Die Saar-Töchter - Zeiten der Hoffnung - Katja Dörr - E-Book

Die Saar-Töchter - Zeiten der Hoffnung E-Book

Katja Dörr

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Beschreibung

Der dritte Band der mitreißenden Familien-Saga!

Lotte ist zufrieden. Doch dann verändert der Krieg alles. Ihre beiden geliebten Brüder melden sich freiwillig zum Militärdienst und müssen an die Front. Plötzlich lasten über ihrem Leben Angst und Ungewissheit. Es quälen sie Gedanken daran, was ihnen zustoßen könnte.
Inmitten dieser ständigen Sorge findet Lotte Trost in ihrer Arbeit als Haushälterin bei dem Arzt Emil. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, und er behandelt sie mit Respekt. Langsam beginnen sich zwischen den beiden, zarte Gefühle zu entwickeln. Diese geben ihr Hoffnung in diesen schwierigen Zeiten. Doch hat die Liebe eine Zukunft?

Auch Lottes Mutter Frieda kämpft mit ihren eigenen Sorgen. Nach einem Unfall im Bergwerk ist ihr Mann Hanno nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Der einst so stolze und starke Mann verfällt immer mehr dem Alkohol. Frieda leidet sehr darunter, und die Last, die nun auf ihren Schultern liegt, wiegt schwer: Sie muss die Familie zusammenhalten, während sich Hanno immer weiter von ihnen entfernt. Gibt es noch eine Chance für die beiden?

Eine mutige Frau kämpft für ihre Träume vor dem Hintergrund des Kriegs. Emotional. Bewegend. Fesselnd.

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

1914

1

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Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Der dritte Band der mitreißenden Familien-Saga!

Lotte ist zufrieden. Doch dann verändert der Krieg alles. Ihre beiden geliebten Brüder melden sich freiwillig zum Militärdienst und müssen an die Front. Plötzlich lasten über ihrem Leben Angst und Ungewissheit. Es quälen sie Gedanken daran, was ihnen zustoßen könnte.

Inmitten dieser ständigen Sorge findet Lotte Trost in ihrer Arbeit als Haushälterin bei dem Arzt Emil. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, und er behandelt sie mit Respekt. Langsam beginnen sich zwischen den beiden, zarte Gefühle zu entwickeln. Diese geben ihr Hoffnung in diesen schwierigen Zeiten. Doch hat die Liebe eine Zukunft?

Auch Lottes Mutter Frieda kämpft mit ihren eigenen Sorgen. Nach einem Unfall im Bergwerk ist ihr Mann Hanno nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Der einst so stolze und starke Mann verfällt immer mehr dem Alkohol. Frieda leidet sehr darunter, und die Last, die nun auf ihren Schultern liegt, wiegt schwer: Sie muss die Familie zusammenhalten, während sich Hanno immer weiter von ihnen entfernt. Gibt es noch eine Chance für die beiden?

Eine mutige Frau kämpft für ihre Träume vor dem Hintergrund des Kriegs. Emotional. Bewegend. Fesselnd.

1914

1

Saarbrücken, 4. August 1914Friedas Haus

Geduldig sah Frieda ihrer Mutter Elisa zu, wie sie sich in ihrem Schaukelstuhl vor und zurück wiegte und dabei aus dem schmalen Fenster an der Südseite ihres Wohnzimmers in den graublauen Himmel blickte. Vom Obergeschoss des Hauses konnte man einige Hundert Meter weit über die Dächer der Häuser in der Nachbarschaft sehen. Nun war die alte Dame schon fast dreiundachtzig Jahre alt und hielt sich noch immer wacker am Leben fest. Ihr einst volles blondes Haar war dünn und weiß wie Schnee geworden, und durch ihr eingefallenes Gesicht zogen sich tiefe Falten. Aber in ihren Augen glühte noch immer ein wacher Funke, der jedem, der genauer hinsah, verriet, dass ihr Verstand scharf war und ihr Geist hellwach.

»Du sagst ja gar nichts, Mama«, stellte Frieda fest. »Hast du gehört, was ich dir erzählt habe?«

»Ich habe dich gehört«, entgegnete Elisa, ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden. »Und jetzt denke ich nach. In meinem Alter muss man sich eben etwas mehr Zeit nehmen. Das wirst du irgendwann auch noch zu spüren bekommen.«

»Vielleicht.« Frieda wusste nicht, ob sie es sich wünschen sollte, so alt zu werden, wie ihre Mutter es nun war. Sie selbst war mit ihren sechsundvierzig Jahren mittlerweile auch nicht mehr die Allerjüngste und konnte schon jetzt deutlich fühlen, dass ihr Körper träger und langsamer geworden war als vor zwanzig Jahren. Wie musste es erst sein, wenn noch einmal drei oder vier Jahrzehnte vergehen würden? In den letzten Jahren, nachdem ihre Mutter ihrer Cousine Désirée ihr Haus vermacht hatte und bei Frieda eingezogen war, hatte diese beobachten können, wie das Alter sich Tag für Tag mehr auswirkte.

»Das Schwert in der Hand«, brummte Elisa und riss ihre Tochter damit aus ihren Gedanken. »Das hat er gesagt?«

»Wie bitte?« Frieda, die bisher am Wohnzimmertisch gesessen hatte, stand auf und rückte ihren Stuhl näher an ihre Mutter heran. Gelegentlich sprach diese so leise, dass man fast das Ohr an ihren Mund halten musste, um sie zu verstehen.

