Die Sagen der Antike - Heinrich Wilhelm Stoll - E-Book

Die Sagen der Antike E-Book

Heinrich Wilhelm Stoll

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Beschreibung

Trojanisches Pferd, Achillesferse, bezirzen: Unser Wortschatz steckt voller Entlehnungen aus der Sagenwelt der Antike. Bis heute sind die mythischen Erzählungen des Altertums Anregung für große Werke der Weltliteratur. Heinrich Wilhelm Stoll, dessen Bücher im 19. Jahrhundert viele Auflagen erlebten, hat mit einzigartigem Kenntnisreichtum den griechisch-römischen Sagenschatz zusammengetragen und in einer Ausgabe vereint, die der Sammlung Gustav Schwabs in nichts nachsteht. Sein legendäres zweibändiges Sammelwerk liegt hier in einem Band vor, der die schönsten und bedeutendsten Sagen enthält.

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Seitenzahl: 635

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Heinrich Wilhelm Stoll

Die Sagen der Antike

Mit 49 Illustrationen der Originalausgabe

samt Erläuterungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort

versehen von Matthias Hackemann

Anaconda

Text- und Bildgrundlage dieser Ausgabe ist Heinrich Wilhelm Stoll: Die Sagen des klassischen Altertums. 2 Bände. 5. Auflage. Leipzig: Teubner 1884. Lautstand, Orthografie und Interpunktion wurden von Kai Kilian behutsam überarbeitet und auf neue Rechtschreibung umgestellt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-641-27909-7V001

© 2007, 2021 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Gustav Klimt (1862–1918), Cover für Ver Sacrum, Zeitschrift der Wiener Secession, hier Theseus und den Minotauros darstellend, zur Zeit der ersten Secessionsaustellung in Wien, 1898, Wien Museum Karlsplatz, Bridgeman Images Paris / akg-images / Erich Lessing

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

www.anacondaverlag.de

INHALT

Prometheus

Die Menschenalter

Die große Flut

Phaethon und die Phaethontiden

Io

Sisyphos und Salmoneus

Europa

Kadmos

Daidalos

Tantalos und Pelops

Orpheus und Eurydike

Herakles

Des Helden Geburt und Jugend

Herakles am Scheideweg

Herakles und Eurystheus

Der nemeische Löwe. Die Hydra

Augias

Die Äpfel der Hesperiden. Kerberos

Herakles und die Giganten

Herakles und Deïaneira

Ende des Herakles

Theseus

Seine Geburt und Reise nach Athen

Theseus in Athen

Des Theseus Fahrt nach Kreta

Oidipus

Des Oidipus Jugend und Frevel

Die Entdeckung der Frevel des Oidipus

Des Oidipus Ende

Die thebanischen Kriege

Des Polyneikes Flucht. Der Auszug der Sieben gegen Theben

Die Belagerung von Theben

Die Bestattung

Antigone

Verwandlungen

Daphne

Narkissos und Echo

Pyramus und Thisbe

Prokne und Philomela

Philemon und Baukis

Kyparissos

Adonis

Midas

Amor und Psyche

Der trojanische Krieg,

bevor Achilleus in Zorn gerät

Troja

Der Apfel der Eris

Der Raub der Helena

Die Werbungen des Menelaos zum

Kriegszug gegen Troja

Der Zorn des Achilleus

Der Streit zwischen Achilleus und Agamemnon

Die Schlacht. Hektor

Niederlage der Griechen

Patroklos geht in den Kampf und fällt

Achilleus entschließt sich zum Kampf

Die Götterschlacht

Hektors Tod

Das Ende des trojanischen Krieges

Das hölzerne Ross

Trojas Zerstörung

Die Rückkehr von Troja

Das Haus der Atriden

Atreus und Thyestes

Agamemnons Ermordung

Ermordung Klytaimnestras und des Aigisthos

Orestes und die Erinyen

Die Odyssee

Der Kyklop Polyphemos

Die Zauberin Kirke

Odysseus in der Unterwelt

Sirenen. Plankten. Skylla und Charybdis

Die Insel Thrinakia. Untergang des Schiffs

Telemachos und die Freier

Odysseus gelangt nach Ithaka

Odysseus bei dem Sauhirten EumaiosTelemachos kommt von Sparta zum

Gehöft des Eumaios

Odysseus gibt sich seinem Sohn zu erkennen

Telemachos und Odysseus kommen in die Stadt

Odysseus als Bettler unter den Freiern

Odysseus’ Unterredung mit Penelope

Der Tag der Rache

Odysseus und Penelope

Nachwort

Zu diesem Buch

Heinrich Wilhelm Stoll – Ein Porträt

Zum Inhalt dieses Buches

Mythos und Historie

Die mythische Zeit und ihr Ende

Erklärung der Abbildungen

PROMETHEUS

(Hesiods Theogonie 510–612. Werke und Tage 50–105)

In uralter Zeit, als noch Kronos (oder Saturnus) die Welt regierte, lebten Götter und Menschen, beide von einer Mutter, von der allerzeugenden Erde, entsprossen, vereint auf der Erde zusammen in traulichem Verkehr, kaum sich ihres Unterschieds bewusst. Als aber nach dem Sturz des Kronos Zeus, sein gewaltiger Sohn, die Herrschaft der Welt in seine Hand genommen und der Berg Olympos, der in den Himmel ragt, der Sitz der ewigen Götter geworden war, da gefiel es den Göttern, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen und zu bestimmen, was für Ehren die sterblichen Menschen den Göttern für ihren Schutz und ihre Wohltaten zukommen lassen sollten. Zu Mekone, der Stadt Sikyon im Peloponnes, hielten daher Götter und Menschen eine Versammlung. Dort vertrat Zeus die Sache der Götter, als Anwalt der Menschen aber trat auf Prometheus, der Sohn des Tapetos, aus dem Geschlecht der göttlichen Titanen, die mit Kronos von Zeus nach langem Kampf in die Tiefen des Tartaros verstoßen worden waren. Prometheus, der kluge und listige, ließ sich durch das Vertrauen auf seine Geisteskraft verleiten, mit Zeus, dem weisesten der Götter, in der Klugheit zu wetteifern und, damit er seinen Schützlingen, den Menschen, einen günstigen Vertrag erringe, den Sinn des Zeus zu betrügen. Er schlachtete einen großen Stier und zerlegte ihn, damit aus den Stücken die Himmlischen sich wählten, was sie in Zukunft zum Opfer begehrten. Er machte zwei Haufen aus den Stücken. Auf den einen legte er das Fleisch und die essbaren mit Fett umwachsenen Eingeweide, wohlverhüllt in die Haut des Opfertiers, und oben drauf den Magen, das schlechteste Stück; auf den andern legte er die Knochen künstlich zusammen und überdeckte sie mit glänzendem Fett. So gab er dem guten Teil ein schlechtes und dem schlechten Teil ein gutes Aussehen. Zeus, der Vater der Götter und Menschen, der Allwissende, durchschaute den Trug und sprach scherzenden Mutes: »Sohn des Tapetos, erlauchter Herrscher, trauter Freund, wie ungleich maßest du die Teile!« Prometheus glaubte seine List gelungen und sprach lächelnd: »Zeus, ehrwürdigster, größter der unsterblichen Götter, wähle von diesen den Teil, den dein Herz dir anrät.« Voll Zorn im Herzen wählte Zeus nun absichtlich den schlechteren Teil, die Knochen, damit er Grund habe, die Menschen, denen er Böses sann, zu verkürzen. Mit beiden Händen hob er das schimmernde Fett auf, und da er das weiße Gebein und die täuschende Arglist sah, sprach er mit zornigem Mute: »Wahrlich, du trefflicher Kenner des Trugs, Freund Tapetionide, du hast noch nicht deine betrüglichen Künste verlernt!« Seitdem pflegen die Menschen den Unsterblichen die weißen Knochen der Opfertiere auf duftenden Altären zu verbrennen.

Zeus aber versagte jetzt, um den Betrug des Prometheus zu strafen, den Menschen das Feuer. Prometheus jedoch stahl listig das Feuer aus dem Olympos, aus dem Haus des Zeus, und brachte den Menschen die glimmenden Funken in einer markigen Ferulstaude zur Erde. Als Zeus den fernhin glänzenden Schein des Feuers bei den Menschen sah, da ergrimmte er noch mehr. Den Prometheus fesselte er mit unzerbrechlichen Banden und trieb ihm noch dazu einen Pfahl mitten durch den Leib; und er sandte einen Adler mit gewaltigen Schwingen, der zerfraß dem Gefesselten täglich die Leber, die jede Nacht aufs Neue wieder nachwuchs. Erst nach langer Zeit erlegte Herakles den Adler und befreite den Prometheus aus seiner Pein. So wollte es Zeus, damit sein geliebter Sohn durch diese Tat noch größeren Ruhm auf Erden erlange.

