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Spannendes Abenteuer- und Fantasybuch 1.Abenteuer, 1.Teil Achtung Titel- und Coveränderung: Dieses Buch ist 2017 bereits unter dem Titel "Die Scherben des Schicksals - Die Suche" mit einem anderen Cover erschienen. Der fünfzehnjährige George aus England, die dreizehnjährigen Mädchen Charlie und Fatma aus Amerika und dem Mittleren Osten sowie die elfjährigen Jungen Madu und Sying aus Afrika und China haben in ihren Ländern auf der Erde unter den unterschiedlichsten Schwierigkeiten zu leiden. So kämpfen sie zum Beispiel mit Mobbing, Obdachlosigkeit oder den Problemen als Flüchtling. Als jeder von ihnen eine ungewöhnliche Scherbe findet, ändert sich ihr Leben schlagartig. Auf einmal befinden sie sich auf der fantastischen Welt Nirma, die nur sie vor dem Untergang bewahren können. Schwierige Rätsel und aufregende Abenteuer erwarten sie. Dabei müssen sie lernen als Team zusammenzuarbeiten, Vorurteile zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Allmählich erkennen sie, dass in ihnen allen mehr steckt, als ihnen bewusst war, und dass man Freunde an den ungewöhnlichsten Orten findet, wenn man es nur zulässt. Pressestimmen/Rezensionen: "ein Jugendbuch mit Anspruch, so dass sicher auch ältere Freunde des Genres ihre Freude an diesem Werk finden werden" (RP) "Spannung, Magie und Abenteuer für Jung und Alt" "für jeden, der Harry Potter mochte"
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch:
Der fünfzehnjährige George aus England, die dreizehnjährigen Mädchen Charlie und Fatma aus Amerika und dem Mittleren Osten sowie die elfjährigen Jungen Madu und Sying aus Afrika und China haben in ihren Ländern auf der Erde unter den unterschiedlichsten Schwierigkeiten zu leiden. So kämpfen sie zum Beispiel mit Mobbing, Obdachlosigkeit oder den Problemen als Flüchtling.
Als jeder von ihnen eine ungewöhnliche Scherbe findet, ändert sich ihr Leben schlagartig. Auf einmal befinden sie sich auf der fantastischen Welt Nirma, die nur sie vor dem Untergang bewahren können. Schwierige Rätsel und aufregende Abenteuer erwarten sie. Dabei müssen sie lernen als Team zusammenzuarbeiten, Vorurteile zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Allmählich erkennen sie, dass in ihnen allen mehr steckt, als ihnen bewusst war, und dass man Freunde an den ungewöhnlichsten Orten findet, wenn man es nur zulässt.
Die Autorin
Alena N. Beek, geb. 1974, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Mönchengladbach-Wickrath. Ursprünglich wollte sie die spannende Abenteuer- und Fantasygeschichte nur für ihre Kinder schreiben. Erst später kam der Gedanke an eine Veröffentlichung.
Für meine Kinder
Möge die Sonne euch immer leuchten!
Folgende Bände sind bereits erschienen:
1. Die Scherben von Nirma/Die Suche
2. Die Scherben von Nirma/Die Entscheidung
3. Die Scherben von Nirma/Eine neue Welt
Die Bände »Die Suche« und »Die Entscheidung« sind zuerst unter den Titeln »Die Scherben des Schicksals/ Die Suche« und »Die Scherben des Schicksals/Die Entscheidung« mit anderen Covern erschienen. Mit der Veröffentlichung des dritten Bandes wurden sie umbenannt.
Demnächst:
Die Scherben von Nirma/Die Spiele von Zanano
Prolog
George
Fatma
Madu
Charlie
Sying
Der grüne Turm
Der Aufbruch
Im Mystixwald
Ein bunter Abend
Ein blinder Passagier
Ein verfressenes Biest
Eine clevere Idee
Kah-tings
Pescos
Von allen Seiten
Bei den Marianern
Ein gefährlicher Plan
Anemonenernte
Die Schlucht des Vertrauens
Eine knappe Angelegenheit
Das Mutani-Gebirge
Bei den Yetiden
In den Klauen des Vogels
Abgeschnitten
Verschüttet
Der Pass der Angst – Madu
Bei den Berggeistern
Der Pass der Angst – Fatma
Verirrt
Rochs Bestrafung
Grompf
Der Pass der Angst – George
Die wichtigsten Personen
Zu guter Letzt
Gerzin wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Er hatte mit diesem Tag schon länger gerechnet und ihn gefürchtet. Trotzdem war er in dem Moment, als es passierte, überrascht. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, war sein Assistent Raspe schon den ganzen Tag fahrig und nervös.
Aber da er selbst so mit dem Schicksal seiner Welt beschäftigt war, wurde es ihm nun erst bewusst.
Dafür war seine Wahrnehmung jetzt überdeutlich. Der falsche Geschmack des Tees, den Raspe wie an jedem Tag für ihn zubereitet hatte, der bittere Geschmack des Verrates und des Giftes lagen unverkennbar auf seiner Zunge. Er blickte auf und sah in die unruhigen, aber triumphierenden Augen seines Assistenten. Dieser konnte die Freude über seinen gelungenen Verrat nicht verbergen.
