Die Schattenmacherin - Lilly Gollackner - E-Book

Die Schattenmacherin E-Book

Lilly Gollackner

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Beschreibung

Das Jahr 2068: Sengende Hitze, überdachte Städte, rationiertes Wasser. Und keine Männer mehr. Eine mysteriöse Seuche hat sie vor Jahrzehnten dahingerafft. Nur künstliche Fortpflanzung sichert den Fortbestand der Menschheit. Ruth, langjährige Präsidentin dieser Welt, bereitet die Amtsübergabe an die junge Ania vor. Die Junge möchte die Männer mit allen Mitteln zurückholen. Ruth stemmt sich dagegen, und sie hat gute Gründe. Der Generationenkonflikt zwischen den Frauen um Ressourcen, Macht und Identität stellt beide vor schicksalhafte Entscheidungen. Lilly Gollackner spiegelt in ihrem Debütroman zerrbildhaft die feministischen Kämpfe der Gegenwart in eine dystopische Zukunft. Ein erschreckend realitätsnahes literarisches Gedankenexperiment.

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Lilly Gollackner

DIESCHATTENMACHERIN

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

EPILOG

VIELEN DANK AN

1

Müsste ich sie in einem Bild festhalten, denkt Ruth, es wäre dieses: Die goldene Pinzette an ihrem Kinn im Sonnenschein. Geschwollene, breite Beine, die Füße fest am Boden, den Unterkiefer vorgereckt. In der einen Hand den plastikgefassten Spiegel, in der anderen das goldene Werkzeug mit den scharfen Kanten, viel zu scharf, nichts für Kinder, so verführerisch im Ledertäschchen in der Schublade neben dem Kühlschrank, Messer, Gabel, Schere, Licht: Finger weg und abwarten, bis man der Verantwortung derer entwachsen ist, die sich fürchten. Der helle Tag flutete den Raum, suchte sich seinen Weg über den Linoleumboden und die Einbauküche und die gestapelten Enkelkinder in goldenen Bilderrahmen, der helle Tag kam zu ihr, weil sie schon seit Jahren nicht mehr zu ihm kam. Und mit ihrem Körper stellte sie sich ihm, einer romanischen Kathedrale gleich, in den Weg. Machte mir Schatten, denkt Ruth. Sie stand da wie eine Bulldogge, ihr eigener Kettenhund, der die Dame in ihr beschützte, die dunklen Härchen an Kinn und Oberlippe ausriss, in schnappend schnellen Bewegungen, und der das vertreiben sollte, was sie auch war, aber nicht sein durfte. »Wenn du lächeln würdest, dann wärst du so ein hübsches Mädchen«, sagte sie immer zu Ruth. Und Ruth drehte sich um und rannte der Großmutter und ihrem Irrtum davon, denn: Sie war weder hässlich noch hübsch, sie war auch kein Mädchen, sie war ein Kind und sie war frei.

Es klopft an der Tür.

»Ja, bitte?« Ruth dreht sich um.

Alev steckt vorsichtig den Kopf herein.

»Das Orchester ist so weit. Du wirst erwartet.«

»Noch einen Moment«, sagt Ruth freundlich. »Ich bin gleich bei euch.«

Alev nickt, ihre dunklen Augen verstecken sich in den Falten ihres Lächelns. Wie akrobatisch die Haut eines jungen Menschen doch ist, denkt Ruth. Wie viel sie auszudrücken vermag, bis sie irgendwann der Verstellung müde wird und in dem Ausdruck verharrt, den das Leben ihr aufdrängt. Alev schließt behutsam die Türe. Und Ruth dreht ihren alten Körper zurück in Position, zur direkten Konfrontation mit ihrem eigenen Spiegelbild.

70 Jahre. Nichts von dem, was sie sieht, gleicht dem Anblick ihrer Großmutter in diesem Alter. Keine Kochtöpfe. Keine Enkelkinder. Keine zupfenden Pinzetten. Keine sonnendurchfluteten Räume. Ruth greift nach der blauen Tube vor ihr auf dem Tischchen. Sie drückt einen Tropfen der Protektionscreme auf ihre linke Handfläche und tupft ihn mit den Fingern der anderen Hand auf Haaransatz, Ohren und Kinnleiste. Nur wer mit Sorgfalt arbeitet, überlebt. Wer wüsste das besser als sie selbst? Sie massiert den öligen Film in ihre Haut ein. Nimmt noch einen Tropfen für die Teile der Arme, die nicht von ihrer Tunika bedeckt werden, streicht die Creme nach vorne bis zu den Fingerspitzen. Für die Festlichkeiten hat Alev zehn Meter Reflexon-Leinen in salbeigrün mit matter Oberfläche besorgt. Eine Sensation.

