Die Schatzinsel - Robert Louis Stevenson - E-Book

Die Schatzinsel E-Book

Robert Louis Stevenson

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Beschreibung

"Fünfzehn Mann auf dem Totenschrein – Jo-ho-ho und eine Flasche Rum." Robert Louis Stevensons ›Schatzinsel‹ zählt zweifellos zu den größten Klassikern der Abenteuerliteratur. Stevenson war dreißig Jahre alt, als er die Idee zu der Geschichte hatte, die ihm Weltruhm einbringen sollte. Alles beginnt mit der Landkarte einer mysteriösen Insel, auf der ein Schatz versteckt sein soll. Nach vielen Kämpfen und Verwicklungen werden die Schatzsucher schließlich fündig – auf eine Weise allerdings, mit der niemand gerechnet hat, am wenigsten der heimtückische Long John Silver. Die mitreißende Geschichte über Verrat, Gier und Wagemut wurde mehr als zwanzig Mal verfilmt und liegt hier in der modernen Übersetzung von Ulrich Bossier vor. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Robert Louis Stevenson

Die Schatzinsel

Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier

Nachwort von Burkhard Niederhoff

Reclam

Englischer Originaltitel:

Treasure Island

 

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961858-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020638-6

www.reclam.de

Inhalt

 An den unentschlossenen Käufer

Lloyd Osbourne,

TEIL I Der alte Freibeuter

Kapitel 1 Der alte Seebär im Admiral Benbow

Kapitel 2 Der Schwarze Hund taucht auf und verschwindet wieder

Kapitel 3 Der Schwarze Fleck

Kapitel 4 Die Seemannskiste

Kapitel 5 Das Ende des Blinden

Kapitel 6 Die Papiere des Käpt’ns

TEIL II Der Schiffskoch

Kapitel 7 Ich fahre nach Bristol

Kapitel 8 Im Wirtshaus Zum Fernrohr

Kapitel 9 Pulver und Waffen

Kapitel 10 Die Hinfahrt

Kapitel 11 Was ich im Apfelfass hörte

Kapitel 12 Kriegsrat

TEIL III Mein Abenteuer an Land

Kapitel 13 Wie mein Abenteuer an Land begann

Kapitel 14 Der erste Schlag

Kapitel 15 Der Mann von der Insel

TEIL IV Das Blockhaus

Kapitel 16 Vom Doktor erzählt: Wir verlassen das Schiff

Kapitel 17 Vom Doktor erzählt: Die letzte Fahrt der Jolle

Kapitel 18 Vom Doktor erzählt: Wie der erste Kampftag endete

Kapitel 19 Wieder von Jim Hawkins erzählt: Das Blockhaus wird Festung

Kapitel 20 Silver verhandelt

Kapitel 21 Der Angriff

TEIL V Mein Abenteuer zur See

Kapitel 22 Wie ich in mein Abenteuer zur See geriet

Kapitel 23 Der Ebbstrom läuft

Kapitel 24 Im Korakel unterwegs

Kapitel 25 Ich streiche den Jolly Roger

Kapitel 26 Israel Hands

Kapitel 27 »Piaster!«

TEIL VI Kapitän Silver

Kapitel 28 In Feindes Lager

Kapitel 29 Noch ein Schwarzer Fleck

Kapitel 30 Ehrenwort ist Ehrenwort

Kapitel 31 Auf Schatzsuche (I): Flints Wegweiser

Kapitel 32 Auf Schatzsuche (II): Die Stimme aus dem Wald

Kapitel 33 Ein Anführer stürzt

Kapitel 34 Zu guter Letzt

Nachwort

Zeittafel

 An den unentschlossenen Käufer

 

Wenn Seemannsgarn, erzählt zu Seemannsweisen,

Von Schiffen, Inseln, Winden rauh und hart,

Vergrabnem Gold, das lockt zu weiten Reisen,

Von Ausgesetzten und von Kaperfahrt –

Romantik eben, ganz nach alter Art,

Wie sie in früher Zeit mich hat bezwungen:

Wenn derlei auch noch in der Gegenwart

Euch kann betörn, ihr aufgeweckten Jungen,

 

Dann ist das Buch für euch! Lest! – Oder nein?

Seid gar zu abgeklärt ihr heutgen Knaben?

Kein Kingston reizt euch mehr, kein Ballantyne?

Und über Cooper fühlt ihr euch erhaben?

Ja dann – sei’s drum. Schern euch nicht ihre Gaben

Und all die Helden, die sie einst ersonnen,

Soll man, wo sie schon sind, auch mich begraben

Mitsamt all den Korsarn, die ich ersponnen.

Lloyd Osbourne,

 

dem amerikanischen Gentleman,

nach dessen traditionskundigem Geschmack

die folgende Erzählung gestaltet wurde,

zum Dank für viele angenehme Stunden

mit den herzlichsten Wünschen

gewidmet

 

von seinem ihm zutiefst verbundenen Freund,

dem Verfasser

TEIL IDer alte Freibeuter

Kapitel 1Der alte Seebär im Admiral Benbow

Squire Trelawney, Doktor Livesey und die anderen Gentlemen, die an unserem Abenteuer teilnahmen, haben mich gebeten, die Ereignisse um die Schatzinsel niederzuschreiben, und zwar ganz, von Anfang bis Ende, in allen Einzelheiten; lediglich die genaue Lage der Insel soll ich verschweigen, und auch dies nur, weil dort noch ungehobene Schätze liegen. So ergreife ich denn im Jahre des Heils 17— die Feder und lenke meine Gedanken zurück zu jener Zeit, da mein Vater die Schenke Zum Admiral Benbow führte, und zu jenem Tag, da der braunhäutige Seemann mit der Säbelnarbe unter unserem Dach Quartier bezog.

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er sich mühsam zur Gasthaustür hereinschleppte, hinter sich eine Seemannskiste auf einer Schubkarre: ein hochgewachsener Kerl, stark und schwer, das Gesicht nussbraun, quer über einer Wange die schmutzigweiß verschorfte Spur eines Säbelhiebs; die Hände rissig und voller Narben, die Fingernägel schwarz und abgebrochen; ein teeriger Matrosenzopf baumelte ihm auf die Schultern seines fleckigen blauen Rocks. Ich erinnere mich noch genau, wie er forschend über die Bucht blickte; dabei pfiff er erst leise vor sich hin, dann brach er in ein altes Seemannslied aus – wir sollten es später noch oft von ihm hören:

»Fünfzehn Mann auf dem Totenschrein –

Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum.«

Eine hohe, zittrige Stimme war dies, zweifellos vom vielen Singen am Gangspill verschlissen und im Alter brüchig und rauh geworden. Mit dem Stock, auf den er sich stützte und der stark einer Handspake glich, klopfte er an die Tür. Kaum erschien mein Vater, verlangte er barsch ein Glas Rum. Es wurde ihm gebracht, und er trank es langsam, wie ein Kenner, den Geschmack auskostend. Währenddessen blickte er immer wieder zu den Klippen hin und auf unser Wirtshausschild.

»Ist ja ’ne gemütliche Bucht«, sagte er schließlich, »und der Grogladen, wirklich hübsch gelegen. Viel Betrieb, Kamerad?«

Nein, antwortete ihm mein Vater, viel zu wenig, leider.

