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Das mächtigste Schwert vom Eislande sucht nach dem altersbedingten Tod des Königs seine neue Obrigkeit. Ein erbitterter Kampf bricht aus, in dem nur ein Mensch den begehrten Thron besteigen und folgend über das Lande herrschen kann. Die Fünf Lande, umgeben von einem magischen Schleier aus Stärke, Fortschritt, Bestimmung, Intrigen, sowie Hingabe und ihr enden wollender Weg in Richtung ihres gemeinsamen Schicksals. FÜNF LANDE. EINE SCHLACHT. Triggerwarnung: In diesem Buch finden sich Situationen, die für traumatisierte Menschen aufwühlend und verstörend wirken können können: Explizite Darstellung oder Erwähnung körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt, Diskriminierung, Mobbing, Suizid, Krieg, Blut, Sex, Tod.
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Seitenzahl: 816
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Schlacht der Fünf Lande
KF König
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Januar 2022
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2021 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by KF König
Illustrationen: © Copyright by KF König
Lektorat: Jarosa Winkern
Tribus Buch & Kunstverlag
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: KF König
Layout: Verena Valmont
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Mittelheide 23
49124 Georgsmarienhütte
Deutschland
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Widmung
Unzählige Stunden widmeten wir unserer Danksagung, da wir verhindern wollten, jemanden zu vergessen, der oder die ein wichtiger Teil unseres Weges war. Eine erste Fassung, für all die lieben und netten Menschen um uns herum, wurde erstellt und letztendlich doch wieder verworfen.
Aus einem Grund, der für uns nicht trauriger sein konnte und alles andere überschattete - der Tod unserer geliebten Oma.
Daher widmen wir dieses Buch Rosa König (1947 - 2021).
Wir vermissen dich und denken jeden Tag an dich.
PS: Danke an den Tribus Verlag, unsere Lektorin, TestleserInnen, FreundInnen, den FC Cornetto, unsere Familien, Partnerinnen und alle anderen, ohne die dieses Buch farblos und womöglich nie verwirklicht worden wäre. Ihr seid die wahren Könige!
Triggerwarnung
In diesem Buch finden sich Situationen, die für traumatisierte Menschen aufwühlend und verstörend wirken können.
Explizite Darstellung oder Erwähnung körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt, Diskriminierung, Mobbing, Suizid, Krieg, Blut, Sex, Tod
Prolog
Werte Lordschaft,
Sie finden folgend, wie von Ihnen gewünscht und befohlen, eine vollständige Darstellung aller Ereignisse, die sich auf dem zu überprüfenden geheimnisvollen Gebietes im Laufe der Zeit zugetragen haben. Um die Entwicklung hin zum historischen Tag X in vollem Umfang nachvollziehen zu können, stehen zu Beginn der Darstellung die Geschehnisse der ungefähr letzten fünf Jahre im Blickpunkt. Sie werden meine Entscheidung hinsichtlich dieses Aufbaus der Schilderung verstehen, sobald Sie die gesamte Geschichte gelesen haben.
Um eine gründliche, detaillierte Aufarbeitung sicherzustellen, ist mir ein fünfköpfiger Stab zur Seite gestellt worden, der aus Historikern, Forschern und Schriftstellern besteht. Die Zusammenarbeit ist von einer kommunikativen und äußerst professionellen Art geprägt, welche die Arbeit an dem Projekt nicht nur angenehm gestaltet, sondern auch beschleunigt hat.
Etwa ein Jahr nahm die Sortierung aller uns zur Verfügung gestellten Dokumente in Anspruch und ein weiteres Jahr verging, ehe das Ihnen nun vorliegende Schriftstück fertiggestellt wurde. Keineswegs sollte angenommen werden, dass wir bereits unsere Arbeit abgeschlossen haben. Die Analyse und Durchforstung des gesamten Materials verbraucht derart viel Zeit, sodass wir Ihnen aufgrund des vorgegebenen Zeitdrucks vorerst mit diesem Schriftstück einen ersten Einblick, eine sogenannte Einführung überreichen wollen, ehe die restlichen Teile vollendet und Eurer Hoheit präsentiert werden können.
Zum besseren Verständnis unserer Arbeit folgt eine kurze Erklärung unseres Vorgehens und unserer Recherchearbeit. Nach Ihrem Befehl einer lückenlosen Aufarbeitung der historischen Begebenheiten wurde mir, wie bereits erwähnt, ein kompetenter Stab zur Seite gestellt, der mich durch all die nötigen Prozesse mit dem Einbringen deren Expertise unterstützte. Zu Beginn waren uns sämtliche beschlagnahmte Dokumente und Bücher wie beispielsweise vorliegende Geschichtsbücher, Lehrbücher, Tagebücher, Schriften, Malereien, aber auch verschiedenste Protokolle zur Verfügung gestellt worden, die wir gewissenhaft chronologisch sortiert und anschließend analysiert haben. Die Herausforderung lag speziell darin, dass sich die zur Verfügung gestellten Bücher und Schriften teils widersprochen haben, insbesondere von Lande zu Lande.
Ein Mysterium bleibt für uns weiterhin, wie es trotz dieser zahlreichen Widersprüche und unterschiedlichen Wahrnehmungen der Lande, dennoch zu unmissverständlichen Übereinstimmungen und von allen Gebieten ident benannten und beschriebenen Städte, Orte, Ereignisse usw. kommen konnte. Denn nach dem ersten Eindruck unserer bisherigen Recherche, mussten wir feststellen, dass die Lande, bis auf wenige Ausnahmen, jeglichen Kontakt untereinander vermieden. Möglicherweise können wir hier bereits im nächsten Teil, an welchem wir derzeit rund um die Uhr arbeiten, etwas Licht ins Dunkel bringen.