Den Menschen ließ Zeus das Feuer, aber er gab für dieses Gut ihnen ein großes Übel. Auf seinen Befehl formte Hephaistos, der kunstfertige Gott, aus Erde und Wasser das wunderbare Bild einer Jungfrau, mit der Stimme und Kraft der andern Menschen, aber den unsterblichen Göttinnen gleich an Antlitz. Athene, unterstützt von den Chariten, Peitho und den Horen, gürtete und schmückte das edle Gebild mit weißem, schimmerndem Gewande, übers Haupt hängten sie ihr einen feinen, kunstvoll gewirkten Schleier und schmückten ihre Locken mit einem Kranz lieblicher Blumen; auch eine goldene Krone setzten sie ihr auf das Haupt, ein Werk des Hephaistos, das er mit bunten Tiergestalten sinnreich geziert hatte. Athene unterwies sie in kunstreicher Arbeit, Aphrodite umgoss ihr Haupt mit Anmut und erfüllte sie mit verführerischem Schmachten und den Sorgen der Gefallsucht, Hermes gab ihr verschlagenen Sinn und schmeichlerische Rede. Die Götter bewunderten die herrliche Jungfrau und nannten sie Pandora, »die Allbegabte«, weil alle Götter sie mit Gaben beschenkt hatten.

Nachdem so das reizende Übel für die Menschen bereitet war, schickte es Zeus durch Hermes auf die Erde, in das Haus des Epimetheus, des »Nachbedacht«, eines Bruders von Prometheus, Prometheus (sein Name heißt »Vorbedacht«) hatte den Bruder oft gewarnt, irgendeine Gabe von den Himmlischen anzunehmen, weil zu befürchten sei, dass den Menschen irgendein Unheil daraus erwachse; aber der törichte Epimetheus vergaß der Mahnung des Klugen und nahm das verhängnisvolle Geschenk an. Er vermählte sich mit der Jungfrau, und diese wurde die Stammmutter aller Frauen der Erde. Nachbedacht bemerkte erst, als es zu spät war, welch Unheil er in sein Haus genommen. Bisher hatten die Menschen auf Erden frei von Leiden und Mühe und todbringender Krankheit ein seliges Leben gelebt; aber das Weib hob jetzt vom Fass der Übel den großen Deckel weg und ließ alle Übel herausfliegen, dass sie sich unter den Menschen verbreiteten. Nur die Hoffnung blieb oben am Rand des Fasses hängen und vermochte nicht herauszufliegen, da nach dem Ratschluss des Zeus Pandora schnell wieder den Deckel schloss. Seitdem schweift der Übel zahllose Schar unter den Sterblichen umher, dass Jammer und Trübsal Land und Meer erfüllt. Auch Krankheiten nahen bei Tag und bei Nacht ungerufen den Menschen, leise und schweigend, denn Zeus hat ihnen die Stimme versagt, und sie bringen viel Elend und schnellen Schrittes den Tod, der bisher nur langsam die Sterblichen beschlich.

DIE MENSCHENALTER

(Ovids Metamorphosen I, 89–150)

Zuerst entstand das goldene Geschlecht, das ohne Richter und ohne Gesetz freiwillig Treue und Gerechtigkeit übte. Man wusste nichts von Furcht und Strafe; ohne Richter war man sicher. Noch nicht war die Fichte auf den Bergen gefällt, um hinabzusteigen in die Meeresflut und fremde Länder zu besuchen; keine Küste kannten die Sterblichen außer der ihrigen. Noch waren die Städte nicht von abschüssigen Gräben umgürtet, man kannte nicht die eherne Trompete, nicht Helm noch Schwert, ohne Söldner lebten die Völker sorglos in behaglicher Ruhe. Unberührt vom Karst, nicht verwundet vom Pflug, gab die Erde alles von selbst; zufrieden mit der Nahrung, die ohne Zwang hervorwuchs, pflückte man im Gebirge würzige Beeren, Meerkirschen und Erdbeeren, Brombeeren und Kornellen, und las sich die gefallenen Eicheln von dem breit geästeten Baum des Jupiter. Ewiger Frühling herrschte auf der Erde, milde Weste umkosten die Blumen, die ungesät sprossen, Saaten keimten und reiften auf ungepflügtem Feld. Es flossen Bäche von Milch und Bäche von Nektar, und von den grünen Eichen tropfte gelber Honig.

Da Saturnus in den finstern Tartarus verstoßen war und Jupiter die Welt regierte, erwuchs das silberne Geschlecht, schlechter als Gold, wertvoller als Erz. Jetzt engte Jupiter die Grenzen des Frühlings ein, der in der Urzeit ewig geblüht, und sonderte Winter und Sommer und Herbst von dem kurzen Lenz, und schuf so vier Räume des Jahres. Bald glühte die Luft von trockener Dürre, bald starrte unter dem tobenden Nord zackiges Eis an Fels und Gezweig. Da suchten die Menschen zuerst den Schutz des Hauses; ihr Haus war die Höhle oder ein dichtes Gebüsch oder mit Bast verbundene Reiser. Jetzt verscharrte man zuerst den Samen der Ceres in langen Furchen, und es seufzte unter dem Joch der Pflugstier.

Darauf folgte das eherne Geschlecht, wilder schon von Natur und gewandt im Gebrauch schrecklicher Waffen, doch noch nicht verbrecherisch und gottlos. – Von hartem Eisen war das letzte Geschlecht. In diese Zeit von schlechterem Stoff brach sofort jeglicher Gräuel herein. Es floh die Scham und die Wahrheit und die Treue, und an ihre Stelle traten Arglist und Trug, Tücke und Gewalttat und frevelnde Gewinnsucht. Der Schiffer entfaltete unbekannten Winden die Segel, und die Fichte, die lange untätig auf luftigen Bergen gestanden, wagte jetzt den Sprung durch fremde Gewässer. Auch die Erde, die früher gemeinsam war wie Luft und Sonnenlicht, wurde jetzt vorsichtig gemessen und durch lange Grenzen zerteilt. Und man forderte nicht bloß die Saat und die schuldige Nahrung von dem reichen Boden, man stieg sogar in die Eingeweide der Erde hinab und grub, so sorgsam sie auch versteckt und zu den stygischen Schatten entrückt waren, die metallenen Schätze hervor, die Ursachen alles Unheils. Schon war das verderbliche Eisen hervorgewühlt und das Gold, heilloser als Eisen. Da erhob sich der Krieg, der mit beiden kämpft, und schwang mit blutiger Hand die Waffen. Nun lebt alles vom Raub, der Gastfreund ist nicht sicher vor dem Gastfreund, der Schwäher nicht vor dem Eidam, und die Bruderliebe ist selten. Der Mann strebt mit Mordgedanken der Gattin nach, diese dem Gatten; Stiefmütter bereiten Gifttrank aus falbem Kraut, und der Sohn forscht ungeduldig vor der Zeit nach der Todesstunde seines Vaters. Alle Liebe und Treue ist verschwunden, und Asträa, die Jungfrau, die Freundin des Rechts und der Gerechtigkeit, verlässt zuletzt von den Himmlischen die blutbefleckte Erde.

DIE GROSSE FLUT

(Ovids Metamorphosen I, 163–437)

Dem Himmelsvater Zeus war von der Schlechtigkeit der Menschen viel Schlimmes zu Ohren gekommen. Der Wunsch, dass diese Gerüchte unwahr oder übertrieben sein möchten, bewog ihn, seinen Himmel zu verlassen und selbst in menschlicher Gestalt unter den Menschen umherzuwandern, um mit eigenen Augen zu schauen. Er fand leider die Wahrheit noch schlimmer als das Gerücht. Überall traf er Verwilderung und Verruchtheit. So kam er auf seiner Wanderung durch Arkadien noch in später Dämmerung nach Lykosura in das Haus des Königs Lykaon. Sobald er eingetreten war, gab er Zeichen, dass ein Gott genaht, und die Menge begann ihn mit Gebeten und Gelübden zu verehren. Aber Lykaon verlachte die Gebete und sprach: »Ich werde schon sicher erproben, ob er ein Gott ist oder ein sterblicher Mensch. Er gedachte nämlich während der Nacht im Schlaf ihn durch ungeahnten Mord zu verderben. Zuvor aber versuchte er den Gast auf andere Weise. In seinem Haus hatte er einen Geisel vom Volk der Molosser; dem durchstach er mit dem Schwert die Kehle und kochte und briet die noch zuckenden Glieder und setzte sie seinem Gast vor, ob er wohl erkenne, was er esse. Da schleudert Zeus im Zorn den rächenden Blitz ins Haus und zerschmettert es. Entsetzt stürzt der Frevler aus den brechenden Trümmern hinaus und sucht das Weite. Er heult auf, denn zu sprechen vermag er nicht; in schäumender Wut fällt er, getrieben von der alten Mordlust, in die Herden und freut auch jetzt noch sich am Blut. Sein Gewand zergeht in raue Zotteln, seine Arme wandeln sich in Beine: Er wird ein Wolf und behält noch die Spuren des früheren Aussehens, die Gräue des Haars, die blutgierigen Augen, dieselbe Wildheit des Gesichts und der Gebärden.

