Das Musikhaus an der Alster - Lied der Sterne - Katja Dörr - E-Book
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Das Musikhaus an der Alster - Lied der Sterne E-Book

Katja Dörr

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Beschreibung

Hamburg, 1909: Die Adelige Theresa von Eiben muss schon in jungen Jahren einen schweren Verlust ertragen. Ihr Verlobter ist in Berlin tödlich verunglückt. Es war ihr gemeinsamer Traum, ein Musikhaus zu errichten, aber nun ist alles anders. Um die Ländereien der Familie zu retten, soll sie einen Geschäftsmann heiraten, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubt. Kurz vor der Hochzeit erhält sie jedoch ein merkwürdiges Paket ohne Absender: Eine wertvolle Geige aus einer Berliner Manufaktur. Theresa erkennt darin ihre Chance, vor der ungewollten Ehe zu fliehen. Um herauszufinden, was es mit dem Instrument auf sich hat, reist sie mit ihrem Klavierlehrer Georg nach Berlin. Während Theresa dort den Spuren ihres verstorbenen Geliebten folgt, erkennt sie nicht, dass ihr persönliches Glück viel näher liegt, als sie ahnt ...

Der erste Band der emotionalen und mitreißenden Familiensaga um das Musikhaus an der Alster in Hamburg. Ein Lesegenuss für alle Fans von Miriam Georg, MODEHAUS HAYNBACH und GRANDHOTEL SCHWARZENBERG.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

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41.

42.

Danksagung

Leseprobe

1.

2.

3.

4.

Über die Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Hamburg, 1909: Die Adelige Theresa von Eiben muss schon in jungen Jahren einen schweren Verlust ertragen. Ihr Verlobter ist in Berlin tödlich verunglückt. Es war ihr gemeinsamer Traum, ein Musikhaus zu errichten, aber nun ist alles anders. Um die Ländereien der Familie zu retten, soll sie einen Geschäftsmann heiraten, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubt. Kurz vor der Hochzeit erhält sie jedoch ein merkwürdiges Paket ohne Absender: Eine wertvolle Geige aus einer Berliner Manufaktur. Theresa erkennt darin ihre Chance, vor der ungewollten Ehe zu fliehen. Um herauszufinden, was es mit dem Instrument auf sich hat, reist sie mit ihrem Klavierlehrer Georg nach Berlin. Während Theresa dort den Spuren ihres verstorbenen Geliebten folgt, erkennt sie nicht, dass ihr persönliches Glück viel näher liegt, als sie ahnt ...

Der erste Band der emotionalen und mitreißenden Familiensaga um das Musikhaus an der Alster in Hamburg. Ein Lesegenuss für alle Fans von Miriam Georg, Modehaus Haynbach und Grandhotel Schwarzenberg.

Katja Dörr

Das Musikhaus an der Alster – Lied der Sterne

Roman

Für meine Mutter, Ute Dörr (1961 - 2022)

1.

Hamburg-Hamm, 28. Juli 1909

Ab dem Moment, in dem Theresas Finger die vertrauten Tasten des alten Klaviers berührten, erfasste sie tief im Inneren ein Gefühl der Freiheit und der Unbeschwertheit, wie sie es schon seit Wochen vermisst hatte. Hier, in dem kleinen Zimmer im Erdgeschoss des in die Jahre gekommenen Landhauses, konnte sie tatsächlich allein sein. Im Einklang mit dem Instrument und mit sich selbst. Hier war sie weder Tochter noch Schwester, Verlobte oder Hausherrin. Sobald sie die schwere Eichentür des Musikzimmers hinter sich schloss und auf der spröden, ledernen Oberfläche des Klavierschemels Platz nahm, wurde aus ihr schlicht das Mädchen am Klavier, das exakt an diesem Ort vor knapp vierzehn Jahren seine Liebe zur Musik entdeckt hatte. Mit geschlossenen Augen ließ sie ihre schlanken Hände über die Tastatur gleiten. Instinktiv und scheinbar ohne ihr Zutun fanden ihre Finger ein Thema aus Schuberts Fantasie f-Moll. Während sie sich von der leichten, verspielten Melodie tragen ließ, genoss Theresa die Mittagssonne, die durch das große Fenster an der Südseite hereinschien. Sanft legte sich die Wärme auf ihr Gesicht und auf ihre unbedeckten Unterarme. Hier, in ihrem eigenen kleinen Reich, hatte die junge Frau es sich bequem gemacht. Die oberen Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet, und das haselnussbraune Haar fiel ihr locker über die zierlichen Schultern. Ihre nackten Füße ruhten auf den kühlen, glatten Messingpedalen. Wie sie dort an dem mit Schnitzereien verzierten Piano saß, fühlte sich die Zweiundzwanzigjährige mit allen Sinnen an ihre Kindheit erinnert. Der Klang der Saiten erfüllte den Raum mit Musik, und die Vibrationen des vollen Basses verursachten ihr eine leichte Gänsehaut. Um sie herum verschmolz das ferne Zwitschern der Amseln mit dem Geruch des Zimmers nach altem Zedernholz und vergilbten Teppichen zu einer Mischung an Sinneseindrücken, die sie unweigerlich an eine einfachere Zeit in ihrem Leben denken ließen. Damals, als Theresa noch ein kleines Mädchen gewesen war und ihre Eltern, der Graf und die Gräfin von Eiben, sich bester Gesundheit erfreuten, schien eine völlig sorgenfreie und behütete Zukunft vor ihr zu liegen. Viel zu schnell war die Kindheit dem Erwachsenwerden gewichen, und die unbeschwerten Freuden wurden von einem nicht enden wollenden Pflichtenkatalog überschattet.

Rasch schob Theresa diesen Gedanken beiseite und ging in den energischen zweiten Teil des Themas über. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass selbst diese recht schwierige Übung ihr heute gut gelang. Sogar der sonst so widerwillige kleine Finger der linken Hand lag stets dort, wo er sollte. Motiviert von diesem Erfolg, straffte Theresa ihren Rücken und atmete tief ein. Sollte sie sich heute etwa am Allegretto in Mozarts Sonate Nr. 18 D-Dur versuchen, an dem sie bisher so kläglich gescheitert war? Schließlich hatte ihr Klavierlehrer ihr erst vor Kurzem Trägheit und mangelnde Ambition vorgeworfen. Aber was wusste der schon? Sicherlich würde Theresa weniger über die schnellen Triolenbewegungen stolpern, wenn sie nicht ständig tadelnde Blicke in ihrem Nacken spüren müsste. Außerdem würde die heutige Übung nicht durch Belehrungen und Ermahnungen unterbrochen werden. Theresa schauderte es regelrecht bei der Vorstellung, bald schon wieder einer von Herrn Albers’ Lektionen in Musiktheorie unterzogen zu werden. Nur zu gern wollte die Klavierschülerin stattdessen seinen Gesichtsausdruck des Lehrers sehen, wenn sie in der nächsten Stunde fehlerfrei spielen würde. Entschlossen öffnete sie die Augen und brachte ihre Hände in die korrekte Ausgangsposition.

»Na gut«, sagte sie leise. »Wir versuchen es einfach mal.«

Gerade als Theresa zum ersten Akkord ansetzen wollte, nahm sie einen flüchtigen Schatten wahr, der über die langen weißen Gardinen zu ihrer Rechten huschte. Erschrocken hob sie die Hände von den Tasten. War dort draußen jemand? Theresa hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Es war nichts zu hören. Schon seit Jahren hatte sie niemanden mehr von der Familie hier gesehen. Ihr Bruder Wilhelm verließ nur selten das weit komfortablere Anwesen in der Stadt und machte sich ohnehin nichts aus dem alten Landhaus. Stattdessen zog er es vor, seine Tage in dem muffigen, verrauchten Arbeitszimmer im Dachgeschoss des elterlichen Stadthauses zu verbringen, bis sein Gesicht so weiß war wie die chaotischen Stapel von Bilanzen und Rechnungen, die er um sich herum auftürmte. Theresas einziger Begleiter war der Kutscher Artur, der sie hergebracht hatte. Der alte, stets etwas mürrische Bedienstete litt jedoch schon seit Jahren unter wiederkehrenden Schmerzen in den Beinen und würde folglich kaum auf dem weitläufigen Grundstück umherwandern. Für gewöhnlich ruhte er sich im Inneren der Kutsche aus, solange seine Herrin sich ihrem Klavierspiel widmete, was Letztere ihm aufgrund seines Leidens durchgehen ließ.

Mittlerweile war Theresa aufgestanden und spähte vorsichtig an den Gardinen vorbei aus dem Fenster. Weder auf dem Kiesweg, der unmittelbar vor dem Haus vorbeiführte, noch auf der dahinterliegenden Wiese waren irgendwelche Bewegungen zu erkennen. Die kleine schwarze Kutsche stand ebenfalls noch an Ort und Stelle, und die abgeschirrten Pferde wirkten entspannt. Hätte ein Eindringling diese nicht aufgescheucht? Theresa war immer noch nervös. Sollte sie sich getäuscht haben, und der Schatten war nur ein harmloser Vogel gewesen? Nein, Theresa konnte fühlen, dass etwas nicht stimmte. Dort draußen war jemand.