Die Genugtuung, die Raspe empfand, spiegelte sich auch in seinen nächsten Worten wider: »Hast du wirklich geglaubt, du wärst stärker als Brelor und könntest ihn besiegen? Hast du gedacht, du könntest dich in deinem Turm verkriechen und hier etwas finden, was Brelor aufhält? Du bist nichts weiter als ein törichter, alter Mann, dessen beste Jahre längst hinter ihm liegen.«
Gerzin sah Raspe fast mitleidig an: »Wie schon so oft, hast du auch diesmal das Offensichtliche übersehen. So sind einige Dinge direkt vor deiner Nase geschehen, ohne dass du sie bemerkt hast.«
Raspe wollte höhnisch grinsen, doch die Selbstsicherheit in Gerzins Worten irritierte ihn. Hatte der alte Mann noch einen Trumpf in der Hinterhand? Eigentlich unmöglich, er hatte immer genau aufgepasst, aber dennoch …
So knapp vor dem Ziel durfte kein Fehler mehr passieren. Mit einem Wutschrei stürzte Raspe sich auf Gerzin, aber der hatte damit gerechnet.
Gerzin sammelte seine Kräfte und entfesselte einen kurzen, heftigen Sturm. Raspe wurde quer durch den Raum geschleudert und blieb benommen an der gegenüberliegenden Wand liegen.
Der alte Mann gestattete sich nur einen schnellen Blick auf seinen bewusstlosen Assistenten und auf seinen Raum, in dem er so viel Zeit verbracht hatte. Er hatte ihn nur sehr spärlich eingerichtet, da er Platz zum Umherwandern brauchte. Rechts neben ihm stand sein alter Sessel, der an vielen Stellen schon durchgescheuert war und den er dennoch nicht missen wollte.
Wie oft hatte er dort gesessen und überlegt, welche Beschlüsse die besten für Nirma waren? Er hatte sich die Sorgen und Anliegen der Hüter und anderer Nirmaner angehört und ihnen Ratschläge erteilt. Und ab und zu hatte er sich auch ein kleines Nickerchen erlaubt.
Links von ihm stand ein Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten. Dieser Platz war ihm nicht ganz so lieb. Notwendigerweise hatte er sich dort mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt.
Zuletzt betrachtete er noch den alten Wandteppich, der seit der Erbauung des Turms dort hing. Wie viele sich wohl im Laufe der Zeit diesen Teppich angesehen haben, ohne sein Motiv wirklich zu verstehen?, dachte Gerzin.
War die Umrandung des Teppichs eher traditionell nirmanisch gehalten, so zeigte die Mitte ein Bild aus dem
Weltraum. Im Vordergrund erkannte man zwei grüne Planeten, im Hintergrund einen kleinen blauen. Alle drei
Planeten waren durch wabernde Schlieren miteinander verbunden. Er war einer der wenigen, der die Bedeutung dieser Schlieren kannte. Siezeigten Verbindungen an, über die man zwischen den Planeten reisen konnte. Und genau diese eine Verbindung zwischen dem rechten grünen und dem blauen Planeten konnte jetzt ihre Rettung bedeuten.
Aber ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn er noch etwas unternehmen, noch einen Versuch starten wollte, seine Welt vor dem Untergang zu bewahren, dann musste er sofort handeln.
Gerzin schleppte sich mühsam zu dem Becken auf der anderen Seite des Raumes. Bereits vor einiger Zeit hatte er dort einen geheimen Zugang zu einer anderen Welt geschaffen, wohlwissend, dass er ihn eines Tages brauchen würde. Der Weg dorthin gestaltete sich äußerst schwierig. Das Gift, das Raspe ihm untergemischt hatte, wirkte schon, sein Körper begann sich zuverwandeln.
Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis ich mich gar nicht mehr bewegen kann, dachte er und schob sich langsam vorwärts.
Als er das Becken schließlich mit letzter Kraft erreichte, war sein gesamtes rechtes Bein und auch sein linker Fuß zu Stein geworden. Er würde sich nicht mehr von der Stelle fortbewegen können.
Mit leisen Worten machte er in diesem Becken das Portal in eine andere Welt sichtbar und aktivierte es.Das bis dahin ruhige Wasser des Beckens fing an sich zu bewegen. Es wurde schneller und schneller. Zuletzt entstand ein starker Strudel, bereit, alles, was in seinen Sog geriet, in unendliche und unbekannte Tiefen zu ziehen.
Dieses Portal würde nur für eine sehr begrenzte Zeit offen sein, bis dahin musste Gerzin es geschafft haben. Mit bedächtigen Handgriffen löste er die Kette, die er seit langer Zeit um seinen Hals trug. Am Ende der Kette hing ein Amulett, das aus fünf in unterschiedlichen Farben leuchtenden Kristallscherben bestand, die zusammen die Form eines Sterns ergaben.
Auf einen leise gemurmelten Befehl Gerzins, dessen Oberkörper und linker Arm mittlerweile ebenfalls zu Stein geworden waren, zerfiel der Stern auf seiner rechten Hand in seine fünf Einzelteile. Vorsichtig ließ er eine Kristallscherbe nach der nächsten in den Strudel rutschen. Er sah zu, wie sie sich der Bewegung des Wassers anpassten, immer kleiner wurden und endlich ins Unbekannte verschwanden.
Gerade als die fünfte Scherbe ins Wasser hineinglitt, hörte er einen fast unmenschlichen Schrei. Raspe war wieder zu sich gekommen und stürzte zum Becken. Er hatte seine rechte Hand in das Wasser getaucht und versuchte verzweifelt, wenigstens die letzte Scherbe im Strudel zu erreichen. Gerzin konnte noch sehen, wie sich das Portal schloss und die letzte Scherbe mitsamt Raspes Hand verschwand. Raspe hielt sich seinen Armstumpf und heulte so unerträglich, dass es sogar durch die dicken Mauern des Gebäudes drang.
Doch das hörte Gerzin schon nicht mehr. Kurz bevor er endgültig zu Stein wurde, dachte er: Es besteht noch Hoffnung.