Zum Aufbau der Darstellung der Geschichte sollte noch erwähnt werden, dass wir die einzelnen Lande gesondert deren Historie darstellen lassen, wobei mit Fortdauer Überschneidungen möglich sind. Tagebücher und andere persönliche Gegenstände wurden dazu benutzt, um Gedankengänge und Reaktionen unterschiedlicher Personen besser nachvollziehen und darlegen zu können. Dies soll dabei helfen, den Geschehnissen eine persönlichere Note zu verabreichen und somit verständlicher zu gestalten.
Da meine Gruppe und ich bekanntermaßen den Ereignissen nicht zugegen waren, mussten wir bei Wahrnehmungen, Geruchsempfindungen, Beschreibungen des Aussehens von Menschen, Kleidungen und vielem mehr auf die vorgelegten Bücher vertrauen. Sollten ausführliche Details in gewissen Situationen nicht beschrieben worden sein, haben wir uns nicht das Recht genommen, diese frei zu erfinden, sondern appellieren an die ausgeprägte Fantasie Ihrerseits.
Auf die von den einzelnen Landen dargestellten Fakten wird in deren Geschichtsaufarbeitung bewusst nicht verzichtet, um ein klares und unverzerrtes Bild der dortigen Gegebenheiten zu übermitteln. Nichtsdestotrotz halte ich es mir vor, hin und wieder Anmerkungen einzufügen, um Eure Hoheit vor unrealistischen und klar ersichtlichen Falschinformationen zu warnen und Sie vor dem Befall von Lügen und frei erfundenem Unfug zu bewahren.
Bezüglich der Kapitel in diesem Buch bitten wir Sie zu beachten, dass diese nicht unbedingt chronologisch geordnet sind. Jedoch spielen sich alle Ereignisse aus den verschiedenen Gebieten innerhalb desselben Jahres ab. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Geschehnisse eines Landes beispielsweise in nur wenigen Wochen geschahen, während sie sich in anderen auf einen längeren Zeitraum, aber innerhalb eines Jahres, streckten.
Sollte es zu Verständnisproblemen kommen, was wir uns bei Ihnen, werte Lordschaft, zwar nicht vorstellen können, aber sollten Sie das Buch doch weiterreichen, wäre es nicht undenkbar, dass eine Überforderung dank der zahlreichen Namen, Orte und weiteres entstehen könnte. So bieten wir Ihnen die Alternative, ein Lande nach dem anderen zu lesen und damit die Reihenfolge der Kapitel zu ignorieren.
Hierbei empfehlen wir folgende Abfolge: Eislande, Waldlande (bis Kapitel 29), Südlande (bis Kapitel 35), Westlande (bis Kapitel 33) und abschließend Kapitel 37-40. Sie finden zudem im Anhang mehrere geografische Karten der in diesem Buch wichtigsten vorkommenden Gebiete.
Vorab bitte ich Sie um Nachsicht, sollten sich versehentlich Fehler in das Ihnen vorliegende Schriftstück eingeschlichen haben. Doch eine rasche Fertigstellung wurde als höchste Priorität gewertet, womit die Überprüfung der Grammatik und der Darstellung zweitrangig war.
Außerdem sollen das Geschriebene und persönliche Anmerkungen in keiner Weise gegenüber Eurer Hoheit belehrend wirken. Doch erschien es mir ratsam nicht davon auszugehen, dass alles stets bekannt ist und keinerlei weitere Informationen nötig sind, da sonst nicht beabsichtigte Lücken entstehen könnten und der weiteren Verfolgung der Ereignisse nicht dienlich sind.
Ich möchte mich zum Abschluss bereits im Voraus für Ihr Vertrauen in unsere Gruppe bedanken und hoffe ein möglichst umfassendes Bild aller Ereignisse wiederzugeben, welches Ihrer Vorstellung entspricht. Sollte Eure Hoheit eine andere Art der Darstellung der restlichen und noch nicht dargelegten Geschichte wünschen, werden wir dies selbstverständlich ohne Zweifel konsequent nach Ihrer Vorstellung und Ihren Wünschen umsetzen.
Euer Diener,
Philippus Franziskus
Gefrierende Kälte schlich sich von draußen durch das geöffnete Fenster in die Burg, die jedoch die ohnehin bereits vorherrschende kühle Stimmung der Königsfamilie nicht weiter beeinflussen konnte. Robin starrte beharrlich aus dem Fenster seiner Kemenate, die sich in der obersten Etage befand, in Richtung des Toten-Gebirges. Eine knochige Hand platzierte sich auf seiner Schulter und Robin senkte seinen Kopf. Er sah wie tausende von Menschen dem heftigen Schneefall trotzten und unbeirrt auf dem von Schnee und Eis befreiten Weg entlang in das Toten-Gebirge wanderten.
Die beruhigende Stille war durch seine Mutter beendet worden. »Komm, mein Sohn, mach dich bitte fertig, wir müssen gehen!«
Für Robin war es an der Zeit Abschied zu nehmen. Abschied von seinem geliebten Vater, dem rechtmäßigen König vom Eislande, Sigurd der Neunzehnte, im Volk zusätzlich als »der Gutmütige« bekannt. Robin musste seine gesamte Kraft sammeln, zu innig hing er an seinem Vater. Verzweifelt griff er sich an sein langes blondes Haar, das er geflochten und mit Bändern zusammengebunden hatte. Robin war von durchschnittlicher Statur und Größe, doch verbargen sich unter seinem Wintermantel ansehnliche Muskeln.