Langsam schloss sie die Tastenklappe des Pianos und schlich in Richtung Tür. Mit klopfendem Herzen hielt sie den Türgriff in der Hand und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Dabei biss sie sich gedankenverloren auf die Unterlippe, wie sie es schon als kleines Kind getan hatte, wenn sie angestrengt nachdachte. Plötzlich fiel ihr das Schlafzimmer im oberen Stockwerk ein. Von diesem Raum aus könnte sie den Großteil des vorderen Anwesens überblicken. Falls sie nichts entdeckte, würde sie schnell hinaus zur Kutsche laufen und sich heimfahren lassen. Dort angekommen, würde sie den kräftigen Stallknecht anweisen, sich umgehend zum Landhaus zu begeben und gründlich nach Eindringlingen Ausschau zu halten.

Mittlerweile war Theresas Anspannung einer tiefen Enttäuschung darüber gewichen, ihr Klavierspiel viel früher als erwartet aufgeben und in ihren grauen Alltag zurückkehren zu müssen. Ärgerlich knöpfte sie ihre Bluse zu, schloss den steifen Kragen, steckte ihre Frisur zu einem ordentlichen Knoten hoch und schlüpfte in ihre Strümpfe und Schuhe. Sehnsüchtig warf sie einen letzten Blick auf das alte Piano und wandte sich dann zum Gehen. In diesem Moment hörte Theresa, wie die schwere Eingangstür mit einem lauten Ächzen aufgedrückt wurde, und sie erstarrte vor Schreck. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie drückte sich an die Wand hinter ihr. Nun konnte sie auch schon schwere Schritte im Flur hören. Das energische Klackern von Schuhsohlen auf den ausgedörrten Dielenbrettern wurde stetig lauter.

Er kommt näher.

Die Gedanken rasten durch Theresas Kopf, und ihr Puls hämmerte so laut in ihren Schläfen, dass sie ihn fast hören konnte.

Oh Gott, ich glaube, er kommt hierher.

Tatsächlich wurde das Geräusch der Schritte immer lauter, und ein leises Husten des mutmaßlichen Einbrechers verriet Theresa, dass er schon fast auf der Höhe des angrenzenden Kaminzimmers angekommen sein musste.

Lauf weg. Du musst hier raus!

Hektisch sah sie sich in dem kleinen Raum um, doch sie wusste, dass nur diese eine Tür hinausführte. Um die Fenster zu öffnen und hindurchzuklettern blieb keine Zeit mehr, selbst wenn dieses Kunststück mit dem langen, schweren Wollkleid überhaupt zu bewerkstelligen gewesen wäre. Kurz kam ihr der Gedanke, das Klavier vor die Tür zu schieben, doch dieses wog mit Sicherheit weitaus mehr, als ihre Kräfte hergaben. Theresas Blick fiel auf den massiven, gusseisernen Kerzenständer, der neben dem Instrument stand. Ihn hatte sie Anfang des Jahres an einem düsteren Wintermorgen aus dem Kaminzimmer geholt, um ein wenig Licht zu haben. Kurz entschlossen packte sie das untere Ende der improvisierten Waffe und stellte sich in drei Schritten Entfernung von der Tür auf. Sie hatte in ihrem Leben noch nie Gewalt anwenden müssen, aber wenn es sein müsste, würde sie so hart zuschlagen, wie sie konnte.

Theresa hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Anscheinend war der Eindringling stehen geblieben, denn es waren plötzlich keine Schritte mehr zu hören.

»Hallo? Guten Tag. Ist hier jemand?«

Der ruhige, freundliche Klang der Stimme überraschte sie und kam ihr zugleich irgendwie bekannt vor. Unsicher ließ sie den schweren Kerzenständer in ihrer Hand sinken, gab jedoch keine Antwort.

»Ist irgendjemand zu Hause?«, erkundigte sich die Stimme nochmals, worauf erneut Schritte in Richtung des Musikzimmers zu hören waren.

»Dies ist Privatbesitz!«, platzte es aus Theresa heraus. »Verschwinden Sie sofort, oder ich lasse Sie wegen Einbruchs verhaften!«

Sie hatte energisch und bedrohlich klingen wollen, doch ihre Stimme überschlug sich, sodass ihre Worte zu einem schrillen Quietschen verzerrt wurden.

»Fräulein von Eiben?« Die Stimme klang immer noch freundlich, jedoch etwas verunsichert.

»Verschwinden Sie! Ich sage es nicht noch einmal. Sie unverschämter Mensch!«

Theresa hob den Kerzenständer wieder höher und bewegte sich dabei einen Schritt auf die Tür zu.

Die Person, die jetzt offenbar am Ende des Flurs und damit unmittelbar vor dem Eingang des Musikzimmers angekommen war, räusperte sich.

»Gnädiges Fräulein, ich bitte Sie. Wir kennen uns. Mein Name ist Bruno Dreyer. Mir gehört die Papierfabrik Dreyer in Altona. Ich glaube ...« Dreyer schien einen Moment lang zu überlegen. »Ich glaube, wir haben uns vor einigen Monaten einmal bei einem Empfang Ihres werten Herrn Bruders kennengelernt.«

Theresa entspannte sich etwas, während die Erinnerung sich langsam einstellte. Ja, die Stimme gehörte zweifellos zu Herrn Dreyer. Tatsächlich hatte Theresa sich zuletzt erst vor einigen Monaten bei einem Theaterbesuch flüchtig mit dem Mann unterhalten. Ihr Bruder Wilhelm war ebenfalls zugegen gewesen. Bruno Dreyer war ein etwas kleinerer, ziemlich untersetzter Herr mit Halbglatze. Er litt unter hohem Blutdruck und hatte daher ein rundes, meist rot angelaufenes Gesicht. Auf der großen, etwas schief geratenen Nase saß eine altmodische Brille mit dicken Gläsern, durch die dem Gegenüber freundliche, dunkle Augen entgegenstrahlten. Theresa schätzte, dass Dreyer mindestens fünfzig Jahre alt sein musste. Vielleicht war er sogar noch älter. Der fleißige Geschäftsmann hatte sein Geschäft stetig erweitert und schließlich vor einigen Jahren die Papierfabrik aufgebaut, wodurch er endgültig in den Kreis des neureichen Bürgertums aufgestiegen war. Diese moderne Art des Reichtums betrachteten die Mitglieder traditioneller Adelsfamilien, wie zum Beispiel Wilhelm von Eiben, im Allgemeinen mit gemischten Gefühlen. Man machte mit den Leuten Geschäfte, soweit es profitabel schien, und ließ sich von Ihnen in teure Restaurants einladen. Wo immer es möglich war, blieb man jedoch lieber unter seinesgleichen. Theresa beruhigte sich etwas und fand zugleich neuen Mut. Was fiel dem Mann ein, sich ungebeten Zugang zum Haus zu verschaffen und sie hier derart zu überfallen?

»Herr Dreyer«, sagte sie betont nüchtern, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür zwischen sich und dem ungebetenen Besucher zu öffnen. »Falls Sie mit meinem Bruder sprechen möchten, muss ich Sie enttäuschen, denn er ist nicht hier. Sicher gibt er Ihnen aber gern einen Termin. So wird es allemal besser sein, als hier herumzuschleichen und mich halb zu Tode zu erschrecken. Das ist wirklich keine Art, einfach in anderer Leute Häuser hineinzuspazieren. Ich muss mich über Ihre fehlenden Manieren doch sehr wundern.«

Theresa war froh, ihre Beherrschung wiedergefunden zu haben, was es ihr ermöglichte, Dreyers unverschämtes Verhalten gebührend zu rügen. Sie stellte den Kerzenständer neben der Tür ab und wartete darauf, dass sie hören würde, wie der unerwünschte Gast das Weite suchte. Stattdessen vernahm sie erneut ein leises Husten, dann setzte der ältere Herr zu einer Erklärung an.

»Nun, Fräulein von Eiben. Es tut mir furchtbar leid, Sie erschreckt zu haben. Das war keinesfalls meine Absicht, und ich bitte höflichst um Entschuldigung. Aber ...«, er zögerte, »hat Ihr Bruder denn nicht mit Ihnen über unsere Abmachung gesprochen?«

Jetzt wurde Theresa erst recht wütend. Wie deutlich musste Sie Dreyer noch sagen, dass er hier unerwünscht war?