Ein Haus ist vernichtet, aber alle sind desselben Loses wert. Der Himmelsvater ist entschlossen, das gesamte ruchlose Menschengeschlecht zu vertilgen. Sobald er in den Himmel zurückgekehrt ist, beruft er den Rat sämtlicher Götter. Die kommen sofort auf der glänzenden Milchstraße – denn das ist der Weg der Unsterblichen – hinauf zu der Höhe des Himmels, zum Königspalast des großen Donnerers. Zur Rechten und zur Linken in der Nähe des Zeus haben die vornehmsten unter den Göttern ihre Wohnungen, weiter ab liegen zerstreut die der niederen Götter. Als die heilige Schar der Himmlischen sich niedergelassen im Marmorsaal des Zeus und dieser selbst auf erhöhtem Thron, gestützt auf ein elfenbeinernes Zepter, Platz genommen hat, schüttelte er dreimal und viermal sein gewaltiges Lockenhaupt, mit dem er Erde und Meer und Gestirne bewegte, und sprach also: »Noch nie war ich so besorgt um den Bestand meines Reiches wie jetzt, selbst nicht, als die schlangenfüßigen Giganten den Himmel bestürmten. Soweit die Erde reicht, habe ich nichts als ruchlose Schlechtigkeit gefunden; das gesamte Menschengeschlecht muss ausgerottet werden.« Nachdem darauf die Götter die Geschichte des Lykaon gehört haben, billigen sie alle den Entschluss des Zeus; doch fragen sie alle besorgt, wie nach Vertilgung der Menschen in Zukunft der Zustand der Erde sein, wer den Göttern Weihrauch und Opfer darbringen solle. Darüber beruhigt sie der Götterkönig und verspricht, mit einem neuen besseren Geschlecht die Erde zu bevölkern. Und schon greift er nach seinen Blitzen, um sie auf die Erde zu verstreuen; doch er fürchtet, der Äther möchte Feuer fangen und die Himmelsachse verbrennen, auch erinnert er sich, dass nach dem Schluss des Schicksals eine Zeit kommen solle, wo Erde und Meer und die Burg des Himmels in furchtbarem Brand zusammenstürzten – und er legte die Donnerkeile wieder beiseite und beschloss, durch die Wasser des Himmels die Menschen zu vertilgen.

Sofort schloss er alle Winde, welche die Wolken verscheuchen und den Himmel klären, in die Höhlen des Aiolos ein und ließ nur den Regen bringenden Notos, den Südwind, wehen. Der flog über die Erde mit feuchten Schwingen, das Haupt mit schwarzem Dunkel verhüllt, aus dem langen Bart und dem grauen Haar, aus Gefieder und Busen trieft die Flut, und wie er mit der Hand die weitumherhangenden Wolken drückt, strömen unter donnerndem Brausen dichte Regengüsse vom Himmel; Iris, die Göttin des Regenbogens in schimmerndem Gewand, schöpft unaufhörlich Wasser und trägt es den Wolken als Nahrung zu. Da werden die Saaten niedergepeitscht vom Regenschwall; die Hoffnung des Landmanns, die Arbeit des langen Jahres liegt zerstört am Boden. Und der Zorn des Zeus begnügt sich nicht mit den Wassern des Himmels; sein Bruder, der Meergott, unterstützt ihn mit seinen Gewässern. Dieser ruft alle Flüsse zusammen und befiehlt ihnen: »Brecht die Schleusen auf, öffnet die Wasserkammern, lasst euren Fluten alle Zügel schießen!« Die Flüsse gehorchen, und Poseidon selbst stößt mit seinem Dreizack in die Erde, dass sie erzittert und den Gewässern in ihrem Schoß freie Bahnen lässt. Da stürzen die Flüsse entfesselt über ihre Ufer und reißen weithin alles mit sich fort, Saaten und Bäume, Menschen und Vieh, Häuser und Tempel. Und wo ein Haus oder eine hochgetürmte Burg der Gewalt der Fluten trotzte, da stieg bald das Wasser über Giebel und Türme. Schon sind Land und Meer nicht mehr durch Grenzen voneinander geschieden; alles ist Meer, ein Meer ohne Ufer. Wo früher schlanke Ziegen geweidet, da lagern jetzt ungestaltete Robben, Delphine tummeln sich in den Wäldern umher, die Meernymphen, die Töchter des Nereus, betrachten mit Staunen die Haine und Häuser und Städte unter dem Wasser. Wolf und Schaf, Löwen und Tiger schwimmen bunt durcheinander in den Wogen, nichts hilft dem Eber seine Blitzeskraft, nichts dem Hirsch seine Schnelle, und der Vogel, nachdem er lange vergeblich einen Platz zum Ruhen gesucht, sinkt endlich mit matten Schwingen ins Meer. Und die Menschen? Die einen suchen Schutz auf dem Hügel, auf den Bergen, die andern in Kahn und Schiff; Hügel und Berge überdeckt die Flut, die Schiffe verschlingt der Abgrund, und wen die Woge verschont, den tötet endlich der Hunger.

Zwischen dem Öta und dem Lande Böotien liegt Phokis, ein fruchtbares Land, solange es Land war, jetzt war’s ein Teil des Meeres und ein weites Feld der Wogen. Dort ragt mit doppeltem Gipfel der Parnassus hoch über die Wolken, ein gewaltiger Berg, höher als alles Land umher. Dessen Haupt, zwar von der Brandung umtobt, bleibt frei von der Flut. Dort landete in kleinem Schiff nach langer Irrfahrt auf den Gewässern der gerechte Deukalion mit Pyrrha, seinem frommen Weib – Deukalion ein Sohn des Prometheus, Pyrrha eine Tochter des Epimetheus und der Pandora. Beim Herannahen der Flut hatte er sich auf den Rat seines Vaters ein festes, wohlüberdecktes Schiff gezimmert und hinlänglich mit Lebensmitteln versehen. So entging er dem Untergang. Als Zeus von so vielen Tausenden die beiden allein noch übrig sah, beide unsträflich und durch frommen Sinn ausgezeichnet vor den andern Menschen, da zerstreute er das dunkle Regengewölk und zeigte dem Himmel die Erde wieder und der Erde den Himmel, und Poseidon ließ auf sein Geheiß durch Triton den Wogen des Meeres den Rückzug blasen. Schon bekommt das Meer wieder Ufer, die Ströme, die Bäche fließen voll in ihren Betten, die Hügel und die Wälder und die Fluren steigen hervor aus den sinkenden Gewässern, und die Erde zeigt wieder ihre vorige Gestalt.

Als Deukalion nach dem Verlaufen der Flut die Erde ringsum einsam und öde sah, sprach er mit tränendem Auge also zu Pyrrha: »O Schwester, o Gattin, einziges Weib noch auf Erden, in allen Ländern, die reichen vom Aufgang zum Niedergang, sind wir beide noch das einzige Volk, alle andern hat die Flut begraben. Aber auch wir sind unseres Lebens noch nicht sicher, jede Wolke erschreckt noch meine Seele. Und sind wir auch frei von Gefahr, was sollen wir beide, vereinsamt auf der leeren Erde, beginnen? Hätte ich doch die Kunst vom Vater gelernt, Menschen zu bilden und dem geformten Ton Leben einzuhauchen. So bleiben wir allein, der einzige Rest des Menschengeschlechts.« So sprach er, und sie weinten – und beschlossen, den Rat und die Hilfe der Himmlischen im Orakel zu erflehen. Sie suchen die Orakelstätte von Delphi auf, am Fuße des Parnassus, wo damals noch Themis ihre Weissagungen gab. Als sie die Stufen des verlassenen Tempels berührten, fielen sie zur Erde nieder, küssten den halb verfallenen Altar und flehten: »Sag uns, o Themis, durch welche Kunst der Verlust unseres Geschlechtes wieder ersetzt werden kann; gib neues Leben der versunkenen Welt.« Die Göttin antwortete:

»Geht aus dem Tempel,

Hüllt euch beide das Haupt und löst die gegürteten Kleider, Werft sodann die Gebeine der großen Erzeugerin rückwärts.«

Lange staunten sie. Endlich brach Pyrrha das Schweigen; sie weigert sich, der Göttin zu gehorchen, und fleht sie furchtsam um Verzeihung, es sei ihr unmöglich, den Schatten ihrer Mutter durch Zerstreuung ihrer Gebeine zu kränken. Unterdessen sinnen sie noch weiter über die dunklen Worte nach; da wird plötzlich Deukalion die Deutung klar. Er beruhigte seine Gattin mit den freundlichen Worten: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm und wollen keinen Frevel. Die große Erzeugerin ist die Erde, die Steine in dem Leib der Erde sind, denk ich, ihre Gebeine; die sollen wir rückwärts werfen.«

Zwar setzen sie noch Zweifel in ihre Deutung; doch was schadet’s, die Probe zu machen? Sie gehen hinab ins Tal, verhüllen das Haupt, entgürten die Gewänder und werfen die Steine. Und die Steine – welch ein Wunder! – begannen ihre Härte und Spröde zu verlieren, sie erweichten allmählich und zogen sich zu langen Gestalten auseinander. Bald, nachdem sie so gewachsen, wurde ihr Aussehen milder, und menschliche Formen, obgleich noch nicht deutlich, traten hervor, ähnlich den Figuren der Bildhauer, die erst aus dem Rohen herausgemeißelt sind. Was an den Steinen Feuchtes und Erdiges war, wurde zu Fleisch, das Feste und Unbiegsame wurde zu Knochen, was Ader war, blieb Ader. So gewannen in kurzer Zeit durch den Willen der Götter die von dem Mann geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weib geworfenen wurden Weiber.