Sein schmales Gesicht wurde besonders durch seinen Vollbart betont, doch auch seine strahlend blauen Augen waren auffälliger als bei den anderen Menschen im Eislande, die ebenfalls mit derselben Augenfarbe beglückt waren.
Robin hob seinen gesenkten Kopf an und wagte einen letzten Blick auf die voranschreitenden Menschen. Schließlich schloss er das veraltete Fenster und ging auf seine Mutter zu. Königin Runa war mit einem äußerst dicken Mantel umhüllt, durch den sie trotzdem kaum robuster wirkte, war sie doch mittlerweile dünn und schlaff geworden. Dies verschuldete ihr hohes Alter. Ihre nicht allzu langen grauen Haare verdeckten zum Teil ihre strahlenden Augen, dennoch konnte immer noch eine elegante Dame betrachtet werden, die ihrer Betagtheit trotzte.
Nicht nur Robin, auch Königin Runa hatte schwer mit dem Verlust des Königs zu kämpfen. Sie hatten einander ihr gesamtes Leben lang geliebt. Mit etwa 72 Jahren war sie mehrere Jahre jünger als ihr eben verstorbener Mann. Runa konnte sich kaum noch an die Zeiten erinnern, in der die beiden noch kein Paar gewesen waren. Dies lag bereits einige Jahrzehnte in der Vergangenheit.
Weit in die Vergangenheit reichte ebenso die Anstellung des Königsberaters Ragnarr, der nunmehr 25 Jahre der Königsfamilie diente und dem König in dieser Zeit auf Schritt und Tritt folgte. Ragnarr war ein durchtriebener Mann mit langen braunen Haaren und mächtigem Vollbart. Bekannt war er dafür, Geheimnisse aus den Menschen herauszulocken, um diese für sich nützlich zu machen. Für sein hohes Alter von knapp über einem halben Jahrhundert hatte er noch immer einen ansehnlichen Körper, und dennoch war ihm anzusehen, dass dieser Mann jede Menge erlebt und gesehen hatte.
Ragnarr war als Herumtreiber bekannt, der dem Alkohol nicht gerade abgeneigt war und große Freude an Feiern und Feste hatte. Auf diese Trauerfeier hätte er allerdings gerne verzichtet, entsprechend schätzte er König Sigurd, der ihm damals mit der Aufgabe des Beraters die Möglichkeit bot, aus dem Burghof in die Burg aufzusteigen. Ragnarr musste dafür nicht überredet werden, er war bekannt für seine Gerissenheit und wollte diese Gabe für die Königsfamilie nutzen. Der Tod von König Sigurd nahm großen Einfluss auf die Arbeit von Ragnarr, denn König Sigurd war bisher seine Bezugsperson in der Burg gewesen. Nun allerdings wurde er Königin Runa zur Seite gestellt. Dies war keineswegs Neuland für ihn, nicht selten traten sie einst als Trio auf, wodurch sich ebenso Königin Runa und Ragnarr bestens kannten.
Um rechtzeitig zur Trauerfeier zu gelangen, machten sich Robin, Königin Runa und Ragnarr, dick in ihre Mäntel eingehüllt, auf den Weg. Aufrecht ging Runa voran. Doch sie selbst wusste, dass dies nicht der Realität entsprach. Der Tod ihres Mannes traf sie derart heftig, dass sie am liebsten ihre restliche Lebenszeit eingesperrt in ihrer Kemenate absitzen würde. Der desolate, fragile Zustand ihres Sohnes zwang sie dazu, Stärke und Mut auszustrahlen, um ihm die nötige Hoffnung zu vermitteln.
Gleichwohl war es für sie schwer vorstellbar, wie Robin nur ohne seinen Vater klarkommen sollte. Die beiden waren unzertrennlich. Und doch musste das Leben weitergehen. Es lag an Königin Runa, ihrem Sohn neuen Mut einzuhauchen und dazu zu bewegen, die Nachfolge seines Vaters anzustreben.
Eine große Menschenmenge, traurige und weinende Gesichter so weit das Auge reichte, stand dicht aneinander gedrängt in unmittelbarer Entfernung eines riesigen Steinkreises. Dieser war umgeben von irrsinnig hohem Unkraut sowie bedeckt von Moos und Flechten. Der Steinkreis befand sich im sogenannten Toten-Gebirge, ein kleines Stück nördlich der Hauptstadt Königsburg.
Rundherum erhoben sich hohe mit Schnee und Eis bedeckte Gebirge. Blühende Pflanzen waren vergeblich gesucht worden, derart lange herrschte schon Eiseskälte im Lande. Die wenigen Eschenbäume, die der Kälte beharrlich trotzten, verloren mit den Jahren den Großteil ihrer Blätter und erwachten nicht mehr aus deren tiefem Schlaf. Obwohl das gesamte Lande eisigen Temperaturen ausgesetzt war, stiegen sie im Süden doch deutlich an. Je weiter die Menschen in den Norden vordrangen, desto kälter und gefährlicher wurde es. Da die Einheimischen vom Eislande von überall her für König Sigurds Trauerfeier angereist waren, hatten nicht wenige mit den kälteren Temperaturen in Königsburg zu kämpfen. Sie reisten infolgedessen mit Unterkühlungen wieder heim.