»Fast wie früher, oder?«, meinte sie unsicher, als sie ihr den Stoff zeigte. Früher war Alev noch nicht am Leben. Sie kennt es aus Erzählungen. Sehnt sich danach. Ruth weiß, dass das, wonach sich Alev sehnt, nicht mehr ist als ein löchriges Netz aus Nostalgie und Verklärung. Ruth erinnert sich nur zu gut. An das, was alle anderen aussparen. Und Ruth kann sehr gut leben mit den glänzenden Oberflächen der neuen Stoffe. Mit den vielen Vorschriften, die Schutz bieten. Mit der Reduktion aufs Wesentliche. Doch Ruth hat ein Herz, auch wenn manche etwas anderes behaupten würden. Deshalb antwortete sie: »Wie aufmerksam von dir, meine liebe Alev.«

Und das Salbeigrün steht ihr, keine Frage. Ruth nimmt die dazugehörige Kappe und drückt sie sich auf den Kopf. Sie passt wie angegossen. Alev kennt selbstverständlich ihre Maße. Ein weiterer glücklicher Umstand ihres erfüllten Lebens: Eine Person wie Alev in ihrer Nähe zu haben. Ruth lächelt sich selbst im Spiegel zu. Du hast es weit gebracht, denkt sie. Dann steht sie auf.

Vor der Tür wartet Alev mit den anderen. Als sie sie sehen, beginnen sie zu klatschen, Ruths Hände werden geschüttelt, ihre Schultern geklopft. Eine Wolke der Zuneigung trägt sie durch die Halle, als sie weiterschreitet, in ihrem eigenen Tempo, mit einer Menschentraube hinter sich. Alev tänzelt zwei, drei schnelle Schritte vor Ruth, um ihr die Türen zum Balkon zu öffnen. Und Ruth tritt hinaus, schwebt plötzlich über einem Meer aus Köpfen. Welch lächerlich monarchische Geste, denkt sie. Doch wir mussten sie beibehalten. Der Sicherheit wegen.

Jetzt tritt sie an die Balustrade, und die Menschen unter ihr reißen die Arme in die Luft und jubeln. Das Orchester setzt ein. Es spielt ein beschwingtes Geburtstagslied, das sie nicht kennt, mit treibenden Trommeln und schrillen Trompeten. Die Menschen auf dem Platz tanzen dazu. Ruth lächelt. Sie hebt den Blick. Über ihr spannen sich die mächtigen Kuppeln, sie schwingen sich in halbtransparenten Bögen über die Straßen und Dächer, wie die Hände einer höheren Macht, die sich schützend über sie legen. Das gedämpfte Licht markiert die Grenzen der bewohnbaren Welt. Du hast sie mitgebaut, denkt Ruth. Aufgebaut. Von der Trümmerfrau zur Führerin. Sie sieht die Gesichter unter sich, die alten und die jungen. Sie weiß, wie viel sie durchgemacht haben. Wie viele Verluste sie erlitten haben. Es liegt an ihr, Ruth, diesen Schmerz zu nehmen und in etwas Positives zu verwandeln. Ihnen klarzumachen, dass sie den Blick wenden müssen: Weg von der Vergangenheit, hin zur Zukunft. Und um die alten Wunden nicht aufzureißen, wird sie all jene da unten nur als Menschen bezeichnen, denn das sind sie: Menschen. Mehr noch, die Zukunft der Menschheit. Das ist es auch, was ihnen Hoffnung geben wird. Wir sind noch da. Wir geben nicht auf.

Doch insgeheim, für sich selbst, weiß Ruth, was sie sind.

Es sind Frauen.

Jede einzelne von ihnen. Die Kinder, die Jungen, die Alten. Jeder Mensch, der heute auf diesem Platz unter ihr steht, der am Podium ein Instrument im Orchester spielt oder ihr eine Tür öffnet, ist nach biologischen Kriterien als weibliches Exemplar der Spezies Homo sapiens zu definieren. Ruth ist die Anführerin einer Welt, die nur aus Frauen besteht.

2

Der Tanz der Schulkinder. Der erhöhte Stuhl, auf dem Ruth sitzt. Die erhobenen Gläser in blassem Blau, mit zitternder Wasseroberfläche von der Anspannung des Tages.