So wurde die Erde mit neuen Menschen bevölkert. Aber wir geben noch immer Zeugnis, welchen Ursprungs wir sind; wir sind ein hartes Geschlecht, ausdauernd zur Arbeit. – Auch die übrigen lebenden Wesen erneuerten sich bald wieder. Als die Glut der Sonne den tiefen Schlamm, den die Flut zurückgelassen, allmählich durchwärmte, da hob sich der Schlamm und schwoll, und es regte sich unter ihm ein neues Leben. In buntem Gewimmel stiegen nach und nach die mannigfaltigsten Gestalten hervor, die zahlreichen Geschlechter der Tiere, welche auf der Erde sich verbreiteten, im Wasser und auf dem Land und in der Luft.

PHAETHON UND DIE PHAETHONTIDEN

(Ovids Metamorphosen I, 750 – II, 366)

Phaethon, der Sohn des Helios (Sol) und der Okeanide Klymene, war bei der Mutter im Land der östlichen Äthiopen zu einem stattlichen Jüngling aufgewachsen. Als dieser einst, stolz auf seine Abkunft von dem Sonnengott, sich dem Epaphos, dem Sohn des Zeus und der Io, der von demselben Alter war und von nicht geringerem Stolz, gleichzustellen wagte, verlachte ihn Epaphos und erhob Zweifel gegen seine göttliche Abkunft. Voll Scham und Zorn eilte Phaethon zu seiner Mutter Klymene, warf sich an ihre Brust und klagte ihr die Kränkung. »Gib mir ein sicheres Zeichen«, bat er, »womit ich beweise, dass Helios mein Vater ist.« Klymene erhob beide Hände zum Himmel, und den Blick zu dem Licht der Sonne gerichtet, sprach sie: »Bei diesen allschauenden Strahlen schwöre ich dir, dass du des Helios Sohn bist; wenn ich lüge, so soll jetzt zum letzten Mal mein Auge das Sonnenlicht schauen. Auch ist es nicht weit bis zum Haus deines Vaters, es steht ganz in der Nähe unseres Landes; wenn du Lust hast, so gehe hin und frage deinen Vater selbst.« Ein freudiger Mut durchzuckte bei den Worten Phaethons Brust; und sogleich eilte er durch das Land der Äthiopen und der Inder zum Aufgang der Sonne.

Sturz des Phaethon

Dort stand auf ragender Höhe die glänzende Sonnenburg, von hohen Säulengängen umgeben, strahlend im Feuerglanz von Gold und Karfunkel. Das Dach war gedeckt mit schimmerndem Elfenbein, und die Flügel des Doppeltors strahlten in Silberglanz. Kostbarer noch als der Stoff selbst war die Bildnerei auf den Toren. Hephaistos hatte auf denselben die Erde und das Meer gebildet und darüber den Himmel. Das Wasser war erfüllt von den mannigfaltigsten Meergöttern, auf dem Land waren zu sehen Städte und Menschen, Wald und Wild, Flüsse und Nymphen; an dem Himmel glänzten sechs Sternbilder auf dem rechten und ebenso viel auf dem linken Torflügel. Als Phaethon auf steilem Pfad hier ankam und durch die prächtigen Pforten eintrat in die Burg, suchte er sogleich das Antlitz des Vaters; aber er blieb von ferne stehen, denn er vermochte nicht das strahlende Licht in der Nähe zu schauen. Im Purpurgewand saß dort Helios auf einem von Smaragden glänzenden Thron, zur Rechten und zur Linken sind aufgestellt der Tag und der Monat und das Jahr und die Jahrhunderte und in gleichen Zwischenräumen die Stunden. Es steht da der junge Frühling, mit Blumen umkränzt, nackt steht da der Sommer mit Ährenkränzen auf dem Haupt und in den Händen, der Herbst, mit dem Blut der gekelterten Trauben bespritzt, und neben ihm mit grauem, struppigem Haar der eisige Winter.

Sobald Helios von seinem Thron aus mit dem allsehenden Auge den Jüngling erblickte, der alle diese Wunder staunend betrachtete, fragte er: »Was führt dich hierher, Phaethon, was suchst du in der Burg deines Vaters, mein Sohn?« Jener antwortete: »Erlauchter Vater, wenn du mir den Gebrauch dieses Namens gestattest, man zweifelt auf Erden, ob ich dein Sohn sei, und verlästert meine Mutter. Darum bin ich gekommen, mir ein Unterpfand von dir zu erbitten, mit dem ich meine Abkunft von dir unzweifelhaft dartun kann.« So sprach er; da nahm Phöbus die blitzende Strahlenkrone, die des Sohnes Auge blendete, vom Haupt, rief ihn zu sich heran und umarmte ihn mit den Worten: »Klymene hat die Wahrheit gesagt; du bist würdig, mein Sohn zu heißen, und ich werde dich nimmer verleugnen. Und damit du nicht lange zweifelst, erbitte dir irgendeine Gnade; sie soll dir gewährt sein, ich schwöre dir’s bei dem unterirdischen Wasser der Styx.« Kaum hatte Phöbus die Worte gesprochen, da erbat sich Phaethon, dass ihm der Vater auf einen Tag die Lenkung des geflügelten Sonnenwagens überlassen möge.

Der Vater erschrak und bereute seinen Schwur; dreimal und viermal schüttelte er sein glänzendes Haupt und sprach: »Mein Sohn, du hast mich ein töricht verwegenes Wort sprechen lassen; dürfte ich doch mein Versprechen widerrufen, ich gestehe, diesen einen Wunsch würde ich dir verweigern. Doch darf ich dir ihn abraten. Dein Begehren ist mit großer Gefahr verbunden, es ist für deine jugendlichen Kräfte zu groß; du bist sterblich, aber was du wünschst, ist ein Werk für Unsterbliche. Ja du verlangst mehr sogar, als den Unsterblichen zu erlangen vergönnt ist. Keiner außer mir vermag fest auf der feuertragenden Achse zu stehen, selbst der König des Olympos, der in seiner furchtbaren Rechten die wilden Blitze schwingt, möchte diesen Wagen nicht lenken. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, ist anfangs steil, sodass kaum in der Frühe die Rosse mit frischen Kräften ihn erklimmen können: Mitten am Himmel ist er furchtbar hoch, mit bebender Angst schaue selbst ich oft hinab auf Erde und Meer; gegen Abend rollt der Wagen auf abschüssiger Bahn dem Meer zu, und ohne meine sichere Leitung würde er zerschmettert in die Tiefe stürzen. Dazu bedenke, dass der Himmel mit allen Sternen in beständigem Umschwung sich dreht und ich diesem reißenden Kreislauf entgegenfahren muss. Wie vermöchtest du das? Du denkst dir auch vielleicht da droben freundliche Haine und Städte und Tempel der Götter. Dem ist nicht so; da sind gefährliche Gestalten von Tieren, da drohen die Hörner des Stiers, der Bogen des Schützen, der Rachen des Löwen, der Skorpion und der Krebs mit ihren furchtbaren Scheren. Lass ab, mein Sohn, bessere deinen Wunsch; alles, was die weite Welt an Gütern bietet, steht dir frei, fordere es, nur von diesem einen steh ab, es ist eine Strafe für dich, keine Ehre.«

Aber alle Vorstellungen des Vaters sind umsonst. Der Jüngling umschlingt seinen Nacken und bittet und fleht, und der Vater hat einen heiligen Eid geschworen, er muss den Wunsch des Törichten gewähren. So führt er ihn denn zu dem hohen Sonnenwagen, einem Werk und Geschenk des Hephaistos. Von Gold waren Achse und Deichsel und die Felgen der Räder, von Silber die Speichen, an dem Joch strahlten Reihen von Chrysolithen und Edelsteinen. Während Phaethon schwellenden Herzens den Wagen bewundert, öffnet Eos das purpurne Tor des Ostens und die rosenbestreuten Hallen; es fliehen die Sterne, Lucifer, der Morgenstern, treibt ihre Scharen ab und zieht zuletzt von der Wache des Himmels. Sobald der Vater die Erde und den Himmel sich röten sieht, heißt er die flüchtigen Horen die Rosse anspannen. Diese vollbringen schnell ihr Werk, sie führen die feuerschnaubenden mit Ambrosia gesättigten Tiere von den Krippen herbei und legen ihnen die klirrenden Zäume an. Dann bestreicht Helios mit heiliger Salbe das Antlitz des Sohnes, damit das verzehrende Feuer ihn nicht schädige, und setzt ihm die Strahlenkrone aufs Haupt, schweren Herzens und unter Seufzen, denn er ahnt das nahende Unglück. Warnend sprach er dann: »Schone mir die Stacheln, Kind, und brauche wacker die Zügel; die Rosse rennen schon von selbst, und es kostet Mühe, sie im Fluge aufzuhalten. Die Straße geht schräg in weitumbiegender Krümmung und durchschneidet nach Süden hin die drei Zonen des Himmels; du wirst die Geleise der Räder deutlich sehen. Darauf halte dich, senke dich weder zu tief, sonst steckst du die Erde in Brand, noch steige zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Das Übrige überlasse ich dem Schicksal, möge es dir gnädig sein und besser für dich sorgen als du selbst. Doch auf! Die Finsternis sticht, Aurora erwacht, nimm die Zügel zur Hand – oder, noch ist es Zeit, nimm meinen Rat und lass mich den Wagen lenken.«