Sie werden schon von seiner Lordschaft erwartet, Master George!«, begrüßte der alte Butler ihn mit ruhiger Stimme.
Natürlich, das war ja zu erwarten. Der Rektor hatte vermutlich nichts Besseres zu tun gehabt, als zum Telefon zu greifen und seinem Onkel die ganze Angelegenheit zu berichten.
Dabei waren bestimmt haufenweise Floskeln gefallen: »Ich bedaure außerordentlich …« oder »wir sind über diesen Vorfall äußerst betrübt …«, »wir wissen, dass es eine schwierige Situation ist …« und zu guter Letzt: »Wir wollen auf keinen Fall einen so herausragenden Gönner und Förderer unserer Schule verärgern.«
George wollte am liebsten vor Wut platzen, wenn er sich dieses Gespräch vorstellte. Wenn es wenigstens sein Vater gewesen wäre, der am anderen Ende der Leitung gesessen hätte. Aber der galt seit über drei Monaten nach einem Einsatz im MittlerenOsten als vermisst.
Der ehrenwerte Henry William, der Bruder seines Vaters, hatte seiner Mutter angeboten, bei der Verwaltung des großen Grundbesitzes zu helfen. Diese hatte, krank vor Kummer und Sorge, die Hilfe dankbar angenommen und sich selbst aus vielen Bereichen zurückgezogen.
Fairerweise musste man sagen, dass die Anwesenheit seines Onkels eigentlich ein Segen war. Und das hätte George sicher zu schätzen gewusst, wenn sich diese Hilfe nur auf die finanziellen und verwaltenden Bereiche erstreckt hätte.
Doch aus irgendeinem Grund sah sich sein Onkel dazu veranlasst, in seiner Erziehung mitzuwirken. Und auch dies überließ seine Mutter ihm im Moment nur zu gern. Schließlich war er immer schon ein schwieriges Kind gewesen. Die Ärzte nannten das: Auffälligkeiten im sozialen Kontakt, vor allem mit Gleichaltrigen. Dabei versuchte er, möglichst solche Schwierigkeiten zu vermeiden. Doch egal wie sehr er sich bemühte, sie fanden ihn immer wieder.
Die anderen Kinder schienen zu spüren, dass er irgendwie anders war. Anstatt dies als Bereicherung anzusehen, mieden sie ihn.
Stellte er eine Frage, wurde im besten Fall kurz, manchmal sogar gar nicht darauf geantwortet. Ignoriert zu werden, war für ihn das Schlimmste, viel schlimmer als irgendwelche anderen Gemeinheiten. Lachten seine Klassenkameraden oder unterhielten sich angeregt und er trat hinzu, verstummten sie augenblicklich und nahmen ihr Gespräch erst wieder auf, wenn er weiterging. Er fand einfach keine Möglichkeit, um mit den anderen zu sprechen. Hatte sich doch einmal zufällig ein Thema ergeben, war dies schnell erschöpft und sein Gesprächspartner wandte sich umgehend wieder jemand anderem zu. Es war so, als hätte jeder in seiner Klasse mindestens einen Freund, der für ihn einstand und zu ihm hielt, nur er war allein.
Dass sein Vater der Lord der Gegend war, machte die Sache auch nicht besser. Im Gegenteil, es hatte ihm den Spitznamen »Lordie« eingebracht, einen Namen, den er abgrundtief hasste.
Da alle seine Versuche einen engeren Kontakt zu jemandem aufzubauen gescheitert waren, blieb er lieber für sich. Er hatte bereits vor langer Zeit beschlossen, dass dies das Beste war. Mittlerweile hatte er sich eine äußerst arrogante Haltung zugelegt, die er wie ein Schutzschild vor sich hertrug.
Zusammen mit seiner spitzen Zunge, die immer wieder bissig das Verhalten von anderen kommentierte, gelang ihm das nun ganz hervorragend. Meistens machten die anderen einen großen Bogen um ihn. Nur manchmallegten sie es noch bewusst darauf an, ihn zu ärgern oder ihm eins auszuwischen, wie am heutigen Schultag.
Was an diesem Tag passiert war, war nun wirklich nicht seine Schuld. Michael gehörte zu den Jungen, die ihn am meisten zu hassen schienen. In der Schule hat er ihn dann so angestoßen, dass er hingefallen war und sich seine Bücher über den Flur verteilt hatten. Sofort hatten sich viele andere Schüler um sie versammelt und lachten.
Chris, Michaels Schatten, sagte: »Oh Michael, jetzt musst du aber aufpassen, dass Lordie uns nicht bei seinem Vater verpetzt.«
»Chris, das kann er doch gar nicht. Sein Vater ist bei einem Militäreinsatz vor Angst weggelaufen und traut sich jetzt nicht mehr nach Hause.«
George war gerade dabei seine Bücher zusammenzusuchen, als er diese gemeine Lüge hörte. Er stürzte sich ohne Nachzudenken auf Michael, obwohl er sich sonst nur mit Worten statt Fäusten wehrte. Doch wenn es um seinen Vater ging, sah er rot. Michael wurde von diesem Angriff so überrascht, dass er ohne Gegenwehr nach hinten fiel und sich den Kopf auf dem Boden anschlug. Sowohl die Platzwunde an seinem Hinterkopf als auch die Aussagen der anderen Schüler führten dazu, dass die herbeieilenden Lehrer Michael glaubten, der von einem heimtückischen Angriff ohne Grund sprach.
George, der schon ähnliche Situationen erlebt hatte, blieb stumm. Er wusste, dass es sowieso nichts bringen würde, sich zu verteidigen. Es waren ohnehin alle gegen ihn. Das war immer so.