»Warum?«, hatte Ruth Alev gefragt.

»Rituale«, hatte die nur gemeint.

Rituale. Rituale.

Pola sitzt neben ihr, ganz spöttisches Grinsen.

»Hasst du Rituale noch immer so sehr wie früher?«, raunt sie ihr zu. Bläuliche Adern ziehen sich über Polas Hand, die das Glas umklammert. Die Verästelungen ähneln dem Wasser, das sie trägt. Als wären sie der Fluss, als würden sie den Glasinhalt speisen.

»Wir warten auf dich«, flüstert Pola.

Ruth atmet tief ein. Sie steht auf.

»Danke!«, ruft sie in den Raum. Alle 50 Augenpaare sind auf sie gerichtet. »Für so vieles. Danke dem Wasser, das uns leben lässt. Danke der Zeit, die uns geschenkt wurde. Und danke euch. Ihr habt diesen Tag zu etwas sehr Besonderem gemacht. Salut!«

»Salut!«, schreien die Geladenen ihr entgegen, dann nehmen sie alle einen Schluck, und endlich setzen sie ihre Gläser ab und beginnen, miteinander zu reden. Lassen von ihr ab. Pola beobachtet Ruth, die geistesabwesend zu Messer und Gabel greift.

»Du hast es geschafft«, sagt sie.

Ruth hält inne und mustert sie.

»Was habe ich geschafft?«

Die Doppeldeutigkeit der Aussage war offenbar keine Absicht. Pola neigt den Kopf und lächelt der Freundin zu. Versucht, den Panzer zu durchdringen.

»Sehr viel hast du geschafft, meine liebe Ruth«, sagt sie. »Großartige Verdienste, die ja heute bereits zu Hauf erwähnt wurden.« Auch Pola nimmt die Gabel zur Hand und beginnt zu essen.

»Die Länge der Laudatio war übrigens eine Zumutung. Bestimmt hat Alev sie verfasst, habe ich recht? Aber was ich eigentlich gemeint habe, war etwas anderes.«

Sie tunkt noch etwas Brot in die Marinade des Artischocken-Carpaccios, schiebt sich einen hauchdünnen Streifen In-vitro-Dorsch darauf, stopft sich den Mund voll und redet trotzdem weiter.

»Köstlich! Wirklich köstlich. Nein, meine Liebe, ich meine heute. Diesen Tag. Diesen unerträglichen Klimbim.«

Ruth lächelt. Ja genau, das trifft es gut.

»Was jetzt kommt, ist reine Kür. Ein bisschen Gesichtswäsche, ein bisschen Plauderei, und dann kannst du wieder das tun, was du am liebsten machst.«

»Und das wäre?«, fragt Ruth.

Pola schaut sie an. Und Ruth denkt: Plötzlich bist du 70, deine Unbeschwertheit ist fünf Leben entfernt, und die Beziehungen, die du eingegangen bist, freiwillig oder unfreiwillig, stehen Schlange und warten darauf, dir zu etwas zu gratulieren, wofür du so gut wie nichts getan hast. Noch da zu sein – reicht das aus?

»Arbeiten«, sagt Pola.

Ein leichtes Tippen an Ruths Schulter: Alev.

»Hier ist jemand für dich.«

Ruth tupft sich den Mund ab und legt die zerknüllte Serviette neben ihren Teller. Sie wird sie heute nicht mehr brauchen. Etwas ungelenk erhebt sich Ruth von ihrem Sessel, schält sich aus den stützenden Handlehnen. Neben Alev steht eine Frau, Ende 20 circa. Ihre dunklen Augenbrauen fordern Aufmerksamkeit, Kohlestriche auf weißem Sand. Sie stehen im krassen Kontrast zu den hellen, kurzen Haaren. Eine junge Sharon Stone, könnte Ruth sagen, doch warum sollte sie? Verglühte Sterne eines überwundenen Hegemonietreibers. Kodex 3-15, die verbotenen Medien. Kein Mensch unter 40 kennt diese Dinge noch, und keiner von ihnen wird sie je wieder zu sehen bekommen. Dafür wird Ruth sorgen, mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft. Ich. Und bald auch schon du, denkt Ruth.

Ania.

Die Hoffnung der gesamten verbliebenen Welt, sie lächelt Ruth an: siegessicher, und doch unterwürfig genug, dass Ruth es ist, die die Hand als erste ausstreckt und Ania begrüßt. Ihr Händedruck ist elastisch und verbindlich zu gleichen Teilen.

