Die Schatten von München - Frank Schmitter - E-Book

Die Schatten von München E-Book

Frank Schmitter

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Beschreibung

Unter der glänzenden Münchener Fassade verbergen sich tiefe Risse … Bei einem abendlichen Spaziergang durch die Münchner Ludwigsvorstadt wird Kommissar Gerald van Loren Zeuge, wie ein junger Mann aus dem vierten Stock eines Mietshauses in den Tod stürzt. Alle Indizien deuten auf Selbstmord, doch Geralds Intuition sagt ihm etwas anderes: Hinter dem Rücken seines Kollegen Batzko, einem Macho sondergleichen, beginnt er mit seinen Ermittlungen. Diese führen schon bald zu einem zwielichtigen Psychologen und einer Therapiegruppe von Menschen, die sich erst dann »komplett« fühlen, wenn ihnen ein Körperteil amputiert wird. Erst als ein weiterer Patient aus der Gruppe ermordet wird, erkennt Gerald, wie tief er bereits persönlich in den Fall involviert ist … Dieser fesselnde und psychologisch fein gezeichnete Regio-Krimi bietet beste Unterhaltung für alle Fans von Harry Kämmerer und Andreas Franz.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

eBook-Neuausgabe Juni 2025

Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Die Narbe« im btb Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2012 by btb Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fb)

 

ISBN 978-3-98952-853-6

 

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Frank Schmitter

Die Schatten von München

Kriminalroman

 

Kapitel 1

 

»Man darf nichts persönlich nehmen«, sagte der Mann. »Das ist das Wichtigste überhaupt im Leben, verstehst du?«

Er ließ den Würfel in der offenen Handfläche rotieren und dann über die Spielfläche des »Mensch-ärgere-dich-nicht« rollen.

Vier.

Der Mann, um die fünfzig, gepflegte Erscheinung, schwarzer Anzug, dunkle Krawatte, weißes Hemd, schüttelte den Kopf. Er hätte eine Eins gebraucht, denn drei rote Püppchen waren bereits im Haus postiert, das vierte wartete genau vor dem Eingang.

Sein Gegenüber, ein junger Mann, unrasiert, mit schulterlangem, fettigem Haar, antwortete nicht. Wie sollte er auch, sein Mund war mit einem breiten Plastikstreifen zugeklebt. Die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, die Unterschenkel mit Handschellen an den Stuhlbeinen fixiert. Er ließ den Kopf auf die Brust fallen und schloss die Augen.

Außer den beiden befand sich niemand in dem fensterlosen Raum.

»Es hat im Grunde nichts mit dir oder mir zu tun«, sagte der Ältere, legte den Würfel kurz an seine Lippen und küsste ihn, bevor er ihn rollen ließ. »Irgendwer, vielleicht Gott oder das Schicksal, hat dich auf deinen Stuhl gesetzt und mich auf meinen. Also kein Grund, sich aufzuregen. Es ist alles nur ein Spiel. Nimm es nicht persönlich, okay?«

Eins.

Gerald van Loren wachte auf. Sein Nacken schmerzte. Er schaute nach vorne auf die Leinwand, wo der Mann in dem edlen Anzug langsam eine Pistole aus der Innentasche seines Jacketts zog und seinem Gegenüber sechs Mal in den Kopf schoss.

Langsam ließ Gerald den Kopf kreisen. Er fühlte sich so groß und schwer an wie eine Wassermelone. Der Mund war trocken, die Lippen spröde. Jede Bewegung in dem schmalen Sitz schmerzte, er fühlte jeden einzelnen Wirbel seines Rückens, als hätte er zehn Stunden auf dem Fußboden gelegen. Schließlich rutschte er noch tiefer in seinen Sitz und schloss erneut die Augen.

Er wachte erst wieder auf, als sich der Vorhang mit einem sirrenden Geräusch zuzog. Geduldig wartete er, bis die letzten Zuschauer den Saal verlassen hatten. Gerald versuchte erst gar nicht, sich an die Handlung des Films zu erinnern. Er hatte vielleicht ein Zehntel mitbekommen. Es störte ihn nicht, denn er war nicht ins Kino gegangen, um einen Film zu sehen.

Geralds Beine fühlten sich taub an, er musste sich am Geländer festhalten, als er die Treppe zum Erdgeschoss nahm. Ein süßlich-warmer Duft nach Popcorn empfing ihn. Vor der Theke im Foyer warteten einige Jugendliche mit Pappbechern in der Hand.

Ich habe tatsächlich geschlafen, dachte er. Zum ersten Mal seit zwei Nächten, in denen sich sein vier Monate alter Sohn mit einer fürchterlichen Mittelohrentzündung quälte. Trotz des Großeinsatzes von Medikamenten, Antibiotika, Alternativmedizin, Zwiebelumschlägen und dubioser Geheimmittel (Gerald, der Ex-Raucher, hatte den Rauch einer Zigarette in das Ohr des Kindes geblasen) hatte Severin gefühlte vierundzwanzig Stunden durchgeschrien. Nele war fix und fertig, Gerald war fix und fertig; und nachdem sein Sohn, ein erbarmungswürdiges Bündel aus Schmerz, Fieber und Blässe auch an diesem Abend aus einem dünnen Halbschlaf erwacht war und zu schreien begonnen hatte, war Gerald fluchtartig aus der Wohnung getürmt. Auf der Straße hatte er zuerst überlegt, zu seiner Mutter zu fahren und Asyl in seinem ehemaligen Kinderzimmer zu suchen. Doch dann hätte es nur bohrende Fragen gegeben, und dieser Situation hatte er sich unter keinen Umständen aussetzen wollen.

Als Gerald das Kino am Goetheplatz verließ, war die Luft angenehm mild. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr.

Er schaltete das Handy an: keine SMS, keine Nachricht auf der Mailbox. Mit anderen Worten: Nele hatte mit Severin nicht in die Kinderklinik fahren müssen. Er schickte ein Dankgebet in den Abendhimmel.