Der Direktor der Schule wertete sein Schweigen als Schuldeingeständnis, suspendierte George sofort für eine Woche und drohte, mit seinem Onkel noch über weitere Maßnahmen zu sprechen.
Aus diesem Grund war George schon vormittags aus der Schule zurück und betrat nun mit stoischer, abweisender Miene das Arbeitszimmer seines Onkels, das eigentlich das seines Vaters war. Der schwere Schreibtisch, der bis auf eine klassische Schreibtischlampe mit grünem Glasschirm leer war, befand sich vor den hohen Erkerfenstern. Sein Onkel thronte auf einem schweren Ledersessel dahinter und blickte ihn streng und auch ein wenig ratlos an.
An den Wänden hingen alte, teilweise meterhohe Ölgemälde, von denen seine berühmten Vorfahren missbilligend und vorwurfsvoll auf ihn herabblickten. Er meinte, jedes Mal, wenn er im Verlauf der vergangenen Jahre in diesen Raum zitiert worden war, den stummen Vorwurf in ihren Augen zu spüren, die Familie mal wieder entehrt zu haben. Stumm ließ er den Vortrag seines Onkels über sich ergehen, dass er mit seinen fünfzehn Jahren endlich einmal ein vernünftiges, altersgerechtes Verhalten zeigen müsse, er sei schließlich der einzige Erbe eines alten Adelsgeschlechtes und müsse ein Vorbild sein.
An dieser Stelle biss George sich auf die Zunge und schaffte es nur mit Mühe, ein gleichmütiges Gesicht beizubehalten. Er schweifte mit seinen Gedanken ab. Er dachte an einen kalten Wintertag vor sieben Jahren. Damals hatten sich sein Zwillingsbruder Clayden und er im Alter von acht Jahren draußen gegenseitig mit Schnee beworfen.
Er wusste nicht mehr, wer von ihnen auf die Idee gekommen war, über den zugefrorenen Weiher zu schlittern. Erst blieben sie noch nahe am Rand, mit der Zeit wagten sie sich aber immer weiter hinaus, bis das Eis plötzlich unter ihnen wegbrach. Während es George irgendwie gelang, sich zu retten, verlor sein Bruder den Halt. George schrie herzzerreißend, während sein Bruder versuchte, mit dem Kopf über Wasser zu bleiben.
Der Chauffeur Thomas reagierte als Erster auf die Hilferufe. Er rannte, so schnell er konnte, zu den beiden Jungen, doch auch er konnte Clayden nicht helfen. Sobald er versuchte, die Eisfläche zu betreten, gab die zugefrorene Fläche unter seinem Gewicht nach. Hilflos mussten sie mitansehen, wie der Junge vor ihren Augen ertrank.
Nein, sein Onkel brauchte ihn wirklich nicht daran erinnern, dass er der Einzige war, der noch übrigblieb. Das hatte er schon vor langer Zeit begriffen, ebenso dass es ihm besserging, wenn er sich nur um sich kümmerte. War man allein, konnte man nicht verletzt oder verlassen werden.
Sein Onkel wusste von Kindern nicht wirklich viel. Er hatte nie geheiratet und auch keine eigenen Kinder. Da er früher zusammen mit seinem Bruder von einem Privatlehrer unterrichtet worden war, konnte er die Probleme und Herausforderungen einer richtigen Schule weder verstehen noch nachvollziehen.
»… und deswegen wirst du das Anwesen während deiner Suspendierung nicht verlassen«, hörte George gerade seinen Onkel sagen.
»Hast du mich verstanden? Hörst du mir überhaupt zu?« Dem Ärger nach zu urteilen, der in der Stimme seines Onkels mitschwang, war diesem sein abwesender Gesichtsausdruck nicht verborgen geblieben.
Rasch verdrängte George die unliebsamen Erinnerungen an die Vergangenheit und konzentrierte sich auf die Gegenwart.
»Ja, habe ich, klar und deutlich! Ich darf das Anwesen nicht verlassen«, wiederholte er die Worte seines Verwandten.
»Gut, dann sind wir uns ja einig.« Sein Onkel wendete sich wieder seinen Unterlagen zu, für George das Zeichen, dass er entlassen war.
Er bemühte sich möglichst zerknirscht auszusehen, als er eilig das Zimmer verließ. Gott sei Dank hatte sein Onkel nicht von Hausarrest gesprochen, denn zum Anwesen gehörte auch ein riesengroßer Garten, in dem sich Georges absoluter Lieblingsplatz befand.
In einer alten Kastanie hatte sein Vater ein Baumhaus für George und seinen Bruder gebaut, als sie vier Jahre alt gewesen waren. Sie halfen ihrem Vater damals voller Stolz, es zu errichten. Seine Mutter brachte ihnen Limonade und Kekse und scherzte mit ihrem Vater. Er erinnerte sich, dass dies ein absolut perfekter und glücklicher Tag war, den er in seiner Erinnerung wie einen kostbaren Schatz hütete.
Wann immer er in seinem Leben traurig war, machte er sich auf den Weg zu seinem Baumhaus. Sobald er dort das ihn umgebende Holz roch, fühlte er sich augenblicklich besser. So verhielt es sich auch jetzt.
Er saß auf dem Boden seines Baumhauses, in das er mit seinen schon jetzt 1,75 Meter kaum noch hineinpasste, und strich sich mit seiner Hand durch sein leicht welliges, etwas zu langes, braunes Haar. Neben seiner Größe waren seine dunkelblauen Augen, die immer ein wenig spöttisch zu schauen schienen, das Auffälligste an ihm.