»Nein, das hat er nicht. Mein Bruder weiht mich für gewöhnlich nicht in seine Geschäfte ein. Offen gesagt interessieren mich diese auch nicht besonders. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.«

»Nun, gnädiges Fräulein.« Dreyer atmete hörbar tief ein. »Dieses hier interessiert Sie vielleicht schon, denn seit gestern gehört das Anwesen mir.«

Theresa fühlte, wie ihr Herz mit einem Ruck bis in ihren Bauch absackte, wo sich ein unangenehmes Brennen ausbreitete. Ein prickelndes Gefühl der Taubheit kroch von unten an ihren Oberschenkeln entlang, sodass sie für einen Moment dachte, ihre Beine würden unter ihr nachgeben.

»Was?«, presste Sie hervor. Ihre rechte Hand tastete nach der rauen Holzvertäfelung hinter ihr, als müsse sie sich vergewissern, dass sie nicht aus der Realität herausgefallen war. Theresa hatte schlagartig das Gefühl, als schnüre sich ihr Hals zu. Sie atmete in kurzen, heftigen Zügen.

»Ich dachte natürlich, Sie wüssten Bescheid, Fräulein von Eiben. Sonst hätte ich ...« Weiter kam Dreyer nicht, denn Theresa hatte ihre Stimme wiedergefunden.

»Das konnte mein Bruder nicht ohne mich entscheiden. Und ich stimme dem nicht zu.«

Mit aller Macht versuchte Theresa, ihre Fassung zu wahren. Sie zwang sich, langsamer zu atmen, um ihre Stimme halbwegs kontrollieren zu können.

»Hören Sie? Ich stimme dem nicht zu!«, wiederholte sie laut.

Obwohl sie alles versucht hatte, um sich zu beherrschen, brüllte Theresa ihre ganze Wut nun dem unsichtbaren Gegenüber auf der anderen Seite der Tür entgegen. Doch selbst dieser unbändige Gefühlsausbruch brachte ihr keine Erleichterung, sondern schien nur noch mehr Ärger an die Oberfläche zu spülen.

»Dies ist mein Haus«, fauchte sie und schlug die rechte Faust im Rhythmus der letzten beiden Worte gegen das massive Türblatt.

»Und jetzt hauen Sie ab, bevor ich Ihnen Beine mache, verflixt noch eins!«

Endlich war das Geräusch sich rasch entfernender Schritte zu hören. Bruno Dreyer hatte es offensichtlich aufgegeben, eilte aus dem Haus und lief über den Kiesweg davon.

Erst als es wieder ganz still um sie herum war, holte Theresa tief Luft und ließ sich an der Wand entlang auf den abgewetzten Dielenboden sinken. Das Brennen in ihrem Inneren durchzog mittlerweile den gesamten Oberkörper und erfüllte ihren Mund mit einem schalen, metallischen Geschmack. Ihr Herz hämmerte jedoch wie eine Dampfmaschine.

Wilhelm von Eiben, dachte Theresa, während sie erschöpft die Augen schloss. Wenn du das wirklich getan hast, werde ich es dir niemals im Leben verzeihen.

2.

Hamburg-Harvestehude, 29. Juli 1909

Pünktlich um halb zehn Uhr schallte das schwerfällige metallische Läuten der drei Bronzeglocken von St. Johannis durch Harvestehude. Gegen den hellblauen Morgenhimmel zeichneten sich bereits unbarmherzig helle Sonnenstrahlen ab, die nur noch schwach von den verbliebenen Wolkenfetzen gebrochen wurden. Zweifellos würde die gesamte Stadt schon in wenigen Stunden unter der lähmenden Mittagshitze brüten, die bereits die vorigen beiden Tage beherrscht hatte. Während man auf den Straßen nur hier und da den langen Schatten eines vereinzelten Fußgängers ausmachen konnte, war die Kirche bereits äußerst gut besucht. Ihre massiven Mauern strahlten eine allumfassende Ruhe aus, und die kühle Luft im Innern des Kirchenschiffs roch schwach nach dem spröden Papier der alten Gesangbücher und kaltem Kerzenwachs. Die letzten Neuankömmlinge hasteten gerade den Mittelgang entlang über den glatten Terrazzoboden, um zügig zu einem freien Platz zu gelangen. Andächtig und mit gesenkten Köpfen erwarteten die übrigen Anwesenden derweil auf den klobigen dunklen Bänken den Beginn des Gottesdienstes. Lediglich vereinzelt tuschelten ein paar Damen, die hinter dem Schutz ihrer schwarzen, breitkrempigen Hüte und der eleganten, ebenso schwarzen Handschuhe noch schnell den neuesten Klatsch und Tratsch der Hafenstadt austauschten.

Ungeduldig sah sich Theresa noch einmal in den langen Sitzreihen um. Es waren eine ganze Menge Leute zum Jahresgedächtnis ihrer Eltern erschienen, sodass fast alle verfügbaren Plätze besetzt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges konnte sie den Bürgermeister samt Gemahlin ausmachen. Zu deren Rechten saßen einige Mitglieder des Stadtrats, die Theresa nur flüchtig kannte. Als ihr Blick nach hinten über die Empore schweifte, nahm sie den hochgewachsenen, gut gekleideten Mann wahr, der sich gerade an der Orgel einrichtete. Er trug einen eleganten schwarzen Zweiteiler und hatte sein dunkelblondes Haar fein säuberlich nach hinten gebürstet. Aufgrund der Entfernung konnte Theresa sein Gesicht nicht richtig erkennen, aber es schien sich um einen attraktiven Herrn mittleren Alters zu handeln. Während sie sich noch fragte, was wohl aus dem vorigen Organisten, dem schwerhörigen alten Herrn Eggers, geworden war, hörte sie hastige Schritte näher kommen. Wilhelm! Als sie sich erwartungsvoll umdrehte, musste sie jedoch feststellen, dass es Marga Schumacher war, die Haushälterin der Familie. Sie nickte Theresa knapp und pflichtbewusst zu und verschwand dann in der dritten Bankreihe. Im Schlepptau hatte sie ihre Enkelin Gerda, die seit Kurzem ebenfalls im Dienst der Familie von Eiben stand. Das zierliche blonde Mädchen musste fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, wirkte jedoch, klein und scheu, wie es war, noch sehr wie ein Kind.

Offenbar waren nun sämtliche Plätze belegt. Nur unmittelbar links neben Theresa, in der ersten Reihe, saß niemand. Typisch. Es sah ihrem drei Jahre älteren Bruder Wilhelm ähnlich, nicht einmal zu diesem Ereignis pünktlich zu erscheinen, damit er Theresa zur Seite stehen könnte. Schon damals, bei der Beerdigung, war er erst in letzter Sekunde auf den verregneten Friedhof gehastet, um sich dem Zug der Trauernden anzuschließen.

Theresa fühlte, wie die Erinnerung an diesen Tag ihr Herz schwer werden ließ. Der Tod der Eltern hatte ihr junges Leben entzweigeschnitten wie ein Fallbeil, sodass es für sie seither nur noch das Davor und das Danach gab. Meist schien es Theresa so, als wäre sie selbst in ein anderes Leben übergegangen, das nur noch eine verblasste Kopie des alten war. Eleonore von Eiben war nach kurzer Krankheit in einer gewittrigen Sommernacht in ihrem Bett entschlafen. Bleich und völlig abgezehrt, glich sie sich kaum noch selbst. Die Ärzte hatten den heftigen, erbarmungslosen Verfall, den die Erkrankung mit sich brachte, als »galoppierende Schwindsucht« bezeichnet. Karl August von Eiben, der den Anblick der Toten nicht ertragen konnte, war am späten Abend aus dem Familienanwesen geeilt. Am nächsten Morgen fand man ihn in einer kleinen Gartenlaube am westlichen Ende des weitläufigen Grundstücks. Laut dem Bericht, den sein Arzt, Dr. Carl Fincke, einige Tage später anfertigte, hatte sich beim Reinigen seines Jagdgewehrs ein Schuss gelöst, der zum sofortigen Tod des Patriarchen führte. Eine nüchterne, würdevolle Erklärung, die jedoch für Theresa keinen Augenblick lang Zweifel an der schrecklichen Wahrheit ließ. Jedenfalls hatte die völlig schockierte Tochter so innerhalb nur weniger Stunden beide Eltern verloren.

Gedankenverloren nahm Theresa eine Bewegung unmittelbar neben sich war. Wilhelm war endlich gekommen. Doch er war nicht allein, sondern wurde von einer etwas kräftigen jungen Dame begleitet, deren störrische dunkelblonde Locken unter ihrem schwarzen Häubchen hervorquollen. Erst als diese sich auf eine einladende Handbewegung von Wilhelm hin unmittelbar neben Theresa setzte und ihr ein zurückhaltendes Lächeln schenkte, ging ihr ein Licht auf: natürlich! Das rundliche Gesicht. Die großen, hellblauen Augen. Wilhelm hatte ihre Cousine Margarethe dazu überredet, sich zu ihm in die erste Bank zu setzen. Er nickte Theresa nur knapp zu und schaute dann stur nach vorn.

Was für eine elegante Lösung, dachte sie, du missbrauchst das arme Mädchen als Puffer zwischen uns. Elender Feigling.