»Wie schön, dich hier zu sehen.«

»Wie könnte ich das verpassen«, sagt Ania.

Ruth lächelt, ein Lächeln wie ein Pfeil. Sie hat die Anspielung sehr wohl verstanden. Und sie mag den kühlen Humor dieser Frau. Ania ist ihr ähnlich. Sie versteht, warum sie ausgewählt wurde. Ania hat ihre Sache gut gemacht. Sie hat keine Miene verzogen, weder bei den körperlichen Untersuchungen noch bei den Befragungen. Hat jeden Test bestanden. Ruth wird nicht vergessen, wie Ania sie angesehen hat. Eine Frage, klebrig und anrüchig wie gebratenes Fett. Wenn sie die Möglichkeit hätte, entweder einen geliebten oder 30 unbekannte Menschen zu retten – wie würde sie sich entscheiden? Die alten Weiber spielten ein grausames Spiel. Mit der Macht kommt der Sadismus, sagt Pola oft, welche Freude hätten wir denn sonst noch am Leben? Ruth nimmt an, dass die Frage von Pola stammte.

Ania saß in der Mitte, zugleich emporgehoben und geröstet vom Stieren der Ältesten. Sirouk mit ihren hängenden Wangen. Farina, steif wie immer, mit übergeschlagenen Beinen und dem Hintern an der Stuhlkante. Nur nicht zu viel Kontakt, nur kein Gewicht zeigen. Und selbstverständlich Duma. Ihr wuchtiger Körper schien den Stuhl, auf dem sie saß, geradezu zu verschlingen. Ein Tribunal aus Erfahrung und Häme.

Ania, die Jüngste, bewahrte Ruhe. Nur die schwarzen Striche in ihrem Gesicht kräuselten sich leicht. Anstatt einzuknicken, drückte sie ihren Rücken durch. Sie musterte jede einzelne der alten Richterinnen vor ihr. Sie schaffte es, dass die sich schämten für ihre Überheblichkeit, für den Glauben, jemanden erwählen zu können in einer Epoche, in der alle die Wahl längst verloren hatten. Dann fiel ihr Blick auf Ruth, und dort blieb er. Langsam sagte Ania:

»Können wir es uns leisten, nur einen einzelnen Menschen zu lieben? Ist nicht die Liebe zu allen Menschen das, was uns retten wird? Die Überwindung der Unterschiede als Preis für das Leben, das uns bleibt?«

»Du bist eine willkommene Abwechslung an diesem ereignisreichen Tag«, sagt Ruth. »Lass uns am besten gleich beginnen.«

Sie deutet Ania, ihr zu folgen. Mit festen Schritten geht Ruth voran. Im hohen Marmorgewölbe hallen ihre Schritte nach, doch kaum jemand hebt den Kopf, als die beiden Frauen den Festsaal durch eine rotbraune Intarsien-Tür verlassen. Sonnen und Kreuze, aus kleinsten Holzstücken, ineinander verkeilt. Die Tür fällt ins Schloss. Vor ihnen erstreckt sich die Privatsphäre der Führungsriege: Der lange Gang, der zu den Besprechungsräumen und Ruths privatem Arbeitszimmer führt. Hier ist Ania noch nie gewesen. Sie wird langsamer, ihr Kopf geht hin und her, der Mund genauso weit offen wie ihre Augen.

Weg ist die weltgewandte Attitüde, das Gebäude bleibt seiner Aufgabe treu: Ehrfurcht zu erzeugen vor den Dingen, die größer sind als wir. Die uns überdauern werden.

»Wie alt ist das?«, fragt Ania, ihre Stimme nicht mehr als ein Hüsteln hinter vorgehaltener Hand.

Ruth holt tief Luft.

»Das Haupthaus stammt aus dem Jahr 1527. Der linke Flügel …« – Ruth streckt den Arm aus, krallt sich die Welt mit ihren schwieligen Händen. Schau, sagt die Hand, schau durch das große Bogenfenster. Gelb und braun bricht sich das Licht in den Mosaiken, wieder Sonnen, aus geschliffenem Glas, durchbrochen von Luftbläschen.

»… wurde im 17. Jahrhundert dazugebaut. Wohnräume für die Königsfamilie. Offiziell kamen sie hierher, um dem dienenden Volke näher zu sein als auf den Landsitzen und in den feinen Schlössern der eroberten Gebiete.« Jetzt lacht Ruth laut auf.