»Der Kaiser«, antwortete Elisa, und ihr Ton wurde im gleichen Maß ungeduldiger wie ihre Stimme lauter. »Hat er in dieser Rede wirklich von einem Schwert gesprochen?«

»Ach so«, sagte Frieda, »ja, das hat er. Man drückt uns das Schwert in die Hand, so hat er sich ausgedrückt. Und dann kam etwas in der Art, dass man den Gegner schnell zur Einsicht bringen solle, weil es sonst Opfer geben und Blut fließen würde.«

»Aha.« Elisa schürzte ihre schmalen Lippen. »Dabei sollte man doch annehmen, dass der Gegner es heutzutage eher mit Kanonen und Gewehren zu tun bekommt als mit Schwertern. Letzteres wäre doch reichlich altmodisch, nicht wahr?«

»Ja, schon.« Frieda zog angesichts dieser eigentümlichen Bemerkung eine Augenbraue in die Höhe und betrachtete ihre Mutter, die in gleichbleibendem Tempo mit ihrem Stuhl vor und zurück schaukelte. »Ich gehe davon aus, dass das eher als Metapher gemeint war. Bildlich sozusagen.«

Ihre Mutter wandte ihr den Kopf zu. »Das weiß ich auch. Und genau darum geht es mir doch, Frieda. Macht es dir nicht auch Sorgen, dass gleich Reden von Schwertern, Opfern und Blut geschwungen werden? Warum stürzen wir uns kopfüber in einen Krieg, statt zu versuchen, erst einmal den ganzen Tumult zu überblicken?«

»Eine gute Frage.« Frieda nickte langsam und legte ihrer Mutter eine Hand auf die knochige Schulter, die sie durch den Stoff ihrer Jacke hindurch fühlen konnte. Das Wort Tumult schien ihr angesichts der Ereignisse, die sich Tag für Tag überschlugen, durchaus angebracht zu sein. Zuerst hatte es in Sarajewo dieses schreckliche Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau gegeben. Von diesem Tag an hatte sich die Welt scheinbar in zwei Lager aufgeteilt, und man konnte nur noch für Serbien oder für Österreich sein. Und weil auf das Deutsche Reich Letzteres zutraf, titelten die Zeitungen Ende Juli: Der Krieg mit Serbien, und das Land stürzte sich mitten hinein in diese Auseinandersetzung, die den Frieden auf der ganzen Welt zu gefährden schien.

»Sie haben nichts gelernt, und sie werden es auch nie lernen«, seufzte Elisa. »So manchen Älteren steckt der Krieg von 1870 noch in den Knochen. Wir sind hier kaum ein paar Tausend Schritte von den ehemaligen Schlachtfeldern in Spichern entfernt. Dort liegen noch genug Knochen von Soldaten, denen man damals schon das Schwert in die Hand gedrückt hatte, wie unser werter Kaiser es formuliert.«

»Mama«, mahnte Frieda in leicht tadelndem Tonfall, »also bitte.« Sie wusste, dass diese so redete, wie sie es wollte, ohne auf mögliche Konsequenzen zu achten. Das war wohl eine der wenigen Annehmlichkeiten des hohen Alters. Sie selbst allerdings fuhr unweigerlich zusammen, wenn jemand abfällig über den Kaiser sprach oder sich über ihn lustig machte. Das gehörte sich nicht, und außerdem konnte man sich gesellschaftlich sehr rasch unmöglich machen, wenn die Worte an die falschen Ohren drangen.

Dennoch wusste sie, dass ihre Mutter mit ihrer Kritik richtiglag. Und vielleicht war es hier an der Saar sogar die Nähe zum letzten Krieg, der die Menschen in falscher Zuversicht wiegte. Schließlich hatte man damals im Spätsommer 1870 in kurzer Zeit die französischen Truppen zurückgedrängt und so der deutschen Seite den Sieg gesichert. Das veranlasste einige wohl zur Annahme, dass ein weiterer Krieg ebenfalls in nur wenigen Wochen zu gewinnen sei. Frieda war sich da nicht so sicher.

»Du solltest jedenfalls bald die Kartoffeln aufsetzen«, bemerkte ihre Mutter ernst. »Es ist ja schon gleich eins. Wo kommen wir denn da hin?« Sie klang, als wäre diese Angelegenheit ebenso wichtig für die Zukunft des Heimatlandes wie das, was die beiden zuvor besprochen hatten. Trotz ihrer angespannten Stimmung musste Frieda schmunzeln.

»Ja doch«, sagte sie und ging zum Herd in der angrenzenden Küche. »Du sollst deine Kartoffeln haben, Mama.« Sie wusste, dass die alte Dame kaum zwei oder drei Bissen essen würde, weil sie mehr nicht herunterbekam. Im Kern ging es ihr wohl auch mehr darum, dass ihr eine gewisse tägliche Routine dabei half, sich sicherer zu fühlen.

»Wann kommen denn die Buben heim?«, fragte Elisa. Durch die offene Küchentür konnte Frieda sehen, wie sie ihre Lippen spitzte. »Es ist doch Dienstag, da müssten sie eigentlich schon hier sein.«

Stimmt, dachte Frieda. Üblicherweise saßen ihre siebzehnjährigen Zwillinge Carl und Conrad zu dieser Zeit am Küchentisch und warteten darauf, dass das Mittagessen aufgetischt wurde. Heute war allerdings noch nicht die geringste Spur von den beiden auszumachen. Dabei sah es ihnen nicht ähnlich, auf dem Heimweg von der Schule zu trödeln.

»Wie es halt so ist«, sagte sie und zog das blau-weiß karierte Stofftuch von einem großen Topf, sodass die geschälten Kartoffeln darin zum Vorschein kamen. »Sie sind bestimmt irgendwo aufgehalten worden. Vielleicht spielen sie drüben bei Buchners auf der Wiese noch eine Runde Fußball.«

»Ach was, Fußball.« Elisa winkte ab. »Die Buben sind doch dieses Jahr wieder in die Höhe geschossen. Und genauso zuverlässig, wie sie wachsen, so lassen sie nie eine Mahlzeit aus. Wenn die also nicht pünktlich zum Mittagessen kommen, dann muss es schon was Wichtiges sein.« Ihre leicht rissigen Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln. »Vielleicht ein Mädchen. Das wäre doch mal was.«

»Allerdings.« Elisa füllte Wasser in den gusseisernen Topf, den sie in Händen hielt. »Wobei ich dann hoffe, dass es zwei Mädchen gibt. Wenn es nämlich nur eines wäre, in das sich beide verguckt hätten, das wäre mal ein Schlamassel, und ich will mich gar nicht erst vorstellen, wie …«

Sie hielt inne, als sie hörte, wie die Haustür eine Etage tiefer aufgeschoben wurde. Sekunden später ertönte auch schon das bekannte Trampeln von vier Füßen auf der schmalen Holztreppe, welche die beiden Stockwerke des Hauses miteinander verband.