Demonstrativ betrachtete Theresa die linke, ihr zugewandte Seite von Wilhelms Hinterkopf. Sie hoffte insgeheim, dass ihre Augen eine Art Hitzestrahl aussenden könnten, der ihn dazu zwingen würde, sie anzusehen.

Sieh her, du Verräter. Sieh mir ins Gesicht, und sag mir, dass du mir mein Haus genommen, mich meiner Festung, meines einzigen Zufluchtsorts auf der Welt beraubt hast.

»Hübsch siehst du aus, Cousine«, flüsterte Margarethe und legte sanft ihre linke Hand auf Theresas Knie, während sie immer noch lächelte. »Wir haben uns ja schon so lange nicht gesprochen, du und ich.«

Theresa sah immer noch zu Wilhelm.

»Ja, das stimmt«, murmelte sie geistesabwesend.

»Wilhelm sagte mir eben, dass du bald deinen Verlobten heiraten wirst. Wie aufregend! Herzlichen Glückwunsch!« Vor lauter Begeisterung hielt Margarethe sich die Hand vor die vollen Lippen, während ihr Lächeln zu einem breiten Grinsen wurde. »Wann ist es denn so weit?«

Theresas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und ihre Fingernägel gruben sich in das kalte Holz der Bank unter ihr. Sie spürte, dass Wilhelm sie immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtete, um dann blitzschnell wieder wegzusehen.

Ganz richtig, dachte Theresa. Ich bin hier, und du wirst mir nicht ewig aus dem Weg gehen können, selbst wenn du dich bis zum Tag des Jüngsten Gerichts in deinem Arbeitszimmer verkriechst, und mich nicht hineinlässt.

»Theresa?«, flüsterte Margarethe besorgt. »Geht es dir nicht gut?«

Theresa öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nein, es ging ihr nicht gut. Wie hätte es ihr gut gehen können, die Eltern verstorben und mit einem Esel von Bruder, der sie schlichtweg ignorierte? Wie könnte sie jetzt, ohne das Landhaus, noch einen Moment Ruhe vor dem Lärm und den Anstrengungen des Stadtlebens finden? In diesem Moment blitzte in ihrem Bewusstsein ein schrecklicher Gedanke auf: das Piano! Was, wenn der alte Dreyer nichts damit anzufangen wüsste und es einfach achtlos verkommen ließe? Er mochte neuerdings schwerreich sein, aber im Inneren blieb er doch ein gewöhnlicher Bauer. Ein Mann von solch gewöhnlicher Herkunft wäre am Ende noch imstande, das wertvolle Instrument als Brennholz zu verwenden.

Der bloße Gedanke daran, wie dieser Rüpel Hand an ihren Besitz legte, machte Theresa so rasend, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht vor lauter Wut loszuschreien. Sie umklammerte die Bank noch fester, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Erst jetzt registrierte Theresa, dass der fragende Blick ihrer Cousine immer noch auf ihr ruhte. Sie atmete tief ein und setzte nochmals zu sprechen an, als sich mit einem Mal alle Anwesenden Trauergäste raschelnd und polternd von ihren Plätzen erhoben. Der Gottesdienst begann. Schnell warf Wilhelm noch einen vermeintlich unauffälligen Blick zu seiner Schwester hinüber und fixierte dann den Inhalt seines Gesangbuches, als sei dieser das Spannendste, was er je zu lesen bekommen hätte. Auch Margarethe widmete ihre Aufmerksamkeit nun ganz dem Geschehen am Altar.

»Am Ende wirst du mir Rede und Antwort stehen müssen«, flüsterte Theresa kaum hörbar. »Das ist sicher. So sicher wie das Amen in der Kirche.«

Kaum, dass der letzte Segen gesprochen war, sprang Wilhelm auf. Die arme Margarethe würdigte er keines Blickes mehr, sondern marschierte stattdessen zielstrebig auf den Seitenausgang zu und ignorierte dabei sämtliche Höflichkeiten und Beileidsbekundungen der vorbeiziehenden Gäste. Theresa, die damit gerechnet hatte, wünschte ihrer etwas verwirrten Cousine höflich eine gute Heimreise und eilte dann ihrerseits in Richtung des Hauptportals.

Kurz vor der rettenden Kutsche, die auf Wilhelm wartete, schnitt sie ihm mit einem entschlossenen Schritt den Weg ab. Wilhelm, der stur auf den Boden schaute, stolperte, hielt sich mit Mühe im Gleichgewicht und starrte seine Schwester mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen an.

Theresa zuckte innerlich zusammen. Jetzt, wo sie ihn aus unmittelbarer Nähe und bei Tageslicht vor sich sah, gab er ein noch besorgniserregenderes Bild ab als sonst: Seine Haut war bleich und wirkte seltsam wächsern, während sich unter seinen glasigen Augen dunkle Schatten abzeichneten. Das fettige dunkle Haar schien in den letzten Wochen noch schütterer geworden zu sein. An den Schläfen begann es bereits zu ergrauen. Außerdem hatte Wilhelm sichtlich abgenommen. Sein schwarzes Hemd, das sich knapp unter seinem dünnen Hals mit dem nervös zuckenden Adamsapfel schloss, hing an dem gebeugten mageren Oberkörper herunter. Er sah mit seinen knapp fünfundzwanzig Jahren fast doppelt so alt aus, wie er tatsächlich war. Sein Blick zeugte von tiefem Unbehagen.

»Theresa, ich muss ...«

»Du musst mir dringend erklären, was passiert ist«, unterbrach sie ihn sanft, aber bestimmt. »Und am liebsten wäre es mir, du fängst damit an, dass der alte Dreyer verrückt geworden ist, weil er meint, er wäre plötzlich Eigentümer unseres Landguts.«

Wilhelm seufzte, trat ein Stück zurück und rieb sich gereizt die grauen Bartstoppeln. Doch Theresa fuhr ungerührt fort.

»Eines Landhauses, das sich seit seiner Errichtung vor fast einhundertfünfzig Jahren im Familienbesitz befindet. Eines Anwesens, um das ganz Hamburg uns wegen seiner Eleganz und seiner einmaligen Lage seit jeher beneidet.«

Wilhelm hatte ein seidenes Taschentuch aus seinem Jackett gefischt und wischte die Schweißperlen von der Stirn. Dann straffte er die Schultern und sah Theresa in die Augen.

»Herr Dreyer ist ganz sicher nicht verrückt«, gab er zurück, »und ich wünsche nicht, dass du so über einen meiner Geschäftspartner sprichst. Er hat mir das Gut zu einem sehr vernünftigen Preis abgekauft.« Wilhelm stopfte das Tuch unachtsam zurück in seine Tasche. »Außerdem hat er mir auch von eurer Begegnung erzählt und dass du dich dabei völlig hysterisch aufgeführt hast.«

Theresa spürte, wie langsam derselbe Zorn in ihr aufkeimte, den sie schon bei der besagten Begegnung empfunden hatte. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Bruder sich entschuldigte, aber sie würde es nicht hinnehmen, sich auch noch beleidigen zu lassen. Herausfordernd sah sie Wilhelm an.

»Aber warum? Wie kommst du dazu, einfach so das gesamte Anwesen zu verkaufen?«

»Wie ich dazu komme?«, blaffte Wilhelm. Theresa beobachtete, wie sich die Muskeln in seinem Hals anspannten, während die Fältchen auf seiner Stirn zu tiefen Furchen wurden. »Wie kommst du dazu, dich in meine Angelegenheiten einzumischen? Was erlaubst du dir eigentlich?«

Theresa wollte Einspruch erheben, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Wenn du vor knapp anderthalb Jahren auf mich gehört hättest, würden wir jetzt wahrscheinlich gar nicht in diesem Schlamassel stecken.«

»Was soll das nun wieder heißen?«, fragte sie gereizt.

»Das soll heißen, dass du die Chance deines Lebens vertan hast, du dumme Gans!« Wilhelm trat mit erhobenen Armen einen Schritt auf Theresa zu. Kurz glaubte sie, er würde sie gleich von beiden Seiten am Kopf packen und schütteln. Er hatte seine Stimme erhoben, sodass sich nun einige Umstehende nach den streitenden Geschwistern umdrehten. Wie um sich selbst zu beruhigen, faltete Wilhelm seine Hände und sprach gepresst weiter.

»Walter Hansen. Der älteste Sohn der Klavierbauer. Zwar ohne Stand und Titel, aber mit exzellenter Reputation und einem gewaltigen Erbe, das bereits auf ihn wartet. Sein Vater und ich waren uns so gut wie einig, was die Verbindung betraf. Er wäre mir sogar diskret wegen der Mitgift entgegengekommen. Und was tust du? Treibst dich mit seinem jüngeren Bruder herum und machst mich vor aller Welt lächerlich.«

Theresa kochte nun endgültig vor Wut und ging ihrerseits noch einen halben Schritt nach vorne, bis sich ihr eigenes und Wilhelms Gesicht fast berührten.