Von seinem Platz aus konnte er die Umgebung wunderbar durch ein gegenüberliegendes Fenster beobachten. Im Moment faszinierte ihn ein Specht, der wiederholt versuchte, ein Beutestück in seine Höhle im benachbarten Baumstamm zu bringen. Doch dieses Teil war vergleichsweise sperrig und der Vogel fand einfach nicht den richtigen Winkel.
Was mag dieser Gegenstand nur sein?, überlegteGeorge. Vielleicht eine alte Glasscherbe? Aber nein, die würde nicht so grün funkeln. Was dann? Ein LED-Licht, das noch eingeschaltet war? Das sah aber auch anders aus. Es könnte ein wertvolles Schmuckstück sein. Vielleicht hatte der Specht in seiner Höhle noch mehrversteckt.
Die Möglichkeit einen Schatz zu finden, versetzte George in helle Aufregung. Das musste er sich aus der Nähe ansehen!
Neugierig kletterte George von seinem Baumhaus auf einen Ast und robbte darauf vorsichtig ein Stückchen näher an sein Ziel heran. Da endlich schaffte der Specht es, seine Beute abzulegen. Gleich darauf flog er wieder weg. Das war die Gelegenheit. Geschickt hangelte sich George über weit ausladende Äste auf den anderen Baum und erreichte schnell das Versteck des Vogels. Langsam steckte er die Hand in den Baum und tastete umher. Da! Da war etwas! Triumphierend schloss sich seine Hand um eine Art Scherbe.
Plötzlich gab es einen grünen Lichtblitz. George merkte noch, dass er vom Baum fiel, als es schon um ihn herum dunkel wurde.
Komm, lass uns Fatma fragen, ob sie mit uns spielen will«, hörte Fatma ihre Freundin fragen. Ihre Freundin Rabia stand mit drei weiteren Kindern vor dem Zelt. An den Stimmen erkannte Fatma Samira, Rabias kleine Schwester, ihren Cousin Aman sowie ihren Bruder Farid.
»Ach, vergiss es, wir wollen in Richtung der Berge und sie traut sich doch kaum aus ihrem Zelt hinaus, geschweige denn etwas weiter weg«, antwortete Farid. Ihr Bruder war etwas zu klein und zu dünn für sein Alter. Außerdem wirkte er oft zu ernst oder setzte einen altklugen Gesichtsausdruck auf, als wisse er so viel mehr als alle anderen. Aber sie liebte ihn von Herzen, und bis vor Kurzem waren sie noch ein Herz und eine Seele gewesen. Daher schmerzte es besonders, diese Worte nun aus seinem Mund zu vernehmen.
Traurig presste Fatma ihre Lippen aufeinander, wickelte sich eng in ihren Tschador und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nichts lieber, als mit den anderen mitgehen, mit ihnen spielen und vergessen, wo sie sich befand.
Aber genau da lag das Problem: Sie konnte nicht vergessen, weder das, was die Extremisten in ihrem Land den Menschen angetan hatten, noch die Flucht, die ihre Familie und sie bis hierher in das Flüchtlingslager an der Grenze des Mittleren Ostens gebracht hatte. Zu ihren Verwandten zählten noch ihre Mutter, ihre drei kleineren Geschwister sowie ihr Onkel und ihre Tante mit zwei älteren Kindern.
Ihr eigener Vater hatte sich zusammen mit ihrem älteren Bruder dem Widerstand angeschlossen und versuchte, die radikalen Islamisten aufzuhalten. Sie hatten seit Monaten keine Nachricht mehr von ihnen erhalten, genau genommen seit dem Zeitpunkt, als sie ihr kleines Dorf verlassen hatten, um sich dem anrückenden Grauen entgegenzustellen.
»Ich muss es tun«, hatte ihr Vater auf ihr Flehen, nicht zu gehen und weiter bei ihnen zu bleiben, geantwortet.
»Wenn sich keiner diesen Monstern entgegenstellt, werden sie das gesamte Land überrennen und überall die Macht an sich reißen. Wir müssen der ganzen Weltzeigen, dass nicht alle in diesem Land so sind und denken. Sei tapfer, meine Kleine. So Allah will, werden wir uns wiedersehen.«
Dann hatte er sie auf die Stirn geküsst, sich von allen verabschiedet und war mit ihrem Bruder und einigen anderen Männern des Dorfes zusammen losgezogen.
Über die stattfindenden Kämpfe bekamen sie nur wenig Informationen. Es waren Tage und Wochen der Ungewissheit. Schließlich häuften sich die Gerüchte, dass die Extremisten auf dem Vormarsch seien und ihr Dorf bald erreichen würden.
Daraufhin beschlossen ihr Onkel und ihre Tante, mit ihren Cousinen das Dorf in Richtung Grenze zu verlassen. Ihre Mutter wollte auf keinen Fall allein nur mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Fatma, dem neunjährigen Farid und den vierjährigen Zwillingen Zohra und Kira zurückbleiben. Daher brachen sie gemeinsam auf. Alle durften nur das Nötigste mitnehmen.
Am schwierigsten fiel es Fatma, die Bibliothek ihres Vaters zurückzulassen. Bibliothek war eigentlich zu viel gesagt. An einer Wand standen ein paar Regale, die sich unter dem Gewicht der vielen Bücher durchbogen. Es gab viele Sach- und Rätselbücher, schließlich war ihr Vater der Dorflehrer gewesen, aber auch zahlreiche Abenteuerbücher und romantische Bücher.
Früher hatte ihr Vater ihr von jeder längeren Reise ein neues Buch mitgebracht. Sehnsüchtig hatte sie immer seine Rückkehr erwartet, um sich dann sofort mit dem Buch in ihr Zimmer zurückzuziehen und es meist noch in der gleichen Nacht vollständig zu lesen.