»Da seid ihr ja«, begrüßte Frieda die Neuankömmlinge, ohne aufzusehen. »Glück gehabt, es gibt gleich Mittagessen. Kommt, setzt euch schon mal an den Tisch und erzählt eurer Großmutter, was es in der Schule Neues gibt.«

»Hallo, Mama«, sagte Carl und warf einen kurzen Blick zu ihr in die Küche. »Hallo, Oma. Wie geht es dir denn so? Macht dir die Hitze immer noch zu schaffen?«

»Ach, es ist mal so und mal so«, antwortete die Großmutter und schüttelte leicht den Kopf. »Wenn man erst mal so alt ist wie ich, dann kann man die ganzen kleinen und großen Beschwerden, die man hat, kaum noch zählen. Und wenn man sich über jedes Wehwehchen beklagen wollte, hätte man den ganzen Tag sonst nichts mehr zu tun.« Sie verstummte für einen Moment, und Frieda konnte mit einem Blick über ihre linke Schulter sehen, wie die alte Dame die beiden Enkel von oben bis unten musterte. »Ihr setzt euch ja gar nicht. Habt ihr Hummeln im Hintern, oder was?«

Als Frieda den Topf auf dem Herd abstellte und ins Wohnzimmer zurückkehrte, bemerkte sie, dass Conrad mit angespannter Miene zu Boden sah und seinen Zwillingsbruder mit dem Ellenbogen nach vorne schob. Das war mal wieder typisch. Schon als die beiden noch ganz klein gewesen waren, hatte Carl immer den Mund aufgemacht, wenn sein Bruder still blieb, und war den ersten Schritt gegangen, während der andere noch zögerte. Manchmal sah sie in den sommersprossigen Gesichtern der hochgewachsenen jungen Männer, die mittlerweile schon die ersten blonden Barthaare zierten, immer noch die kleinen Knirpse, die sie einmal gewesen waren.

»Ich weiß nicht, ob man das so ausdrücken kann«, sagte Carl, »aber Conrad und ich sind voller Tatendrang, so viel steht fest. Stimmt’s?«

»Ja«, bestätigte sein Bruder knapp und nickte, sah jedoch weiterhin zu Boden.

»Aha«, schaltete sich nun Frieda in das Gespräch ein. »Und darf man fragen, was euch denn umtreibt? Eure Großmutter hat schon den Verdacht geäußert, dass euch vielleicht ein oder zwei Mädels den Kopf verdreht haben. Ist da was dran?«

»Mädels?« Carl sah für einen Moment irritiert aus. »Nein, das … also darum geht es jedenfalls nicht.« Er drehte sich halb zu seinem Bruder um. »Mensch, Conrad. Jetzt sag auch mal was!«

»Ja … also nein …«, stammelte dieser. »Darum geht’s nicht.« Frieda sah Conrad erwartungsvoll an, doch der war offenbar nicht gewillt, noch mehr zu der Sache zu sagen.

»Herrgott!«, stöhnte Carl. »Dann erzähle ich es euch halt: Conrad und ich sind jetzt Soldaten. So richtig echte, die in den Krieg ziehen. Die ganze Klasse hat sich heute nämlich freiwillig für die Infanterie gemeldet. Wir wollen alle zusammen für unser Land einstehen. Ist das nicht großartig?«

Frieda fühlte sich, als hätte jemand von einer auf die andere Sekunde die ganze Welt eingefroren, sie selbst eingeschlossen. Soldaten, echote es in ihrem Kopf. In den Krieg ziehen. Das war doch sicher ein dummer Scherz. Die Zwillinge waren doch eben erst Kinder gewesen, die im Garten Fangen gespielt hatten. Na gut, manchmal, da hatten sie auch Krieg gespielt. Mit Stöcken als Gewehren und Kochlöffeln als Säbel. Aber das war doch alles nur vorgetäuscht gewesen. Nicht echt.

Was?, wollte Frieda fragen, doch es fühlte sich an, als wäre sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst worden. Ihre Zunge schien die Wörter nicht mehr zu kennen, nach denen ihr Hirn verzweifelt suchte, während sie ihre beiden Söhne anstarrte.

»Um Himmels willen!«, platzte ihre Mutter heraus. »Das ist hoffentlich ein Witz. Das … das gibt’s doch gar nicht! Conrad, sag, dass das nicht stimmt! Frieda!«

Der Klang ihres Namens ließ sie aus ihrer Schockstarre erwachen. »Ja«, murmelte sie und meinte dabei, der Boden unter ihr müsste jeden Moment nachgeben, »ich habe es gehört. Aber glauben mag ich es trotzdem nicht.«

»Doch, doch«, sagte Carl. »Es ist so. Der Dieter ist auch dabei. Und sein Cousin. Sogar der dicke Heinmann hat sich gemeldet, obwohl der sich doch eigentlich für alles zu schade ist, dieser Klotzkopf. Aber nein, wenn der Kaiser ruft, dann will keiner nur danebenstehen.« Frieda konnte sehen, dass er rasch zwischen ihr und seiner Großmutter hin und her blickte. »Mensch, ihr müsst euch keine Sorgen machen. Das wird schon. Der Conrad und ich, wir sind zwei der besten Sportler, die überhaupt dabei sind. Rennen, springen, marschieren, da können wir den meisten anderen locker was vormachen.«

Keine Sorgen machen, hallte es in Friedas Kopf wider. Das wird schon.

»Ich sage euch, was ihr jetzt tut«, schimpfte die Großmutter. Ihr Hals und ihre Wangen waren ganz rot geworden. »Ihr geht schnurstracks dahin zurück, wo ihr hergekommen seid, und dann macht ihr das alles wieder rückgängig, solange es noch geht. Sagt denen, dass ihr euch geirrt oder irgendetwas falsch verstanden habt. Sagt von mir aus, ihr hättet ein lahmes Bein oder wärt auf einem Auge blind, wenn es nicht anders geht. Lasst euch die Liste geben, und streicht eure Namen durch. Völlig egal. Hauptsache, ihr kommt aus dieser kolossalen Dummheit irgendwie wieder heraus, bevor sie euch eure dürren Hälse kostet!«

»Was für eine Dummheit?« Carl schnaubte. »Oma, wie redest du denn auf einmal? Und wie ihr uns anseht, Mama und du. Dabei haben wir gedacht, dass ihr euch freut.«