»Umso besser«, meinte er, »dann ist das hier der richtige Ankerplatz für mich. He, Jungchen«, rief er dem Mann zu, der die Karre schob, »komm längsseits und bring meine Kiste an Bord. Ich bleib hier mal ’ne Weile«, fuhr er fort, zu uns gewandt. »Bin kein schwieriger Kostgänger. Rum, Speck und Eier, und von der Klippe da oben nach den Schiffen Ausguck halten, mehr will ich gar nicht. – Mein Name? Ach, nennt mich einfach Käpt’n. – Sonst noch was? Ja, ja, kapier schon. Da!« Und er warf drei, vier Goldstücke auf die Schwelle. »Wenn ich die verbraucht hab, sagt ihr Bescheid«, brummte er, stets mit dem Gebaren eines grimmigen Befehlshabers.

Tatsächlich wirkte er trotz seiner schäbigen Kleidung und seiner ungehobelten Redeweise keineswegs wie jemand, der sein Seefahrerleben vor dem Mast zugebracht hatte, sondern eher wie ein Maat oder gar Kommandant – jedenfalls wie einer, der gewohnt war, dass man ihm gehorchte, und der dreinschlug, wenn dies nicht geschah. Der Mann mit dem Karren erzählte uns, der Fremde sei gestern morgen vor dem Royal George aus der Postkutsche gestiegen und habe sich gleich nach den Wirtshäusern längs der Küste erkundigt. Schließlich habe er sich für unseres entschieden – wegen seines allgemein guten Rufs, nehme ich an, und gewiss wegen seiner einsamen Lage. Mehr bekamen wir über unseren neuen Gast nicht heraus.

Und er selbst pflegte nicht viel zu reden. Tags nahm er stets sein Messingfernrohr und streifte den Strand entlang oder über die Klippen; abends saß er stets in einer Ecke der Gaststube nahe beim Kamin und trank seinen steifen Grog. Sprach man ihn an, sagte er meist gar nichts, sondern blickte nur kurz auf und schnaubte wütend durch die Nase, dass es klang wie ein Nebelhorn. Wir und die Leute, die unser Haus besuchten, merkten bald, dass man ihn wohl besser zufrieden ließ. Jeden Tag, wenn er von seinem Gang zurückkehrte, erkundigte er sich, ob nicht vielleicht Seeleute vorbeigekommen seien. Zunächst dachten wir, er frage dies, weil er gern seinesgleichen um sich gehabt hätte; später begriffen wir jedoch, dass er einer solchen Begegnung gerade ausweichen wollte. Wenn tatsächlich einmal ein Seemann im Admiral Benbow einkehrte – und das geschah dann und wann, schließlich lagen wir an der Küstenstraße nach Bristol –, betrachtete er ihn immer erst eine Weile durch den Türvorhang, bevor er die Gaststube betrat, und man konnte sicher sein, dass er mucksmäuschenstill blieb, solange der Fremde dort verweilte. Mir zumindest erschien sein Verhalten durchaus nicht rätselhaft – kein Wunder, war ich doch gewissermaßen ein Profiteur seiner Besorgnis. Er hatte mich eines Tages beiseite genommen und mir ein Geschäft vorgeschlagen. Ich solle in unserer Gegend »scharf Ausguck halten« nach einer bestimmten Person, und zwar »’nem Seemann, dem ein Bein fehlt.« Wenn so einer auftauche, müsse ich ihm gleich Bescheid sagen. Ein kleiner Dienst, für den er mich aber, versprochen, jeden Monatsersten mit einem silbernen Vierpennystück entlohnen werde. Freilich zahlte er längst nicht immer pünktlich; wenn ich ihn dann mahnte, schnaubte er mich nur an und warf mir einen drohenden Starrblick zu, der mich verstummen ließ. Doch noch bevor die Woche zu Ende war, besann er sich eines Besseren, gab mir mein Vierpennystück und wiederholte seinen Auftrag: immer scharf Ausguck halten nach dem »Seemann mit einem Bein«.

Es lässt sich denken, wie dieser unheimliche Geselle mich in meinem Schlaf heimsuchte. In stürmischen Nächten, wenn der Wind das Haus durchrüttelte und die Brandung brausend gegen den Strand schlug und die Klippen hochjagte, sah ich ihn in tausenderlei Gestalt und mit tausenderlei teuflischen Fratzen. Bald fehlte ihm das Bein bis zum Knie, bald bis zur Hüfte, bald erschien er mir als ein monströses Missgebilde, das überhaupt nur ein Bein hatte, allerdings in der Mitte des Unterleibs. In meinen schlimmsten Alpträumen rannte und sprang dieses Wesen hinter mir her, verfolgte mich über Hecken und Gräben. So erfreulich das monatliche Vierpennystück war – ich bezahlte es mit diesen schauerlichen Gesichten reichlich teuer.

Während das Phantom des einbeinigen Seemanns mich nun wahrlich in Schrecken versetzte, hatte ich vor dem Kapitän selbst viel weniger Angst als die meisten, die ihn bei uns kennen lernten. An manchen Abenden trank er erheblich mehr Grog, als er vertrug; der Rum stieg ihm zu Kopfe. Dann saß er da und sang seine alten, wilden, bösen Seemannsweisen, meist, ohne sich um die anderen Gäste zu kümmern. Gelegentlich jedoch bestellte er Lokalrunden; dafür mussten die verschüchtert bebenden Anwesenden aber auch sämtlich seinen Geschichten lauschen und seine Lieder im Refrain mitgrölen. Immer wieder erzitterte das ganze Haus unter dem »Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum«; kein Wunder: alle Nachbarn stimmten ein; Todesangst im Gesicht, schmetterten sie los ums liebe Leben, einer lauter als der andere – man wollte ja nicht unangenehm auffallen. Denn in solchem Zustand war der Kapitän der ungemütlichste Patron, der sich denken lässt. Er schlug mit der Hand auf den Tisch – und alle hatten zu schweigen. Unterbrach man ihn durch Fragen, bekam er einen Wutanfall, was freilich auch passieren konnte, wenn keine gestellt wurden, denn dann vermutete er, die Gesellschaft habe nicht richtig zugehört. Außerdem durfte ihm keiner der Gäste die Schenke verlassen, bevor er, endlich müde getrunken, ins Bett wankte.

Am meisten ängstigten die Leute seine Geschichten. Fürchterliche Geschichten waren das, von grausigen Todesarten, vom Hängen etwa oder vom Über-die-Planke-Springen, von Stürmen auf dem Meer, von den Dry Tortugas und von wilden Wagnissen an verschiedenen Orten in der Karibischen See. Wenn das alles stimmte, was er da so erzählte, hatte er sein Leben unter den übelsten Burschen zugebracht, die Gott je auf seinen Meeren segeln ließ. Und dann die Sprache, in der er seine Geschichten darbot! Sie verstörte unsere einfachen Landleute fast ebenso wie die Verbrechen, die er berichtete. Mein Vater meinte, der Kapitän würde uns noch ruinieren. Auf die Dauer gehe doch kein Gast in eine Schenke, wo er sich erst stundenlang tyrannisieren und niederbrüllen lassen müsse, bis er sich schließlich zitternd zu Bett scheren dürfe. Ich hingegen glaubte wahrhaftig, dass der Alte unser Geschäft eher beflügelte. Sicher, während er tobte, hatten sie Angst; aber wenn sie sich in seiner Abwesenheit über ihn und sein Gebaren unterhielten, fanden sie doch irgendwie Geschmack daran. Es brachte eine erfreuliche Abwechslung in ihr ruhiges Landleben. Ein paar Jüngere gaben sogar an, ihn zu bewundern. Der sei noch »’n richtiger Seebär«, »’ne echte alte Teerjacke«, lobten sie ihn etwa und behaupteten, Männern seines Schlages habe England zu verdanken, dass es zur See so gefürchtet sei.