»Jakob und ich treiben uns nicht herum. Er hat mir damals einen Antrag gemacht, und, wie du weißt, sind wir mittlerweile seit fast einem Jahr verlobt.«

»Wie schön für euch«, gab Wilhelm bitter zurück. »Und während ihr euer Liebesglück genießt, muss ich mich im Alleingang darum kümmern, dass ...« Er stockte und sah wieder zu Boden. Nervös rieb er die knochigen Hände aneinander.

Worum musst du dich kümmern?, wollte Theresa fragen. Was frisst dich innerlich dermaßen auf, Bruder? Doch sie kam nicht dazu.

»Wie auch immer«, schnaubte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Der alte Kasten ist jedenfalls verkauft. Und jetzt brauche ich Ruhe und ein Glas Cognac, und zwar dringend.«

Mit diesen Worten signalisierte er dem Kutscher, der immer noch hinter Theresa wartete, dass er bereit zur Abfahrt wäre.

»Unsere Eltern sind tot, Schwesterherz«, raunte Wilhelm im Vorbeigehen. »Tragisch, aber es macht mich zum Oberhaupt der Familie. Und ich will verdammt sein, wenn ich mir von einer vorlauten Göre wie dir irgendwelche Frechheiten gefallen lasse.«

Entsetzt über diese harten Worte und der Gefühlskälte, mit der ihr Bruder sie ausgesprochen hatte, blieb Theresa schweigend auf dem Vorplatz der Kirche zurück. Dieser verbitterte, zynische Mann hatte rein gar nichts mehr mit dem schüchternen Jungen gemein, an den sie sich liebevoll erinnerte. Der große Bruder, zu dem Theresa aufgeblickt und dessen Schutz sie in den Jahren der Kindheit gesucht hatte, war zusammen mit den Eltern verschwunden. Sie spürte, wie sich eine große graue Wolke vor die Sonne schob. Kurz danach begann es zu regnen.

3.

Hamburg-Harvestehude, 30. Juli 1909

»Das hat er wirklich gesagt?«, fragte Jakob, nachdem seine Verlobte ihm von ihrem Streit mit Wilhelm erzählt hatte.

»Genau das«, bestätigte Theresa, die in ihrer Erzählung allerdings bewusst den Teil ausgespart hatte, in dem Wilhelm sie dafür gescholten hatte, dass sie ungefähr anderthalb Jahre zuvor eine Verlobung mit Jakobs Bruder Walter ausgeschlagen hatte.

Das Paar unternahm gerade einen seiner geliebten Spaziergänge entlang des Fährdamms. Das Wetter zeigte sich an diesem Freitagnachmittag deutlich milder als zu Beginn der Woche, und dunkle Wolkenvorhänge, die aus Richtung Nordwesten die Elbe hinaufzogen, ließen ein abendliches Gewitter befürchten. Dennoch hätte man meinen können, die halbe Stadt sei entlang des Damms unterwegs. Junge Mütter in sommerlichen Kleidern schoben Seite an Seite ihre Kinderwagen an alten Herren vorbei, die auf einer der zahlreichen Bänke die Tageszeitung lasen oder versonnen die kleinen Fähren beobachteten, die regelmäßig die Außenalster zwischen Harvestehude und Uhlenhorst überquerten. Das Lachen der Kinder unter den großen knorrigen Bäumen, die den Weg direkt am Ufer des Flusses säumten, war weithin zu hören.

»Ich mache mir, ehrlich gesagt, Sorgen um deinen Bruder«, sagte Jakob, und Theresa konnte sehen, wie dieser Gedanke seine sonst so unbekümmerte, offene Miene trübte. Wie immer in der heißen Jahreszeit war Jakobs Haut im Gesicht und an seinen Unterarmen karamellbraun geworden, während sein gewöhnlich dunkelblondes Haar die Farbe von frischem Stroh annahm. Auf seinem markanten Kinn wuchsen einige rotblonde Bartstoppeln, die in Kontrast zu seinen tiefblauen Augen standen. Es sah ihm ähnlich, sich über Menschen Gedanken zu machen, denen er seinerseits völlig gleichgültig war.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum mich das so überrascht«, sagte Theresa. »Wilhelm war noch nie ...«, sie suchte nach dem richtigen Wort. »Er war schon immer sehr nüchtern in seinem Handeln. Er hängt einfach nicht an Dingen und hält sich geschäftlich nicht mit Sentimentalitäten auf.«

Jakob nickte nur stumm und sah hinaus auf den Fluss.

»Trotzdem hat es mich getroffen, wie kalt er war«, fuhr Theresa fort. »Es kam mir so vor, als wäre ich ein einziges Ärgernis für ihn. Wie ein kleines Kind, das man dafür ausschimpft, dass es im Weg herumsteht. Und dieser Blick. Er ist so voller Groll gegen mich.«

Jakob schüttelte entschieden den Kopf und nahm Theresas Hand.

»Nein«, sagte er, »dich hat er seinen Schmerz und seinen Zorn nur spüren lassen, weil du ihm die Stirn geboten hast. Ich glaube, dass dein Bruder sehr wohl zu sentimentalen Gefühlen fähig ist. Er geht nur völlig anders damit um als du.«

Theresa dachte an die gemeinsame Kindheit mit Wilhelm zurück. Ihr Vater war mit seinen breiten Schultern und seiner donnernden Stimme so völlig anders gewesen als der zierliche Sohn mit den großen traurigen Augen. Von Anfang an hatte dem Sprössling der Makel angehaftet, zu sanft und zu schwach zu sein. Und Wilhelm hatte sein Leben lang dagegen angekämpft, bis er schließlich seine ganz eigene Art der Stärke fand.

»Dein Bruder hat so etwas wie eine unsichtbare Festung um sich herum aufgebaut«, fuhr Jakob fort, als würde er Theresas Gedankengang aufnehmen. »Der Tod eurer Eltern, die Trauer, die Sorgen. All das konnte er nur ertragen, indem er sich mehr und mehr abgeschottet hat. Von dir und in gewisser Weise auch von sich selbst. Ich glaube, er braucht einfach noch Zeit, um mit all dem fertig zu werden.«

Theresa legte dankbar ihren Kopf an Jakobs Schulter, während sie weitergingen. Er hatte recht und fand wie immer die richtigen Worte. Jetzt tat ihr Wilhelm tatsächlich leid, und sie wünschte sich, ihm helfen zu können. Aber würde er ihr jemals zuhören? In den letzten Wochen hatte sie ihn nur ein oder zwei Mal zu Gesicht bekommen. Außerdem war da noch die Trinkerei. Theresa hatte den Eindruck, dass Wilhelm sich mittlerweile täglich Wein und Cognac bringen ließ. Sie selbst hatte noch nie Alkohol zu sich genommen, aber sie wusste, dass er für viele Menschen ein Mittel war, um ihre inneren Dämonen zum Schweigen zu bringen.

Jakob blieb stehen und nahm auch Theresas andere Hand. Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Und außerdem«, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr, »werde ich dir schon bald ein neues Landhaus bauen. Eines, das nur uns beiden gehört. Es wird absolut prächtig sein. Und es soll in jedem einzelnen Zimmer ein Piano haben. Was sagst du dazu?«

»Auch im Schlafzimmer?«, fragte Theresa gespielt unschuldig, konnte jedoch ein Kichern nicht unterdrücken.

»Auch dort«, erwiderte Jakob und küsste sie auf die Wange. »Aber nur, wenn du dann nicht vergisst, dass ich auch noch da bin.«

Theresa konnte regelrecht fühlen, wie sich die unsichtbaren Fesseln lösten, die ihr seit Tagen die Brust einschnürten und ihr das Herz schwer machten. Ja, es war Zeit, den Blick nach vorn zu richten. Zeit, an die Zukunft zu denken. Eine gemeinsame Zukunft mit Jakob. Wie hatte sie ihn vermisst, weil er nur noch arbeitete. Die Nähe zu ihm, sein Lächeln und seine unerschütterliche Zuversicht waren wahrlich der Schlüssel zu ihrem Glück.