Ohne weiter auf die Worte des Vaters zu hören, springt der Jüngling freudigen Mutes auf den Wagen und ergreift die Zügel. Die vier geflügelten Rosse erfüllen unter feurigem Schnauben die Luft mit Gewieher und schlagen ungeduldig mit den Hufen wider die hemmenden Barren. Da öffnet Tethys, die Meergöttin, die Schranken, und der weite Himmel tut sich auf. Mutig durchstampfen die Rosse die wallenden Nebel und stürmen voran. Doch der Wagen ist zu leicht, es gebricht ihm die gewohnte Schwere des gewaltigen Sonnengottes, und er hüpft schwankend durch die Räume des Himmels, wie ein unbelastetes Schiff durch die Wellen hüpft. Kaum merken dies die Rosse, so rennen sie wild aus der gewohnten Bahn. Der Jüngling erschrickt und reißt ratlos und unkundig des Weges die Zügel hin und her; und wie er hinabschaut aus des Äthers Höhe tief, tief unten auf die Länder, da erblasst er, seine Knie zittern, Dunkel umzieht sein schwindelndes Auge. Da wünscht er, dass er nie seine Abkunft erkannt, nie die Rosse seines Vaters berührt habe. Aber zu spät; ein weiter Raum liegt hinter ihm, noch ferner liegt das Ziel. Ohne zu wissen, was beginnen, starrt er in den weiten Raum und lässt weder die Zügel schießen, noch zieht er sie an; auch kennt er die Namen der Rosse nicht, um sie anzurufen. Jetzt sieht er voll Angst um sich her die mannigfaltigen Wunder des Himmels, die Gestalten furchtbarer Tiere. Eben naht er dem Skorpion; der reckt drohend die gewaltigen Scheren nach ihm aus, entsetzt lässt er die Zügel los, und nun stürmen die Rosse ungehemmt in wilder Flucht regellos dahin. Bald springen sie hoch in den Äther zwischen die festgehefteten Fixsterne, bald stürzen sie wieder in die Nähe der Erde. Versengt dampfen die Wolken, Feuer ergreift die Höhen der Erde, tiefe Spalten reißen sich in das vertrocknete Land; das Gras verdorrt, die Bäume brennen, es brennt alle Saat; ja ganze Städte mit ihren Türmen gehen zugrunde, ganze Völker werden zu Asche, weithin stehen alle Gebirge mit ihren Wäldern in lichten Flammen. Heißer Dampf, mit Asche und sprühenden Funken durchmischt, umwallt den unglücklichen Wagenlenker, und er weiß nicht, wohin die wilden Rosse ihn reißen durch das schwarze Dunkel. Damals, so glaubt man, drang den äthiopischen Stämmen das kochende Blut oben zur Haut und schwärzte für immer ihren Leib, damals wurde Libyen eine sandige wasserlose Wüste. Die Nymphen weinten laut mit zerrauftem Haar um Quellen und Seen, aufkochend verdampften die Flüsse, der Nil entfloh voll Schrecken in die äußerste Ferne und verbarg sein Haupt, das den Menschen noch immer verborgen ist. Durch die Spalten der Erde dringt das Licht in die Tiefen des Tartarus und erschreckt das Herrscherpaar der Schatten; das Meer zieht sich zusammen; wo der Seegrund war, ist jetzt ein weites Feld trockenen Sandes. Die Fische suchen den tiefen Grund, entseelte Robben schwimmen auf der lauen Flut; selbst Nereus und Doris und ihre Töchter flüchten in die tiefen Grotten, und auch da beschwert sie noch die Hitze. Poseidon wollte dreimal die Arme und das finstere Antlitz aus den Wogen aufstrecken, doch dreimal scheuchte ihn die Glut zurück. Jetzt hebt die ehrwürdige Tellus ihr versengtes Haupt aus der Erde hervor und fleht den Zeus um Rettung der gefährdeten Welt an, und der schleudert nun endlich seinen Blitz auf den unglücklichen Phaethon und dämpft die Flammen mit der Flamme. Die Rosse reißen sich los von dem zerschmetterten Wagen und rennen scheu nach verschiedenen Seiten; Phaethon aber stürzt entseelt mit brennendem Haupt, wie ein fallender Stern, aus der Höhe und fällt fern von der Heimat weit im Westen in die Fluten des Eridanus. Hesperische Naiaden begraben den zerschellten Leib und setzen auf den Grabstein die Inschrift:

»Phaethon ruhet allhier, der des Vaters Wagen gelenket;

Zwar nicht ganz ihn behauptend, erlag er doch großem Bestreben.«

Der Vater Helios verhüllte, als er das Unglück seines Sohnes sah, in tiefem Schmerz sein Haupt, und einen Tag, wenn’s glaublich, war die Welt ohne Sonne; die Flamme des Brandes gab Licht. Klymene aber sucht trostlos die Leiche ihres Sohnes und findet endlich an fremdem Ufer sein Grab. Mit ihr klagen an dem Grab ihre Töchter, die Heliaden (Sonnentöchter) oder Phaethontiden, und vergießen dem lieben Bruder zahllose Tränen, vier Monate lang. Da geschieht ein merkwürdiges Wunder. Während die Schwestern an dem Grab weinen, klagt plötzlich Phaethusa, die älteste, indem sie eben sich zur Erde beugen will, dass der Fuß ihr starre; Lampetia will ihr helfend nahen, da hält eine Wurzel sie fest; eine dritte greift erschreckt mit der Hand ins Haar, sie rauft Blätter ab; eine andere klagt, dass ihre Füße zu einem Stamme zusammengewachsen, eine andere, dass ihr die Arme sich lang zu grünenden Ästen strecken. Während sie das staunend betrachten, umschließt Rinde ihre Füße, ihren Leib, Brust, Schultern und Hände; nur der Mund ist noch frei, der nach der Mutter ruft. Die Mutter eilt von einer zur andern und küsst sie und versucht die Leiber aus der Rinde zu reißen, das zarte Gespross von den Händen zu brechen; doch siehe, blutige Tropfen rinnen hervor, wie aus einer Wunde. »Schonung, o Mutter!«, ruft die eben verwundet ist, »Schonung! Du zerreißt in dem Baum unsere Leiber!« »Lebe wohl!«, rufen sie, und die Rinde hatte ihren Mund verschlossen. Sie sind zu Pappeln geworden. Seitdem fließen Tränen von den Bäumen, die gerinnen an dem Gezweige im Strahl der Sonne zu Bernstein. Der klare Fluss nimmt die goldglänzenden Tränen auf und trägt sie bis zu seiner Mündung, dass sie den Töchtern der Erde ein Schmuck werden.

IO

(Ovids Metamorphosen I, 568–750)

Inachos war der Gott des gleichnamigen argivischen Flusses und der erste König des Landes Argos. Seine Tochter, die schöne Io, war von Zeus ausersehen, die Stammmutter eines großen Heldengeschlechts zu werden, das helfen sollte, die Ordnungen des Zeus auf Erden durchzuführen. Als er ihr in der Nähe des lernäischen Sumpfes liebend nahte, floh die Jungfrau. Da deckte er das Land mit einem dichten Nebel und hemmte so ihre Flucht. Als Hera so plötzlich am heiteren Tag den nächtlichen Nebel entstehen sah, argwöhnte sie, eifersüchtig wie sie war, dass ihr Gemahl in irgendeiner Weise sie betrüge. Und sie zerteilte den Nebel. Zeus aber, der ihr Nahen geahnt, verwandelte, ehe sie es sah, die Jungfrau in ein schneeweißes Rind, um sie so der Rache der Hera zu entziehen. Hera, die List ihres Gemahls durchschauend, lobte die schöne Kuh und fragte, woher sie komme und wem sie gehöre. Sie sei aus der Erde gewachsen, sagte Zeus, um weiteres Forschen abzuschneiden. Hera gab sich zufrieden, doch erbat sie sich von ihrem Gemahl die schöne Kuh zum Geschenk. Was sollte Zeus tun? Grausam war’s, die Geliebte seiner harten Gemahlin hinzugeben, aber verdächtig, sie zu verweigern. Er gab sie ihr.