Der Ansturm war enorm, zahlreiche Menschen kletterten auf die kargen Eschen, um einen Blick in den Steinkreis zu erhaschen. Dies war allerdings vollkommen unmöglich, denn das Innere des Steinkreises war von übermächtigen, in die Höhe ragenden, Steinen umgeben und somit vor neugierigen Blicken geschützt. Dieser Schutz sollte ursprünglich nicht das Einsehen abwenden, sondern insbesondere als Mauer dienen, um Unbefugten den Zutritt zu verwehren. Im Eislande war es seit 1598 Gesetz, die Leichen verstorbener Könige in dem dafür errichteten Steinkreis unterzubringen. Verflucht würden alle sein, die sich unbefugt in den Steinkreis begaben und somit die Ruhe der Verstorbenen störten.
Im leichten Schneefall warteten die Menschen auf den Beginn der Zeremonie und sprachen seit geraumer Zeit immer wieder die gleichen Phrasen, »Hoch lebe König Sigurd, der Neunzehnte«, »Für immer und ewig«, sowie »Aegir möge dich zu sich aufnehmen und beschützen«. Eine betagte Frau fing weinend an, für König Sigurd zu singen und mit der Zeit stimmten stetig mehr Menschen mit ein. Durch die Mischung des Gesangs und der erneut gesprochenen Phrasen ertönte ein melodischer Klang, der die Trauerfeiern im Eislande stets speziell machte. Dieses Ritual wurde bereits seit Jahrhunderten praktiziert, doch jedes Mal aufs Neue waren die Anwesenden davon derart begeistert, dass es sie zu Tränen rührte.
Inmitten der wartenden Menschen war ein freier Weg erkennbar, der zum Steinkreis führte und bewusst freigehalten worden war. In den Gesang versunken, erblickten die Trauernden von der Weite vier Gelehrte, die den toten König auf einem wunderschön verzierten Holzgestell herbeitrugen. Mit schleppenden Schritten näherten sich die bejahrten, mit langen grauen Bärten versehenen Gelehrten, dem Eingang des Steinkreises. Sie galten als Diener des Landes. Selbst, wenn der Körper des zuvor schwer erkrankten Königs kaum noch Gewicht hatte, waren den Gelehrten deren Schwierigkeiten unverkennbar anzusehen. Der sich bildende Schweiß floss ihre Gesichter hinab, sodass mehrere Eiszapfen in den langen Bärten zurückblieben.
Der Eingang zum Inneren des Steinkreises wirkte wie ein magisches, geheimnisvolles Tor, gebildet durch feingeschliffene und aneinander gesetzte Steine, in den nur die Gelehrten befugt eintreten durften. Bevor sie die Schwelle in den Steinkreis übertraten, bewegten sich die Köpfe aller Anwesenden nervös umher, um reichlich Details wie möglich aufzuschnappen und eines Tages den eigenen Kindern davon berichten zu können.
Der Tod eines Königs im Eislande, dem Norden der Fünf Lande, war im Laufe der Geschichte zu einer Seltenheit geworden.
Während König Sigurd das hohe Alter von 89 Jahren erreichte, starb sein Vater und Vorgänger König Thanos, der Achtzehnte, der bereits mit zwanzig Jahren den Königsthron bestieg, erst im unglaublichen Alter von 112 Jahren. Die frühe Krönung zum König bescherte König Thanos damals im Volk den Titel »das Kind«, ehe er im fortgeschrittenen Alter als »der Unsterbliche« gepriesen worden war. Der Umstand, dass die letzten zwei Könige eine derart hohe Altersstufe erreichten, obwohl dies im Eislande aufgrund der Kälte keineswegs üblich war, machten diese Trauerfeiern besonders und einzigartig.
Mit einem großen Abstand zu den Gelehrten, den einzig befugten Trägern des Leichnams des Königs, kamen Königin Runa und dessen einziger Sohn Robin hinterher. Als Familienangehörige vom Verstorbenen war es ihnen einmalig erlaubt, den Steinkreis zu betreten. Sowohl für Runa, als auch für Robin, war dies eine neue Erfahrung. Beide waren mit dem Eintreten völlig erstaunt und überfordert, welch Geschichte das Innere preisgab und in weiterer Folge kurz von der Trauer ablenken konnte. Mit offenen Mündern starrten sie auf die willkürlich verteilten gewaltigen Steine, die mit den unterschiedlichen Gravuren der verstorbenen Könige und Königinnen versehen waren.
Überwältigt aufgrund des Gesehenen, standen Königin Runa und der Königssohn Robin wie versteinert da und ließen ausschließlich ihre Augen unglaubwürdig durch den Steinkreis wandern. Besonders die unterschiedlich geformten und großen Steine schienen die beiden zu beeindrucken. Robin liebte es, Bücher über die Geschichte vom Eislande zu lesen und neue Details zu erfahren und in seinem Kopf abzuspeichern. Egal welche Anzahl an Büchern er bisher gelesen hatte, keines davon konnte nur annähernd den Anblick beschreiben, der sich ihm hier bot.
Nachdem alle Steine der Reihe nach ausführlich gemustert worden waren, zog etwas Bestimmtes die Aufmerksamkeit auf sich. In der Mitte des Steinkreises stand ein beachtenswerter Tisch, auf dem die Leiche des Königs abgelegt wurde. Robin betrachtete noch einmal intensiv den Körper seines Vaters, der in ein dickes Bärenfell eingewickelt worden war. Ehe der stärker werdende Schneefall die Leiche bedeckte, begossen die Gelehrten den Kopf des Königs mit einem warmen magischen Wasser, das aus dem Haus von Aegir stammte. Dank der gefrierenden Temperaturen bildete sich in nur wenigen Augenblicken Eis um den Kopf der Leiche. Die Vereisung mit dem besonderen Gewässer sollte sicherstellen, die Verstorbenen mit Hilfe von Aegir ewig am Leben zu halten, da der Kopf vom magischen Wasser fortlaufend umhüllt war.