»Eine Farce. Es ging selbstverständlich um Kontrolle. Der Köter folgt dann am besten, wenn er den Knüppel direkt vor der Schnauze hat. Schau, da sind sie schon! Zumindest vier von ihnen.«

Vater, Mutter, zwei Kinder, mit schmallippigen Gesichtern und hohlen Augen. Meterhoch erheben sie sich im bogenförmigen Fenster aus buntem Glas, zusammengehalten von Adern aus Blei.

Ruth ignoriert sie und stapft weiter. Ihr Schatten am Boden zeigt ihr, wer sie ist: die Schultern zu weit vorne, die Hände einsatzbereit an den Hüften baumelnd. Eine Anpackerin, keine Königin.

»Und rechts …«

Ania bleibt stehen. Ruth hört es, aber sie spürt es auch, Anias Zögern in ihrem Rücken.

»Rechts ist nichts«, sagt Ania. Das ist keine Feststellung. Es ist – Angst?

Ruth steht jetzt ebenfalls. Sie dreht sich um. Grünblaues Licht, das durch die gläsernen Körper der Könige fällt, legt sich wie eine Krankheit auf Anias Stirn. Nein, sie wird die junge Frau mit der Vergangenheit nicht alleinlassen.

»Rechts ist nichts mehr«, sagt sie vorsichtig. »Ein gezielter Angriff im zweiten Verdichtungskrieg.«

Ania starrt auf das Nichts. Die Sehnsucht in ihren Augenwinkeln, denkt Ruth. Unerträglich.

»Wir haben die Mauerreste entfernen lassen,« sagt Ruth.

Anias Finger zupfen an ihren Lippen, doch sie stellt keine Fragen. Ruth nimmt ihr Tempo wieder auf. Im Gehen sagt sie:

»Platz für die Lazarette. Die Rettung der Lebenden war wichtiger als die Denkmäler für die Toten.«

Hinter sich hört sie Ania stolpern, dann aufholen. Ruth lächelt: Jetzt ist Ania in der richtigen Verfassung. Jetzt können sie beginnen.

»Bitte schließ die Tür hinter dir«, sagt Ruth. Die Kühle des steinernen Gebäudes: ein grauer Schatten im Raum. Ruth zieht den Vorhang ein wenig zur Seite und nimmt auf ihrem Arbeitsstuhl Platz. Sie nickt Ania zu, deutet auf den leeren Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Ania sieht nichts davon. Ihr Kopf hängt im Nacken, der Blick wandert über die Holzvertäfelungen der Decke, über die schweren Eichenbalken und die filigranen Schnitzereien aus Zirbe und Lindenholz. Dann kippt der Blick und verheddert sich in den ledernen Einbänden der Bücher, die wie schmale Ziegel die gesamte Wand hinter Ruth füllen. Ania tritt an den Tisch heran. Geräuschlos. Atmet sie noch? Sie streckt ihre Hand aus und berührt sanft die Oberfläche des Schreibtischs.

»Sogar dein Tisch«, sagt sie stimmlos.

»Ein Geschenk meines Mannes«, sagt Ruth. »Zu meinem 30. Geburtstag. Da hatte ich gerade meinen Doktor gemacht.«

Ruth spürt die Erinnerung, ein kurzes Brennen, das an der Stabilität ihres Brustkorbs nagt. Sie steht auf.

»Eigentlich hätte die Platte aus Stein sein sollen. Aber das konnten wir uns nicht leisten. Deshalb Holz.«

Ania schaut sie verblüfft an. Ruth lacht.

»Dinge ändern sich. Aber deshalb sind wir beide ja auch hier, oder? Wollen wir uns endlich setzen?«

Wieder deutet Ruth auf den leeren Stuhl, und Ania nimmt Platz.

»Du wirst mich also die kommenden Wochen und Monate begleiten«, sagt Ruth, während sie sich zu ihrer Schublade beugt. Sie legt ein silbernes Display vor sich auf den Tisch und aktiviert es.

»Ich werde nicht von deiner Seite weichen«, sagt Ania.

»Das klingt wie eine Drohung.«

Ania lächelt. Ihr rechter Eckzahn ist länger als der linke. Solche Dinge fallen dir immer erst auf, wenn es zu spät ist, denkt Ruth. Sie mustert Ania. Dann sagt sie: »Dir ist klar, dass ich nicht freiwillig gehe.«

»Und dir ist klar, dass nicht ich es bin, die dich dazu zwingt.«

Ruth senkt den Blick. Die dunklen und hellen Quadrate des Bodens. Die Linien dazwischen, gefüllt mit dem Staub von Jahrhunderten.