Andererseits bedeutete es nicht, dass es Severin tatsächlich besser ging. Gerald sah sich in der Pflicht, Nele zu entlasten, aber er konnte zumindest im Café Blue noch ein oder zwei Weißbier trinken. Als er die Lindwurmstraße stadtauswärts entlangging, sah er drei Streifenwagen, die mit eingeschaltetem Blaulicht die Straße in beide Richtungen blockierten. Eine Menschentraube hatte sich um einen Hauseingang formiert. Darunter ein älterer Mann, der einen ausgewaschenen Pullover über einem Pyjama trug und ein Bierglas in den Händen hielt. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, die Leute zurückzudrängen und zum Weitergehen aufzufordern. Doch die Angesprochenen suchten sich lediglich eine aussichtsreiche Position auf der anderen Straßenseite. Das Recht auf Gaffen, dachte Gerald resigniert, gehört für sie zu den heiligen demokratischen Grundrechten. Er erinnerte sich an seine Anfangsjahre, als er im Streifendienst mit der Anmaßung und der Aggression der Schaulustigen konfrontiert worden war, und allein der Gedanke daran ließ ihn die Hand zur Faust ballen. Es stimmte nicht, dass ihm annähernd zwei Dienstjahrzehnte Gelassenheit verliehen hatten. Er hatte lediglich gelernt, sich besser im Griff zu haben.

Einer der Gaffer verließ, nachdem er streng dazu aufgefordert worden war, zögerlich den Schauplatz und gab den Blick frei auf einen Blutfleck auf der Straße, dicht am Bürgersteig. Er war noch nicht eingetrocknet. Gerald machte zwei Schritte nach vorne. Ein jüngerer Kollege wickelte gerade das rot-weiße Flatterband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« um einen Laternenpfahl. Gerald trat auf ihn zu. Der Polizist erkannte ihn und fragte leicht überrascht: »Haben Sie Bereitschaft?«

»Nein. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen.«

»Verstehe. Und? Fest entschlossen, sich den freien Abend versauen zu lassen?«

Gerald van Loren zuckte die Achseln. »Tja, offenbar ist es mein Schicksal, mir beim Spazierengehen ausgerechnet die Straße auszusuchen, in der ich meine Kollegen treffe. Und jetzt, wo ich schon mal da bin ...«

»Wollen Sie unbedingt wissen, was hier passiert ist?«

»Ja.«

»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass ein junger Mann vom Balkon der Dachgeschosswohnung gestürzt ist. Ein Passant hatte einen Schrei gehört, aber nur noch gesehen, wie der Mann auf der Straße aufgeschlagen ist. Mehr wissen vielleicht die Kollegen, die schon im Haus sind.

»Ist die Spurenermittlung informiert?«

Der Polizist nickte. »Die sind gerade noch bei einem Einbruch am anderen Ende der Stadt im Einsatz. Aber zwei Kollegen sind schon vor Ort und sichern die Wohnung ab.«

Gerald schaute nach oben. Der Balkon lag im vierten Stock. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte niemand überleben, selbst wenn zwei Schutzengel mitgeflogen wären. Sein Blick schweifte zu den Nachbarhäusern. In seiner Schulzeit, fiel Gerald ein, hatte eine Freundin, die früh von zu Hause ausgezogen war, hier irgendwo in dieser Straße für achtzig Mark im Monat zwei Zimmer angemietet, ohne Bad und Küche; die Gemeinschaftstoilette hatte sich im Zwischengeschoss befunden. Es waren die Jahre gewesen, in denen er kein Mädchen zu sich nach Hause hatte einladen können, ohne dass seine Mutter alle zehn Minuten an die Zimmertür geklopft hätte, um zu fragen, ob noch eine Tasse Tee oder Plätzchen gewünscht würden. Die eigene Wohnung hatte sie, ein farbloses, unattraktives Mädchen, in ein Objekt der Begierde verwandelt. Gerald hatte mit ihr die ersten harmlosen sexuellen Erfahrungen gemacht, während gleich mehrere Klassenkameraden sich gebrüstet hatten, sie entjungfert zu haben.

Dieses Haus jedoch war renoviert worden. Die Fassade verputzt, die Fenster erneuert, das Dachgeschoss ausgebaut mit drei kleinen Balkons.

»Es war der Krüppel. Als ob ich es geahnt hätte, dass er es eines Tages tun würde«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken. Gerald drehte sich um und hätte die Frau beinahe zur Seite gestoßen, so dicht stand sie hinter ihm. Auch eine von denen, dachte er, für die das Grundrecht auf freie Information das Belauschen von Dienstgesprächen einschließt. Die Frau war um die fünfzig und trug einen Haushaltskittel über einer dunkelblauen Trainingshose. Die Hausschuhe wiesen darauf hin, dass sie in der Nachbarschaft wohnte. Der Blick, mit dem sie Gerald fixierte, gierte geradezu danach, der Polizei ihr Wissen anzudienen. Den Gefallen werde ich ihr nicht tun, dachte Gerald genervt und bedeutete dem Polizisten mit einer Kopfbewegung, sich ein paar Schritte zu entfernen.

»Was meint sie?«, fragte er leise.

»Ich weiß nicht genau. Ich habe nur gesehen, dass das Hemd des jungen Mannes auf der linken Seite bis zum Ellbogen hochgekrempelt und mit einer Sicherheitsnadel fixiert war. Irgendetwas war komisch an ihm. Aber ich habe nichts Genaues erkennen können. Der Notarzt war auch gleich da.«

»Was meinen Sie mit ›komisch‹?«

»Wie gesagt: Ich konnte nichts Genaues erkennen. Nur die Sicherheitsnadel erschien mir etwas merkwürdig.«

Gerald ging über die Straße und schaute hinauf zu den Balkons, aber auch von diesem Punkt aus konnte man schwerlich sehen, was sich dort oben tat. Die Balkonbrüstung war einfach zu hoch. Kurz darauf kamen zwei Polizisten aus dem Haus und sprachen mit ihrem Kollegen, der das Flatterband noch immer in den Händen hielt. Es war ein kurzes Gespräch. Einer der beiden zuckte mit den Achseln; sein desinteressierter Gesichtsausdruck verriet, dass sie nichts Aufregendes in Erfahrung gebracht hatten. Der Rest war Sache der Spurensicherung, die bald auftauchen würde.

