreifend, ganzheitlich.

In den öffentlichen Debatten um den Gender Care Gap seit der Veröffentlichung des Zweiten Gleichstellungsberichts 2017 – verstärkt in Online-Foren und den sozialen Netzwerken – sind viele Erklärungsversuche zu finden, warum diese aktuelle Welt der Fürsorge genau so ist, wie sie ist – und nach Meinung Vieler gefälligst auch so zu bleiben habe: Dort sind obskure steinzeitliche Herleitungen zu lesen, die besondere und natürliche Beziehung zwischen Mutter und Kind wird betont, unterschiedliche Ansprüche an Haushaltstätigkeiten und Erziehung werden geltend gemacht, Erinnerungen an die eigenen Mütter, die das alles doch so gerne gemacht hätten, werden hervorgekramt, es ist die Rede von Körperkraft, Präferenzen bei der Wahl der Partner•innen, Berufswünschen und Teilzeitregelungen … Dies sind allesamt Versuche, das gesellschaftliche Missverhältnis zu individualisieren und zu erklären, ohne auf die systematische Ungerechtigkeit einzugehen und die persönlichen Vorteile, die der Einzelne aus der gegenwärtigen Situation zieht. Dabei lassen sich die unmittelbaren Folgen des Gender Care Gap am einfachsten und eindrücklichsten am Gender Pension Gap ablesen, an der unterschiedlichen Höhe der Durchschnittsrenten von Männern und Frauen. Mit einer Differenz von aktuell 46 % liegt Deutschland damit im europäischen Vergleich an letzter Stelle.

Nehmen wir die Pension, die Rente als wirtschaftliche Gesamtbilanz eines tätigen Lebens, dann drängt sich der Eindruck auf, dass das, was Frauen für diese Gesellschaft leisten, deutlich weniger wert sei als der Beitrag von Männern. Wir messen ihren Leistungen gesellschaftlich so wenig Wert bei, dass es in Ordnung scheint, dass viele Frauen in Altersarmut leben müssen.

Von Unternehmen und Politik wird gerne angemerkt, dass Care-Arbeit Privatsache sei und man•frau sich nicht in die persönlichen Belange und Entscheidungen der Menschen einzumischen habe, als ob Politik und Wirtschaft nicht andauernd in die Privatsphäre eingriffen. Ob Schulpflicht, Werbung (im öffentlichen Raum), Vorratsdatenspeicherung, Big Data oder die Forderung nach örtlicher und zeitlicher Flexibilität bis hin zur ständigen Verfügbarkeit im Beruf – die Beispiele staatlicher und unternehmerischer Eingriffe in die Privatsphäre sind so vielfältig wie umfassend, warum also diese Zurückhaltung ausgerechnet im Care-Bereich? Auch hier wird darüber hinweggesehen, wie sehr Wirtschaft und Politik von der aktuellen privaten Organisation der Care-Arbeit, vom fürsorglichen und selbstlosen Einsatz dieser vielen Frauen und wenigen Männer profitieren. Das ganze System funktioniert nur, weil es Care-Arbeit als privat ausklammert und nicht als wesentlichen Faktor für das Gelingen von Gesellschaft und Wirtschaft honoriert.