Hera übergab die Verhasste dem Argos, dem riesigen Sohn des Arestor, zur Bewachung; der trug hundert Augen am Kopf, von denen immer nur zwei schliefen, während die übrigen nach allen Seiten hin ihren Dienst taten. Er weidete bei Tag das arme Rind und bewachte es mit der größten Sorgfalt; wie er auch stand, stets sah er nach der Io, auch wenn er den Rücken ihr zugekehrt hatte. Des Nachts schloss er sie ein und fesselte ihren zarten Hals an Ketten. Die unglückliche Jungfrau, welche auch in ihrer Verwandlung das menschliche Bewusstsein behalten hatte, nährte sich von Baumblättern und bitterem Kraut, trank aus dem schlammigen Fluss und lagerte auf harter Erde. Wenn sie auch, um Gnade zu erflehen, ihre Hände zu dem hartherzigen Wächter hätte erheben wollen, sie hatte keine Hand mehr; wenn sie zu klagen versuchte, so stieß sie ein Brüllen aus, und sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie kam auch zu den Ufern des Inachos, des väterlichen Flusses, wo sie so oft gespielt. Als sie in den Wellen ihr Bild sah, das breite Gesicht und die Hörner, da entsetzte sie sich und floh zurück vor ihrer eigenen Gestalt. Die Naiaden des Flusses, ihre Schwestern, und Inachos selbst erkennen sie nicht. Sie aber geht dem Vater nach und den Schwestern und lässt sich von ihnen streicheln und bewundern. Der greise Inachos rupft Gras und hält es ihr hin, sie leckt seine Hand, um sie zu küssen, und hält ihre Tränen nicht zurück; hätte sie nur eine menschliche Stimme, so würde sie ihn um Hilfe anflehen und ihren Namen nennen und ihr Missgeschick. Aber das kann sie nicht; da schrieb sie mit ihrem Fuß ihr trauriges Geschick in den Sand. »Wehe, ich Unglücklicher!«, ruft Inachos und lehnt sich klagend und weinend an den Nacken der verwandelten Tochter. Aber was hilft sein Klagen? Der unbarmherzige Hüter Argos weist ihn fort und treibt seine Kuh zu einer anderen ferneren Trift, wo er sich auf den Gipfel eines Berges setzt, um nach allen Seiten hin Wache zu halten.

Aber der König des Himmels kann länger nicht mehr die Leiden der geliebten Io ansehen; er befiehlt seinem dienstbaren Sohn Hermes, den Argos zu töten. Sogleich fliegt dieser vom Himmel hinab, und nachdem er seine Flügelschuhe und den beschwingten Hut abgelegt und nur seine Rute behalten hat, treibt er mit dieser in der Nähe des Argos wie ein Hirte Ziegen vor sich her und spielt auf den Rohren seiner Hirtenflöte, der Syrinx, schöne Weisen. Argos lauscht mit Vergnügen den lieblichen Tönen und ruft ihm zu: »Komm herüber, wer du auch seist, und setze dich hier zu mir auf diesen Fels. Nirgends ist der Graswuchs üppiger als hier, und du siehst, wie hier erwünschter Schatten für die Hirten ist.« Hermes setzte sich zu dem Riesen und verplauderte mit ihm die Stunden des Tages und versuchte durch die Töne seiner Syrinx seine Wache haltenden Augen einzuschläfern. Jener jedoch sucht dem Schlaf zu widerstehen, und obgleich ein Teil seiner Augen vom Schlummer überwältigt ist, so wacht er doch immer noch mit dem andern Teil. Um sich wach zu erhalten, fragte er dies und das und auch, wie die Syrinx erfunden worden sei, denn sie war erst jüngst erfunden. Darauf erzählte der schlaue Gott:

In den Bergen Arkadiens war die schönste aller Nymphen die Naiade Syrinx; aber sie war spröde wie keine, vergebens verfolgten sie mit ihrer Liebe die Satyrn und die übrigen Götter des Waldes und der Flur. Die strenge Artemis war ihre Freundin und ihr Muster, gleich ihr schweifte sie hochgegürtet jagend durch die waldigen Berge, und man hätte sie für Artemis selbst gehalten, hätte sie nicht einen Bogen von Horn geführt, während jene einen goldenen Bogen trägt; und auch so hielt man sie für Latonens Tochter. Als sie einst von der Höhe des Lykaion zurückkehrte, erblickte sie Pan, der hohe Gott der arkadischen Berge, und von ihrem Reiz gefesselt, sprach er zu ihr: – Hermes hätte noch erzählen müssen, was Pan gesprochen, wie dann die Nymphe, seine Werbung verschmähend, durch die unwegsamen Berge geflohen, bis sie zu dem schilfreichen Ufer des Ladon kam, wie sie hier, von den Fluten gehemmt, flehte, verwandelt zu werden, um dem Verfolger zu entrinnen. Schon glaubte der Gott sie zu fassen, da hielt er statt des Körpers der Nymphe Schilfrohr in seinen Händen. Er seufzt, und seine Seufzer werden in dem bewegten Rohr zu zarten klagenden Tönen. Der Gott, bezaubert durch die Süße der Töne, rief: »So soll denn diese Verbindung mit dir mir unauflöslich sein!« Und er schnitt sich von dem Schilf ungleiche Röhren und heftete sie mit Wachs zusammen und nannte die Rohrflöte Syrinx nach dem Namen der geliebten Nymphe. – Alles dies wollte der schlaue Hermes noch erzählen; als er aber sah, dass alle Augen des Wächters sich in süßem Schlummer geschlossen hatten, hielt er schnell inne, rührte leise mit seiner Zauberrute alle Augen und senkte sie in dichtesten Schlaf; dann hieb er mit seinem Sichelschwerte das im Schlaf nickende Haupt des Riesen vom Rumpf herab, dass es blutspritzend über die Felsen rollte. Hera versetzte seine hundert Augen auf den Schweif des Pfaues und schmückte so das Gefieder ihres Lieblingsvogels mit schimmernden Sternen.

So war Io von ihrem Peiniger befreit; aber die erzürnte Hera ersann der Unglücklichen eine neue Plage. Sie schickte eine große Bremse, welche die rindsgestaltete Jungfrau durch ihren Stich in Wahnsinn versetzte und angstzerrüttet durch alle Länder des Erdkreises jagte, durch Illyrien hinauf in die rauen Länder der Skythen, am Kaukasus vorüber, zu den Amazonen, über den kimmerischen Bosporus (Rindsdurchgang), der von ihr den Namen trägt, durch alle Länder Asiens bis südlich zu dem Felsendurchbruch, wo von Byblos’ Bergen der Nil seine fruchtbare Flut hinabgießt ins Ägypterland. Dessen Strömung folgend, kam sie endlich in die Niederung Ägyptens, in das dreieckige Land, das von den Mündungen des Stroms gebildet wird. Hier fand sie ein neues Heimatland und die Befreiung von ihrer langen Qual.

Als die gepeinigte Jungfrau hier ankam, sank sie erschöpft an dem Ufer des Stroms in ihre Knie und flehte mit Tränen und seufzendem Schrei zum Zeus, dass er ihren Leiden ein Ziel setzen möge. Der besänftigte endlich durch langes Bitten den Zorn seiner Gattin und gab der Jungfrau ihre frühere Gestalt wieder. Die Haare fallen vom Körper, das Gehörn schrumpft zusammen und schwindet; die Scheibe der Augen verengt sich, das Maul zieht sich zusammen zu menschlichen Lippen; Schultern und Hände kehren wieder, die gespaltenen Klauen fallen ab, und nichts ist von der Kuh mehr übrig als die glänzende Weiße. Die Jungfrau, gerne zufrieden mit dem Dienst zweier Füße, richtet sich auf und steht da in menschlicher Schönheit. Ängstlich versucht sie sich in dem Gebrauch ihrer Stimme, denn sie fürchtet noch immer das frühere Gebrüll; o Freude, sie spricht wieder menschliche Worte.

Von des Zeus milder Hand berührt, gebar Io in Ägypten den Epaphos, dem die Herrschaft des Landes bestimmt war. Das Volk der Ägypter verehrte in der Folge die Io unter dem Namen Isis als Göttin.