Gerald entfernte sich vom Ort des Geschehens. Die Lust, noch etwas zu trinken, war ihm vergangen. Er ging durch die Lindwurmstraße, und obwohl er nur wenige hundert Meter entfernt wohnte, war er im ersten Moment orientierungslos. Sein Verstand war wie blockiert, und allmählich wurde ihm bewusst, dass es nicht an seinem Schlafrückstand lag, sondern vielmehr an einer Erinnerung, die sich an die Oberfläche kämpfte: In seiner Schulzeit – er war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen – hatte sich sein bester Freund vom Balkon der elterlichen Wohnung gestürzt. So hatte es zumindest damals geheißen, obwohl Gerald sich einen Selbstmord nicht hatte vorstellen können. Er hatte geglaubt, niemanden so gut zu kennen wie diesen Freund. Nächtelang hatten sie mit radikal entblößender Offenheit über den Sinn des Lebens, über Mädchen und die Techniken der Masturbation diskutiert. Und dabei zahllose Zigaretten gedreht und den Whiskey getrunken, den sein Freund nachmittags aus der väterlichen Spirituosensammlung abgezapft hatte. Nach dem tragischen Unglück hatte Gerald sich Monate lang schwerste Vorwürfe gemacht, die möglichen Vorboten des Selbstmords nicht erkannt zu haben. Dann hatten Gerüchte kursiert, dass der Sturz die Folge einer heftigen Auseinandersetzung mit dem älteren Bruder auf dem Balkon gewesen war. Das hatte Gerald allerdings nicht von seinen Schuldgefühlen befreien können, sondern sie nur in eine andere Bahn gelenkt. Denn stattdessen hatte er sich dann mit dem Vorwurf gequält, die These des vermeintlichen Suizids nicht hinterfragt zu haben. Hatte er dadurch nicht seinen Freund verraten, ihre Freundschaft behandelt wie einen Handschuh, den man irgendwo verloren hatte? Die Scham darüber hatte ihn für den Rest der Schulzeit in einen verstockten, abweisenden Einzelgänger verwandelt.

Keine zwanzig Minuten später stand er vor seiner Wohnung im zweiten Stock eines gesichtslosen Hauses aus den siebziger Jahren. Er sah, dass in den beiden Zimmern, die zur Straße hinausgingen, und im Flur kein Licht brannte. Das las er als gutes Zeichen; in den vergangenen Nächten waren sie abwechselnd mit dem schreienden Baby auf dem Arm in der Wohnung auf und ab spaziert, in der Illusion, der andere könne im Schlafzimmer wenigstens für kurze Zeit die Augen schließen. Dass Nele den ganzen Abend allein mit dem Baby gewesen war, drang erst im Treppenhaus in sein Bewusstsein.

Mit der größtmöglichen Vorsicht öffnete er die Wohnungstür. Stille. Nirgends brannte mehr Licht. Gerald hängte die Jacke an die Garderobe, zog die Schuhe aus und schlich ins Schlafzimmer. Er konnte die Umrisse der beiden Körper erkennen: Severin hatte eine Hand auf das schmerzende Ohr gepresst, die andere lag auf Neles Wange. Die Gesichter waren einander zugewandt im Abstand von nur wenigen Zentimetern. In dem Moment, als er ins Bett kriechen wollte, durchbrach ein kurzes, heftiges Schluchzen Severins Atmung. Gerald erschrak. Er fürchtete, ihn geweckt zu haben, doch Severin bewegte sich nicht, im Gegensatz zu Nele, die sich mit äußerster Vorsicht vom Baby wegdrehte. Ihre Augen blieben geschlossen, aber ihre Lippen zitterten, als betete sie darum, dass Severin weiterschlief. Gerald zog sich bis auf die Unterhose aus, hob vorsichtig die Bettdecke an und legte sich neben seine Frau. Er streichelte ihren Oberarm, den Rücken und küsste sie in den Nacken.

»Wenn er diese Nacht nicht schläft, springe ich aus dem Fenster«, flüsterte sie.

Er bemerkte eine seltsame Geruchsmischung aus Milch, Bett und Schweiß und bedauerte, nicht doch noch ein Bier im Café Blue getrunken zu haben.

»Nach der dritten Nacht wird es besser. Das sagen alle: die Hebammen, die Ärzte, die Wunderheiler, die Schamanen, die Medizinmänner, sogar meine Mutter.«

»Sagen sie auch, dass der Vater in der dritten Nacht abhaut?«

Er legte seine Hand auf ihren Bauch, küsste erneut ihren Nacken und erwischte diesmal das dichte, kurzgeschnittene Haar.

»Ich muss arbeiten, Liebes. Ich muss unser Heim, unser Kind und unsere Stadt schützen. Überall in den Hügeln lauern die Indianer und warten nur darauf zuzuschlagen.«

Sie brummte etwas, das wie »typisch Mann« klang. Dann streichelte sie kurz über seinen Unterarm. Severins Atem war tief und gleichmäßig, er wirkte weniger gequält als in den letzten beiden Tagen, obwohl die Gesichtshaut noch stark gerötet war.

»Wo warst du eigentlich?«

»Im Kino. Das ist billiger als ein Hotel, nur unbequemer.«

»Welcher Film?«

»Der, der anfing, als ich an der Kasse stand. Irgendwann wurde jemand an einem Spieltisch erschossen. Mehr weiß ich nicht mehr. Ein perfekter Film also, ein Schlaffilm.«

»Ich habe das Gefühl, dass wir seit Jahren nicht mehr zusammen im Kino waren und dass es, wenn wir wieder ausgehen können, gar keine Kinos mehr geben wird.«

Gerald streichelte ihr über den Bauch. Jetzt die Augen schließen, dachte er, und in einem Monat aufwachen.

Zwei Stunden später lag er immer noch wach im Bett. Die Erinnerung an den Tod seines Freundes ließ ihn nicht los. Ich kann nichts vergessen, sagte er zu sich selbst. Ich kann nichts Schlimmes vergessen, was jemals in meinem Leben passiert ist. Es kehrt zurück zu mir, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann.

Kapitel 2

 

Batzko lehnte lässig im Türrahmen. Jeans, ein tailliertes Hemd – die oberen Knöpfe geöffnet, um dem Brusthaar Frischluft zu garantieren – der Schädel glattrasiert, ein schwarzer Dreitagebart, der die scharfen Gesichtszüge grundierte. Die Muskulatur seiner 192 Zentimeter in jahrelangem Training ausmodelliert: eine Doppelpackung Testosteron auf zwei Beinen.

Grinsend gab er den Weg ins Büro frei. »Ausgeschlafen?«

Gerald stellte die Kaffeetasse auf seinen Schreibtisch und schaltete den PC an.

»Hat jemand in der Dienstbesprechung nach mir gefragt?«

»Nein. Wer sollte schon nach dir fragen? Ich habe dich entschuldigt.«

Gerald trank einen Schluck und zog die Schultern hoch. Er war mit höllischen Nackenverspannungen aufgewacht, weil Severin in Neles Armen geschlafen hatte und sie, um ihm genügend Raum zu geben, Gerald an die Zimmerwand gedrückt hatte.