Frieda spürte, wie das Ohnmachtsgefühl in ihr plötzlich einer Art Hitze wich, die ihren Oberkörper emporkroch. »Wir sollen uns freuen?«, fuhr sie Carl derart an, dass sich ihre Stimme überschlug und ihr Sohn die Augen weit aufriss. »Über was denn genau, hm? Darüber, dass die ganze Welt im Krieg zu versinken droht? Oder darüber, dass unser Land, unsere Heimat und alle die darin leben, mittendrin sind in diesem Schmelztiegel des Wahnsinns? Oder soll ich lieber Luftsprünge machen, weil meine beiden Söhne übergeschnappt sind und meinen, das Ganze wäre nur ein Spiel für große Buben, die gern mal ein wenig durch die Gegend marschieren wollen?«

»Frieda!«, mahnte ihre Mutter. »Bitte beruhige dich. Man hört dich bestimmt in der ganzen Nachbarschaft.«

»Das ist mir völlig egal«, rief Frieda. Langsam sickerte die Neuigkeit, die ihre Söhne ihr eröffnet hatten, in ihr Bewusstsein, wo sie sich unmittelbar in eine Mischung aus Furcht, Sorge und glühender Wut verwandelte. »Von mir aus kann man es in ganz Saarbrücken hören! Was macht das noch für einen Unterschied?« Eine Träne lief über ihre Wange. »Wie konntet ihr das nur tun, Carl? Wie konntet ihr nur so eine Verpflichtung eingehen, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, was das für Konsequenzen hat?«

»Alle sind dabei, Mama«, meldete Conrad sich zu Wort. »Die ganze Klasse. Sogar fast die ganze Schule! Wir dachten …« Er brach ab und sah sie aus großen Augen an, wobei er hilflos die Arme hängen ließ. »Es schien in dem Moment einfach das Richtige zu sein.«

»Und es ist auch das Richtige!«, sagte Carl energisch. Seine Haltung war wesentlich aufrechter als die seines Bruders, und er stand seiner Mutter mit erhobenem Kopf gegenüber. »Es tut mir leid, dass ihr beide so ängstlich seid und euch nicht für uns freut. Aber es gibt sowieso keinen Weg zurück, selbst wenn wir das wollten. Pflicht ist nun einmal Pflicht, und es wird jeder Mann gebraucht.«

Frieda atmete langsam aus. Ihre Wut war verraucht und einer eisigen Leere gewichen. Ihren Sohn so sprechen zu hören, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Der Mann, der hier vor ihr stand, hatte nichts mehr mit dem lieben, verspielten Jungen zu tun, der er vor wenigen Jahren noch gewesen war. Sie hatten ihre Söhne Ruhe und Besonnenheit gelehrt. Sie hatten ihnen beigebracht, sich sein eigenes Bild von der Welt zu machen, statt sich bloß von anderen leiten zu lassen. Und nun stand Carl da, und alles, was aus seinem Mund kam, klang, als entstamme es einem dieser Propagandablätter, die neuerdings überall verteilt wurden. Noch mit zwölf oder dreizehn war Carl manchmal zu ihr ins Bett geschlüpft, wenn es Gewitter gegeben oder er einen schlimmen Albtraum gehabt hatte. Und nun wollte dieser Bursche Soldat sein? Mit dem Gewehr in der Hand gegen Frankreich marschieren, gegen Russland oder Gott weiß wohin?

»Geht auf eure Zimmer«, hörte sie sich mit matter Stimme sagen. »Und sobald euer Vater heimkommt, werdet ihr ihm erzählen, was ihr getan habt.«

»Aber Mama …«, setzte Conrad an, doch die Großmutter sprang Frieda zur Seite.

»Ihr habt eure Mutter gehört. Also los!«

Die beiden Siebzehnjährigen stapften davon und ließen ihre Großmutter und Frieda allein zurück.

Frieda warf einen Blick auf den Topf mit den Kartoffeln, der hinter ihr auf dem Herd stand. »Mir ist die Lust am Kochen vergangen«, sagte sie leise. »Und Hunger hab ich sowieso keinen mehr. Ich denke, ich gehe ins Bett.«

»Frieda«, sagte ihre Mutter, »warte einen Moment, ja?« Sie räusperte sich und strich mit einer ihrer faltigen Hände ihre Bluse glatt. Das hatte sie schon immer getan, wenn sie sich innerlich sammeln musste. »Ich weiß, dass dir das alles jetzt erst einmal große Angst macht. Du kannst mir glauben, dass es mir genauso geht. Hätte ich auch nur einen Moment lang geahnt, dass es so kommen könnte, dann …« Sie ließ ihren Satz unvollendet und seufzte, während sie langsam ihren Kopf senkte und dabei mit einer Hand über ihre Stirn fuhr. »Ich bin mir sicher, dass es eine Lösung für dieses Problem gibt. Irgendeinen Ausweg, den wir jetzt nur noch nicht sehen.«

»Danke für deine Worte«, antwortete Frieda, »aber das denke ich nicht. Es ist Krieg. Da nimmt niemand Rücksicht auf irgendwelche Befindlichkeiten. Und außerdem haben die Jungs sich nicht für den Schachklub angemeldet, wo man jederzeit wieder absagen kann, wenn es einem nicht mehr passt, sondern für die Armee. Da kommt man nicht mehr raus.«

»Ich kenne einige Leute in wichtigen Positionen«, entgegnete ihre Mutter, die offenbar nicht bereit war, aufzugeben, und setzte sich in ihrem Schaukelstuhl auf. »Und dein Mann ebenfalls. Wer weiß, vielleicht könnte auch dein Schwager etwas ausrichten. Du weißt doch, wie so was läuft, Frieda. Man kennt jemanden, der jemanden kennt, und dieser jemand hat vielleicht doch die Macht, gewisse Listen zu ändern.«

Frieda sah zu Boden und rang sich ein schwaches Nicken ab. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Und selbst wenn die Chance, dass man Carl und Conrad aus der Sache irgendwie wieder herausbekäme, noch so klein war, dann musste sie es trotzdem zumindest versuchen.

»Und außerdem«, fuhr ihre Mutter fort, »kann es ja sein, dass die beiden Glück haben, falls sie wirklich losziehen müssen. Natürlich ist das Leben als Soldat nicht ungefährlich, aber in den Krieg zu ziehen, heißt ja nicht gleich, dass …«

»Stopp!«, rief Frieda und hielt sich die Ohren zu. »Bitte hör auf, Mutter. Kein Wort mehr darüber! Das ertrage ich einfach nicht.«

»In Ordnung«, sagte Elisa. »Ich bin ja schon still. Komm, nimm dir einen Stuhl, und setz dich ein wenig zu mir. Ums Mittagessen kümmern wir uns später.«

Frieda tat wie geheißen. Sie ergriff die rechte Hand ihrer Mutter, und schmiegte ihr Gesicht sanft an ihre Schulter.