Nach Ausführung des Rituals stimmten die sich weiterhin im Steinkreis befindlichen Gelehrten und die Königsfamilie in den Gesang der Menschenmenge von außerhalb mit ein. All die Leute standen weiterhin gefestigt auf ihrem kleinen Fleckchen und sangen energisch und vollen Mutes. Der Klang war unbeschreiblich, insbesondere für diejenigen, die sich im Steinkreis befanden. Denn durch die jahrhundertealten Steine entstand ein seltsamer, mystischer Ton. Robin überzog ein wohlfühlender Schauer, seine Haare richteten sich auf und die Atmosphäre rührte ihn zu Tränen. Für ihn war es schwer zu glauben, wie beliebt sein Vater beim Volk war und welch tagelange Reisen und somit Gefahren zahlreiche Menschen auf sich genommen hatten, nur um sich von König Sigurd, dem Neunzehnten, verabschieden zu können.
Da der Schneefall immer stärker wurde, war die Leiche bereits nach kurzer Zeit zur Hälfte mit Schnee bedeckt. Das Ritual des Gesanges musste allerdings solange andauern, bis der Körper des toten Königs komplett mit Schnee überdeckt war. Die Anwesenden hatten Glück, zumal der Schneefall an diesem Tag überaus heftig war, denn laut den Geschichtsbüchern soll es in früheren Zeiten üblich gewesen sein, dass Trauerfeiern bis zu mehreren Tagen dauerten.
König Sigurd der Neunzehnte war nach nur kurzer Zeit vollkommen mit Schnee zugedeckt und der Ritualgesang konnte beendet werden. Als die Gelehrten das Innere des Steinkreises verließen, war die Menge abrupt still geworden. Lediglich das Surren der umherfliegenden Lebewesen war zu vernehmen. Einige waren tatsächlich schockiert und verwundert, wie übereilt die Prozedur beendet war. Aber sie vernahmen dies als ein gutes Zeichen, denn Aegir habe König Sigurd mit großer Freude aufgenommen. Die trauernden Menschen waren voller Emotionen, umarmten sich und sahen, wie nach den Gelehrten nun Königin Runa und ihr Sohn Robin den Steinkreis verließen und sich neuerlich in Richtung Königsburg bewegten.
Selbst aus großer Entfernung war Robin noch anzusehen, dass er weiterhin beträchtlich um seinen Vater trauerte. Seine gebückte, niedergeschlagene Haltung, sein unsicherer Gang und das tränenüberströmte Gesicht sprachen Bände und offenbarten seine Gefühlslage. Königin Runa war ebenso am Boden zerstört, doch wiederholte sie innerlich beständig ihr Mantra, dass es jetzt wichtiger denn je sei, Stärke auszustrahlen.
Nachdem die Gelehrten und die Königsfamilie ein gewisses Stück entfernt waren, traten die einfachen Leute aus dem Eislande den Heimweg an.
Der Großteil nach Königsburg, doch auf manche wartete eine längere Heimreise in die südlich liegenden Dörfer und Städte. Der erste Teil der Trauerfeier war überstanden, es folgte die große Feier im Festsaal der mächtigen Burg, bei der allerdings nur geladene Gäste eintreten durften, da die Kapazitäten nicht unendlich waren.
In der Burg angekommen, suchte Robin sofort das Gespräch mit seiner Mutter. »Mutter, ich bin noch nicht bereit endgültig Abschied zu nehmen. Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll«, sprach Robin und hoffte auf Verständnis.
»Tut mir leid mein Sohn, aber du bist Sigurds Sohn und deine Anwesenheit wird vorausgesetzt.« Königin Runa tat es tatsächlich leid, sie wusste, wie schwer es für Robin war und doch war es unmöglich, ihn von der abschließenden Trauerfeier im Festsaal fernzuhalten. Gerüchte würden entstehen und die Königsfamilie müsste anschließend darunter leiden. Dies musste sie verhindern.
Robin war den Tränen nahe. »Mutter, ich kann das nicht. Ich bin nicht so stark, wie ihr mich gerne hättet«, klagte er verzweifelt.
»Robin, es zeugt keineswegs von Schwäche, nur weil du trauerst.«
Robin konnte nicht mehr ruhig bleiben und seine Stimme wurde lauter. »Es fühlt sich aber schwach an. Jeder erwartet von mir, der neue König zu werden, jedoch fühle ich mich noch nicht bereit dazu.«
Königin Runa wurde emotionaler, sie konnte nicht abstreiten, dass sie ernsthafte Sorgen um Robin hatte.
»Du hast deinen Vater eben geliebt und trauerst nun um ihn, das ist völlig normal bei Menschen mit solch einem großen Herzen, wie du es hast.«
Diese Worte brachten Robin zum Schmunzeln. Das würde jede Mutter zu ihrem Sohn sagen, er wusste allerdings nicht, was er damit anfangen sollte. Er war keineswegs böse auf seine Mutter, sie wollte ihn schließlich bloß aufmuntern und das wusste er zu schätzen.
»Robin, ich liebe dich und dein Vater hat dich ebenfalls geliebt. Du weißt, ich würde dich gerne in deiner Kemenate im Stillen trauern lassen, aber diesen letzten Akt im Festsaal müssen wir noch gemeinsam durchstehen.« Die Stimme von Runa klang brüchiger, ehe sie fortfuhr. »Wir dürfen uns leider nicht fernhalten, es tut mir wirklich leid.«
Der 26-Jährige fühlte sich plötzlich schlecht, als er bemerkte, dass es bisher unaufhörlich um ihn und seine Gefühle ging und er seine Mutter nie gefragt hatte, wie es ihr in dieser Situation ging. Er war kein Egoist, ganz im Gegenteil, für seine Freunde hatte er stets ein offenes Ohr und half, wo er nur konnte. Dass seine Mutter ebenso wie er unter dem Tod von Sigurd litt, hatte er bislang völlig ausgeblendet.