SISYPHOS UND SALMONEUS

Sisyphos, ein Sohn des Aiolos, der schlaueste und gewinnsüchtigste aller Menschen, den Göttern gleich an List und klugem Rat, war der Gründer und erste Beherrscher von Korinth oder, wie es in ältester Zeit hieß, Ephyra, der bedeutendsten Handelsstadt in Griechenland. Durch seinen klugen verschlagenen Sinn erwarb er sich unendlichen Reichtum, aber seine Gewinnsucht und der Missbrauch seiner geistigen Gaben brachten ihn ins Unglück. Der Schlaue hatte gemerkt, wie Zeus die Tochter des Flussgottes Asopos, die schöne Aigina, raubte und nach der Insel Aigina entführte. Als nun der Vater, die Verlorene suchend, nach Korinth kam und den Sisyphos um Rat und Auskunft bat, verriet dieser die Tat des Zeus und ließ sich dafür von dem Flussgott auf Akrokorinth, der korinthischen Burg, die schöne wasserreiche Quelle Peirene erschaffen, wodurch Burg und Stadt mit Wasser versorgt wurden. Zeus schickte zur Strafe dem selbstsüchtigen Verräter den Tod zu, damit er ihn in die Unterwelt hinabführe. Doch Sisyphos merkte das Herannahen des Todes, lauerte ihm auf und schlug ihn in feste Bande. Jetzt starb auf Erden kein Mensch mehr. Da kommt Ares, der starke Kriegsgott, von Zeus gesandt, und befreit den Tod aus seinen Fesseln und führt den Sisyphos hinab in das Reich der Schatten. Aber dieser hatte zuvor seinem Weib Merope geboten, seinen Leib nicht zu bestatten und die gebührenden Totenopfer zu unterlassen. Die Herrscher der Unterwelt, Hades und Persephone, vermissen ungern die erwarteten Totenopfer und lassen sich durch die listigen Reden des Sisyphos berücken, dass sie ihn auf die Oberwelt zurücksenden, damit er die Gattin für ihre unfromme Versäumnis bestrafe. So entrinnt der Schlaue wieder der Macht des Todes und gedenkt sobald nicht wieder zurückzukehren. Auf der Oberwelt überlässt er sich dem lustigsten und ausschweifendsten Lebensgenuss. Doch diese Herrlichkeit dauert nicht lange. Während er schwelgend beim Mahl sitzt, erscheint plötzlich der grimme Tod und zieht ihn unerbittlich zum Schattenreich hinab. Zur Strafe für seine Frevel wird er drunten von schrecklichen Mühen gefoltert. Er ist verdammt, einen schweren Marmorblock aus der Tiefe des Tals zur Berghöhe hinaufzuwälzen; angestemmt arbeitet er stark mit Händen und Füßen, und glaubt er endlich den schweren Block schon auf den Gipfel zu drehen, da plötzlich rollt er tückisch wieder hinab in die Tiefe, damit der Gequälte, triefend von Angstschweiß und von Staub umwölkt, aufs Neue die schwere Arbeit beginne.

Sisyphos in der Unterwelt

Ein Bruder des Sisyphos war Salmoneus, der in Elis die Stadt Salmone baute. Auch er verging sich schwer gegen die Götter. In seinem Übermut wagte er es, sich den Menschen als Gott, als Zeus selbst darzustellen und Opfer zu fordern. Auf ehernem Wagen jagte er rasselnd durch das Land, ahmte auf Becken und Fellen den Donner des Zeus nach und schwang Fackeln durch die Luft, als wären es Blitze. Da schwang Zeus, der wahre Donnerer, seinen gezackten Blitz aus dichtem Gewölk und zerschmetterte den übermütigen Prahler und vertilgte seine Stadt. In der Unterwelt muss der Gestrafte sein leeres Gaukelwerk forttreiben mit qualmenden Kienfackeln und rasselnden Becken.

EUROPA

(Moschos’ Idyll II)

Europa war die Tochter des phönikischen Königs Agenor in Sidon, eine Jungfrau von strahlender Schönheit. Einst sandte ihr Kythera, die Göttin der Liebe, gegen Morgen, zu der Zeit, wo der süße, gliederlösende Schlaf nur leicht auf der Wimper ruht und unter den Schlummernden der Schwarm trugloser Träume umherschweift, einen süßen seltsamen Traum. Während die Jungfrau dalag in Schlafes Arm, wähnte sie die beiden Weltteile, Asien und die gegenüberliegende Feste, in Frauengestalt um sich kämpfen zu sehen. Die eine derselben hatte eine fremdländische Gestalt, die andere – und dies war Asien – glich einer Einheimischen und mühte sich besonders um die Jungfrau; sie gehöre ihr, sprach sie, sie selbst habe sie geboren und erzogen. Die andere aber wehrte mit starker Hand sie ab und führte die Königstochter ohne Sträuben davon; denn ihr habe der waltende Zeus Europa zum Geschenk gegeben.

Klopfenden Herzens sprang Europa vom weichen Lager, das Traumbild schien ihr ein wahres Gesicht. Lange saß sie schweigend da, und noch immer schwebten ihr die Gestalten der beiden Frauen vor dem offenen Auge. Endlich sprach sie mit bebender Stimme: »Welcher der Himmlischen hat mir dies Traumbild zugesendet? Wer war die Fremde, die ich im Schlaf sah? Wie drängte mein Herz im Schlaf nach ihr hin, wie zog sie selbst mich freundlich an sich heran und nannte mich Tochter! Mögen die Seligen den Traum zum Guten mir wenden.« So sprach sie und erhob sich und suchte nach ihren lieben Freundinnen, den gleichaltrigen trauten Gespielen, sei es beim Reigentanz oder beim Bad in den Wellen des Bachs, sei’s wenn sie süß duftende Lilien pflückten auf der Au. Und diese erschienen sogleich; sie hatten eine jede ein Blumenkörbchen im Arm und eilten mit der Königstochter hinaus in die Wiesen am Meeresgestade, wo ihre Schar gewöhnlich sich sammelte, um sich zu erfreuen an den sprossenden Rosen und dem Rauschen der Wellen. Europa selbst trug ein goldenes Körbchen, wunderschön, ein wahres Kleinod, das Hephaistos gefertigt und der Libya einst als Brautgabe geschenkt hatte, als sie dem Poseidon sich vermählte. Von dieser erhielt es Thelephaessa, ihre Tochter, und Thelephaessa schenkte es ihrer Tochter Europa. Die kunstreichsten Gebilde waren auf dem goldenen Körbchen, die ganze Geschichte der von Zeus geliebten Io.

Als sie nun auf die blumige Au gekommen waren, da ergötzten sie sich, die eine an diesen, die andere an jenen Blumen. Eine pflückte den duftigen Narkissos, die andere Hyazinthen, der gefiel die Viole, jener der Serpyll; andere wieder suchten eifrig den balsamischen Krokos. Mitten unter ihnen stand das Königskind, in Schönheit strahlend wie Aphrodite unter den Chariten, und sammelte mit zarter Hand glühende Rosen. Ach, sie sollte nicht lange mehr eine spielende Jungfrau an den Blumen sich ergötzen. Denn Zeus, der Kronide, sobald er sie sah, die liebliche Königstochter, wie entbrannte er von Liebe; der Kypris Geschosse, die allein den Zeus selbst besiegen kann, hatten ihn völlig bewältigt. Damit er jedoch den Zorn der eifersüchtigen Hera vermeide und um den kindlichen Sinn des Mädchens zu berücken, barg er seine göttliche Gestalt und wurde, sein Wesen verleugnend, ein Stier; doch nicht ein Stier von gewöhnlicher Art, wie sie in den Ställen sich sättigen oder am Pflug und am Wagen sich abmühen, und wie viele auf der Weide mit der Herde gehen; nein, sein ganzer Leib glänzte wie rotes lichtes Gold, nur mitten auf der Stirn trug er einen runden silberweißen Fleck; auf dem Scheitel krümmten sich zwei gleichmäßige Hörner gleich den Hörnern des Mondes, sein sanftes Auge glänzte von Sehnsucht.

Europa von Zeus als Stier entführt

So kam er zur Wiese. Er jagte den Jungfrauen keine Furcht ein, sondern alle gelüstete es, heranzukommen und den schönen Stier zu streicheln, dessen ambrosischer Atem selbst den Duft der würzigen Au von ferne schon überduftete. Jetzt trat er zu der schönen Europa heran und leckte ihr den Hals und schmeichelte ihr freundlich; die klopfte und streichelte ihn, streifte ihm sanft mit der Hand den Schaum vom Maul und küsste sogar den Stier. Der Stier brummte ihr schmeichelnd entgegen, so lieblich, als wären es die Töne einer Flöte, legte sich der Jungfrau zu Füßen und sah mit zurückgebeugtem Nacken zu ihr hinauf und bot ihr den breiten Rücken dar. Da rief sie der Schar ihrer holdgelockten Begleiterinnen zu: »Kommt her, ihr Lieben, wir wollen zur Kurzweil uns auf den Stier setzen; er trägt uns alle auf seinem breiten Rücken wie ein Schiff. Wie blickt er so fromm und freundlich, gar nicht wie andere Stiere, wahrlich, er hat Verstand wie ein Mensch, nur die Sprache fehlt ihm.«

So sprach sie und stieg lachend auf den Rücken des Stiers, und eben wollten auch die andern sich ihr nachschwingen: Da sprang plötzlich der Stier empor – er hatte geraubt, die er wollte – und eilte geradewegs dem Meer zu. Mit ausgebreiteten Händen schaute die Jungfrau nach ihren Gespielen zurück und rief sie um Hilfe an, aber die konnten sie nicht erreichen. Der Stier springt mit seiner schönen Last ins Meer und schwimmt davon, schnell wie ein Delphin, Die Nereiden tauchten aus dem Meer hervor und drängten sich, auf den Rücken von Seetieren dahinschwimmend, in Scharen heran, der Meerkönig Poseidon selbst ebnete dem Bruder die Wellen und führte den Zug, umringt von den Tritonen, den Bewohnern der tiefen Salzflut, welche auf ihren Muscheltrompeten das Brautlied bliesen. Das zitternde Mädchen hielt mit der einen Hand sich an dem Horn des Stiers, mit der andern zog sie die Falten des purpurnen Gewands herauf, sorgend, dass die Woge nicht den flatternden Saum ihr netze. Hoch vom Wind geschwellt, wallte das weite Gewand um ihre Schultern, gleich dem Segel eines Schiffes, und trug sie linde vorwärts.