»Wird unser Musikhaus denn so viel Geld abwerfen?«, wollte Theresa wissen. Die beiden hatten über das Thema schon seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen, obgleich Theresa wusste, dass Jakob jede wache Minute damit zubrachte, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

»Natürlich«, gab er zurück und hob mit übertriebener Dramatik den Zeigefinger. »Das Musikhaus Hansen wird in dieser schönen Stadt die erste Adresse in Sachen Musik sein. Jung, modern und so effizient wie eine kleine Fabrik. Man wird uns die Instrumente schneller aus der Hand reißen, als meine drei Brüder sie gemeinsam bauen können.«

Theresa schmiegte sich an Jakobs Brust, während er an einem Geländer am Ufer lehnte. Wie sehr er sich doch von Wilhelm unterschied. Ihrem Bruder standen als ältestem Sohn einer angesehenen Adelsfamilie alle Türen im Leben offen, und doch trieb ihn jeder Rückschlag in die Verzweiflung. Jakob dagegen hatte als jüngster von vier Nachkommen wenig von seinen Eltern zu erwarten. Sein Vater Paul würde das Familienunternehmen, die Klaviermanufaktur Hansen, so wie es seit jeher Tradition war, dem ältesten Sohn Walter übergeben. Mit seiner stämmigen Statur, dem breiten Kreuz und den riesigen, schwieligen Händen war Walter das Ebenbild seines Vaters. Beide waren Männer der Tat, denen kein Wort zu viel über die Lippen kam. Die Familie schätzte Bescheidenheit und harte Arbeit, welche die Grundpfeiler ihres stetigen Aufstiegs von einfachen Schreinern zu wohlhabenden Bürgern bildeten. Jakob dagegen war der geborene Kaufmann. Er war stets aufmerksam, blitzgescheit und konnte mit seinem einnehmenden Wesen die Menschen in kürzester Zeit für sich gewinnen. Da ihm aus familiären Gründen natürlich dennoch die Musik und der Klavierbau im Blut lagen, hatte er sich dazu entschieden, mit exklusiven Instrumenten zu handeln.

»Übrigens, mein Schatz«, sagte er und wirkte wieder ernster, »dazu wollte ich noch etwas mit dir besprechen.«

Ein seltsames Gefühl regte sich in Theresas Magengrube. Unbewusst drückte sie ihren Kopf etwas fester an Jakobs Oberkörper.

»Du weißt doch, dass ich einigen Leuten von der Gründung des Musikhauses erzählt habe. «

»Einigen Leuten, wie?«, sagte Theresa. »Ich frage mich, wann du zuletzt von etwas anderem gesprochen hast, mein Lieber. Du trägst ja sogar deine Pläne Tag und Nacht mit dir herum. Es würde mich nicht wundern, wenn du sie dir auch noch unter dein Kopfkissen legst, während du schläfst.« Theresa bemühte sich zwar, den lockeren Ton der Unterhaltung beizubehalten, doch ihre Anspannung wuchs. Sie spürte ein leichtes Prickeln in den Fingerspitzen.

»Erwischt«, sagte Jakob, blieb jedoch bei seinem sachlichen Tonfall. »Jedenfalls scheint sich das Ganze ein wenig herumgesprochen zu haben, denn gestern hat mich ein vielversprechender Geldgeber kontaktiert. Stell dir das mal vor! Er hat mich kontaktiert.«

Theresa konnte spüren, wie Jakobs Oberkörper sich vor Aufregung und Tatendrang straffte, während er ihr die Neuigkeit mitteilte. Wie immer, wenn er sich für etwas begeisterte, sprach er schneller als sonst.

»Was genau meinst du mit Geldgeber?«, fragte Theresa und bemühte sich, nicht allzu skeptisch zu klingen, um Jakobs Freude nicht zu sehr zu dämpfen.

»Na ja«, entgegnete er, »ich weiß noch nicht besonders viel über den Mann. Er heißt Henry Arnold. Offenbar ist er ein schwerreicher Amerikaner aus der Nähe von New York. Gestern kam ich nach der Arbeit in meine Wohnung, und sein Brief lag in der Post. Jedenfalls schreibt er, dass er von mir und meiner Idee – also, ich meine von unserer Idee – gehört habe. Ich soll ihm das Projekt vorstellen, und dann will er eventuell in das Musikhaus investieren.«

In Theresas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Name Henry Arnold sagte ihr nichts. Andererseits hatte auch Wilhelm schon erwähnt, dass einige seiner Bekannten jenseits des Atlantiks ungeheure Vermögen verdient hätten. Gerüchten zufolge gab es auf dem riesigen Kontinent entlegene Gegenden mit Bergen, deren Inneres aus purem Gold bestand. Wer es schaffte, dorthin vorzustoßen, musste das wertvolle Edelmetall nur noch ausgraben und kehrte dann als reicher Mann zurück. Vielleicht war dieser Herr Arnold ebenfalls auf diese Weise zu seinem Geld gekommen. Was aber sollte er dann ausgerechnet mit einem Musikhaus in Hamburg wollen?

»Theresa?«, flüsterte Jakob. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Ihr Herz begann zu flattern. Irgendetwas an der Sache fühlte sich nicht richtig an. Vorsichtig löste sie sich aus Jakobs Umarmung und sah nach oben in seine weit geöffneten Augen, die immer noch vor Erregung funkelten. Seit Monaten hatte sie ihn nicht so euphorisch und voller Motivation erlebt.

Nein, dachte sie, nicht dieses Mal. Heute werde ich nicht die ewige Zweiflerin spielen, sondern ihn einfach unterstützen. Jakob vertraut seinen Instinkten, also tue ich das auch. Zu ihrer eigenen Überraschung ließ der unangenehme Druck in ihrem Magen mit diesem Entschluss ein wenig nach.

»Gut«, sagte Theresa und bemühte sich, positiv und entschlossen zu klingen. »Wann kommt er nach Hamburg?«

Jakob blinzelte und sah hinaus auf die Außenalster. Zwei kleine, senkrecht verlaufende Falten zeichneten sich zwischen seinen flachsfarbenen Augenbrauen ab.

»Überhaupt nicht, fürchte ich. Er will, dass wir uns in Berlin treffen, und zwar morgen Abend. Ich werde heute noch packen müssen.«

Theresa trat abrupt einen Schritt zurück. Wo vorher noch eine leichte Anspannung in ihrem Inneren geherrscht hatte, war sie jetzt ziemlich außer sich. Sie warf ihrem Verlobten einen finsteren Blick zu.

»Jakob Theodor Hansen, falls das heißen soll, dass ...«

»Nein, auf keinen Fall«, winkte Jakob energisch ab. Er fasste Theresa sanft bei den Schultern und sah ihr eindringlich, aber liebevoll in die Augen. »Ich werde bis zu unserer Hochzeit längst wieder zurück sein. Alles bleibt so, wie wir es geplant haben.«

Theresa blieb stumm und suchte nach Zeichen des Zweifels in Jakobs Blick, aber er strich ihr nur sanft über die Wange.

»Außerdem bringt es doch angeblich Pech, die Braut direkt vor der Trauung zu sehen«, raunte er und hatte plötzlich sein spitzbübisches Grinsen wiedergefunden.

»Dir wird es Pech bringen, wenn du auch nur eine Minute später zurückkommst als verabredet«, entgegnete Theresa. »Das verspreche ich dir«.

»Ich weiß«, sagte Jakob, und sein Grinsen wurde noch breiter. »Und deshalb werde ich dich nicht enttäuschen. Du bist das Beste, was mir jemals im Leben passiert ist, und ich werde es nicht riskieren, dich zu verlieren.«

Jedes Mal, dachte Theresa bei sich, während die beiden sich leidenschaftlich küssten und dabei einige missbilligende Blicke der vorbeigehenden Passanten ignorierten, er findet einfach jedes Mal die richtigen Worte.

Trotz des wärmenden Schauers, den Theresa durch die Gewissheit empfand, dass sie Jakobs bedingungslose Liebe genoss, war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, ihn fortgehen lassen zu müssen.

4.

Hamburg-Karolinenviertel, 6. August 1909

»Nein, um Himmels willen! Sie verstümmeln mir ja die letzten beiden Takte!«, rief Georg Albers und löste seine großen schlanken Hände von den Tasten des Klaviers. Mit einem gequälten Seufzer erhob er sich von der abgewetzten Bank und ging in Richtung des einzigen Fensters der beengten kleinen Stube, durch welches das letzte Licht eines wolkenverhangenen Nachmittags hereindrang. Unzählige winzige Staubflocken tanzten vor der schlierigen Scheibe, die von groben gusseisernen Streben in dem rissigen Gemäuer gehalten wurden. Theresa, die eben noch zusammen mit ihrem Klavierlehrer gespielt hatte, ließ nun ihre Hände auf ihren Schoß sinken.

»Ihr rechtes Handgelenk ist zu steif. Das wird Ihnen im zweiten Teil immer wieder zum Verhängnis«, belehrte er Theresa, die ihm stumm mit ihren Blicken folgte, während er nervös auf dem verschlissenen Teppich umherwanderte. Er raufte sich die dichten, dunkelblonden Locken, bis sie wild in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden. Das Zusammenspiel dieser Sturmfrisur mit seinen hektischen Bewegungen und seinem konzentrierten Blick verliehen dem Musikus das Aussehen eines exzentrischen Wissenschaftlers, der gerade an der Unfähigkeit seiner Studenten verzweifelt.

Jawohl, Herr Professor, schoss es Theresa durch den Kopf. Augenblicklich fühlte sie, wie sich ein freches Kichern unter ihrem Zwerchfell aufbäumte. Schnell senkte sie den Kopf und räusperte sich, um den Ausbruch zu unterdrücken. Feine Lachtränen schossen in ihre Augenwinkel.