»Wie geht es dir eigentlich?«, fragte Robin nun vorsichtig seine Mutter.
»Das war heute der schlimmste Tag meines Lebens, das kannst du mir glauben. Sigurd war der beste Partner, den man sich nur vorstellen konnte.« Der Königin kamen erste Tränen, die sie in der Öffentlichkeit lange bekämpft und erfolgreich zurückgehalten hatte. Sie wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht und trat näher an Robin. »Aber Schluss jetzt! Wir müssen in den Festsaal, wir reden ein anderes Mal darüber. Die Gäste warten bereits«, verkündete Runa.
»Der unvorstellbare Verlust tut mir leid, Mutter. Doch wir werden diese schwere Zeit gemeinsam durchstehen. Wenn du mich brauchst, werde ich beständig an deiner Seite sein.« Robin versuchte sich Mut zuzusprechen, wie auch seiner Mutter.
Königin Runa war hocherfreut über diese Worte. »Danke, mein Sohn.«
Königin Runa, Robin und der Königsberater Ragnarr traten zuletzt in den großen und prächtigen Saal ein, in dem bereits sämtliche geladene Gäste zugegen waren. Der Festsaal bot hunderten von Menschen Platz, auch wenn dies von außen kaum zu glauben war, derart klein wirkte er. Mit dem Eintritt in den Saal, vermittelte er allerdings den Anschein als wäre er unendlich lang.
Von der Decke hingen eine große Flagge vom Eislande sowie hunderte Kerzenleuchter, die für Licht sorgten. Die Tische und Bänke waren aus den schönsten Steinen geschmiedet und der gesamte Festsaal war einen Tag zuvor von zig Dienern und Dienerinnen für diese Trauerfeier vorbereitet und dem Anlass bezogen geschmückt worden.
Mit dem Eintreffen der Königin waren alle Augen im Saal auf sie gerichtet und es war unverzüglich still geworden. Während Robin und Ragnarr an einem luxuriösen Tisch Platz nahmen, der erhöht neben der Bühne positioniert und nur für die Königsfamilie und deren engsten Angestellten vorgesehen war, trat Königin Runa direkt auf die von überall gut sichtbare Bühne.
Sie blickte nervös in die Gesichter aller Anwesenden. Zahlreiche Verbündete des Hauses waren gekommen, treue Wegbegleiter seit Jahrzehnten, aber genauso vermögende Eingeborene, die im gesamten Lande und in der Hauptstadt einen besonderen Ruf genossen.
Als Königin Runa bemerkte, dass sie die Aufmerksamkeit aller im Saal geschenkt bekam, begann sie ihre Rede für ihren verstorbenen Mann.
»Ich danke euch allen für euer Kommen. König Sigurd, der Neunzehnte, wäre stolz gewesen, euch alle hier begrüßen zu dürfen.« Ein Applaus erfüllte den Saal und unterbrach für kurze Zeit die Rede von Königin Runa.
»Wie ihr wisst, hat König Sigurd jede Menge für das Eislande geleistet. In den vierzig Jahren seiner Regentschaft hatte er unter anderem Abgaben eingeführt, um die Armut im gesamten Lande zu bekämpfen. Weiters wurden landwirtschaftliche Flächen in Königsburg und Wolkenfeld ausgebaut, um eine Sicherstellung der Essensversorgung für alle Menschen im Eislande zu gewähren. Dazu gehörte die erste Eröffnung einer Bäckerei am Marktplatz in Königsburg. Die Nachfrage war entsprechend groß, sodass im gesamten Lande bereits fünf weitere Bäckereien eröffnet worden sind.«
Runa atmete kurz durch, ehe sie in ihrer gemächlichen und überlegten Art fortfuhr. »Keineswegs sollte vergessen werden, dass es König Sigurd gelungen war, eine Abmachung mit den Barbaren zu treffen, die uns nunmehr über 35 Jahre Frieden bescherte. Wie ich Sigurd jedoch kenne, hätte er nicht gewollt, dass heute lediglich politische Ereignisse aufgezählt werden. Denn für Politik interessierte sich Sigurd nur recht wenig. Viel wichtiger hingegen war ihm der Kontakt zu seinen Mitmenschen im Eislande.« Die Anwesenden im Festsaal klatschten und Runa bemerkte, wie ein Großteil davon zu deren Sitznachbarn schauten und sich zunickten.
Es war kein großes Geheimnis, dass Sigurd wenig Interesse an Politik hatte und zu jeder Zeit offene Gespräche den Gesetzgebungen in der stillen Kammer vorzog. Diese Einstellung befähigte ihn dazu, Entscheidungen im Sinne des Volkes zu treffen.
Natürlich bereitete ihm dies oft schlaflose Nächte, denn jeder hatte seine eigenen Wünsche, die schlussendlich nicht alle berücksichtigt werden konnten.