Als nun die Jungfrau fern war vom Vaterland und nirgends mehr ein Gestade, nirgends ein Berg sich zeigte, nur der Himmel über ihr und unter ihr das unermessliche Meer, da schaute sie angsterfüllten Blicks um sich und sprach also: »Wohin trägst du mich, göttlicher Stier? Wer bist du? Wie kannst du mit dem schweren Fuß das Meer durchwandeln ohne Furcht? Den Schiffen öffnet das Meer seine Bahn, Stiere fürchten sonst den salzigen Pfad. Bist du ein Gott? Warum tust du, was Göttern nicht ziemt? Nie wandeln Delphine auf dem Land, nie ein Stier auf dem Meer; du aber gehst übers Land und schwimmst, ohne dich zu netzen, übers Meer und gebrauchst die Hufe wie Ruder. Bald wirst du auch hoch in die blaue Luft dich heben, gleich dem leichten Vogel. Wehe mir Armen, dass ich das Haus meines Vaters verließ und diesem Stier folgte, durch fremdes Gewässer einsam und verlassen! Sei du mir gnädig, Poseidon, Herrscher der dunklen Flut! Du bist’s, glaube ich, der diesen Zug anführend durchs Meer geleitet. Nicht ohne der Götter Geleit wandere ich diese feuchten Pfade.«

So sprach sie, und der gehörnte Stier antwortete: »Sei getrost, mein Kind, fürchte das Meer nicht. Ich bin Zeus selber, nur dem Schein nach bin ich ein Stier; ich vermag eine Gestalt zu nehmen, wie ich sie will. Die Liebe zu dir trieb mich, in der Hülle eines Stiers diesen Weg durchs Meer zu gehen. Kreta, die schöne Insel, wird dich aufnehmen, die meine eigene Wiege war; dort wird dein Brautgemach sein, und von mir wirst du berühmte Söhne gebären, Zepter tragende Könige, die mit Kraft herrschen werden über die Völker.«

So sprach er, und was er gesprochen, erfüllte sich. Kreta stieg bald aus den Wellen empor und nahm die Braut des Zeus auf. Hier wurde sie Mutter der großen Könige Minos, Rhadamanthys und Sarpedon.

KADMOS

(Ovids Metamorphosen III, 1–130)

Als Zeus die Europa geraubt hatte, schickte ihr Vater seine drei Söhne Phoinix, Kilix und Kadmos aus, sie zu suchen, mit dem Befehl, nicht eher zurückzukehren, als bis sie die Schwester gefunden. Phoinix und Kilix standen bald von ihren Nachforschungen ab und gründeten der eine in Phönikien, der andre in Kilikien sich eine Herrschaft. Kadmos gelangte nach langem Umherziehen nach Samothrake, und als hier seine Mutter Thelephaessa, die ihn begleitete, gestorben war und er sie bestattet hatte, wandte er sich nach Delphi, um das Orakel des Apollon zu befragen, in welchem Land er sich niederlassen sollte; denn er verzweifelte an der Auffindung seiner Schwester und fürchtete den Zorn des Vaters, wenn er ohne sie nach Hause zurückkehrte. Phöbus Apollon antwortete ihm: »Ein Rind wird dir aufstoßen auf einsamer Au, das noch kein Joch getragen und an keinem Pflug gezogen hat; das nimm dir zum Führer, und wo es im Gras sich niederlegen wird, da bau eine Stadt und nenne sie das böotische Theben.«

Kaum hatte Kadmos den weissagenden Schlund von Delphi verlassen, so sah er ein Rind, das noch keine Zeichen der Dienstbarkeit um seinen Nacken trug, ohne Hüter gemächlich auf der Weide einhergehen. Er folgte langsamen Schrittes seinen Spuren nach, leise Gebete zu Phöbus, der den Weg ihm geraten, vor sich hin murmelnd. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchschritten und die Fluren von Panope, da stand das Rind still, und indem es das stattliche Gehörn zum Himmel erhob, erfüllte es die Luft mit seinem Brüllen. Darauf schaute es zurück nach der Schar der ihm folgenden Männer und legte sich nieder in das weiche Gras. Voll Dank warf sich Kadmos nieder und küsste die fremde Erde und begrüßte die unbekannten Berge und Fluren. Als er darauf dem Zeus ein Opfer darbringen wollte, sandte er einen Teil seiner Diener aus, um aus lebendigem Quell Wasser zu holen zum Weiheguss.

In der Nähe stand ein hoher Urwald, den noch nie eine Axt berührt hatte; in seiner Mitte bildete zusammengefügtes Felsgestein eine niedere, von Gestrüpp und Gedörn dicht umwachsene Höhle, aus der reichliches Wasser floss. In der Höhle lagerte ein furchtbarer Drache des Ares und bewachte den Quell. Wie von Gold schimmert sein hoher Kamm, Glut blitzen seine Augen, und der ganze Leib ist geschwollen von Gift. Drei Zungen zischen aus dem weiten Rachen, in welchem drei Reihen von Zähnen drohen. Als die phönikischen Männer, von ihrem bösen Geschick geführt, in diesen Hain kamen und eben die Krüge in die plätschernde Flut tauchten, da reckte der bläuliche Drache sein Haupt weit aus der Höhle und blies sie an mit schrecklichem Zischen. Entsetzt lassen sie die Krüge sinken, blasser Schreck erfasst ihre Glieder. Der Drache rollt den schuppigen Rücken zu furchtbarem Knäuel zusammen, krümmt sich dann zu ungeheurem Bogensprung, und über die Hälfte emporgerichtet, schaut er auf den ganzen Wald herab. Jetzt stürzt er sich auf die Männer, mordet die einen durch Biss, andere erdrückt er in seiner Umschlingung, wieder andere tötet er durch den Anhauch seines giftigen Geifers.

Schon stand die Sonne hoch im Mittag. Der Sohn des Agenor wundert sich, wo seine Leute so lange bleiben, und beschließt, sie zu suchen. Er deckt sich mit dem Fell eines Löwen, den er selbst erlegt hatte, nimmt seine Lanze mit glänzender Eisenspitze und einen Wurfspieß, dazu ein Herz, das besser ist als jede Waffe, und eilt dem Wald zu. Sobald er eingetreten war, erblickte er die entseelten Leiber der Seinen und über ihnen die scheußliche Gestalt des Drachen, wie er triumphierend mit der Zunge die zerfleischten Glieder beleckte. »Entweder komme ich als euer Rächer«, rief er, »oder ich bin euer Begleiter im Tod!« Mit diesen Worten ergriff er einen Felsblock und schleuderte ihn gegen den Drachen. Hohe Mauern mit ragenden Türmen wären von der Wucht des Blocks erschüttert worden, aber der Drache blieb ohne Wunde; die Schuppenhaut und die Härte des Balgs schützten ihn vor dem Wurf wie ein Panzer. Dem Wurf des Speeres aber hielt die Härte des Leibes nicht stand, die eiserne Spitze drang mitten durch das gekrümmte Rückgrat tief in die Eingeweide.

Wütend vor Schmerz, warf das Tier das Haupt nach dem Rücken, sah die Wunde, biss in den Wurfspieß und zerrte ihn mit Zornesgewalt heraus; doch das Eisen blieb in den Knochen des Rückgrats stecken. Immer mehr wuchs mit dem Schmerz die Wut; der Hals blähte sich schwellend auf, weißer Schaum umfloss den Rachen; der schuppige Schwanz zerpeitschte die Erde, und schwarzer Gifthauch aus dem mörderischen Schlund verpestete die Luft. Bald krümmt er sich in unermesslichem Kreis zusammen, bald reckt er sich empor, aufrecht wie ein langer Balken, jetzt schießt er in wildem Ungestüm vorwärts wie ein geschwollener Bergstrom und rennt mit der Brust wider die starken Waldbäume. Kadmos weicht etwas zur Seite, deckt sich mit dem Löwenfell gegen den Anfall und hält dem drohenden Rachen die Lanze vor, an welcher seine Zähne in blinder Wut sich vergeblich abmühen. Schon troff das Blut von dem giftgeschwollenen Hals und rötete den Rasen; aber die Wunde war nur leicht, da der Hals stets den Stößen des Speeres auswich und keine tiefere Wunde zuließ. Endlich stieß Kadmos das Schwert ihm in die Gurgel, tief, immer tiefer nachstoßend, bis er rückwärts das Ungetüm wider eine Eiche gedrückt und seinen Nacken zugleich mit dem Stamm durchbohrt hatte. Von dem Gewicht des Drachen krümmte sich der Baum und erseufzte, gepeitscht von der Spitze des zuckenden Schweifs.