»Du siehst zum Kotzen aus, Kollege. Wie Schimmelkäse. Soll ich dich verhaften, damit du in der Arrestzelle ein paar Stunden pennen kannst?«

»Du würdest doch nur den Schlüssel wegwerfen, um schneller Karriere zu machen.«

Batzko machte eine begütigende Handbewegung. »Dazu muss alles nur so bleiben, wie es ist. Außerdem vögelst du zu wenig.«

»War das etwa das Thema in der Dienstbesprechung?«

»Der Polizeipräsident persönlich hat es angesprochen. Im Ernst«, sagte Batzko und schob die Tageszeitung auf Geralds Schreibtisch. »Schlafmangel in der Phase ist normal, das habe ich schließlich auch zwei Mal durchgemacht. Aber nichts ist so wichtig wie ...«

»Ich kann mir vorstellen, wie das bei dir abgelaufen ist. Vermutlich hast du im Kreißsaal erst zwei Hebammen bei einem Dreier vernascht und am Morgen nach der Geburt deine Frau. Entschuldige. Ich meinte natürlich: deine Ex-Frau.«

Batzko ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Man sieht es dir an. Ich sehe es dir an. Es steckt in deinen missmutigen Mundwinkeln. In deinen müden Augen. In deiner latenten Unzufriedenheit. Sexuelle Frustration steht auf deiner Stirn, dick und fett. Medizinisch gesehen könnt ihr es wieder den ganzen Tag treiben. Für die Zeit davor hätte es ein bisschen Phantasie gebraucht, zugegeben. Aber eine liebende Frau ...«

»Halt die Klappe«, fiel ihm Gerald ins Wort und spürte, wie er nun richtig wütend wurde. Batzko hatte Recht, aber Gerald würde ihm nie und nimmer Recht geben. »Muss ich dich daran erinnern, dass ich dich eines Morgens in der Tiefgarage gesehen habe, heulend über dem Lenkrad zusammengeklappt, ein Foto mit deinen beiden Kids in der Hand?«

Gerald wusste, dass er mit dieser Breitseite das Thema beenden konnte, und tatsächlich griff Batzko hinter sich ins Regal und holte eine Akte heraus.

»Lang ists her. Und am Ende war es für alle Seiten besser so«, sagte er und achtete darauf, dem Blick seines Kollegen auszuweichen.

Gerald sah aus dem Fenster. Es war ein warmer Junitag, der Himmel beinahe wolkenlos, die Luft klar. Er hatte Lust, mit Nele und Severin im Englischen Garten spazieren zu gehen, Eis zu essen und Severins Genesung zu feiern. Gedankenverloren blickte er auf das Foto, das er genau einen Monat nach der Geburt seines Sohnes geknipst hatte. Es stand neben seinem Telefon, an der Grenze zu Batzkos Schreibtisch. Als dieser ihm grinsend die Zeitung reichte, stieß er die Fotografie um, absichtlich, da war sich Gerald sicher.

»Ist bei der Dienstbesprechung von dem Mann gesprochen worden, der gestern Abend aus dem vierten Stock gefallen ist?«

»Der Selbstmörder?«

»Ist das sicher?«

»Die Kollegen von der Streife haben keinen Hinweis darauf gefunden, dass jemand mit ihm in der Wohnung gewesen wäre. Die Spurensicherung war vor Ort, hat aber auch nichts Verdächtiges entdeckt.«

»Gab es einen Abschiedsbrief? Wurden Medikamente gefunden? Gab es Zeichen für Alkoholmissbrauch? Lief der Fernseher noch?«

Batzko schob seinen Oberkörper nach vorne und legte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Deine Gründlichkeit am frühen Morgen nervt ein wenig, Kollege. Alles Fehlanzeige, soweit ich mich erinnere. Ein simpler Suizid, so etwas soll bekanntlich in den besten Familien vorkommen. Aber wieso interessiert dich das so brennend? Wieso weißt du überhaupt davon, Langschläfer?«

»Ich war gestern Abend im Kino.«

Batzko pfiff durch die Lippen. »Gerald auf dem Weg zurück ins Leben. Ich fass es nicht!«

»Danach habe ich mir etwas die Beine vertreten und bin zufällig durch die Lindwurmstraße gelaufen, allerdings nachdem es passiert war. Ist der Mann am Unfallort umgekommen?«

Batzko hatte seine normale Sitzposition wieder eingenommen. Er antwortete betont desinteressiert in den geöffneten Aktenordner. »Der Notarzt hat ihn noch reanimieren können, doch dem Typen sind dann zwei oder drei Stunden später im Krankenhaus die Lichter ausgegangen. Die Kopfverletzungen waren zu schwer. Soweit der O-Ton aus der Dienstbesprechung. Aber ich kann deinen fehlgeleiteten Ehrgeiz beruhigen: Der Leichnam ist zur Gerichtsmedizin transportiert worden. Und jetzt machen wir uns an die Arbeit, okay? Die Staatsanwaltschaft wartet nicht gerne.«

Es gab mehrere Fälle von gefährlicher Körperverletzung, einen Tankstellenüberfall und eine versuchte Vergewaltigung, die sie an die Justiz weiterleiten mussten, versehen mit allen Zeugenaussagen, medizinischen Gutachten und den eigenen Ermittlungsergebnissen. Wenn Batzko Berichte schreiben musste, schob er unter der Anspannung stets die Unterlippe zwischen die Zähne; die dichten Haare über seinem Kinn erhoben sich zu stacheligen Borsten. Dazu brummte er vor sich hin; es klang wie das Selbstgespräch eines Greises, der sein Gebiss verloren hatte. Batzko liebte seinen Beruf, er liebte den Adrenalinschub während der Ermittlungen, den Wettkampf mit dem Täter, den Triumph der Verhaftung – aber er verfluchte den bürokratischen Rattenschwanz, den jeder Fall nach sich zog. Er hasste den Computer mehr als jeden Kriminellen.

 

Als Batzko um halb zwölf das Büro verließ, rief Gerald in der Gerichtsmedizin an. Er hatte Glück und konnte mit dem Forensiker sprechen, der die Untersuchung an dem jungen Mann, der vom Balkon gefallen war, gerade abgeschlossen hatte. Gerald hatte Dr. Wembler noch nicht persönlich kennengelernt, weil dieser erst wenige Wochen zuvor seine Stelle angetreten hatte. Seine Stimme klang sehr jung.