Mit einem Mal blieb Albers stehen und kam zurück zur Klavierbank.

»Na, wir wollen nicht verzagen. Das wird schon«, sagte er, womit er Theresas Mimik und Körpersprache gänzlich falsch interpretierte. »Lassen Sie uns für heute noch etwas anderes versuchen.«

Er begann, in einem der zahlreichen Papierstapel zu wühlen, die überall in seiner sonst völlig schmucklosen Wohnung verstreut waren.

»Wo sind denn nun wieder die Brandenburgischen Konzerte?«, murmelte er und streckte sich suchend in Theresas Richtung. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ein neues Hemd aus feinem Stoff trug.

Überhaupt wirkte Albers verändert. Statt des buschigen Backenbarts, in welchem sich sonst vereinzelte graue Härchen zeigten, waren seine Wangen und sein Hals säuberlich rasiert, wodurch er um einige Jahre jünger wirkte. Interessiert ließ Theresa ihren neugierigen Blick durchs Zimmer wandern. Erst als sie den dunklen Zweiteiler sah, der ordentlich über eine Stuhllehne gehängt worden war, dämmerte es ihr endlich.

Selbstverständlich, dachte sie und hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, dass sie so schwer von Begriff gewesen war. Albers ist der neue Organist in St. Johannis. So elegant herausgeputzt, wie er sich auf der Empore gezeigt hatte, hatte Theresa ihn tatsächlich nicht erkannt.

Attraktiv, meldete sich eine kleine, vorlaute Stimme in ihrem Kopf. Das war das erste Wort, an das du letzte Woche gedacht hast, als du ihn dort stehen sahst.

Sie spürte, dass sie ein wenig rot wurde. Als wolle sie den Gedanken abschütteln, stand auch sie vom Klavier auf und ging zum Fenster. Was war heute nur los mit ihr, dass ihr solcher Unsinn in den Kopf kam? Zugegeben, in der Kirche hatte Albers völlig anders ausgesehen als zuvor. Man hätte aufgrund der äußerst eleganten Aufmachung fast meinen können, er wäre ein wohlhabender Aristokrat und nicht ein verarmter Musiklehrer. Aber diese Verwandlung war nur eine flüchtige Erscheinung gewesen.

»Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein?«, fragte Albers besorgt, während er von einem abgegriffenen Notenblock aufsah.

»Doch, doch, Herr Albers«, versicherte Theresa hastig. »Mir war vom Sitzen nur der Fuß eingeschlafen.«

Jakob fehlt mir einfach so schrecklich, dachte sie und spürte eine schmerzhafte Leere in ihrem Inneren. Wäre er doch nur endlich zurück.

Jetzt, wo sie bewusst darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie tatsächlich körperlich unter der Abwesenheit ihres Verlobten litt. Ständig war sie nervös und konnte sich kaum konzentrieren. Tagsüber fehlte ihr der Appetit, und nachts wälzte sie sich bis weit nach Mitternacht in ihrem Bett herum, weil sich der Schlaf nicht einstellen wollte. So war es nun seit gut einer Woche, nur weil sie Jakob so sehr vermisste.

Wenn wir wenigstens vorher noch Zeit füreinander gehabt hätten, dachte Theresa. Aber er ist ja schon seit Monaten nur noch mit dem Musikhaus beschäftigt. Vermutlich fühlt es sich deshalb so an, als wäre er schon viel länger fort.

»Sie vermissen Ihren Verlobten, nicht wahr?«

Unbemerkt war Albers neben Theresa getreten, sodass sie vor Überraschung leicht zusammenzuckte, als er sie aus ihren Gedanken riss. Sie sah zu ihm hinüber und bemerkte, wie sein Blick auf ihr ruhte. Seine tiefbraunen Augen wurden von zarten Krähenfüßen eingerahmt, die erst durch das direkte Sonnenlicht zum Vorschein kamen. Albers wirkte besorgt, aber nicht beunruhigt. Er strahlte auf einmal eine wohltuende Entspanntheit aus. Aber wie konnte er von ihren Gefühlen wissen? War sie so leicht zu durchschauen, oder war dieser Mann vielleicht weit aufmerksamer und einfühlsamer, als sie gedacht hatte?

»Ja, ich ...«, setzte Theresa an, hielt jedoch sofort wieder inne. Sie hatte seit Jakobs Abreise mit niemandem über ihre Empfindungen und Gedanken gesprochen. Ihre innere Unruhe wuchs seitdem mit jeder Minute und falls der Knoten, den sie tief in ihrer Brust spürte, sich jetzt lösen sollte, würde sie sich wahrscheinlich nicht mehr zusammenreißen können. Stumm sah sie zu Boden.

»Bitte entschuldigen Sie«, bat Albers mit gesenkter Stimme und wandte ebenfalls den Blick ab. »Es war indiskret von mir, diese Frage zu stellen.«

Theresa schwieg weiterhin. Sie wollte dieses sensible Thema nicht mit ihrem Klavierlehrer erörtern. Der Umgang der beiden miteinander war seit vielen Jahren von respektvoller Distanz geprägt, und sie sprachen nicht mehr, als für den Unterricht nötig war. Zu Anfang hatte Theresa mit ihrem Vater sogar einige Diskussionen darüber führen müssen, warum ein junges Mädchen, das in einem Haus mit einem exzellenten eigenen Klavier wohnte, ihre Stunden bei einem fremden Mann in einem zweifelhaften Viertel nehmen sollte. Doch der etwas exzentrische Pianist gab nun einmal nur hier Unterricht, und Theresa genoss es, der heimischen Monotonie für ein paar Stunden zu entfliehen. Ihrem Bruder Wilhelm wiederum war es mittlerweile ziemlich egal, was Theresa tat, und Jakob bestärkte seine Verlobte darin, ihr musikalisches Talent zu pflegen.

»Es geht mir im Moment nicht besonders gut«, sagte sie schließlich, ohne Albers anzusehen. Sollte sie ihm vielleicht doch von ihren Sorgen und Ängsten erzählen? Könnte er als Junggeselle überhaupt verstehen, was sie so derart traurig stimmte? Nein, entschied Theresa, und so etwas gehört sich auch nicht. Schon gar nicht für eine anständige Dame. Ich muss mich zusammenreißen, nach vorn schauen, und dann wird es schon irgendwann besser werden.

»Ich danke Ihnen wie immer für die Lektion, Herr Albers«, sagte Theresa förmlich, »aber für heute muss ich mich verabschieden.«

»Oh«, erwiderte er und trat einen Schritt zurück. »Nun ja, wenn Sie es so wünschen, dann machen wir einfach das nächste Mal an dieser Stelle weiter.«

»Ich zahle natürlich für die ganze Stunde. Schließlich habe ich Ihre Zeit in Anspruch genommen.«

»Ach was, machen Sie sich da bitte keine Gedanken. Ich sitze ohnehin den ganzen Tag am Klavier, sei es nun mit meinen Schülern oder allein. Jetzt, da es mit eigenen Kompositionen etwas vorangeht, spiele und schreibe ich manchmal bis tief in die Nacht hinein. Da kommt es auf die halbe Stunde nicht an. Bitte erholen Sie sich gut, und geben Sie mir einfach demnächst Bescheid, wann Sie die nächste Stunde nehmen möchten.«

Mit einem leichten Nicken, jedoch ohne ein weiteres Wort, ging Theresa zügig zur Tür und verschwand aus der kleinen Wohnung.

Georg Albers sah seiner Schülerin noch nach, während sie das Kopfsteinpflaster der schmalen Straße vor dem Haus überquerte. Er beobachtete, wie sie eilig und mit gesenktem Kopf an der alten Bäckerei abbog und schließlich aus seinem Sichtfeld verschwand. Nachdenklich verschränkte er die Arme vor der Brust. Theresa von Eiben hatte sich verändert. Zwar wirkte sie erwachsener und selbstsicherer, gleichzeitig lag jedoch seit Kurzem ein Schleier der Traurigkeit über ihrem hübschen Gesicht. Mit ihren Worten und ihrer Körperhaltung ging sie ganz bewusst auf Distanz zu ihren Mitmenschen, doch da war ein Glänzen in ihren Augen, das wie ein stiller Hilferuf ausgesehen hatte. Als wollte sie ihm etwas mitteilen, was sich nicht in Worte fassen ließ.

Wahrscheinlich ist es nur Liebeskummer, dachte Georg und schob die Erlebnisse des Nachmittags geistig beiseite, um sich auf wesentlichere Dinge zu konzentrieren. Das geht bei den jungen Dingern doch schnell vorbei. Und wer sonst keine Sorgen hat, kann sich wohl mehr als glücklich schätzen.

Während sich der Abend langsam über die spitzen Giebel der schmalen grauen Häuser des Viertels legte, widmete sich Georg dem Sortieren der übrigen Bücher und Notenblätter. Das Piano wartete schließlich schon auf seinen Meister und die Sinfonie, an der er seit Monaten tüftelte, würde sich auch nicht von selbst fertig schreiben.