»Das hast du als Kind auch immer gemacht, wenn dir alles zu viel wurde«, flüsterte Elisa und strich ihr behutsam über den Kopf. »Und jetzt lass uns erst mal wieder zur Ruhe kommen. Irgendwie wird am Ende schon alles wieder gut.«

Frieda schwieg und verharrte regungslos in ihrer Position. Äußerlich war sie jetzt ganz still, während in ihrem Kopf ein schrecklicher Gedanke den nächsten jagte.

2

Saarbrücken, 5. August 1914Arztpraxis Dr. Haber

»So ein Mist«, fluchte Lotte leise, als sie den Fußabdruck auf dem frisch gewischten Boden bemerkte. Jetzt sorgte sie schon seit fast vier Jahren in diesem Haus für Sauberkeit, und bisher war ihr noch nie so eine Dummheit passiert. Statt sich wie üblich von oben die steinernen Stufen hinunterzuarbeiten, hatte sie dieses Mal am Fuß der Treppe angefangen und war dann prompt selbst auf die noch feuchte Fläche getreten. Jetzt musste sie noch einmal neu anfangen und würde Mühe haben, rechtzeitig fertig zu sein, bevor der Herr Doktor aus der Praxis nach oben kam. Dabei fürchtete sie noch nicht einmal, dass er mit ihr schimpfen oder sich beschweren würde. Nein, dafür war er ein viel zu geduldiger und gütiger Mann. Aber gerade deswegen wollte sie ihn auf keinen Fall enttäuschen.

Herrgott, dachte sie, während sie mit dem Eimer in ihrer linken und dem Lappen in ihrer rechten Hand die Treppe hinaufstieg. Mittlerweile müsste ich die Wohnung doch eigentlich im Schlaf putzen können. Schließlich habe ich jeden einzelnen Schritt schon Hunderte Male gemacht.

An normalen Tagen fielen ihr ihre Aufgabe leicht. Aber heute war eben kein normaler Tag. Schlimm genug, dass die Zeitungen voll vom Krieg waren und die Leute auf der Straße von nahezu nichts anderem mehr sprachen. Nein, jetzt hatten sich auch noch ihre beiden Zwillingsbrüder Carl und Conrad freiwillig zur Infanterie gemeldet. So eine gravierende Entscheidung spontan und aus dem Bauch heraus zu treffen, sah den beiden ähnlich. Na ja, dachte sie, während sie den groben Putzlappen auswrang, eigentlich sieht es eher Carl ähnlich. Wer die beiden Brüder nämlich näher kannte, wusste, dass sie sich zwar äußerlich glichen wie ein Haar dem anderen, innerlich aber völlig unterschiedlich waren. Conrad, der mit knappen zwei Minuten Abstand der Ältere der beiden Zwillinge war, handelte im Allgemeinen deutlich überlegter und dachte Dinge zu Ende, bevor er sie anging. Leider gehörte es aber auch zu seinem Charakter, bei etwas Druck einzuknicken, weshalb ihn sein Bruder oft überrumpelte, wenn es darum ging, sich in irgendein Abenteuer zu stürzen.

Ein Abenteuer, wiederholte Lotte in ihren Gedanken. Das schien ihr doch eine reichlich optimistische Bezeichnung für das, was den beiden bald blühen würde. Und sie hatte starke Zweifel daran, dass auch nur einem von ihnen bewusst war, auf was sie sich da eingelassen hatten. Am schlimmsten war, dass sie offenbar keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatten, welche Sorgen sie ihrer Familie damit bereiteten. Aber auch das war typisch. Die Zwillinge kümmerten sich nur um sich selbst, und alle anderen belohnten dieses Verhalten auch noch mit Aufmerksamkeit. Lotte, die drei Jahre älter war, hatte dagegen ein ganz anderes Leben kennengelernt. Als sie geboren wurde, hatten ihre Eltern noch mitten in der Trauer gesteckt, in die sie der Verlust ihres ältesten Sohns gestürzt hatte. Ihr älterer Bruder Fritz war gerade einmal drei Jahre alt gewesen, als er in einem Bach ganz in der Nähe des Elternhauses ertrunken war. Von ihren Eltern wusste sie, dass er oft mit älteren Jungen gespielt und mit diesen draußen unterwegs gewesen war. Diese hatten wohl auch versucht, ihn aus dem Wasser zu ziehen, was ihnen aber wegen der starken Strömung nicht gelungen war. Jedenfalls hatte Lotte so schon sehr früh gelernt, sich um sich selbst zu kümmern und dabei möglichst unauffällig und unsichtbar für alle anderen zu sein. Vielleicht putzte sie deshalb gern die leere Wohnung, während ihr Arbeitgeber in seiner Praxis war und dort seine Patienten behandelte.

Wenn sie abends ihre Arbeit getan hatte, war Lotte ebenfalls gern für sich allein und vertrieb sich die Zeit damit, mit Kohle Skizzen von den Häuserfronten und Statuen anzufertigen, an denen sie auf ihrem Heimweg durch Saarbrücken vorbeigelaufen war. Ihre Mutter Frieda hatte ihr als Kind immer gesagt, dass sie das künstlerische Talent von Oma Elisa geerbt hätte, aber Lotte fand nicht, dass die farbenfrohen Landschaftsbilder von Letzterer mit ihren groben Skizzen vergleichbar waren.

Als Lotte sich schwungvoll nach rechts drehte, um den Lappen noch einmal ins Wasser zu tauchen, spürte sie etwas Hartes gegen ihre Ellenbogen stoßen. »Verflixt noch eins!«, rief sie aus und griff instinktiv nach dem halb vollen Eimer, während dieser sich gefährlich zur Seite neigte, aber es war zu spät. Dieser rollte mit einem lauten Scheppern die Stufen hinab, während sich das Putzwasser über die gesamte Treppe verteilte. »So eine Schande«, zischte Lotte, »du elender …«

»Oha«, hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme von unten. »Das sieht ganz schön nass aus. Haben wir etwa irgendwo ein Leck?« Die Frage klang nicht ärgerlich, sondern eher belustigt.