»Also: Exitus durch die schweren Sturzverletzungen, genauer, einen mehrfachen Schädelbasisbruch mit folgender Hirnlähmung. Die weiteren Frakturen und Blessuren haben da nur dekorativen Charakter, wenn ich mich so ausdrücken darf. Er hätte keine Chance gehabt, selbst wenn er direkt neben einem OP-Tisch gelandet wäre.«

»Medikamente? Alkohol? Drogen?«

»Jederzeit gerne; wenn die Preise stimmen, bin ich dabei. Aber nicht bei unserer Leiche.«

»Keine Anzeichen einer körperlichen Auseinandersetzung? Keinerlei Auffälligkeiten?«

»Nichts dergleichen. Da ist nur eine Merkwürdigkeit ...«

Eine Pause trat ein. Gerald hörte, wie Dr. Wembler in den Unterlagen blätterte. Dann räusperte er sich.

»Eine Amputation des linken Unterarms oberhalb des Ellbogens. Vermutlich nach einem Unfall; der Mann war ja jung und gesund wie ein Obstkorb, soweit es sich in der Untersuchung darstellt. Wobei es nicht die Amputation an sich ist, die mich irritiert ...« Der Gerichtsmediziner hielt erneut inne. Dem Geräusch nach zu urteilen, tippte er mit einem Kugelschreiber nervös auf die Mappe mit den Obduktionsberichten.

»Ja? Ich höre.«

»Es ist die Narbe. Sie sieht fachmännisch aus, eindeutig sogar, aber es ist keine normale Operationsnarbe. Sie sieht aus wie ... ja, wie Sonnenstrahlen. Linien, die auf ein Zentrum zustreben, so kunstfertig wie ein Tattoo. Es gibt keinen medizinischen Grund dafür, im Gegenteil. Als ob die Person ganz bewusst eine, in Anführungszeichen, schöne und einzigartige Narbe hätte haben wollen, wie eine Zeichnung nicht auf, sondern direkt in die Haut.«

»Was meinten Sie damit: ›Es gibt keinen medizinischen Grund dafür?‹«

»Nun ja, allgemein gesprochen versucht normalerweise jeder Mediziner, eine Narbe so klein wie möglich zu halten, weil sie im Vergleich zu unserer Haut ein vielfach erhöhtes Risiko an Infektionen, Verletzungen etc. birgt und nicht gerade eine Zierde für die Optik darstellt. Aber hier ist das genaue Gegenteil passiert. Als hätte jemand genau das so gewollt. Als würde eine merkwürdige Art von Ästhetik die Regeln der Chirurgie austanzen. Eine Art von Zeichnen mit Skalpell, so würde ich es ausdrücken.«

»Haben Sie so etwas schon einmal zuvor gesehen?«

»Nein. Ich habe darüber mit einem Kollegen gesprochen. Auch der schüttelte nur den Kopf. Vielleicht handelt es sich um einen Fetisch. Aber vielleicht wissen Sie besser, was an bizarren Modeerscheinungen und Trends unterwegs ist.«

»Können Sie beurteilen, wann das geschehen ist?«

»Ich kann jetzt und hier nur feststellen, dass der Heilungsprozess offensichtlich normal verlaufen ist. Anders gesagt: Der Eingriff ist nicht in den letzten Wochen durchgeführt worden. Um den Zeitraum präziser zu bestimmen, müsste ich aufwendigere Untersuchungen machen, für die ich in diesem, von jenem Detail abgesehen, eindeutigen Fall keine Notwendigkeit sehe. Ich arbeite schließlich nicht in einem medizinischen Kuriositätenkabinett.«

»Wie Sonnenstrahlen also«, wiederholte Gerald, mehr zu sich selbst. Diese Vorstellung ließ ihn nicht los, gleichzeitig fiel ihm keine weitere Frage ein.

»Hören Sie«, sagte Dr. Wembler und wirkte plötzlich kurz angebunden, »Sie bekommen ja unseren Bericht. Ich werde ein paar Fotos von der Stelle schießen, einverstanden? Es bleibt unter dem Strich dabei, dass die Obduktion die Todesursache durch den Sturz zweifelsfrei bestätigt. Damit ist die Sache für uns abgeschlossen.«

»Danke.« Gerald hielt den Telefonhörer unverändert in der Hand. Nach einem Moment setzte er wieder an: »Darf ich, wenn mir noch etwas einfallen sollte ...« Er brach ab, weil sein Gesprächspartner bereits aufgelegt hatte.

Eine Minute später kam Batzko zurück und traktierte mit steigender Ungeduld die Tastatur. Er fluchte bei jedem Fehler, der ihn zu einer Korrektur zwang. Gegen halb eins lehnte er sich zurück und streckte die Arme in die Höhe.

»Auf in die Kantine, Bleichgesicht. Heute ist Schnitzeltag.«

»Ich gehe heute nicht. Ich muss etwas in der Stadt erledigen.«

»Windeln kaufen?«

»Du nervst kolossal.«

»Logo«, sagte Batzko. Er stand auf, legte die Hände in Höhe des Bauches ineinander und tat so, als würde er ein Baby im Arm schaukeln, während er gleichzeitig der Tür zustrebte. Geralds Kugelschreiber verfehlte ihn um wenige Zentimeter.

 

Gerald nahm diesmal nicht die Straßenbahn. Das wunderbare Wetter machte Lust auf Bewegung. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. In einem Straßencafé in der Nähe des Präsidiums sah er mehrere Kollegen; sie hatten den Kopf in den Nacken fallen lassen und tankten Sonne.

Unterwegs fragte er sich, warum er überhaupt in der Gerichtsmedizin angerufen hatte. Sicher, er hatte sich über Batzko geärgert, über die gedankenlose Schnelligkeit, mit der er einen Schlussstrich unter die wenigen Indizien gezogen hatte. Der entscheidende Impuls aber lag in Gerald selbst. Die Erinnerungen an den vermeintlichen Selbstmord seines Kumpels hatten ihn auch an diesem Morgen beschäftigt. Er hatte damals dessen Familie nicht aufgesucht, obwohl er mehrfach dort zu Gast gewesen war. Er hatte auch mit niemandem über diesen Freund geredet. Bis heute litt er darunter. Und jetzt hatte er endlich das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu können. Er konnte einfach nicht auf Batzkos Linie einschwenken. Er war am Vorabend am Tatort gewesen, er fühlte sich verpflichtet, die Akte nicht vorschnell zu schließen – ob er eine Beziehung zu diesem Fall wollte oder nicht.