5.

Hamburg-Altona, 19. August 1909

Mit einem lauten Knirschen hielt die Kutsche auf dem Schotterplatz, in den die unscheinbare kleine Seitengasse mündete. Sofort fiel Theresa das gewaltige Gebäude zu ihrer Linken ins Auge, dessen wuchtige Außenmauern sich in den grauen Morgenhimmel erhoben. Unzählige Reihen von penibel gemauerten dunkelroten Backsteinen zogen sich entlang des Platzes nach Osten. Im Abstand von jeweils ungefähr drei Metern wurde das Gemäuer von länglichen, stark angelaufenen Bleiglasfenstern durchbrochen. Hier und da war eine Scheibe gesprungen und das entstandene Loch notdürftig mit groben Holzbrettern ausgebessert worden. Während Theresa ihr Kleid zurechtzupfte, öffnete Artur, der Kutscher, ihr die Tür. Bereits mit dem ersten kühlen Hauch der Morgenluft empfing sie der harzige, leicht süßliche Geruch von frischem Holz, der sich mit dem schweren Rauch einiger Dampfmaschinen vermischte. Eine dichte Geräuschkulisse aus stetigem Sägen, dem Rattern und Klappern der Maschinen sowie der hastigen Schritte der Angestellten zeugte davon, dass die Klaviermanufaktur Hansen bereits auf Hochtouren lief. Langsam stieg Theresa aus der Kutsche und betrat den Platz.

»Warte hier, Artur«, befahl sie ihm, ohne sich umzusehen, »Aber pass auf, dass das Gespann nicht im Weg herumsteht.«

Mit vorsichtigen Schritten näherte Theresa sich einer breiten, zweiflügeligen Holztür, die offensichtlich den Eingang zur Werkstatt bildete. Sie musste den Saum ihres Kleides ein wenig anheben, damit er nicht durch Staub und Holzspäne in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Obwohl sie lediglich ein paar Kilometer vom Familienanwesen entfernt war, fühlte Theresa sich plötzlich in eine gänzlich andere Welt versetzt. Zu Hause in Harvestehude lasen die wohlhabenden Damen und Herren sicher gerade im Morgenmantel die Zeitung und ließen sich von ihren Bediensteten teuren Kaffee aus Übersee nachschenken. In den Arbeitervierteln von Altona, am westlichsten Ende Hamburgs, schufteten dagegen schon Hundertschaften von Arbeitern in den heißen, schmutzigen Fabrikhallen. Männer mit harten, verrußten Gesichtern und schwieligen Händen – manche von ihnen waren kaum dem Jugendalter entwachsen – verdienten hier das tägliche Brot der Familie. Für einen Moment stellte Theresa sich vor, wie es ihr als Frau eines dieser Burschen wohl ergangen wäre, eingepfercht in eines der zugigen Arbeiterquartiere zwischen Schmutz, Hunger und einer Schar von kränklichen, quengelnden Kleinkindern.

Du hättest nicht herkommen sollen, meldete sich die zweifelnde Stimme in ihrem Kopf. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht?

Doch Theresa setzte ihren Weg in Richtung des Werkstatteingangs unbeirrt fort. Die Frage war leicht zu beantworten, denn ihre Gedanken drehten sich nur noch um eine Frage: Wo war Jakob? Seit fast drei Wochen hatte sie nichts von ihm gehört. Vor lauter Sorge war Theresa zwischenzeitlich so bleich und zittrig geworden, dass sie aus Sorge um ihre eigene Gesundheit sogar einen Arzt aufgesucht hatte. Doch Theresa wollte keine Medizin nehmen, die ihr den Geist vernebelte. Sie wollte keine Ruhe und keine Entspannung, sondern nur, dass ihr geliebter Jakob bald zurückkehrte.

Ein recht junger, stämmiger Mann mit Glatze und pechschwarzem Vollbart blieb auf seinem Weg zur Werkstatt stehen. Seine kleinen Augen, die unter einem paar buschiger Brauen hervorschauten, musterten Theresa interessiert. Sie erwiderte den Blick und fasste sich ein Herz.

»Guten Morgen«, sprach sie ihn an. »Ich möchte zu Herrn Hansen. Paul Hansen.«

Ohne ein Wort zu sagen, zeigte der Mann nach links, wo sich neben der Klaviermanufaktur riesige Holzstapel auftürmten. Dann nickte er mit ernstem Blick in dieselbe Richtung. Neben dem Daumen zählte Theresa nur zwei weitere Finger an seiner rechten Hand.

»Danke«, sagte sie und ging zur linken Außenseite des Gebäudes. Tatsächlich stand dort ein älterer Herr, der gerade einigen Arbeitern mit strenger Stimme Anweisungen erteilte und hierbei abwechselnd auf die dicken Holzbretter und das große Backsteingebäude deutete. Er trug einen staubigen grauen Kittel, über den bis zur Brust ein ebenso grauer Bart wallte. Sein wettergegerbtes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und Jahrzehnte der Schufterei hatten seine großen Hände knotig und steif werden lassen. Nicht einmal unter Anstrengung ihrer gesamten Vorstellungskraft hätte Theresa auch nur die geringste Ähnlichkeit zu ihrem Verlobten ausmachen können. Da Paul Hansen trotz Jakobs ausdrücklicher Bitte noch nicht einmal zur Verlobungsfeier erschienen war, würde Theresa ihrem zukünftigen Schwiegervater nun zum ersten Mal leibhaftig gegenüberstehen.

»Herr Hansen?«, fragte sie, nachdem sämtliche Gesellen und Lehrjungen ihre Order erhalten hatten, und trat einen Schritt vor. Der Alte zog die weißen, borstigen Augenbrauen hoch und musterte sie unverhohlen von oben bis unten.

»Wir verkaufen hier keine Instrumente«, stellte er knapp fest. »Sie finden den Laden zwei Straßen weiter, in der Nähe des neuen Hauptbahnhofs.« Er wandte sich in Richtung der Werkstatt um.

»Nein«, sagte Theresa und folgte ihrem wortkargen Gesprächspartner, »das ist nicht der Grund meines Besuchs. Ich bin Theresa, Jakobs Verlobte.«

Der Mann hielt im Gehen inne und drehte sich stirnrunzelnd um.

»Hmm«, murmelte er. »Ach so.«

»Es tut mir leid, dass ich so unangemeldet vorbeikomme«, sagte Theresa und trat einen Schritt auf Hansen zu, bevor sie mit gesenkter Stimme weitersprach. »Es ist nur so, dass ich seit fast drei Wochen nichts von Jakob gehört habe. Ich mache mir große Sorgen.«

Zu ihrer Überraschung lächelte der Alte leicht, während er die Hände auf seinen großen Bauch faltete.

»Hört, hört«, sagte er spöttisch. »Na, die Sorgen hättest du dir auch zu Hause machen können, Kindchen. Du weißt so gut wie ich, dass mein Jüngster sich hier jedenfalls nicht mehr blicken lässt.«

Theresa war verwirrt. Fand Hansen das etwa witzig? So hatte sie sich das erste persönliche Gespräch mit ihm jedenfalls nicht vorgestellt.

»Das heißt, Sie wissen auch nicht, wo er ist?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte der alte Mann und schüttelte seinen kahlen Kopf, »das heißt, dass es mich einen feuchten Schiet kümmert, wo der Junge sich herumtreibt.«

»Machen Sie sich denn gar keine Sorgen um Ihren Sohn?«, hakte Theresa nach und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

Hansen sah ihr herausfordernd in die Augen und strich sich mit der Hand durch den langen Bart. Immer noch lag der Anflug eines zynischen Grinsens auf seinen Lippen. »Mein Sohn wird sicher irgendwo seinem neuesten Hirngespinst hinterherjagen. Das scheint ja mittlerweile seine Hauptbeschäftigung zu sein. Seit euresgleichen ihm den Floh ins Ohr gesetzt hat, dass ehrliche Arbeit nicht gut genug für ihn ist, will er ja plötzlich lieber anderer Leute Klaviere verkaufen, statt selbst welche zu bauen.«

»Unseresgleichen?«, entgegnete Theresa fragend. »Ich versuche nur zu helfen. Bitte hören Sie mich doch wenigstens an.«

»Ich habe genug gehört«, schnappte der alte Hansen, auf dessen gerötetem Gesicht nun einige pochende Adern hervortraten. »Jetzt, wirst du erst einmal mir zuhören, Mädchen.« Der klobige Zeigefinger seiner rechten Hand schnellte vor und zeigte zitternd auf Theresa. »Du hast vielleicht Nerven. Ich sehe dich zum ersten Mal in meinem Leben. Und dann erscheinst du hier, störst mich bei der Arbeit und denkst, ich würde alles stehen und liegen lassen?«

Theresa spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Sie war von seiner heftigen Reaktion zu sehr überrumpelt, um etwas zu erwidern.