In einer anderen Hinsicht allerdings drohte er uns tatsächlich zu ruinieren. Er blieb erst Woche um Woche, dann Monat um Monat, ohne Kost- und Logiergeld zu entrichten; die paar Goldstücke, die er bei seiner Ankunft hingeworfen hatte, waren längst aufgebraucht. Mein Vater brachte es jedoch nie über sich, energisch weitere Zahlungen zu verlangen. Wenn er das Thema auch nur behutsam anschnitt, schnaubte der Kapitän noch lauter als üblich durch die Nase – oder sagen wir getrost: er brüllte – und starrte den Mahnenden buchstäblich aus dem Zimmer. Wie oft habe ich meinen armen Vater nach einer solchen Abfuhr die Hände ringen sehen. Der Ärger und die Angst, die er damals durchleben musste, haben, da bin ich sicher, sein frühes und unglückliches Ende wesentlich beschleunigt.

Während er bei uns wohnte, trug der Kapitän stets dieselben Sachen. Nie schaffte er sich neue an; nur einmal kaufte er von einem Hausierer ein paar Strümpfe. Als sich irgendwann die Vorderkrempe seines Dreispitzes aus ihrer Befestigung löste, ließ er sie einfach hängen, obwohl ihm das herunterlappende Stoffstück, wenn scharfer Wind ging, doch sehr lästig sein musste. Auch seinen Rock werde ich nie vergessen. Den flickte er selbst, oben in seiner Kammer, und zwar ziemlich oft, bis das gute Stück schließlich nur noch aus Flicken bestand. Nie schrieb er einen Brief, nie bekam er einen, und nie sprach er mit irgendwem, außer mit unseren Nachbarn, und auch mit denen fast nur, wenn hinreichend Rum ihn beschwingte. Seine große Seemannskiste hat während der ganzen Zeit keiner von uns je offen gesehen.

Nur ein einziges Mal geriet er mit seiner Toberei an den Falschen, und zwar kurz bevor sein Aufenthalt bei uns endete. Mein armer Vater lag gerade im Bett; die zehrende Krankheit, die ihn schließlich dahinraffen sollte, setzte ihm schon sehr zu. Es war später Nachmittag; Doktor Livesey, unser Hausarzt, schaute gerade vorbei und besuchte den Patienten. Er ließ sich von meiner Mutter einen kleinen Imbiss reichen, dann ging er in die Schankstube, um eine Pfeife zu rauchen, bis sein Pferd eintraf; es musste aus dem Dorf geholt werden, denn der alte Benbow besaß keine Stallung. Ich folgte dem Doktor in den Raum. Seine Erscheinung – ich sehe es heute noch vor mir – stach frappant gegen die der übrigen Gäste ab: hier der blitzsauber gekleidete Arzt mit seiner schneeweiß gepuderten Perücke, seinen leuchtenden schwarzen Augen und seinen gepflegten Manieren, dort die schlichten Landleute, ungeschlacht und lärmig. Den schroffsten Kontrast aber bildete selbstverständlich unser Hauspirat, der wieder einmal eifrig dem Rum gefrönt hatte. Schon beträchtlich im Dusel, saß er an seinem Tisch, beide Arme aufgelümmelt. Schmierig, plump und stumpfäugig, wirkte er verglichen mit dem Doktor wie eine wahre Vogelscheuche. Plötzlich ließ er – der Kapitän, meine ich – sein unvermeidliches Lied erschallen:

»Fünfzehn Mann auf dem Totenschrein –

Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum;

Sauft nur, der Teufel wird mit euch sein –

Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum.«

Ursprünglich hatte ich vermutet, der »Totenschrein« sei schlicht und einfach die große Truhe oben im Vorderzimmer. Dementsprechend erschien er auch in meinen Träumen von dem einbeinigen Seemann. Inzwischen aber machten wir uns längst keine Gedanken mehr um das Lied, ja, wir schenkten ihm kaum noch Beachtung. Doktor Livesey freilich hörte es an jenem Abend zum ersten Mal, und es machte auf ihn offenbar keinen sehr guten Eindruck, denn er blickte einen Moment höchst ärgerlich zu dem Sänger hinüber, bevor er in seinem Gespräch mit dem alten Gärtner Taylor fortfuhr, den er über neue Methoden der Rheumabehandlung unterrichtete. Inzwischen kam der Kapitän beim Klang der eigenen Musik zusehends in Stimmung und in Fahrt; schließlich schlug er, getreu seiner Gewohnheit, mit der Hand auf den Tisch, was, wie wir alle wussten, heißen sollte: Ruhe jetzt! Alles verstummte augenblicklich, nur einer nicht. Doktor Livesey redete einfach weiter wie zuvor, laut und freundlich, wobei er nach jedem Satz oder doch jedem zweiten einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife nahm. Der Kapitän glotzte ihn eine Weile an, schlug erneut die Hand auf den Tisch, glotzte wieder, nur wütender, bis er schließlich in einen grauenhaft ordinären Fluch ausbrach und brüllte:

»Ruhe an Deck da hinten!«

»Meint Ihr etwa mich, Sir?«, fragte der Doktor. Der Rüpel fluchte erneut und antwortete: ja natürlich, wen denn sonst. »Dann habe ich Euch nur das eine zu sagen«, erwiderte der Doktor: »Wenn Ihr mit dem Rum so weitermacht, gibt es bald einen dreckigen Erzhalunken weniger auf der Welt!«

Die Wut des alten Kerls war fürchterlich. Er sprang auf, zog ein Klappmesser, wie Seeleute es tragen, holte die Klinge hervor, rollte die geöffnete Waffe in der Hand hin und her und drohte, den Doktor an die Wand zu spießen.

Doktor Livesey machte keinerlei Bewegung. Wie schon zuvor sprach er über die Schulter mit dem Kapitän, und im gleichen Ton. Zwar hob er die Stimme etwas an, so dass alle im Raum ihn hörten, aber sie klang vollkommen ruhig und fest, als er entgegnete:

»Wenn Ihr das Messer nicht augenblicklich wegsteckt, dann werdet Ihr – auf meine Ehre – beim nächsten Gerichtstermin hängen.«

Eine Weile lieferten sich die beiden noch ein Blickgefecht, aber es dauerte nicht lange, und der Kapitän strich die Segel, steckte sein Messer in die Tasche und setzte sich, knurrend wie ein geprügelter Hund, wieder auf seinen Stuhl.

»Ach, noch eins, Sir«, fuhr der Doktor fort. »Da ich nun weiß, dass sich in meinem Bezirk solch ein Bursche befindet, werde ich künftig genau verfolgen, was Ihr tut, und zwar Tag und Nacht. Ich bin nicht nur Arzt, sondern auch Amtsperson. Sollte mir die leiseste Klage über Euch zu Ohren gelangen – und sei es nur wegen einer Flegelei wie heute abend –, dann, verlasst Euch darauf, treffe ich Maßnahmen, dass Ihr hier wegkommt. So, ich hoffe, das war deutlich genug.«

Kurze Zeit später traf Doktor Liveseys Pferd vor dem Gasthof ein, und er ritt davon. Der Kapitän aber verhielt sich an diesem Abend friedlich – und auch an vielen Abenden danach.