 

Es dauerte eine knappe Minute, bis der Summer ertönte. Gerald trat in den Hausflur. Ein Mann um die fünfzig in einem ärmellosen Unterhemd und einer blauen, abgetragenen Baumwollhose stand im Türrahmen seiner Wohnung. Sein mächtiger Bauch wölbte sich über den Gürtel. Die massigen Oberarme hatten längst ihre Form verloren, ließen aber noch erkennen, dass der Mann in jüngeren Jahren ein Kraftpaket gewesen sein musste. Das Gesicht mit der breiten Nase, der unreinen Haut und dem Doppelkinn wirkte stumpf, aber nicht unfreundlich.

»Herr Müllersohn?« Gerald zeigte seinen Dienstausweis.

»Geht es um den Alexander?«

Gerald wurde erst in diesem Moment bewusst, dass er den Namen des Toten nicht kannte.

»Um den jungen Mann, der gestern Abend ...«

Der Hausmeister nickte und drückte die Wohnungstür auf. »Gleich nach rechts, bitte schön.«

Gerald betrat das Wohnzimmer, in dem der Fernseher, groß wie ein Aquarium, die Mitte einer dunkelbraunen Schrankwand einnahm. Gerade lief eine Talkshow, in der ein junger Mann, dessen Stirn durch Silikonimplantate zwei bläulich schimmernde, rechteckige Wölbungen aufwies, einen anderen Mann mit einem naturbelassenen Gesicht vor einem grölenden Publikum beschimpfte. Der Hausmeister wies Gerald einen Ledersessel zu, er selbst setzte sich auf die Couch und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus. Kein Bild hing an den schlicht geweißten Wänden, was der klobigen Schrankwand eine erdrückende Wucht verlieh. Auf dem Wohnzimmertisch lag ausgebreitet auf der Doppelseite einer Tageszeitung eine Zigarettendrehmaschine sowie eine Großpackung Tabak, Zigarettenpapier und Filter. Die Krümel auf der Zeitung verrieten, bei welcher Tätigkeit Gerald den Mann gestört hatte.

»Es wird ja nichts billiger«, sagte der Hausmeister, der Geralds Blick bemerkt hatte, und schob die Zeitung ein Stück zur Seite. Er griff zur Bierflasche, die auf dem Boden neben der Couch stand, und stellte sie auf den Tisch.

»Wie wär’s? Soll ich ein Glas holen?«

»Danke. Nicht im Dienst.«

Mit einem breiten Grinsen wies der Mann auf das Etikett: Alkoholfrei. »Ich war auf dem Bau, mehr als dreißig Jahre. Ja, der Sohn vom Müller ist Polier geworden, sag ich immer. In den alten Zeiten hat jeder auf der Baustelle einen Kasten pro Tag runtergekippt. Hier brauche ich das nicht mehr. Nur abends mal ein, zwei echte. Aber ich mag den Geschmack von dem Schaum, wenn das Bier im Mund hin- und herspült. Gluck, gluck, sagt das Leben. Einfach herrlich, verstehen Sie?«

Gerald nickte beiläufig, um das Thema nicht zu vertiefen.

»Es ist ein reiner Routinebesuch, Herr Müllersohn. Die Kollegen von der Streife waren ja gestern Abend schon hier, aber jetzt liegt der Fall auf meinem Schreibtisch. Ich möchte Ihnen nur noch ein paar Fragen stellen, und dann haben Sie wieder Ihre Ruhe.«

»Die lass ich mir auch von keinem mehr nehmen, Herr Kommissar. Dreißig Jahre auf Baustellen, Akkordarbeit, brüllende Bauleiter, brüllende Kranführer, brüllende Lieferanten. Das ist jetzt vorbei!«, sagte Müllersohn und griff zu einer der bereits fertigen Zigaretten. Die Tabakkrümel auf der Zeitungsunterlage sahen aus wie eine Schar Ameisen.

»Wann haben Sie Alexander zuletzt gesehen?«

Der Hausmeister hob die schweren Schultern und schnaufte leicht.

»Vor drei, vier Tagen. Ich habe im Treppenhaus gearbeitet, als der Alexander aus der Wohnung kam. Wir haben uns kurz unterhalten.«

»Kannten Sie ihn gut? Besser als andere Mieter?«

»Ich habe vier Häuser in der Lindwurmstraße zu betreuen. Von manchen Mietern kennt man nur das Namensschild, andere sieht man regelmäßig. Den Alexander kannte ich besser. Mein Schwager hat eine kleine Firma, müssen Sie wissen, und der Alexander hat für ihn gearbeitet und da so was gezeichnet, wo der Name der Firma drinsteht, ich komme gerade nicht drauf.«

Die Hand mit der Zigarette fuhr in die Luft und machte kreisende Bewegungen.

»Ein Logo?«

»Genau. Wie Lego, so habe ich mir das merken wollen.« Der Hausmeister lachte auf. »Hätte ja fast geklappt. Der Alexander war so eine Art Künstler. Der hat das ja auch studiert. Keine Ahnung, wie genau das hieß, jedenfalls irgendetwas mit Werbung und so.«

»Grafikdesign, vermutlich. Und wie war der Alexander als Mensch? War er oft allein? Hatte er Freunde? Eine Freundin?«

Müllersohn stierte einen Moment in den Fernseher, wo eine Frau mit einem langen Metallstift im Ohr und einem gepiercten Metallring mitten auf der Stirn dem Publikum einen Stinkefinger zeigte. Dann trank er einen Schluck und ließ sich wieder gegen die Lehne fallen.