»Herr Doktor Haber!«, rief Lotte und versuchte dabei vergeblich, gleichzeitig aufzuwischen und rückwärts die Treppe hinunterzusteigen. Sie hoffte inständig, dass er gerade erst in der Diele stand und sie daher nicht sehen konnte. »Nein, kein Leck.« Sie kicherte nervös und kam sich sofort albern vor. »Es ist nur … mir ist ein ganz dummes Missgeschick passiert. Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich habe das alles ganz schnell wieder im Griff, versprochen.«

»Na, jetzt erst mal mit der Ruhe, Lotte«, sagte er mit seiner ruhigen, sonoren Stimme. Der gut aussehende Enddreißiger stand am Fuß der Treppe und drehte mit leicht belustigter Miene seinen dunkelbraunen Schnurrbart zwischen den Fingerspitzen. »Ich weiß doch, dass Sie hier immer Herrin der Lage sind. Genau das mag ich ja so an Ihnen.«

Lotte hob den Eimer auf, der die ganze Länge der Treppe heruntergerollt war, und stellte ihn neben dem unteren linken Holzpfosten des Geländers ab. Dabei drehte sie sich ein wenig nach links, damit er nicht sehen konnte, wie sie schüchtern lächelte. Für andere Menschen mochte es nichts Besonderes sein, wenn jemand ihnen mitteilte, dass er sie mochte. Für sie allerdings schon, denn das war in ihren zwanzig Lebensjahren bisher weniger oft vorgekommen, als sie an einer Hand abzählen konnte. Wenn man von Eltern, Großeltern und Geschwistern einmal absah. Das verstand sich ja von selbst. Und dann gerade der Herr Doktor. Bei ihm war es irgendwie noch wichtiger.

»… das wissen Sie doch«, hörte sie ihn gerade noch sagen, als sie wieder aufsah. Den ersten Teil des Satzes musste sie überhört haben. Ach, herrje! Mensch Lotte, schalt sie sich innerlich, du warst mit deinen Gedanken mal wieder ganz woanders, und jetzt hast du dich selbst in eine peinliche Situation gebracht!

»Wie bitte?«, sagte sie. »Entschuldigung, ich habe Sie nicht richtig verstanden.«

»Ich sagte«, wiederholte Herr Doktor Haber und warf ihr einen freundlichen Blick zu, »dass Sie mich außerdem gern einfach Emil nennen können. Den Herrn Doktor lasse ich lieber unten in meiner Praxis, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Lotte war sich zwar nicht sicher, was er mit damit meinte, lächelte aber dennoch und nickte leicht.

»Na gut, Herr … Emil, dann machen wir es so.« Er hatte es ihr schon öfter angeboten, aber nun hatte sie ihn tatsächlich das erste Mal beim Vornamen genannten. Ihren Chef, den Herrn Doktor. Einfach so. Trotz seiner unmissverständlichen Einladung fühlte es sich dennoch ein bisschen verboten an, und zwar auf eine aufregende Art und Weise, die bewirkte, dass sich ihr die feinen blonden Härchen im Nacken aufstellten.

»Eingekauft haben Sie schon alles?«, fragte er. »Ich habe vor Herrn und Frau Jendrek schrecklich von Ihrem Wildbraten mit Knödeln geschwärmt, und ich wette, dass die beiden sich jetzt schon darauf freuen, wenn er heute Abend serviert wird.«

Er schenkte ihr ein breites Lächeln, aber Lotte hatte keinerlei Sinn dafür, weil sie das Gefühl überkam, unter ihr würde sich mit einem Mal ein großes, schwarzes Loch auftun. Das Abendessen mit seinem Kollegen und dessen Frau, natürlich! Heute Abend sollte es sein. Er hatte ihr schon vor zwei Wochen davon erzählt, und sie hatte versprochen, den Wildbraten zuzubereiten, den er so mochte. Sie hatte morgens alle erforderlichen Zutaten in der Stadt besorgen wollen, es aber völlig vergessen. Welch ein Unglück! Jetzt würde sie von Laden zu Laden hetzen müssen, um es noch irgendwie zu schaffen. Und vorher müsste sie ihm erst einmal gestehen, was passiert war.

»Ich … ich …«, stotterte sie, »ich hab nicht eingekauft. Es tut mir so leid.«

»Was?« Seine Stimme war immer noch ruhig, eher verwundert als zornig. »Aber wir hatten doch alles besprochen, Lotte. Sie wussten, dass das Essen für heute geplant war, oder nicht?«

»Ja, doch«, entgegnete sie und legte die Hände vors Gesicht. »Das stimmt alles. Und ich hatte es auch wirklich vor. Gleich heute Morgen wollte ich alles einkaufen. Aber …« Sie spürte, wie ein Schluchzen in ihrer Brust aufstieg und versuchte, es zu unterdrücken. Reiß dich zusammen, mahnte ihre innere Stimme. Fang jetzt nicht noch an zu heulen, Lotte! Du hast ihm doch für heute wirklich schon genug Ärger gemacht.

»Ich gehe sofort los«, sagte sie. »Wenn ich mich tüchtig beeile, kann ich es noch schaffen.« Lotte wollte dem Hausherrn gerade darlegen, wie sie die Läden abklappern und dann bis um sieben Uhr am Abend gekocht haben würde, als ihr Blick auf die Treppe neben ihr fiel. Die Stufen waren von Flecken und feuchten Fußabdrücken übersäht. Es war absolut undenkbar, die Wohnung in diesem Zustand Gästen zu präsentieren. Sie würde sich also erst einmal um dieses Chaos kümmern müssen, was für ihren Zeitplan bezüglich des Essens wiederum hieß …

»So ein Unglück«, murmelte Lotte, und nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Beschämt drehte sie ihm ihren Rücken zu und schluchzte ein paarmal tief. »Es tut mir so leid, Emil. Alles ist verdorben, und es ist ganz allein meine Schuld. Wenn Sie mir jetzt meine Anstellung kündigen wollen, dann ist das verständlich. Ich werde noch aufwischen, und dann sind Sie mich los.«

»Ach Gott, Lotte«, sagte er, und sie hörte, dass er zögerlich näher an sie herantrat. »Jetzt lassen Sie mal die Kirche im Dorf, ja? Am Ende des Tages sind es nur ein abgesagtes Abendessen und ein umgekippter Putzeimer. Nichts davon ist es wert, dass Sie weinen. Die Jendreks kommen einfach ein anderes Mal vorbei, und um die Treppe können wir uns auch später noch kümmern.«

»Trotzdem«, schniefte Lotte, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie er dort stand, die Hände in den Hosentaschen, und sie besorgt beobachtete. »Es ist alles meine Schuld. Ich bin heute einfach nicht ich selbst.«

Emil entgegnete zunächst nichts, sondern atmete einmal tief durch, während er von einem Fuß auf den anderen trat. Er ließ Lotte keinen Moment aus den Augen. »Es ist wegen Ihrer Brüder, oder?«, fragte er schließlich.