Kapitel 2Der Schwarze Hund taucht auf und verschwindet wieder

Kurz danach begab sich das erste jener rätselhaften Ereignisse, die uns schließlich von dem Kapitän befreiten, nicht jedoch, wie sich bald zeigen sollte, von seinen Angelegenheiten. Ein bitterkalter Winter brach herein mit langen, harten Frostwochen und schweren Stürmen, und es war schon absehbar, dass für meinen armen Vater wenig Hoffnung bestand, den Frühling zu erleben. Er wurde täglich schwächer, und meine Mutter und ich mussten den gesamten Wirtshausbetrieb allein besorgen. Dies bedeutete so viel Arbeit, dass unser unliebsamer Gast in unserer Aufmerksamkeit nicht mehr an erster Stelle stand.

Es geschah an einem Januarmorgen in der Frühe, an einem schneidend kalten Tag. Grau hing die Bucht voll Rauhreif; eine schwache Brandung klatschte matt gegen die Steine; die Sonne stand noch tief, lugte gerade über die Spitzen der Berge und leuchtete weit aufs Meer hinaus. Der Kapitän war zeitiger als gewöhnlich zum Strand hinabgewandert, das Messingfernrohr unterm Arm, den Hut im Genick, und unter den breiten Schößen seines alten blauen Rocks baumelte das Entermesser. In langen Schritten strebte er dem Ufer zu, und sein Atemdunst, ich erinnere mich genau, zog wie eine Rauchfahne hinter ihm her. Schon bog er um den großen Felsen. Das letzte, was ich von ihm hörte, war ein lautes Schnauben der Entrüstung. Seine Gedanken kreisten wohl immer noch um Doktor Livesey.

Während nun meine Mutter noch oben bei Vater war, deckte ich schon einmal den Tisch für den Kapitän, der stets erst nach seinem morgendlichen Gang zu frühstücken pflegte. Plötzlich öffnete sich die Tür der Gaststube, und ein Mann trat herein, den ich in der Gegend noch nie gesehen hatte: ein käsebleicher Kerl, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten. Er trug zwar ein Entermesser, machte insgesamt aber keinen sehr kampfeslustigen Eindruck. Auf Seeleute hatte ich ja nun schon geraume Zeit stets ein wachsames Auge, auf ein- wie auf zweibeinige, aber aus diesem, so meine Erinnerung, wurde ich zunächst nicht recht schlau. Er wirkte nicht seemännisch, und trotzdem, irgendwie roch er nach Meer.

Ich fragte ihn, was er wünsche, und er bestellte ein Glas Rum. Als ich aber hinausgehen wollte, um es zu holen, setzte er sich auf einen Tisch und winkte mich heran. Ich blieb stehen, wo ich war, das Serviertuch überm Arm.

»Komm mal her, Jungchen«, sagte er; »komm mal’n bisschen näher.«

Ich trat einen Schritt auf ihn zu.

»Ist das der Tisch für meinen lieben Freund Bill?«, fragte er mit leicht boshaftem Grinsen.

Ich erwiderte, dass ich seinen lieben Freund Bill nicht kennte; und das Gedeck sei für einen Gast, der in unserem Haus wohne, und zu dem wir ›Käpt’n‹ sagten.

»Aha!«, entgegnete der Fremde. »Käpt’n lässt er sich titulieren? Das passt zu ihm; ganz seine Art. Er hat übrigens ’ne Narbe auf einer Backe und ausgesprochen gepflegte Umgangsformen, mein lieber Freund Bill, besonders, wenn er blau ist. So, nun nehmen wir mal an – nur, damit wir hier weiterkommen –, euer Käpt’n hat auch ’ne Narbe auf einer Backe; und nehmen wir weiter an, die Backe, wo er die hat, ist – sagen wir mal – die rechte. Aha – wusst ich’s doch! Also: ist mein lieber Freund Bill grad daheim?«

Nein, er sei gerade draußen unterwegs, beschied ich ihn.

»Und wo lang, Jungchen? Wo lang ist er marschiert?«

Ich wies zu dem Felsen hin. Der Kapitän, berichtete ich, nehme meist den und den Weg und komme gewöhnlich um die und die Zeit wieder zurück. Der Besucher hatte noch mehr Fragen, und ich antwortete. »Ach«, rief er schließlich, »was wird mein lieber Freund Bill sich freuen; wie über einen guten Schnaps!«

Nach allem, was ich vom Kapitän wusste, hielt ich das für eine eher irrige Vermutung – wenn der Fremde sie denn überhaupt ernst meinte. Der Art, wie er dreinschaute, als er die Worte sprach, ließ jedenfalls kaum den Schluss zu, dass er wirklich Angenehmes im Schilde führte. Aber dies war ja nun nicht meine Sache – glaubte ich; außerdem fiel mir nichts ein, das ich hätte unternehmen können. Der Fremde stellte sich einstweilen dicht hinter die Wirtshaustür und spähte um die Ecke wie die Katze nach der Maus. Einmal wollte ich kurz auf die Straße, um selber Ausschau zu halten, aber da rief er mich sofort zurück. Als ich für seinen Geschmack nicht schnell genug parierte, nahm sein schwammiges Gesicht wahrhaft grässliche Züge an, und er kommandierte mich mit einem Fluch herein, der mich zusammenzucken ließ. Kaum war ich drinnen, gab er sich wieder wie zuvor – halb schmeichlerisch, halb spöttisch –, patschte mir auf die Schulter, sagte, ich sei ein guter Junge, so richtig sympathisch. »Ich hab ja selbst ’nen Sohn«, erzählte er. »Sieht dir übrigens kolossal ähnlich, wie ein Ei dem anderen. Bin auch mächtig stolz auf ihn. Doch bei aller Liebe, eins brauchen Jungen unbedingt: Disziplin, Jungchen, Disziplin. Wenn du mit Bill gesegelt wärst, dann hättest du die schon gelernt, glaub’s mir. Das geht doch nicht, dass man einem was zweimal befehlen muss! Solche Sachen gab’s nicht bei Bill und auch nicht bei denen, die mit ihm gefahren sind. Aber Moment, da kommt er ja! Natürlich, das ist er, mein lieber Freund Bill, mit ’nem Fernglas unterm Arm. Der gute alte Knabe. Nee, bin ich froh! Jetzt komm, Jungchen, wir beide, du und ich, wir gehen mal flott wieder in die Schankstube, Jungchen, und da bereiten wir dem Bill ’ne kleine Überraschung. Der gute alte Knabe, nee, bin ich froh, also wirklich!«

Noch während er dies sagte, drückte sich der Fremde rückwärts in die Schankstube. Ich musste ihm folgen und mich hinter ihn in die Ecke stellen, so dass uns beide nun die offene Tür verdeckte. Mir war, man kann sich’s denken, äußerst unbehaglich und beklommen zumute, und meine Angst wurde nicht eben geringer, als ich merkte, dass auch der Fremde deutliche Anzeichen von Furcht zeigte. Er rückte den Griff seines Entermessers zurecht und lockerte die Klinge in der Scheide, und die ganze Zeit, während wir da warteten, schluckte er immerzu; er hatte wohl, wie man früher sagte, einen Kloß im Hals.

Endlich kam der Kapitän hereingeschritten, knallte die Tür hinter sich ins Schloss und marschierte, ohne nach rechts oder links zu schauen, quer durch den Raum geradewegs dorthin, wo ihn sein Frühstück erwartete.

»Bill!«, rief der Fremde mit einer Stimme, die sich, wie mir schien, alle Mühe gab, fest und unerschrocken zu klingen.