»Freunde? Frauen? Weiß nicht so richtig. Still war er. Immer freundlich, hat nie Krach gemacht oder laute Musik in seiner Wohnung gehabt, aber irgendwie war er bedrückt und verschlossen. Wie soll ich es sagen? Mehr so eine Traurigkeit von innen, verstehen Sie? Solche Menschen gibt es ja. Mein Schwager gehört auch dazu.«

»Kann das mit der Behinderung zu tun haben, Ihrer Meinung nach?«

Müllersohn schüttelte entschieden den Kopf. »Die hat er erst seit ein paar Monaten. Das war ein Unfall, hat er erzählt, im Ausland. Er ist gestürzt, ein Auto ist über den Arm gefahren, und es kam im Krankenhaus zu irgendwelchen Komplikationen nach der Operation.«

»Hat ihn das depressiv gemacht?«

Der Hausmeister antwortete nicht sofort, als fürchtete er, nicht die richtigen Worte zu finden. »Das Komische war, dass er danach irgendwie besser gelaunt war. Er war offener, hat mehr mit den Leuten im Haus geredet. Einmal habe ich im Flur jemanden lachen hören und dachte, die Stimme kenne ich nicht. Ich bin raus und habe gesehen, dass es der Alexander war. Da habe ich gemerkt, dass es das erste Mal überhaupt war, dass ich den Alexander lachen gehört habe. Das soll ein Mensch verstehen. Ist doch seltsam, oder? Da fehlt ihm der halbe Arm, unsereiner denkt, wie soll das jetzt werden mit der Arbeit, dem Computer, Autofahren, den Mädchen und all das. Und dann ist der Junge irgendwie ... ja, so ...«

»Gelöster? Mehr er selbst?«

Müllersohn streifte die Asche seiner Zigarette ab. Er nickte Gerald zu. »Das ist es. Mir haben nur die Worte gefehlt. Damit habe ich es nicht so, mit den Worten, verstehen Sie?«

»Ich habe Sie sehr gut verstanden. Darf ich mir seine Wohnung kurz ansehen?«

Müllersohn stand langsam auf, indem er sich mit der linken Hand auf der Couch abstützte. Seine spärlichen schwarzen, nach hinten gekämmten Haare fielen ihm über die Stirn, als er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, und in diesem Moment sah er aus wie eine alte, verlebte Frau. Wie eine Waschfrau in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts, dachte Gerald.

Müllersohn griff nach einem Schlüsselbund und stieg vor Gerald die Treppe hoch. Seine linke Hand umklammerte das Geländer. Man habe viel Geld in die Renovierung gesteckt, erzählte er, von ständigem Schnaufen unterbrochen, aber einen Aufzug habe man nicht einbauen können: zu eng alles, zu schwache Bausubstanz. Er ging mit jedem Stockwerk langsamer. Gerald hatte den Verdacht, dass er an diesem Tag doch nicht nur alkoholfreies Bier getrunken hatte. Dabei fand er Müllersohn nicht einmal unsympathisch, und es war unverkennbar, dass der Hausmeister Alexander gemocht hatte.

Im vierten Stock bemerkte Gerald, dass die Spurensicherung den Wohnungseingang nicht versiegelt hatte. Die hatten wohl, als es zwölf schlug, endlich ihren Arbeitstag beenden wollen und einen vermeintlich klaren Fall einen klaren Fall sein lassen, dachte Gerald. »Alexander Faden« stand über der Klingel.

Müllersohn lächelte erleichtert, als er den Aufstieg in den vierten Stock bewältigt hatte. Er öffnete, nachdem sich sein Atem etwas beruhigt hatte, die Tür und ließ Gerald den Vortritt.

Die Wohnung machte auf den ersten Blick einen aufgeräumten Eindruck. Das galt gleichermaßen für die Küchenzeile, das kleine Bad mit WC und Dusche, das schmale Schlafzimmer und den großen Wohnraum. Er war eher gediegen als studentisch eingerichtet, auch wenn Gerald nicht unbedingt Apfelsinenkisten statt eines Bücherregals und eine nackte Matratze auf dem Fußboden statt eines Bettes erwartet hatte.

Vor dem Fenster, das zur Lindwurmstraße ging, stand ein großer Schreibtisch mit verstellbarer Arbeitsfläche. Darauf lag eine dieser Künstlermappen, die man mit einer Art Schnürsenkel in der Mitte zusammenhält. An den Wänden hingen Poster, die verschiedene Objekte aus dem Alltag zeigten: einen Flaschenöffner, einen Stuhl, einen stummen Diener, den Gerald erst auf den zweiten Blick als solchen erkannte. Sie waren vermutlich aus einer Zeitschrift für Design ausgeschnitten; man konnte erkennen, dass sie gefaltet waren; außerdem war am rechten Rand vermerkt, welchen Preis das Objekt bei welcher Fachmesse bekommen hatte.

Entweder, überlegte Gerald, hatte Alexander eine schöne monatliche Überweisung von seinen Eltern bekommen, oder er verdiente nebenbei so gut, um sich eine renovierte Altbauwohnung mit dieser Einrichtung leisten zu können.

Er trat auf den Balkon, der Platz für einen Bistrotisch und zwei Klappstühle bot, die an der Wand lehnten. Keine Bepflanzung. Auf der Lindwurmstraße röhrten in diesem Moment drei schwere Motorräder vorbei.

»Herr Müllersohn?«

Keine Antwort. Gerald ging zurück in die Wohnung.

Müllersohn stand bereits in der Diele, die Hand an der Türklinke. Es war ihm anzusehen, dass er gehen wollte. »Der schmeißt doch sein Leben nicht einfach so weg, der Alexander. Der nicht. Niemals«, sagte er mit zittriger Stimme und wischte sich über die Augen. Dann drehte er sich um und ging hinaus auf den Flur. Gerald warf einen Blick auf die Pinnwand aus Kork neben der Eingangstür. Außer den üblichen Faltblättern von Pizza-Services, China-Restaurants und Postkarten befand sich dort die Visitenkarte eines Psychotherapeuten. Gerald steckte sie unbemerkt ein und schloss die Wohnungstür hinter sich.

»Was haben Sie gestern Abend gemacht, als das Unglück passierte?«

Müllersohn schnaufte und blickte Gerald gequält an. »Das habe ich doch schon Ihren Kollegen erzählt. Und jetzt kommen Sie auch noch damit.«

»In wenigen Sätzen, bitte.«

Der Hausmeister legte die rechte Hand auf das Treppengeländer und stellte sich so, dass er nicht auf Alexander Fadens Wohnungstür schauen musste. »Ich hab ferngesehen. Den Sturz habe ich nicht mitbekommen, verstehen Sie? Da hat nur jemand auf der Straße geschrien: Krankenwagen, Polizei und so. Im Haus ist es sonst ganz ruhig gewesen, deshalb bin ich nicht sofort raus. Was geht es mich an, wenn auf der Straße was passiert? Als es aber immer lauter wurde, bin ich auf die Straße und habe den Alexander gesehen.«

Müllersohns Augen füllten sich mit Tränen. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu verbergen. »Hätten Sie bemerkt, wenn jemand das Haus verlassen hätte?«

»Vielleicht. Weiß nicht. Der Fernseher war ja an, verstehen Sie? Und als ich draußen beim Alexander war, da habe ich nicht auf das Haus geachtet.«

»Kommt man über den Innenhof raus?«

Müllersohn nickte. »Komisch. Das haben die mich gestern gar nicht gefragt. Wenn man sportlich ist, kann man über die Mauer in die anderen Hinterhöfe. Es war ja schon ziemlich dunkel.«

»Gibt es noch andere Leute im Haus, zu denen Alexander näheren Kontakt hatte?«

»Zur Kattowitz, gleich unter uns. Er hat abends manchmal auf ihr Kind aufgepasst.« Müllersohn schien heilfroh, dass das Gespräch anscheinend endlich zu Ende war. Er ging so schnell wie möglich die Treppe hinunter und deutete auf die linke Tür in der dritten Etage.