Lotte sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie das?«

»Nun ja«, antwortete er. »Ich bin nun mal Arzt. Wenn die Leute zu mir kommen, dann wollten sie nicht nur ihre körperlichen Gebrechen kuriert haben, sondern oft geht es ihnen auch darum, ihren seelischen Ballast loszuwerden.« Er räusperte sich und trat noch einen kleinen Schritt näher, bevor er mit gesenkter Stimme weitersprach. »Wie ich höre, gab es an den Saarbrücker Schulen eine regelrechte Euphorie, und es haben sich ganze Klassen freiwillig als Soldaten gemeldet.«

»Diese Dummköpfe!«, platzte Lotte heraus. Als ihr eine Sekunde später klar wurde, welch unüberlegte Äußerung sie da getätigt hatte, schlug sie sich ihre rechte Hand vor den Mund. »Entschuldigen Sie«, beeilte sie sich zu sagen, »ich wollte damit nicht andeuten, dass …«

»Schon gut«, unterbrach Emil sie und hob beschwichtigend die Hände. »Ich schätze, als Angehörige ist es Ihr gutes Recht, so zu denken. Mir dagegen steht kein Urteil darüber zu. Auch wenn ich wünschte, dass dieser Krieg … das alles …« Er steckte die Hände zurück in seine Hosentaschen und sah zu Boden, während er seufzte. »Das alles macht mir große Sorgen, Lotte. Gerade deshalb, weil es mir so vorkommt, als seien weite Teile der Bevölkerung richtig begeistert von der Idee, dass es nun zu einem Krieg nie da gewesenen Ausmaßes kommen könnte. Für jemanden wie mich, der sich dem Schutz und der Bewahrung des menschlichen Lebens verschrieben hat, kommt es nicht infrage, am Straßenrand zu stehen, und den blutjungen Burschen zuzujubeln, die losmarschieren, um sich in den Kugelhagel zu stürzen.«

»Dann verstehen Sie ja, was ich meine«, sagte Lotte leise. »Ich kann mich auch nicht damit abfinden, dass meine beiden kleinen Brüder in die Schlacht ziehen sollen. Was soll nur aus meiner Familie werden, wenn sie nicht wieder zurückkommen?« Sie fühlte, wie sich bei diesen Worten ein Kloß in ihrem Hals bildete. Obwohl sie diesen Gedanken in den letzten Stunden pausenlos in ihrem Kopf hin und her gewälzt hatte, hatte sie ihn erst jetzt zum ersten Mal laut ausgesprochen.

»Darüber sollten Sie nicht nachdenken«, gab Emil zurück. »Es führt nur dazu, dass Sie pausenlos aufgebracht und unglücklich sind.« Er sah erneut zu Boden und schüttelte den Kopf. Lotte fiel auf, dass an seinen Schläfen ein paar dünne graue Strähnen in seinem ansonsten dunkelbraunen Haar schimmerten. »Wenn man es sich richtig überlegt, sind diejenigen, die hier zurückbleiben, kaum besser dran. Es könnten Jahre des Bangens und des Wartens vergehen, bis ihre Liebsten heimkehren.«

»Jahre?«, fragte Lotte. »Meinen Sie wirklich?«

»Ich bin kein General«, erwiderte Emil, »und deshalb verstehe ich auch nichts von militärischen Strategien. Aber ein Krieg gegen Frankreich? Und gleichzeitig geht es noch gegen Russland und Britannien? Diese Schlachten werden nicht in ein paar Wochen geschlagen sein. Auf keinen Fall.«

Jahre des Bangens und des Wartens, wiederholte Lotte innerlich. Das war es also, was auf die Familie zukam, wenn Carl und Conrad erst einmal losgezogen waren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das durchstehen sollte, ganz zu schweigen von ihrer Mutter und ihrer Großmutter.

»Ich denke, wir haben beide genug Schwermütigkeit gehabt für heute«, sagte Emil und versuchte sich an der Andeutung eines Lächelns. »Meinen Sie nicht?« Er warf einen Blick auf die Treppe. »Wie wäre es, wenn Sie den Eimer und den Lappen in die Kammer räumen, und ich in der Zeit die Jendreks anrufe und absage? Und danach gehen wir beide in die Küche und kochen irgendetwas Schnelles, damit etwas in unsere Bäuche kommt.«

»Ich …«, setzte Lotte an und verstummte dann wieder. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Schlug der Hausherr tatsächlich vor, dass sie mit ihm gemeinsam kochte und aß? »Also werde ich nicht meine Anstellung verlieren?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Ach, aber natürlich nicht!«, rief er aus. »Fehler passieren. Denken Sie etwa, ich mache keine?« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst, während er seine Hände hinter dem Rücken verschränkte. »Ich brauche Sie doch, Lotte. Was wäre ich schließlich ohne Sie?« Er blickte sie an. »Wissen Sie denn nicht, dass Sie meine engste Vertraute sind? Sozusagen die gute Seele dieses Haushalts?«

Lotte spürte, wie ihr mit einem Mal so heiß wurde, als hätte sie Fieber bekommen. Obwohl Emil bisher immer sehr nett zu ihr gewesen war, hatte sie keine Sekunde lang geahnt, dass er sie so sah. Sie schluckte und wollte etwas erwidern, aber ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Es verging ein Moment der Stille, in dem die beiden sich nur anschauten, bevor Lotte sich umdrehte und zum letzten Mal für heute ihren Putzeimer ergriff. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt oder wenigstens leicht in die Wange gekniffen, um auszuschließen, dass sie das, was hier passierte, nur träumte.