In einem Ruck drehte sich der Kapitän zu uns um. Alles Braun war aus seinem Gesicht gewichen, das nun bläulich anlief bis in die Nase. Man hätte meinen können, er habe eben einen Geist gesehen, oder den Leibhaftigen, oder etwas noch Schlimmeres, falls es das gibt. Auf mein Wort, er tat mir leid, denn er bot ein Bild des Jammers; von einem Augenblick zum nächsten war er nur noch ein alter, kranker Mann.

»Komm, Bill, du kennst mich schon. Wirst doch ’nen alten Schiffskameraden wieder erkennen, aber ganz bestimmt!«, sagte der Fremde.

Der Kapitän schien nach Luft zu ringen.

»Der Schwarze Hund!«, keuchte er.

»Klar, wer sonst?«, gab der andere zurück, nun etwas sicherer. »Der Schwarze Hund, wie er leibt und lebt, besucht seinen alten Schiffskameraden Billy, hier im Gasthaus Zum Admiral Benbow. Ach Bill, Bill, was haben wir nicht alles erlebt, wir zwei, seit mir die beiden Klauen verloren gegangen sind.« Und er hielt seine verstümmelte Hand hoch.

»Schön«, sagte der Kapitän, »du hast mich aufgestöbert. Da bin ich. Also, leg los: was willst du?«

»Ganz der alte Bill«, erwiderte der Schwarze Hund; »immer gleich zum Punkt. Und recht hast du. Der fabelhafte Knabe hier, den ich so ins Herz geschlossen habe, wird mir ein Glas Rum bringen, und dann setzen wir uns hin, nicht wahr, und reden mal offen miteinander, wie’s sich für alte Schiffskameraden gehört.«

Als ich den Rum hereintrug, saßen die beiden schon einander gegenüber am Frühstückstisch des Kapitäns. Der Schwarze Hund hatte sich mit dem Rücken zur Tür gesetzt und seinen Stuhl ein Stück vom Tisch weggedreht, was ich mir dahingehend erklärte, dass er so einerseits seinen alten Schiffskameraden, andererseits aber auch seinen möglichen Fluchtweg besser im Blick behalten konnte.

Er schickte mich hinaus; die Tür aber sollte weit offen bleiben. »Hat sich was mit Schlüsselloch, Jungchen«, sagte er. Ich ließ sie allein und zog mich ins Tresenzimmer zurück.

Obwohl ich nach besten Kräften lauschte, hörte ich eine ganze Weile nur leises, undeutliches Gemurmel. Schließlich aber wurden die Stimmen lauter, und ich konnte ein paar Worte des Kapitäns aufschnappen – überwiegend Flüche.

»Nein, nein, nein, nein, und fertig!«, schrie er einmal, und etwas später: »Wenn’s ans Baumeln geht, dann baumeln alle, merk dir das!«

Dann plötzlich ein entsetzliches Getöse, eine wahre Explosion aus Flüchen und anderem Lärm: Tisch und Stühle polterten gegeneinander und fielen krachend zu Boden, Stahl klirrte, ein Schmerzensschrei gellte; im nächsten Augenblick sah ich den Schwarzen Hund in wilder Flucht, dicht verfolgt vom Kapitän. Beide hatten die Entermesser gezogen; dem Schwarzen Hund lief das Blut von der linken Schulter. Jetzt erreichten sie die Tür. Kaum im Freien, holte der Kapitän noch einmal zu einem letzten fürchterlichen Hieb aus, der den Flüchtenden sicher bis zum Rückgrat gespalten hätte, wäre die Wucht nicht vom großen Wirtshausschild des Admiral Benbow aufgefangen worden. Die Kerbe ist heute noch an der Unterseite des Schildes zu sehen.

Der Schlag beendete das Gefecht. Einmal auf der Straße, gab der Schwarze Hund trotz seiner Verwundung mit erstaunlicher Behendigkeit Fersengeld: kaum eine halbe Minute, und er war hinter dem Kamm des Hügels verschwunden. Der Kapitän seinerseits stand unbeweglich vor dem Eingang und starrte das Schild an, verwirrt, als begriffe er nicht, wie das hatte passieren können. Dann fuhr er sich mehrmals mit der Hand über die Augen und kehrte schließlich ins Haus zurück.

»Jim«, sagte er, »Rum.« Dabei taumelte er leicht und musste sich an der Wand abstützen.

»Seid Ihr verletzt?«, rief ich.

»Rum!«, wiederholte er. »Ich muss hier weg. Rum! Rum!«

Ich rannte, welchen zu holen. Aber die Aufregung machte mich fahrig, so dass ich ein Glas zerbrach und den Zapfhahn überdrehte. Und während ich noch dergestalt mit meiner eigenen Ungeschicklichkeit kämpfte, hörte ich in der Gaststube einen lauten Fall. Rasch lief ich hinüber und sah, was geschehen war: der Kapitän lag der Länge nach am Boden. Im selben Augenblick kam meine Mutter die Treppe hinuntergestürzt; alarmiert durch das Geschrei und das Kampfgetöse, wollte sie schauen, ob ich Hilfe bräuchte. Wir knieten neben dem Kapitän nieder und hoben ihm den Kopf an. Er atmete sehr laut und schwer, aber die Augen waren geschlossen, und sein Gesicht hatte sich grässlich verfärbt.

»O Gott, o Gott«, rief meine Mutter, »so eine Schande für unser Haus! Und dein armer Vater liegt oben krank!«

Wir hatten keine Ahnung, wie wir dem Kapitän helfen sollten. In unseren Gedanken kamen wir nicht weiter als bis zu der Annahme, dass er sich bei dem Handgemenge mit dem Fremden wohl einen tödlichen Stich zugezogen hatte. Nun stand ja der Rum neben mir, den ich natürlich einzusetzen versuchte. Ich mühte mich, ihm etwas davon in den Hals zu gießen. Aber seine Zähne waren dicht geschlossen und die Kinnbacken hart wie Eisen. Erleichtert und froh atmeten wir auf, als sich die Tür öffnete und Doktor Livesey hereintrat, der meinen Vater besuchen wollte.

»O Doktor«, riefen wir, »was machen wir nur? Wo sitzt denn die Wunde?«

»Wunde? Von wegen«, versetzte der Doktor. »Der Mann ist nicht mehr verwundet als Ihr oder ich. Einen Schlaganfall hat er, wie ich es ihm ja vorhergesagt hatte. So, Mrs. Hawkins, Ihr geht jetzt hoch zu Eurem Gatten und erzählt ihm möglichst nichts von alldem hier. Ich muss nun wohl mein Bestes tun, dem Kerl sein dreifach wertloses Leben zu retten. Und du, Jim, bist so nett und holst mir eine Schüssel.«

Als ich mit dem Verlangten zurückkam, hatte der Doktor dem Kapitän bereits den Ärmel aufgeschlitzt und ihm den starken, sehnigen Arm entblößt. Er trug an mehreren Stellen Tätowierungen, darunter Schriftzüge wie »Auf glückliche Zeiten«, »Guten Wind« oder »Billy Bones sein Schätzchen«, alles sehr sauber und leserlich eingeritzt; oben an der Schulter eine bildliche Darstellung: ein Galgen, von dem ein Mann herunterhing – nicht ohne Talent ausgeführt, wie ich fand.