»Herr Kommissar, darf ich jetzt ...?«

Gerald nickte. Das Geländer zitterte, als Müllersohns schwere Hand darauf fiel.

Nach dem ersten Klingeln hörte Gerald ein Geräusch in der Wohnung. Gerald wartete, bis Müllersohn seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Dann klingelte er noch einmal. Niemand öffnete. Er warf einen kurzen Blick auf die Visitenkarte des Arztes, die er in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt hatte, bevor er ein letztes Mal klingelte.

 

Batzko sah demonstrativ auf die Uhr, gab aber keinen Kommentar von sich. Gerald setzte sich nach einem stummen Handgruß und nahm sich die nächste Akte vor. Aber er konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Seine Gedanken kehrten permanent zu Müllersohn zurück. Der Hausmeister hatte nicht wirklich einen Einblick in Alexanders Leben gehabt, und dennoch schloss er einen Selbstmord kategorisch aus. Er vertraute seiner Menschenkenntnis, und er glaubte in diesem Fall den Eindruck von Müllersohn teilen zu können.

Nach einer halben Stunde lehnte er sich zurück und holte die Visitenkarte aus der Hemdtasche.

»Ich war in der Lindwurmstraße, Batzko«, sagte er und berichtete von seinem Gespräch mit Müllersohn.

Batzko schob den Aktenstapel rasch von sich weg. »Ich hätte es mir denken können. Gerald, der Grübler. Gerald, der Zweifler. Der mit den Toten flüstert. Verdammt, für alle Beteiligten ist der Fall klar, für die Streife, für die Spurenermittler – nur mein engster Kollege hat Kontakt zu Geistern. Er hört Stimmen, die andere nicht hören.«

»Ich höre keine Stimmen, Batzko. Ich höre ihnen zu. Das ist der Unterschied.«

»Mit anderen Worten: Die Kollegen der Streife und die Spurenermittler sind stocktaub. Und du bist die Fledermaus, ja?«

»Batzko, da stimmt etwas nicht. Das fühle ich.«

Batzko schüttelte den Kopf. Er schaute einen Moment aus dem Fenster, als wolle er Gerald bedeuten, dass die Diskussion ihn langweilte. Dann fragte er: »Was hast du da in der Hand?«

»Was? Ach so, die Visitenkarte eines Therapeuten, die an der Pinnwand in der Wohnung des Toten hing.«

»Gib sie mir!«

»Warum?«

»Darum.« Noch ehe Gerald reagieren konnte, schnellte Batzkos Arm pfeilschnell hervor und schnappte sich die Karte.

»Sieh an. Ein Psychoklempner. Das passt doch wie die Faust aufs Auge«, sagte er und griff zum Telefon. »Wollen wir doch mal sehen.« Er tippte die Nummer ein und presste, während das Freizeichen ertönte, einen Gummiball in der rechten Hand. Die Muskeln zuckten. »Ah, guten Tag, ist dort die Praxis von Dr. Chateaux? Kann ich ihn bitte kurz sprechen? ... Ach, Sie sind es selbst. Damit rechnet man ja nicht ... Ja, Psychotherapeuten brauchen keine Sprechstundenhilfe, auch keine männliche, haha ... Natürlich, daran habe ich nicht gedacht, Sie haben Recht. Ich bin Kriminalhauptkommissar Batzko, zuständig für Gewaltdelikte. Es handelt sich um eine reine Routinefrage. Sagt Ihnen der Name ›Alexander Faden‹ etwas? ... Warum? Nun, Sie wissen es vielleicht noch nicht, aber Herr Faden ist in der letzten Nacht verstorben ... Ja, schrecklich, ein junger Mann ... Nein, wir gehen von keinem Gewaltverbrechen aus. Wie schon gesagt, reine Routine. Ich möchte nur wissen, ob Sie ihn kannten, ob er bei Ihnen in Behandlung war ... Ich weiß, Ihre ärztliche Schweigepflicht; ich möchte nichts Besonderes wissen, und dieses Telefonat hat es auch nie gegeben. Sie ersparen uns einfach nur ein Stück Bürokratie. Es wäre doch für Sie viel umständlicher und zeitraubender, wenn wir Sie zu uns in Präsidium zitieren müssten, nicht wahr? Vielen Dank ... Aha, in Behandlung seit ungefähr anderthalb Jahren ... Erst Einzel- und danach Gruppentherapie, ah ja ... Ohne in medizinische Details gehen zu wollen: Litt Herr Faden vielleicht unter Depressionen? ... Ich weiß, das ist eine sehr pauschale Formulierung, trotzdem bitte eine Antwort ... Periodische Schübe von Verzweiflung und Apathie, in der Gruppentherapie Anzeichen von Resignation, hm ... Halten Sie einen Suizid für denkbar? ... Ja, ich weiß, dass man diese Frage in dieser Form eigentlich nicht stellen kann. Trotzdem bitte ... Im Gesamtrahmen des Krankheitsbildes nicht auszuschließen ... Ich denke, das war für uns die zentrale Aussage. Wir werden Sie definitiv nicht mehr behelligen. Danke noch einmal für Ihre Kooperation. Guten Tag.«

Batzko legte den Hörer zurück. Er hob die Visitenkarte in Brusthöhe, zerriss sie demonstrativ in kleine Stücke und warf sie in den Papierkorb.

»Überleg dir beim nächsten Mal besser, ob du einen Alleingang riskierst und mich hier die Akten fressen lässt«, maulte er. »Du bist überspannt, sexuell trockengelegt, übermüdet. Geh heute Abend ein Bier trinken. Oder noch besser – lade mich heute Abend zum Bier ein, dann vergebe ich dir.«

»Geht nicht. Nele ist so platt, dagegen bin ich ein frischer Bergquell. Ein anderes Mal.«