Als die Kämpfe zunahmen, die politische Situation schwieriger und die Reisewege gefährlicher wurden, hörten die Reisen ihres Vaters auf und somit auch der Zufluss an neuen Büchern. Umso kostbarer wurden für Fatma die bereits vorhandenen. Mit ihrer Hilfe konnte sie sich an andere Orte träumen, aufregende Abenteuer bestehen oder von einem Prinzen geheiratet werden. Sie konnte für kurze Zeit das Grauen um sich herum vergessen und die Geräusche der Gewehrsalven ausblenden.
Als sie ins Unbekannte aufbrachen, konnte sie lediglich ein Buch mitnehmen. Sie entschied sich für eines der ersten Bücher, die sie selbst gelesen hatte: »Alice im Wunderland« entführte sie immer wieder in eine bunte Welt und wurde auf der Reise zu ihrem kostbarsten Besitz.
Was auch immer mit ihrem Dorf, ihrem Haus und den anderen Büchern geschehen würde, dieses Buch würden die Extremisten nicht bekommen. Das war ihre kleine Form des Widerstandes.
Mittlerweile hatte sich ihr Widerstand auf der Flucht aufgelöst. Auf dem Weg ins Lager hatte sie so viel Hunger, Kälte und Gräuel erfahren und gesehen. Sie hatte keine Kraft mehr und war froh im Lager einigermaßen gefahrlos leben zu können. Freiwillig würde sie es auf keinen Fall mehr verlassen. Sie wollte draußen nichts sehen oder erleben, was ihr dieses kleine brüchige Gefühl von Sicherheit nehmen konnte.
Das war der Grund, warum sie ihr Zelt nur, wenn es sein musste, verließ. Und selbst dann hielt sie sich in seiner unmittelbaren Nähe auf.
Daher wäre Fatma wohl auch diesmal in ihrem Zelt geblieben, wenn nicht …
»Wetten, dass sie heute rauskommt«, sagte gerade ihr unmöglicher Cousin Aman, der keine Gelegenheit ausließ, sie zu ärgern und sich ihr gegenüber als Bestimmer aufzuspielen.
Aufmerksam geworden, spitzte Fatma die Ohren. Was hatte er jetzt wieder vor? Musste er ständig versuchen, diese ohnehin schwierige Situation für sie noch schlimmer zu machen?
»Vermisst du nicht irgendetwas?«, fragte er sie gerade durch die dünne Zeltwand. »Falls ja, findest du es in der Höhle unter der ersten Erhebung des Berges.« Kurz darauf hörte sie noch sein gehässiges Lachen und die sich entfernenden Schritte der Kinder.
Ihr wurde schlagartig eiskalt, trotz der warmen Temperaturen, ihr Herzschlag schien durch ihren Brustkorb hämmern zu wollen. Schnell stürzte sie zu ihren wenigen Habseligkeiten und durchsuchte sie geräuschvoll, doch ihr Buch war nicht da. Vielleicht hatte es sich eines ihrer Geschwister ausgeliehen, wohlwissend, dass dies großen Ärger bedeuten würde. Hastig kontrollierte sie auch noch ohne Erfolg deren Sachen.
Schweratmend ließ sie sich auf den Boden sinken. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Dieser widerwärtige Mistkerl hatte ihr Buch gestohlen und an einem, wie er glaubte, für sie unerreichbaren Ort versteckt. Aber da hatte er sich geirrt. Sie hatte vor einiger Zeit ihrem Vater versprochen, niemals aufzugeben. Sie würde sich auf jeden Fall ihr Buch zurückholen.
Da der Rest ihrer Familie erst in rund zwei Stunden in ihr Zelt zurückkehren würde, fiele ihre Abwesenheit vorläufig nicht auf. Sie nahm eine gefüllte Wasserflasche und schlich vorsichtig aus ihrem Zelt und dem Lager. Dabei war sie sehr darauf bedacht, niemandem zu begegnen, den sie kannte. Außerdem war sie in ihrem Tschador vergleichsweise anonym unterwegs.
Warum sie das Kleidungsstück ihrer Mutter noch im letzten Moment auf ihre Flucht mitgenommen hatte, vermochte sie gar nicht zu sagen. Denn eigentlich hatte sie im Gegensatz zu ihrer Mutter und Tante eher westliche Kleidung getragen, und hatte einen Tschador und eine Burka von ihren Verwandten nur angezogen, um sich zu verkleiden.
Ursprünglich hatte sie wohl gedacht, sie könne das lange Gewand als Decke und Schutz gegen die Kälte während ihrer Flucht nutzen.
Irgendwann, nach vielen schrecklichen Dingen, die sie auf der Flucht gesehen und erlebt hatte, hatte sie ihn angezogen. Sie stellte sich dabei vor, dass er eine unsichtbare Mauer bildete, an dem alles Schreckliche abprallte. Er wurde zu ihrer Rüstung.
Die dreizehnjährige Fatma war ein freundliches, hübsches Mädchen mit klugen dunkelbraunen Augen. Sie hatte ein noch leicht pausbackiges Gesicht und schwarze schulterlange Haare, die komplett unter ihrem Gewand verschwanden.
Als sie nun nach den langen Wochen zum ersten Mal wieder einen Fuß außerhalb des Lagers setzte, erschreckte sie die unerwartete Reaktion ihres Körpers. Ihre Knie zitterten, sie fing hektisch an zu atmen und sie fühlte sich schrecklich schutzlos und verwundbar. Es fehlte nicht viel, dass sie auf dem Absatz umkehrt und zurückläuft. Aber sie würde nicht aufgeben.