»Spielst du Schach?«, fragt Ruth.

Ania kräuselt die Striche in ihrem Gesicht. Es ist sinnlos, denkt Ruth. Sie hat keine Vergangenheit. Sie hat nur die Zukunft. Ruth massiert sich die Nasenwurzel. Dann holt sie Luft.

»Nun gut.«

Auf dem Display erscheinen die Termine der kommenden Tage. Ruth wischt sie mit dem Finger weiter.

Sie kommentiert kurz und knapp. Sie versucht, nicht zu viele Worte zu machen, denn Ruth weiß ganz genau, was das hier ist: die Ouvertüre zu ihrem letzten großen Konzert. Die Triangel, die das große Brausen einläutet. Der Rat hat einstimmig über ihren Kopf hinweg beschlossen, dass Ania sie zu jedem ihrer Termine begleiten wird. Drei Monate lang. Hundert Tage.

»Es ist an der Zeit«, sagte Duma nach dem Beschluss.

»Wir müssen vorbereitet sein«, sagte Farina.

Ruth packte sie grob an ihrem zähen Arm.

»Sag mir: Worauf?«

Es war Pola, die sie vorsichtig von Farina wegzog und beruhigte.

»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte sie. »Du verdienst es, abgelöst zu werden.«

Abgelöst. Ausgelöscht.

»Was bedeutet SF?«, fragt Ania.

Ruth sucht nach Worten. Sucht im Kopf nach Ruhe, um die richtigen Worte zu finden.

»Die Anlagen«, sagt sie. »Im Süden. Die Südfelder.«

Ania zupft wieder an den Lippen herum. Ihre Augen werden faustgroß.

»Du bist noch nie dort gewesen, hab ich recht?«

Ania nickt.

»Geh jetzt nach Hause«, sagt Ruth. »Morgen beginnt eine anstrengende Reise.«

Wenn Ania lächelt, sieht sie aus wie ein zehnjähriges Kind. Mit schiefen Zähnen. Ich bin zu streng, denkt Ruth.

»Es war ein langer Tag«, sagt Ania.

Jetzt nickt Ruth. Die Kindfrau hat recht: Nicht sie trifft die Schuld. Bestraf nicht andere dafür, wenn du selbst es bist, die aus blanker Angst die Tage nicht mehr zu Ende gehen lässt.

»Ich hab noch zu tun«, sagt Ruth. Und nebenbei, wie hingeworfen:

»Bis morgen. Ich hasse Unpünktlichkeit.«

Ania zeigt ihre Zähne.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagt sie.

Sie verlässt den Raum, wie sie gekommen ist: gewichtslos und staunend. Jetzt, endlich. Ruhe. Ruth senkt den Kopf in ihre aufgestützten Hände. Es klopft.

»Was?«

Alev, nur Alev, die Gute.

»Bitte entschuldige. Soll ich später wiederkommen?«

»Nein, bitte. Komm herein.«

Ruth richtet sich auf, richtet ein Lächeln auf den schweren Wangen ein.

»Ich wollte nur sichergehen, dass du für morgen alles hast, was du brauchst.«

Ruth nickt müde. Sie reibt sich die Augen, ihre Finger Pflüge in den Furchen ihrer Falten.

»Willst du wirklich dorthin?«

»Ich muss. Sie brauchen eine Entscheidung. Ich habe diesen Termin viel zu lange vor mir hergeschoben.«

»Und es ist ein guter Einstieg für Ania«, sagt Alev. Sie sagt es ohne Unterton. Sie meint es ernst.

»Ja, das ist es«, sagt Ruth.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«

»Ania ist ja dabei. Je weniger wir sind, desto besser.«

»Gut. Ich bestelle das Auto«, sagt Alev.

Wenn alle Hallen leer sind, wenn das heisere Gelächter verschwunden und die spitzen Schritte verhallt sind, dann steht Ruth auf.

Sie öffnet Türen. Sie setzt ihre Füße auf die alten Steine, tritt in die Fußstapfen der Königinnen vor ihr. Die Extremitäten bleiern vor Verantwortung und Wissen. Sie legt ihre Finger um schmiedeeiserne Klinken, drückt ihr Gewicht gegen tonnenschweres Holz. Auch sie versteckt sich hinter Mauern, vor wem?, denkt sie, sie sollen die Spiegel verhüllen, denkt sie, niemand will das sehen.