»Welch treffende Vorahnung«, meinte der Doktor, mit dem Finger auf die Zeichnung tippend. »Und nun, Meister Billy Bones, falls Ihr so heißt, wollen wir uns mal die Farbe Eures Blutes betrachten. Oder wird dir schlecht, wenn du Blut siehst, Jim?«

»Nein, Sir«, antwortete ich.

»Schön«, sagte der Doktor, »dann halt mal die Schüssel.« Er nahm eine Lanzette und öffnete eine Ader.

Er musste ziemlich viel Blut ablassen, ehe der Kapitän endlich die Augen aufschlug und benebelt um sich schaute. Zuerst erkannte er den Arzt, und seine Miene verfinsterte sich unmissverständlich; dann erblickte er mich, und er schien erleichtert. Plötzlich aber schlug seine Gesichtsfarbe wieder um; er versuchte sich aufzurichten und schrie:

»Wo ist der Schwarze Hund?«

»Hier gibt’s keinen Schwarzen Hund«, erwiderte der Doktor. »Hier gibt’s nur den Hund, auf den Ihr gekommen seid; der allerdings kann einen schon schwarz sehen lassen. Ihr habt Rum getrunken, und dann hattet Ihr einen Schlaganfall, wie Euch von mir prophezeit. Und dann habe ich Euch gerade – sehr gegen meinen Willen – noch mal eben bei den Haaren aus der Grube gezerrt. Tja, Mr. Bones …«

»So heiß ich nicht«, unterbrach ihn der Kapitän.

»Hochinteressant. Spielt aber keine Rolle«, entgegnete der Doktor. »So heißt einer meiner Bekannten, von Beruf Seeräuber, und da nenne ich Euch der Einfachheit halber auch so. Was ich Euch zu sagen habe, ist folgendes: Ein Glas Rum bringt Euch zwar noch nicht um, aber wenn Ihr eines intus habt, wollt Ihr noch eins und immer noch eins. Und ich verwette meine Perücke darauf: wenn Ihr damit nicht Schluss macht, und zwar schnell, dann werdet Ihr sterben – begreift Ihr wohl? – sterben und an den Euch gebührenden Ort kommen, wie’s in der Bibel steht. So, nun rappelt Euch auf. Diesmal helfe ich Euch noch persönlich ins Bett.«

Mit viel Mühe schleppten wir ihn zu zweit die Treppe hoch. Wir legten ihn auf sein Bett, wo sein Kopf ins Kissen sackte, als wäre er einer Ohnmacht nahe.

»Also, denkt dran«, mahnte der Doktor ihn. »Ich habe Euch gewarnt, wie ich es als Arzt muss, und sage Euch noch einmal: Schon das Wort Rum ist Euer Tod.«

Damit verließ er den Raum und ging hinüber zu meinem Vater. Zwischendurch zog er mich auf ein Wort beiseite.

»Nicht weiter schlimm«, sagte er, nachdem er die Tür zum Zimmer des Kapitäns geschlossen hatte. »Ich habe ihm genügend Blut abgezapft, um ihn eine Weile ruhig zu halten. Er sollte jetzt eine Woche da liegen bleiben, wo er ist – das wäre das Beste für ihn und für euch. Ein zweiter Schlaganfall jedenfalls würde ihn erledigen.«

Kapitel 3Der Schwarze Fleck

Gegen Mittag brachte ich dem Kapitän seine Arzneien und kühlende Getränke. Er lag noch fast genauso da, wie wir ihn verlassen hatten, nur etwas höher, und wirkte schwach, gleichzeitig aber in heller Aufregung.

»Jim«, sagte er, »du bist der einzige, der hier etwas taugt, und ich bin ja auch immer gut zu dir gewesen. Jeden Monat hast du dein silbernes Vierpennystück gekriegt. So, Kamerad, und jetzt geht’s mir dreckig, wie du siehst, und ich bin ganz allein. Da bringst du mir doch ’nen lütten Schluck Rum, nicht wahr, das machst du doch für mich, ja, Jungchen?«

»Aber der Doktor –«, begann ich.

Doch er unterbrach mich gleich und verwünschte den Doktor, mit schwacher Stimme zwar, doch aus tiefem Herzensgrund. »Sind doch alles Dummbärte, die Doktors! Keine Ahnung haben die«, schimpfte er. »Der Doktor hier zum Beispiel, was weiß denn der von Seeleuten? Und von der Welt? Ich kenne Gegenden, so heiß wie’n Pechkessel, da haut dir das Gelbe Fieber links und rechts reihenweise die Kameraden um; und Erdbeben hab ich gesehen, potz Donner, da schlug das Land Wellen wie das Meer. Was weiß denn der Doktor von sowas? Und in diesen Zeiten, das kannst du glauben, hab ich vom Rum gelebt. Der Rum war mir alles, Essen und Trinken, Freund und Weib hat er mir ersetzt. Und wenn ich jetzt meinen Rum nicht krieg, bin ich nur noch’n armes altes Wrack an der Leeküste. Mein Blut über dich, Jim, über dich und deinen blöden Doktor!« Er fluchte noch eine Weile weiter. »Guck mal, Jim, wie meine Finger zappeln«, verfiel er dann in einen bettelnden Ton. »Ich kann sie nicht still halten, es geht einfach nicht. Ich hab den ganzen elenden Tag noch keinen Tropfen gehabt. Dein Doktor ist ein Blödmann, sag ich dir. Wenn ich nicht bald’n bisschen Rum trink, dann kommen die Gespenster. Ein paar hab ich schon gesehen. Ich hab den alten Flint gesehen, dort in der Ecke hinter dir, so deutlich wie gemalt hab ich den gesehen. Und wenn die Gespenster kommen – und das werden so einige sein, ich hatte’n reichlich rauhes Leben –, dann schlag ich Krach. Dein Doktor hat doch selber gesagt, ein Glas würd mir nicht schaden. Komm, nun hol mir schon ’nen lütten Schluck Rum. Kriegst auch ’ne Goldguinee, Jim.«

Er geriet immer mehr in Erregung, und das bereitete mir Sorge wegen meines Vaters, der gerade an diesem Tage sehr schlecht dran war und Ruhe brauchte. Außerdem stimmte ja, was der Kapitän anführte: ein Glas hatte ihm der Doktor genehmigt, das konnte ich ihm getrost geben. Bloß dass er mich zu bestechen versuchte, kränkte mich.

»Ich will kein Geld von Euch«, entgegnete ich, »außer dem, das Ihr meinem Vater schuldet. Ein Glas sollt Ihr haben, aber nicht mehr.«

Als ich es ihm brachte, griff er gierig danach und trank es aus.

»Gut, gut«, sagte er, »jetzt geht’s mir schon was besser, eindeutig. Sag mal, Jungchen, wie lange, meint der Doktor, soll ich in der Koje hier liegen bleiben?«

»Mindestens eine Woche«, antwortete ich.

»Potz Teufel!«, rief er. »Eine Woche! Das geht nicht. Bis dahin bringen sie mir den Schwarzen Fleck. Die wollen mir jetzt den Wind abkneifen, die Drecklumpen, und sie sind verflucht nah dran. Drecklumpen – können nicht halten, was sie haben, und wollen dann noch klauen, was anderen gehört. Ist das vielleicht Seemannsbrauch, möcht ich wissen? Nee, meine Art war das nicht. Ich bin ’ne sparsame Natur. Ich hab mein gutes Geld nie verplempert oder verloren. Aber warte, die Halunken werd ich schon wieder drankriegen. Ich hab keine Angst vor denen. Ich setz einfach ein neues Segel und dreh ihnen wieder ’ne Nase.«

Während dieser Worte hatte er sich unter großen Schwierigkeiten vom Bett erhoben, was ihm nur gelang, weil er sich an meine Schulter klammerte, so fest, dass ich vor Schmerz fast aufschrie. Seine Beine wirkten, als er sie zu bewegen versuchte, wie eine leblose Masse. Der markige Inhalt seiner Worte stand in traurigem Gegensatz zur Schwäche der Stimme, mit der sie vorgebracht wurden. Als er es endlich geschafft hatte, sich auf die Bettkante zu setzen, konnte er vor Erschöpfung erst einmal nicht weiterreden.