»Leb wohl König Sigurd, der Gutmütige. Dein Eislande wird ewig in deiner Schuld stehen und sich stets an das zurückerinnern, was du einst geschaffen und erbaut hast. Es war mir eine Ehre, dich kennenlernen zu dürfen, dich über alles zu lieben und von dir geliebt zu werden. Du warst nicht nur mein König und mein Mann, für mich und die Menschen in diesem Lande wirst du ewig eine Legende bleiben. Möge Aegir dich freundlich sowie mit offenen Armen empfangen und behutsam in seinem Reich aufnehmen.«
Alle erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten eine gefühlte Ewigkeit für den verstorbenen König. Ein rührender Moment für Königin Runa, die ebenfalls in den Applaus für ihren Mann einstieg. Nachdem der Beifall abebbte, wünschte Königin Runa allen Anwesenden einen schönen Abend und nahm anschließend zwischen Robin und Ragnarr Platz. Während Ragnarr Königin Runa einen anerkennenden Blick für eine großartige Rede schenkte, saß Robin in Gedanken versunken auf seinem Platz. Der Grund dafür war, dass ihn die Rede seiner Mutter tief traf und er nicht anders konnte, als in den Raum seiner Gedanken einzutauchen, um ein Weinen zu verhindern.
Bei Trauerfeiern im Eislande war es üblich, dass jeder der Anwesenden seine Erinnerungen an Erlebnisse und Erfahrungen mit dem verstorbenen König mit den anderen teilen durfte. Bei König Sigurd war die Bühne dauerbesetzt, sobald jemand seine Rede beendet hatte, wollten unzählige weitere Personen auf die Bühne und über deren eigene Gespräche mit dem König berichten.
Da Sigurd ein umgänglicher und geselliger Mensch gewesen war, der sich am liebsten mit jedem Lebewesen vom Eislande mindestens einmal unterhalten hätte, reichte der Abend nicht, alle Anwesenden zu Wort kommen zu lassen.
Neben Königin Runa war insbesondere die Rede von Einar, einem großen, muskulösen Mann mit glatten, langen schwarzen Haaren, erwähnenswert. Auffallende Goldketten um seinen Hals lenkten von seinen Narben im Gesicht ab, die für das Alter von etwa 54 Jahren stark ausgeprägt waren. Einar, seine Frau Hulda und die vier Kinder lebten hauptsächlich vom Ruhm der Vergangenheit. Denn Einar war ein Nachfahre von König Wodan, dem Zwölften, das Volk nannte ihn »der Wütende«, der von 1682 bis 1740 das Eislande regieren durfte.
Für Robin war Einar kein Unbekannter, da er dessen Sohn Gunnar schon länger kannte. Die beiden verband nicht wirklich eine Freundschaft, ganz im Gegenteil. Daher horchte Robin neugierig auf, als sich Einar gemächlichen Schrittes hin zur Bühne bewegte und das Wort ergriff. Stets wählte er seine Worte mit Sorgfalt und sprach diese absichtlich deutlich und langsam aus, damit sie bei allen Gehör fanden.
»Wir haben uns heute versammelt, um König Sigurd zu verabschieden. Ich habe mit Sigurd unzählige Gespräche geführt, wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten, keine Frage, jedoch fanden wir gegen Ende des Gespräches regelmäßig zueinander und trennten uns ohne Groll.« Königin Runa, Ragnarr und Robin wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, aber sie hatten ferner nicht erwartet, einer Rede von Einar lauschen zu müssen.
»Ich plädiere dazu und halte den baldigen neuen König dazu an, den Weg von König Sigurd fortzuführen, insbesondere den engen Austausch mit den gewöhnlichen Menschen vom Eislande.«
»Da will sich jemand beliebt machen«, flüsterte Ragnarr der Königin zu. »Vermutlich für seine Kinder.«
»Denke ich auch«, erwiderte Runa, müde von Einars Rede.
»Um in Sigurds Fußstapfen zu treten, benötigt der neue König Mut, Stärke und einen unbändigen Willen. Das Eislande muss herrschen und keinesfalls beherrscht werden, wie beispielsweise von Barbaren«, verkündete Einar mit seiner tiefen, schmeichlerischen Stimme.
Während alle gefesselt der Rede lauschten, waren Ragnarr und Runa verärgert über die versteckte Kritik von Einar. Sigurds Abmachung mit den Barbaren war aus deren Sicht eine Lösung, mit der beide Seiten glücklich sein konnten und dem Eislande endlich Frieden bescherte. Einar dagegen empfand diese Vereinbarung als Verbeugung vor den Barbaren und als Schwäche des Königshauses.
»Wenn Härte und Fleiß gefragt ist, dann muss der neue König dazu bereit sein und nicht davor zurückschrecken. Verweichlichung und Schwäche hat in diesem höchsten Amt des Landes keinen Platz. Schönen Abend noch.«
Robin verstand den Seitenhieb auf ihn, selbst wenn er damit vermutlich der Einzige im Saal war. Einar schlich sich unbemerkt in die Köpfe der Anwesenden und signalisierte ihnen so, was für Eigenschaften der neue König unbedingt haben sollte und welche auf keinen Fall. Daher quälte Robin nun das Gefühl, dass ihn die Menschen mit anderen Augen sahen und Mitleid für ihn empfanden, obwohl das nie Robins Bestreben gewesen war.
Neben all den vorgetragenen Reden war ausgelassen gegessen und getrunken worden, wie es bei Trauerfeiern im Eislande Usus war. Zu fortgeschrittener Zeit war mehr getrunken als gegessen worden und die Menschen erzählten sich mittlerweile untereinander an ihren Tischen Geschichten über den alten König. All die Erzählungen erwiesen König Sigurd die letzte Ehre und säten in Robin noch mehr Zweifel.
Der Sohn des Königs fühlte sich, als sei er noch lange nicht bereit, in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters zu treten. Seit 1902, also insgesamt 133 Jahre, herrschte dieselbe Familie bereits über das Eislande. Diese lange Zeit setzte Robin nur noch mehr unter Druck, da er nun die einzige Hoffnung der Königsfamilie war, der jedoch ein baldiges Ende am Thron drohte.