Unter den Bögen der Geschichte findet sie zur Ruhe, legt die Kappe ab, streift den salbeigrünen Kaftan von ihren Schultern. Die Oberfläche ihres Betts, wie das Meer nach einem Sturm. Ruth setzt sich. Sie ist nackt, die Oberschenkel hängen wie nasse, schwere Tücher, der Bauch ein Mond, eine kleine Kugel, die in den Falten ihrer Lebensjahre liegt. 70 an der Zahl. Und wieder geistert die Großmutter durch ihren Kopf. Wie sie im Badezimmer steht, nach vorne gebeugt, und der Bauch in hängenden Schwarten an die dürren Oberschenkel klatscht. Die Brüste lang und schwer, blaue Adern auf durchsichtigem Pergament. Der alte Körper einer Frau, die zu viele Kinder geboren hat. Ausgemergelt. Undicht.

Sie ist uns Mutter, sagte die Rednerin heute.

Sie ist es, die in den Stunden der Unruhe die Ruhe bewahrt. Sie ist es, die uns leitet, wenn wir verloren sind.

Ruth greift sich an den trockenen Hals. Sie braucht einen Schluck Wasser. Sie sieht ihre Großmutter, von Schläuchen perforiert, wie Schlangen kriechen sie aus ihrer Nase und aus den Unterarmen. »Wasser«, schreit die Großmutter röchelnd. Wasser überall, in den Beinen, im Gesicht. In der Lunge.

»Sie kämpft und kämpft«, sagt die blasse Krankenschwester. Die Verzweiflung und die Erschöpfung ein roter Strich zwischen ihren Brauen. Ihr Dienst ist längst vorbei, sie will weg, will gehen. Warum kann die alte Frau nicht gehen?

Ruths Finger gleiten langsam an ihrem Hals nach unten, drücken gegen die Rippen. Sie ertasten den Hohlraum ihrer Achsel. Das Ende der Rippen. Den Widerstand der Bänder.

In einer Welt, die sich verändert, so rasend schnell und so bedrohlich, dass wir es kaum ertragen, ist Ruth die Konstante, die uns Hoffnung gibt. Ruth war immer da. Ihre Worte haben uns durch das Chaos nach den Kriegen begleitet. Sie hat uns ermutigt, wieder aufzustehen. Sie ist das Band, das uns zusammenhält. Die Jüngeren unter uns, sie kennen keine Welt ohne Ruth.

Ruths Finger zittern. Sie verringert den Druck, die Fingerspitzen tasten, suchen. Hinter einer Sehne finden sie den Knoten. Ruth war immer da. Und wir hoffen, von Herzen, dass sie noch sehr lange bleiben wird.

3

In der kühlen Kapsel des klimatisierten Automobils rasen die beiden Frauen über eine Fläche aus Kies und Sand. Über ihnen das Strahlen eines erbarmungslosen Himmels, wie ein nach oben gekippter Ozean, taubenblau, soweit das Auge reicht. Keine Wolkenufer, keine Ränder. Verlässt man den Schutz der Kuppeln, gerät man ohne die notwenige Technologie in Seenot und ertrinkt in der glühenden Hitze des endlosen Blaus.

Alev hat einen Zweisitzer bestellt. Auf der Landkarte am Armaturenbrett kriecht ihr Navigationspunkt auf hellbraunen Flächen dahin. Ruths Display liegt auf ihrem Schoß, sie versucht, die Zeit zu nützen. Nicht Ania: Die klebt mit ihrer Wange an der verdunkelten Scheibe, die Pupillen jagen von links nach rechts. Wie ein Tier, das zum ersten Mal den Käfig verlässt, denkt Ruth. Diese Kinder sind unter den Kuppeln aufgewachsen. Die junge Frau muss sich fühlen, als würde sie frei im Weltall treiben.

»Hast du Angst?«, fragt Ruth.

Ania reißt den Kopf in ihre Richtung. Wieder das zehnjährige Kind, das versucht, eine Erwachsene zu spielen. Sie kann ihre Aufregung so schwer verbergen.

»Wovor?«, fragt Ania.

Ruth antwortet nicht. Die Liste wäre zu lang.