»Der Doktor hat mich fertiggemacht mit seiner Abzapferei«, murmelte er. »Mir rauscht’s in den Ohren. Leg mich wieder hin.«

Bevor ich ihm recht helfen konnte, war er bereits von selbst zurückgesunken und lag eine Weile still da.

»Jim«, sagte er schließlich, »du hast doch vorhin den Seemann da gesehen?«

»Den Schwarzen Hund?«

»Richtig«, bestätigte er. »Den Schwarzen Hund. Der ist schon ’n schlechter Groschen. Aber die ihn losgeschickt haben, das sind noch miesere Kerle. So, und jetzt verrat ich dir was: Es geht um meine alte Seemannskiste. Hinter der sind sie her. Und sollt ich nicht mehr rechtzeitig wegkommen und sie mir den Schwarzen Fleck in die Hand drücken, dann machst du folgendes: schwing dich auf’n Pferd – reiten kannst du doch, oder? – also, schwing dich auf’n Pferd, und dann nichts wie ab zu … ach verdammt, ja, wenn’s denn sein muss – also: nichts wie ab zu diesem Fatzke von Doktor. Sag ihm, er soll zusammentrommeln, was er zur Verfügung hat – Amtspersonen, Wachleute und so weiter – und sie herbeordern. Hier im Admiral Benbow kann er dann ’nen Riesenfang machen: die ganze Mannschaft vom alten Flint, oder was noch von ihr übrig ist, alles Kerle, die von Anfang an dabei gewesen sind. Ich war Erster Steuermann, jawohl ja, ich war beim alten Flint Erster Steuermann, und ich bin der einzige, der die Stelle kennt. Er hat’s mir gesteckt, drüben in Savannah, als er auf’n Tod lag, so wie ich jetzt hier. Aber dass du mir ja nicht zu früh plauderst! Erst wenn sie mir den Schwarzen Fleck gebracht haben. Oder wenn du den Schwarzen Hund noch mal siehst. Oder gar den Seemann mit dem einen Bein, Jim! Dann wird’s allerdings höchste Zeit!«

»Aber was bedeutet denn der Schwarze Fleck, Käpt’n?«, fragte ich.

»Damit laden sie einen vor, Jungchen, wenn sie einem nicht mehr trauen. Ich sag dir Bescheid, sobald ich ihn gekriegt hab. Halt nur weiter scharfen Ausguck, Jim, dann mach ich mit dir Halbpart, bei meiner Ehre.«

Er faselte noch eine Weile weiter, aber seine Stimme wurde immer schwächer. Schließlich gab ich ihm seine Medizin. Er nahm sie bereitwillig wie ein folgsames Kind, wobei er bemerkte: »Wenn je’n Seemann Arznei gebraucht hat, dann ich jetzt.« Es dauerte nicht lange, und er fiel in einen tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf. Ich verließ das Zimmer. Was ich getan hätte, wenn mir nichts in die Quere geraten wäre, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählt, denn ich fürchtete um mein Leben: womöglich würde der Kapitän seine Offenherzigkeit im nachhinein bereuen und mich zu beseitigen trachten. Aber es kam anders als gedacht. Mein armer Vater starb ganz plötzlich am selben Abend, was natürlich alle übrigen Belange in den Hintergrund schob. Unser begreiflicher Schmerz, die Besuche der Nachbarn, das Begräbnis selbst und die ganze laufende Arbeit im Wirtshaus, die ja unterdessen weitergehen musste – all dies hielt mich so beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, an den Kapitän zu denken, geschweige denn mich vor ihm zu fürchten.

Er kam am nächsten Morgen die Treppe herunter, natürlich völlig unberührt von dem, was um ihn herum geschah, und nahm seine Mahlzeiten wie gewöhnlich. Allerdings aß er wenig, dafür sprach er dem Rum zu, und zwar leider noch mehr als üblich. Ja, er ging so weit, sich an der Theke selbst zu bedienen, dabei derart finster dreinschauend und bedrohlich schnaubend, dass niemand ihn zu hindern wagte. Am Tag vor dem Begräbnis war er so betrunken wie eh und je. Es schockierte uns, dass er im Trauerhaus unbekümmert sein hässliches altes Seemannslied sang. Andererseits fürchteten wir angesichts seiner Schwäche um sein Leben. Auf den Doktor konnten wir nicht zählen; er war kurz nach dem Tode meines Vaters plötzlich zu einem viele Meilen entfernt wohnenden Kranken gerufen worden, was ihn eine Weile von uns fernhielt. Der Kapitän, ich sagte es schon, wirkte schwach, ja, er schien uns eher ständig schwächer zu werden als sich zu erholen. Er kletterte mühsam die Treppe hinab und hinauf, schleppte sich von der Gaststube in den Schankraum und wieder zurück; manchmal steckte er die Nase aus der Tür, um Seeluft zu riechen. Bei allen Gängen stützte er sich an der Wand ab und atmete schwer und schnell, als müsste er einen steilen Berg erklimmen. Mich sprach er nicht mehr persönlich an, verkniff sich die früheren Vertraulichkeiten; seine Bekenntnisse von neulich hatte er, vermute ich heute, vergessen, oder doch fast. Freilich neigte er jetzt noch mehr als früher zu jähen Stimmungswechseln und, soweit es seine Schwäche erlaubte, zu heftigen Ausbrüchen. Ferner hatte er inzwischen die beunruhigende Angewohnheit, im Rausch sein Entermesser blank zu ziehen und es vor sich auf den Tisch zu legen. Insgesamt aber schenkte er den Leuten um sich herum weniger Beachtung und schien ganz in seine Gedanken versunken, ja irgendwie geistesabwesend. Einmal etwa stimmte er zu unserem äußersten Erstaunen eine andere Melodie an, eine Art ländliches Liebeslied, das er in seiner Jugend gelernt haben mochte, ehe er dem Ruf der See folgte.

So lagen die Dinge bis zum Tag nach dem Begräbnis, einem Tag mit rauhem, frostigem und nebligem Wetter. Es war gegen drei Uhr, als ich einen Augenblick vor die Tür hinaustrat, voll trauriger Gedanken an meinen toten Vater. Da sah ich eine Gestalt auf der Straße, die langsam näher kam. Der Mann war offensichtlich blind: er tastete mit einem Stock vor sich her und trug eine breite grüne Blende über Augen und Nase. Er ging gebeugt, wohl vor Alter und Schwäche, und hatte einen alten, zerschlissenen Seemannsmantel an, mit einer Kapuze, die ihn geradezu bucklig erscheinen ließ. In meinem ganzen Leben ist mir keine furchterregendere Erscheinung begegnet. Er hatte schon fast das Wirtshaus erreicht, als er stehen blieb und in einem seltsamen Singsang die leere Luft vor sich anredete:

»Würde wohl ein freundlicher Mensch einem armen blinden Mann, der sein kostbares Augenlicht bei der glorreichen Verteidigung seines englischen Vaterlandes – Gott segne König Georg! – verloren hat, mitteilen, wo und vielleicht auch in welcher Gegend er sich jetzt befindet?«

»Ihr seid vor dem Gasthof Zum Admiral Benbow in Black Hill Cove, guter Mann«, antwortete ich.