»Ich räume eben die Sachen weg«, murmelte sie. »Dann komme ich sofort rüber in die Küche.«

»Ist gut«, entgegnete Emil, und obwohl sie ihn nicht sehen konnte, da er hinter ihr stand, hätte sie schwören können, dass ein Lächeln auf seinen Lippen lag.

Was für ein verrückter Tag, dachte Lotte. Und obwohl heute so viel schiefgegangen war, sie immer noch an ihre Brüder denken musste und die ganze Menschheit um sie herum scheinbar aus dem Gleichgewicht geraten war, schoben sich auch ihre Mundwinkel unwillkürlich nach oben. Wenigstens hier, in ihrer eigenen kleinen Welt, war vielleicht doch noch alles in Ordnung.

3

Saarbrücken, 9. August 1914Désirées Haus

LÜTTICH IM STURM GENOMMEN!

Die großen, tiefschwarzen Lettern der Schlagzeile sprangen Désirée förmlich an, als sie, wie jeden Morgen, die Tageszeitung zur Hand nahm. Sie bekam diese zwar immer um einen Tag verspätet von einem Nachbarn, wenn er sie ausgelesen hatte, aber dafür verlangte er kein Geld von ihr. So, wie sich die Nachrichten aktuell überschlugen, war sie fast froh um das bisschen Abstand, dass auf diese Weise zwischen ihr und dem Geschehen in der weiten Welt entstand.

Die Armee war also in den Westen Belgiens vorgedrungen und feierte dort erste Erfolge. Désirée zog die Titelseite mit ihrer rechten Hand glatt und fuhr dann mit dem Zeigefinger konzentriert an den dicht aufeinandergedrängten Zeilen entlang, während sie weiterlas:

Es ist klar, was dieser überragende deutsche Erfolg für den Aufmarsch der Armee bedeutet. Je rascher es uns gelingt, den Widerstand der Belgier zu brechen, desto schneller werden die Truppen weiter nach Frankreich ziehen können, wo noch größere Aufgaben auf die tapferen Soldaten warten.

Obwohl die kleine Küche an diesem Vormittag schon von den kräftigen Sonnenstrahlen aufgewärmt wurde, die durch das Fenster neben ihr fielen, überlief Désirée ein kalter Schauer. Sie schob die Zeitung von sich und trank stattdessen einen großen Schluck heißen Kaffee, während sie aus dem Fenster hinaus auf die Straße blickte.

Nun war es also wieder so weit. Das, wovor es ihr schon so lange Zeit gegraut hatte, war bittere Realität geworden: Deutsche und Franzosen zogen gegeneinander in den Krieg. Wie Désirée wusste, hatte die französische Seite vor einigen Tagen deren Oberkommando, das Grand Quartier Général, in Vitry-le-François eingerichtet, was ungefähr auf halber Strecke zwischen Saarbrücken und Paris lag. Sicher würde es nicht lange dauern, bis es in der Grenzregion zu französischen Angriffen kam.

»Guten Morgen«, hörte sie ihren Sohn Mathis sagen und wandte sich erstaunt um. Sie hatte vor lauter Grübeln gar nicht mitbekommen, wie er hereingekommen war, dabei stand er nun direkt neben dem Küchentisch, an dem sie saß.

»Dir auch einen schönen guten Morgen«, erwiderte sie, nahm die Zeitung so beiläufig wie möglich vom Tisch auf und legte sie mit der Titelseite nach unten neben sich auf einen freien Stuhl. »Na, hast du gut geschlafen? Mit so einem frühen Besuch hatte ich gar nicht gerechnet. Möchtest du vielleicht noch eine Kleinigkeit mit mir frühstücken?«

»Ach, Mama«, antwortete Mathis, und seine dunklen Augen leuchteten auf die Art und Weise auf, wie sie es immer taten, wenn er belustigt war. »Es ist doch schon nach zehn. Mein Frühstück ist gut vier Stunden her. Du weißt genau, dass meine innere Uhr mich unerbittlich im Morgengrauen aus dem Bett treibt. Aber danke.« Er verschränkte seine braun gebrannten Arme vor der Brust und nickte leicht mit dem Kopf in Richtung des Stuhls neben ihr. »Und die Zeitung kenne ich auch bereits, keine Sorge. Ich gebe bloß nicht besonders viel darauf, was diese Schreiberlinge zu sagen haben. Und das solltest du auch nicht, finde ich.«

»Na gut«, sagte Désirée, »dann setz dich trotzdem für ein paar Minuten zu mir, du rastloser Kerl. Dafür wirst du ja wohl Zeit haben, oder?« Während er sich auf dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite niederließ, besah sie sich ihren Sohn und dachte, wie so oft in diesen Tagen, darüber nach, wie unfassbar schnell die Zeit verflogen war. Etwas mehr als fünfundzwanzig Jahre war es nun her, dass sie sich von ihrer ursprünglichen Heimat verabschiedet hatte und Richtung St. Ingbert aufgebrochen war. Damals hatte sie nichts gehabt als ein wenig Erspartes, die Kleider, die sie am Leib trug, und ein uneheliches Kind, das sich darin befand. So hatte sie nach einigem Zögern an die Tür ihrer Tante Elisa geklopft und war mit einer solchen Offenheit empfangen und mit Fürsorge überhäuft worden, mit der sie niemals gerechnet hätte. Und nun wohnten die beiden schon seit mehr als zwei Jahrzehnten zusammen in diesem Haus, gleich neben ihrer Cousine Frieda, die immer dann bei der Mutter blieb, wenn Désirée aus dem Haus musste, um Besorgungen zu machen oder ein wenig Geld als Küchenhilfe zu verdienen. Oft besuchten sich die Frauen aber auch gegenseitig.

»So, jetzt sitze ich«, unterbrach Mathis ihre Gedanken. »Willst du nun auch mit mir reden, oder guckst du mich bloß an?«

Ein Lächeln huschte über Désirées Gesicht. »Nicht nur rastlos, sondern auch noch vorlaut, was? Ja, natürlich will ich mit dir reden. Erzähl mir doch mal von deinem Tag. Wie läuft es bei der Arbeit?«

»Schlecht«, entgegnete Mathis, legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit einer Hand durch sein dunkles, lockiges Haar. »Auf den Gruben geht es gerade genau so verrückt zu wie in den anderen Betrieben. Es fehlen plötzlich einfach so viele Leute, dass man die Abläufe kaum noch organisiert bekommt.«



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