Als sie die Grenze der Stadt passieren, werden die Trümmer der aufgegebenen Gebiete sichtbar. Die Folgen des ersten Verdichtungskriegs, als die Horden von Osten kamen. Was geblieben ist, sind marode Hauswände, die fast in sich selbst zusammenstürzen und auf splitternden Balken durchlöcherte Dächer halten. Und schwarz verkohlte Wälder.

»Wie heißt dieser Bezirk?«, fragt Ania.

»Es gibt keine Einwohner mehr, niemand spricht über ihn«, sagt Ruth schroff. »Wozu braucht er einen Namen?«

Die schwarzen Striche in Anias Gesicht kräuseln sich gefährlich. Ruth seufzt.

»Berling«, sagt sie schließlich. »Das war Berling.«

Dann kommt Vorstadt, dann Stocksen. Jeder Name ein Splitter in Ruths Seele. Die Stadt zu verlassen bedeutet, durch die Vergangenheit zu reisen und zu wissen, was man verloren hat. Das ist der Preis, den das Alter mit sich bringt.

Die Landschaft, durch die sie jetzt fahren, ist flach und ereignislos. Haferfarbene Erde, die nicht die Kraft hätte, jemals wieder Hafer zu halten. Dazwischen Anger aus weißen Felsen. Furchen, die die Trockenheit in den Boden gerissen hat. Eine Stunde fahren sie schon dahin. Ania ist schweigsam geworden. Ihre Augenlider senken sich. Die Hände liegen im Schoß. Ruth kann so nicht arbeiten.

»Es macht dich traurig, das alles zu sehen«, sagt sie.

Ania blinzelt misstrauisch. Die alte Frau dreht sich zur jungen: Zum ersten Mal, seit sie in ihre Obhut gegeben wurde, möchte Ruth, dass Ania ihr zuhört.

»Merk dir dieses Gefühl«, sagt sie.

Sie legt ihre Hand auf Anias knochige Schulter. Ania starrt sie an. Ruth sagt:

»Mein Terminkalender ist voll, genauso wie deiner ab dem heutigen Tag. Und du könntest glauben, dass es das ist, warum es uns gibt: Termine. Entscheidungen. Reden. Doch die Wahrheit ist: Wir sind hier, um die Trauer zu vertreiben. Denn die Trauer lähmt uns und nimmt uns alles, wozu wir fähig wären. Sie wirft uns in eine bodenlose Leere. Wenn wir zurückschauen, wenn wir uns vor Augen führen, was wir alles hätten haben können – was hat dann noch Sinn? Merk dir dieses Gefühl, merk dir: Es liegt an uns, der Welt eine Zukunft zu schenken. Sei wütend, sei laut, sei stark. Beschütze die Menschen vor der Leere.«

Dann dreht sie die junge Frau sanft nach rechts.

»Da, schau!«

Wie aus dem Nichts schießen Zäune aus dem Erdboden neben der Straße, vier, fünf Meter hoch. Hürden, die unter Starkstrom stehen. Unüberwindbar. Dahinter erheben sich die Kronen der Bäume in den Himmel. Sie werfen Schatten aufs Auto, das ungebremst die Route weiterverfolgt. Königlich wehen die Linden, Fichten und Kiefern im Wind, in sattem Grün, und das Licht fällt blättrig durch die Zweige. Ruth erinnert sich an den moosigen Geruch und an das Knacksen in den Wäldern ihrer Kindheit. Die Lust darauf und die Angst davor, verlorenzugehen. Das ist jetzt vorbei. Sie haben aufgehört, Wälder zu betreten. Du würdest auch keinem Menschen in der offenen Lunge herumfingern.

Ania legt beide Hände an die Scheibe. Die Schattenlinien der Bäume rasen über ihren Kopf. Ihre Brust hebt und senkt sich, als würde sie nach der Luft schnappen, die das Grün verspricht. Instinktiv. Wir werden sie nicht los, unsere Triebe, denkt Ruth. Das Kind freut sich, aus jeder Pore quillt ein Schwall aus Glückseligkeit. Jetzt dreht sie sich um: Glänzende Augen. Sie ist viel zu jung, denkt Ruth.

Das Armaturenbrett leuchtet gelb auf und vibriert summend. Ein Anruf: Pola.

Ruth nimmt per Knopfdruck an, und Polas Gesicht erscheint groß am Display des Fahrzeugs.

»Ruth, meine Liebe, machst du denn nie Pause? Ich dachte, nach einer Feier wie gestern bist du mindestens drei Tage abgemeldet.«

»Wer sagt dir, dass ich das nicht bin?«