»Da höre ich eine Stimme«, sagte er, »eine junge Stimme. Gebt Ihr mir wohl bitte die Hand, mein lieber junger Freund, und führt mich hinein?«

Ich hielt ihm meine Hand hin – und sofort umklammerte das fürchterliche, augenlose, zuvor so sanftzüngig redende Wesen sie mit solcher Heftigkeit, dass sie feststeckte wie in einem Schraubstock. Von gewaltigem Schrecken gepackt, suchte ich mich frei zu winden, aber mit einer einzigen Armbewegung zog mich der Blinde dicht an sich.

»So, mein Junge«, sagte er, »und jetzt führst du mich zum Käpt’n.«

»Sir«, rief ich, »auf mein Wort, das trau ich mich nicht!«

»Ach?«, höhnte er, »Wenn’s weiter nichts ist! Bring mich sofort rein, oder ich brech dir den Arm.«

Und er setzte zu einer Drehung an, die mich aufschreien ließ.

»Sir«, sagte ich, »es ist um Euretwillen, versteht doch. Der Käpt’n hat richtige Zustände in letzter Zeit. Er sitzt da mit gezogenem Entermesser. Neulich war ein anderer Gentleman –«

»Los, komm jetzt, marsch«, unterbrach er mich. Nie habe ich je eine so grausame, so kalte, so unheimliche Stimme gehört wie die jenes Blinden. Sie schüchterte mich stärker ein als der Schmerz, und ich gehorchte augenblicklich. Geradewegs ging ich zur Tür und in die Gaststube, wo unser alter kranker Freibeuter saß, beduselt von Rum. Der Blinde blieb mir dicht am Leib, hielt mich fest mit eisernem Griff und stützte sich so schwer auf mich, dass ich unter seinem Gewicht fast zusammenbrach. »Du führst mich jetzt direkt hin zu ihm, und wenn ich nah genug dran bin, dass er mich sieht, rufst du laut: ›He Bill, Besuch – ein Freund von dir!‹ Machst du’s nicht, dann mach ich so« – und er verpasste meinem Arm einen Ruck, dass mir fast die Sinne schwanden. Nun hatte ich die Wahl zwischen zwei Gefahren. Letztlich flößte mir aber der blinde Bettler mehr Furcht ein, und zwar in einem Maße, dass ich die vor dem Käpt’n vergaß. Also öffnete ich die Tür zur Gaststube und rief die befohlenen Worte, wenn auch mit zitternder Stimme.

Der arme Kapitän schaute hoch, und was er da erblickte, trieb ihm auf einen Schlag den Rumrausch aus dem Hirn; nun war er stocknüchtern. Sein Gesicht trug indes weniger den Ausdruck des Schreckens als den einer tödlichen Schwäche. Er wollte sich erheben, hatte aber, wie ich glaube, nicht mehr ganz die Kraft dazu.

»Bleib nur sitzen, Bill«, sagte der Bettler. »Sehen kann ich zwar nicht, aber ich höre, wenn einer nur den Finger krümmt. Geschäft ist Geschäft. So, her mit deiner linken Hand. Komm, Junge, nimm seine linke Hand beim Gelenk und führ sie an meine rechte ran.«

Wir gehorchten beide aufs Wort, und ich sah, wie er aus der Hand, die seinen Stock gehalten hatte, verborgen etwas in die des Käpt’ns legte, welche sich sofort zur Faust schloss.

»Das hätten wir«, sagte der Blinde. Sprach’s, ließ mich los und sprang mit unglaublich flinken und sicheren Schritten aus der Gaststube. Keiner Bewegung fähig, stand ich da und hörte auf das Klopfen seines Stockes, das sich, tapp, tapp, tapp, langsam in der Ferne verlor.

Es dauerte wohl eine Weile, beim Käpt’n und bei mir gleichermaßen, bis wir uns wieder halbwegs gefangen hatten. Schließlich aber war es soweit, fast im gleichen Augenblick. Ich ließ sein Handgelenk los, das ich noch immer umschlossen hielt, und er zog seine Faust zurück, öffnete sie und betrachtete scharf, was darin lag.

»Um zehn!«, rief er. »Sechs Stunden. Da kriegen wir sie schon noch dran.« Und er sprang auf.

Aber kaum dass er stand, taumelte er, griff sich an den Hals, schwankte ein paar Mal hin und her, dann schlug er, das Gesicht voran, mit einem seltsamen Stöhnen der Länge nach zu Boden.

Ich lief sofort zu ihm und rief meine Mutter. Aber alle Eile war vergebens. Ein donnergewaltiger Schlaganfall hatte den Kapitän zu Tode gebracht. Es mag merkwürdig sein und kaum zu verstehen: ich hatte den Mann gewiss nie gemocht, bestenfalls in letzter Zeit etwas Mitleid für ihn empfunden. Aber als ich ihn nun tot daliegen sah, brach ich in einen Strom von Tränen aus. Jetzt musste ich schon zum zweiten Male den Tod eines Menschen erleben, und meine Trauer um den ersten war noch frisch in meinem Herzen.

Kapitel 4Die Seemannskiste

Natürlich erzählte ich meiner Mutter jetzt schleunigst alles, was ich wusste und was ich ihr vielleicht längst hätte erzählen sollen. Unvermittelt befanden wir uns in einer schwierigen und gefährlichen Lage. Es ging um die Hinterlassenschaft des Hausgastes. Ein Teil seines Geldes – immer vorausgesetzt, es war überhaupt noch welches da – gebührte zweifellos uns; aber wir mochten nicht recht glauben, dass die Kameraden unseres Käpt’ns – namentlich die beiden Exemplare, die ich bereits hatte kennenlernen dürfen, den Schwarzen Hund und den blinden Bettler – besondere Neigung zeigen würden, zur Begleichung der Schulden des Toten von ihrer Beute etwas herzugeben. Laut Anweisung des Kapitäns hätte ich nun unverzüglich ein Pferd besteigen und zu Doktor Livesey reiten müssen, aber dann wäre meine Mutter allein und ohne Schutz zurückgeblieben; das kam folglich nicht in Frage. Eigentlich, so schien uns, durften wir alle beide nicht mehr allzu lange im Hause bleiben. Das Fallen der Kohlen im Küchenherd, ja sogar das Ticken der Uhr erfüllte uns mit Schrecken. Ringsum meinten wir unheimliche Schritte zu hören, die sich beständig näherten. Und wenn meine Gedanken so hin- und herwanderten zwischen dem Leichnam des Kapitäns auf dem Boden unserer Gaststube und dem abscheulichen blinden Bettler, der sich irgendwo in der Nähe herumtrieb und jederzeit wiederkehren konnte, gab es schon Augenblicke, da mir, wie man so sagt, das Blut zu Eis gefror. Wir mussten uns zu irgendetwas entschließen, und zwar schnell. Endlich kam uns die Idee, gemeinsam ins Dorf nebenan zu laufen und dort Hilfe zu suchen. Gedacht, getan. Sofort rannten wir los, barhäuptig, wie wir waren, hinaus in den dämmernden Abend und den frostigen Nebel.

Das Dorf konnte man vom Admiral Benbow