Ängstlich ging sie weiter in Richtung des vor ihr liegenden Berges. Zögernd begann sie mit dem Aufstieg, der anfangs nicht allzu schwierig war, sich mit zunehmender Höhe jedoch als tückisch herausstellte. Viele Steine waren sehr scharfkantig und sie schnitt sich mehrfach die Hände auf. Meist waren es nur kleine Kratzer, die auf Dauer aber schmerzten. An einigen Stellen kam sie gar nicht mehr weiter, musste zurück und sich einen anderen Weg suchen. Das schwindende Tageslicht sowie der wallende Stoff ihres Tschadors kamen erschwerendhinzu.
Jetzt erwies es sich als Glücksfall, dass ihr Körper von der extrem langen Flucht und den damit verbundenen Anstrengungen gestählt war. Trotz der Ruhepause in dem Flüchtlingslager waren ihre Muskeln noch immer kräftig, so dass sie ungeachtet aller Widrigkeiten immer weiter vorankam.
Schließlich erreichte sie die Höhle, von der Aman gesprochen haben musste. Ohne sich auszuruhen, stürzte sie hinein und sah sich suchend um. Die Höhle war etwa zwölf Meter tief und acht Meter breit. Es gab einige Felsvorsprünge und das letzte Licht des Tages schaffte es soeben, zwei Drittel der Höhle in ein dämmriges Licht zu tauchen.
Wo hat Aman nur mein Buch versteckt?, dachte Fatma. Ich muss die Sache systematisch angehen. Am besten fange ich bei dem Spalt hier vorne an zu suchen und mache dann im Uhrzeigersinn weiter.
Besorgt warf sie einen Blick auf das verblassende Licht. Hoffentlich geht die Sonne jetzt nicht zu schnell unter.
Nachdem sie die Höhle komplett abgesucht hatte, dämmerte Fatma langsam, dass Aman sie reingelegt hatte. Sie hätte es sich direkt denken können. Dieser Feigling, angeben konnte er, andere drangsalieren, da war er der Erste, aber ansonsten nichts als heiße Luft. Natürlich hatte er sich nicht allein hierhin gewagt, ihr Buch hatte er wohl genommen, doch das befand sich sicherlich noch irgendwo im Lager.
Vor Wut und Enttäuschung kamen ihr die Tränen. Es war kalt, sie war hungrig und heute würde sie den Abstieg bestimmt nicht mehr schaffen. Resigniert ließ sie sich auf dem Boden nieder und starrte trübsinnig in die Dunkelheit.
Aber was war das? Ganz finster war es gar nicht. Sah sie da vorne an der Wand nicht ein leichtes Schimmern? Ein leicht bläulich leuchtendes Etwas? Da schon wieder! Warum hatte sie das nur bisher nicht bemerkt?
Neugierig geworden, stand Fatma auf und näherte sich langsam der Stelle. Da steckte etwas in Höhe ihrer Brust in der Höhlenwand. Sie versuchte vorsichtig, das seltsame Ding mit ihrerHand zu fassen, rutschte aber ab.
»Komisch«, murmelte sie erstaunt vor sich hin. »Das fühlt sich so ähnlich an wie Glas. Wie kommt so etwas nur hierhin?«
Daraufhin umwickelte Fatma ihre Hand mit einem Stück Stoff ihres Tschadors und griff erneut zu. Sie spürte ein leichtes Ruckeln und ein plötzliches Nachgeben. Mit einem letzten Ziehen gelang es ihr, das pulsierende Objekt aus der Wand zu lösen. Verwundert blickte sie auf eine Scherbe in ihrer Hand.
Auf einmal brach ein blauer Blitz daraus hervor. Dann wurde es auch schon schwarz um Fatma …
Heute war sein großer Tag. Es war sein elfter Geburtstag und endlich war er alt genug, umin die Bande von Kwaku aufgenommen zu werden. Nur noch das Aufnahmeritual galt es zu bestehen. Er war zwar etwas nervös, machte sich aber eigentlich keine allzu großen Sorgen.
Häufig mussten die Kinder eine bestimmte Schlange finden, eine giftige Spinne auf ihre Hand nehmen oder einen schwierigen Baum hochklettern. Alles kein Problem für ihn.
Nachdenklich blickte er sich um. Madu betrachtete die anderen fünf Kinder in seinem Schlafraum, die momentan mit geschlossenen Augen in ihren Betten lagen. Er hatte Glück gehabt, dass hier alle friedlich schliefen. In den zwei weiteren Schlafräumen gab es immer mal wieder jemanden, der einen Alptraum hatte. Meistens träumten die Jungs von schlimmen Ereignissen in ihrem Leben. Das war nach wie vor so, obwohl einige von ihnen sich schon viele Jahre in diesem Kinderdorf im Herzen Afrikas befanden.
Madu lebte mittlerweile seit einigen Jahren hier und fühlte sich sehr wohl. Er war ein fröhliches Kind, bei dessen breiten Lachen zwei strahlend weiße Zahnreihen sichtbar wurden, die einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut und seinen kurzen schwarzen Haaren bildeten. Er lachte viel und gerne.
Dabei hätte Madu genau wie die übrigen Kinder genug Gründe für ein trauriges Gesicht und Alpträume gehabt. Seine Gedanken schweiften zu jenem Moment vor fünf Jahren ab, der sein Leben für immer verändern sollte. Madu kam an diesem Tag spät von seiner weit entfernt liegenden Schule nach Hause. Jeden Tag legte er mehrere Kilometer bei brütender Hitze zurück. Trotzdem war er unglaublich stolz zur Schule zu gehen, auch wenn dies erst seit drei Monaten der Fall war.
Es gab in seinem Dorf nicht viele Kinder, die das von sich behaupten konnten. Die meisten mussten ihren Eltern bei der Feldarbeit helfen, auf jüngere Geschwister aufpassen oder anderweitig Geld verdienen. Ab und zu kam das auch bei ihm vor, doch das sollte die Ausnahme bleiben. Seine Eltern versuchten alles, dass er es mal besser haben wird als sie selbst. Madu wollte sie nicht enttäuschen und strengte sich beim Lernen umso mehr an.
An dem besagten Tag hatte er auf dem Rückweg etwas getrödelt. Sein Freund Jamaal und er hatten noch Fußball gespielt. Den Ball hatten sie selbst aus Plastik, Papier und alten Reifen, die sie gefunden hatten, hergestellt. Dabei waren sie sehr sorgfältig und gewissenhaft vorgegangen. Als Lohn leistete er ihnen nun schon sehr lange treue Dienste und zeigte keinerlei Auflösungserscheinungen. Erst als beide vor Anstrengung nicht mehr konnten, hoben sie den Ball auf und setzten ihren Heimweg fort.
So kamen sie viel später als gewohnt bei Jamaals Hütte an. Madu musste das letzte Stück allein laufen, da er noch ein Dorf weiter wohnte.
Doch bevor er dieses erreichte, wurde er von Leuten, die er noch nie gesehen hatte und die sehr wichtig wirkten, abgefangen. »Es tut mir leid, mein Junge«, sagte einer der Männer. »Wir mussten den Weg sperren. Du darfst das Dorf nicht betreten.«
»Wieso denn nicht? Ich lebe da. Meine ganze Familie ist dort.« Die Worte sprudelten nur so aus Madus Mund.
»Es hat einen Ebola-Ausbruch in deinem Dorf gegeben. Deshalb steht der gesamte Ort unterQuarantäne.«
»Ebola …?« Madu spürte, wie sich sein Herz angstvoll zusammenzog. Er hatte von dieser furchtbaren Krankheit gehört, aber sie war bisher immer irgendwo anders gewesen, nicht hier, nicht in seinem Dorf. Und seine Eltern? Waren sie auch krank?
Er musste zu ihnen. Unvermittelt stürmte er los, wurde allerdings schon wenige Meter weiter von den Männern aufgehalten. Es half kein Flehen und kein Toben, die Männer blieben unerbittlich.
Nachdem er sich beruhigt hatte, brachten die Männer ihn in ein Kinderdorf. Hier sollte er erst einmal leben.
Als mehrere Monate später die Quarantäne seines Heimatdorfes aufgehoben wurde, war es bereits zu spät. Er erfuhr, dass über Dreiviertel der Dorfbevölkerung tot war, darunter seine ganze Familie. Verzweiflung überkam ihn.
Zuerst schrie und tobte er und leugnete die furchtbare Wahrheit. Er beschuldigte die Menschen in seiner Umgebung, ihn nur von seiner Familie fernhalten zu wollen. Nach einigen Tagen legte sich sein Jähzorn so plötzlich, wie er gekommen war. Er wurde ganz ruhig und sprach mit niemanden ein Wort, bis von einem Moment zum nächsten die Tränen kamen. Er weinte und weinte.
Als der Tränenstrom endlich versiegte, fühlte er sich erstaunlicherweise besser. Er lernte, den Tod seiner Familie zu akzeptieren. Dabei half ihm auch der Umstand, dass er in dem Kinderdorf, in dem er sich mittlerweile gut eingelebt hatte, bleiben durfte.
Fast von Anfang an hatte er Kwaku und seine Jungs bewundert. Sie waren einfach die Coolsten im Dorf. Und Kwaku war der Beste von allen. Er war schon sechzehn Jahre alt, groß und stark und hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Außerdem war er unglaublich mutig. Er hatte ganz allein einen Löwen, der sich in die Nähe ihrer Hütten verirrt hatte, verjagt.
Madu bewunderte ihn zutiefst und wollte genauso werden wie Kwaku oder zumindest in seiner Nähe sein. Leider war er bisher noch zu jung gewesen, um zu dessen Clique dazuzugehören. Aber ab heute nicht mehr, heute würde es endlich soweit sein.
Nach dem Frühstück und der Schule musste er noch seinen Pflichten nachkommen. Normalerweise erledigteer diese sehr gern, da er in diesem Monat in der Gartengruppe eingeteilt war. Dort versuchten sie, essbare Pflanzen anzubauen. Doch heute war er zappelig und konnte es nicht erwarten, dass seine freie Zeit begann. Es kam ihm unglaublich lange vor, bis er endlich zum vereinbarten Treffpunkt laufen konnte.
Kwaku hatte alle seine Jungs um sich versammelt. So war das immer, wenn sie ein neues Mitglied aufnehmen wollten. Die Jungen waren neugierig, welche Prüfung zu bestehen war.
Madu trat zu ihnen und bei seinen nächsten Worten schwang doch eine gewisse Anspannung mit: »Okay, Kwaku, was soll ich machen?«
»Du musst zur Mamboo gehen und uns etwas von ihrem Altar bringen.«
Madu blickte Kwaku erschrocken an. Das konnte nicht sein Ernst sein! Die Frau war eine Voodoopriesterin und Schamanin, die mit Geistern sprechen und zaubern konnte. Eine Mamboo verärgerte man nicht und erst recht bestahl man sie nicht.
Hinzu kam, dass sie nicht nur die Schamanin des Dorfes war, sondern eine der berühmtesten und angesehensten des Landes. Die Menschen kamen von weit her, um ihren Rat zu erfragen oder sich von ihr behandeln zu lassen.
Unmöglich, das konnte er nicht machen. Sie würde Geister auf ihn jagen, die ihn bis zu seinem Lebensende und wahrscheinlich noch darüber hinaus verfolgen würden.