Robin dachte zurück an all die Taten seiner Vorfahren und konnte sich nicht im Traum vorstellen, jemals solche Errungenschaften vorweisen zu können. Dass ausgerechnet er einen hohen Durchsetzungswillen aufbringen könnte, um das Lande pflichtbewusst zu führen, zweifelte er stark an. Keiner der im Festsaal Anwesenden konnte seine Stimmung ändern, weder seine Mutter noch Ragnarr oder sein Freund Sven.
»Dein Vater war ein großartiger Mann und ebenfalls ein hervorragender König. Du hast jede Menge von ihm gelernt und du könntest ein würdiger Nachfolger werden.«
Robin verzog müde das Gesicht, derartige Aufmunterungen von Sven wollte er zurzeit nicht hören.
»Setz dich selbst nicht unter Druck, glaub an dich und gib dir Zeit, um das alles zu verarbeiten!«, sprach Sven weiter, ein mit kurzen braunen Haaren bestückter Mann im ungefähr selben Alter wie Robin, der wohl zurecht als bester Freund von Robin bezeichnet werden konnte.
Im Augenwinkel bemerkte Robin die Bemühungen von Ragnarr, ihn auf die Bühne zu bewegen, um seinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. »Sven, ich weiß deine Worte zu schätzen und ebenso was du damit bewirken willst, aber sei mir nicht böse, dass ich so etwas im Moment nicht hören will und hören kann.«
Mit diesen Worten verließ Robin die Trauerfeier und ging zu Bett. Endlich konnte er ohne Hemmungen um seinen Vater trauern, zu dem er eine innige Bindung hatte. Ein solches Verhältnis kam eher selten vor.
Robin weinte sich diese Nacht in den Schlaf, in dem er von einem Traum in den nächsten fiel.
Sein Vater erschien neben seinem Bett und sprach Robin Mut zu. »Mein Sohn, gib niemals auf und glaube stets an das Gute. Wenn du nur allzu oft daran glaubst, werden Wunder geschehen.« Sigurd sprach weiter, obgleich seine Stimme immerzu leiser wurde, Robin konnte den Rest kaum noch verstehen. »Pass auf deine Mutter auf«, war der einzige Satz, der Robin noch erreichte und den er in seinem restlichen Leben nicht mehr vergessen sollte.
Bei wohlwollenden Temperaturen und prächtigen Bedingungen, ohne jeglichen Luftzug, erstrahlte mit Aufgang der Sonne die Kleinstadt Adlerstal. Der Geruch von frischem Holz lag über der Stadt, da sämtliche Gebäude mit diesem beständigen Material errichtet worden waren. Das Treiben auf den Straßen war enorm, als die jeweiligen Häuser verlassen und pünktlich der Weg zur Arbeit angetreten wurde. Die Menschen marschierten wie programmiert in die vorgegebene Richtung, um ihren Beitrag zum Wohlstand der Waldlande zu leisten. Mit dem viermaligen Läuten der Glocken wirkten die Straßen jählings wie ausgestorben und der Hochbetrieb verlagerte sich in die verschiedenartigen Bauten.
Die zahlreichen Räume der stattlichen Lehranstalt waren ohne Ausnahme homogen eingerichtet und ausgestattet. Um die Auszubildenden vor Ablenkungen zu bewahren, dienten den Räumen ausschließlich schlichte Stühle und Tische aus Holz als Inventar sowie zur Unterstützung der Lehrkraft eine große Tafel. Einzig die zahlreich vorhandenen Fenster brachten eine gewisse Schönheit ins Innere der Räumlichkeiten.
Die Wände waren weiß und kalt, keinerlei Verzierungen oder Bilder erfüllten das Anwesen mit bunten Farben, mit Ausnahme einer ansehnlichen Landkarte von Waldlande und dem Symbol des Zirkels. Dabei war die Landkarte so konstruiert, dass die Region Eden als einzigartige Wohlgestalt erschien und Hel dagegen das Abbild des Grauens und der Bosheit darstellte.
Mit dem Glockengeläut platzierten sich die Auszubildenden pflichtgetreu auf den ihnen zugeteilten Plätzen und warteten auf das Eintreffen ihrer Lehrmeisterin für Geschichte. Einer der zu Lehrenden war Anjo, mit achtzehn Jahren der Älteste seiner Gruppe, die allesamt ungefähr gleichalt waren und die neunte von insgesamt zehn Stufen besuchten. Mit dem etwa neunzehnten Lebensjahr wurde der Lehranstalt üblicherweise der Rücken zugedreht und der wahre Ernst des Lebens konnte beginnen.
Die Leitsätze der Lehranstalt in Adlerstal waren äußerst drakonisch ausgelegt, wodurch niemand im Geringsten daran dachte, einmal dem Lehrvortrag fernzubleiben. Ein harmloser Fehler konnte das restliche Leben eines jungen Menschen erheblich erschweren. In der Historie dieser Lehranstalt war ein Fernbleiben erst ein einziges Mal vorgekommen, allerdings wusste niemand, wie dieser Fall endete, da der Auszubildende kurz vor seinem Abschluss unverzüglich aus der Anstalt ausgeschlossen und nie mehr offiziell gesichtet worden war. Mittlerweile zogen ungefähr zehn weitere Jahre ins Lande. Gerüchten zufolge war der Ausgestoßene seitdem einige Male im verfluchten Landesteil Hel gesichtet worden.
Die Lehranstalt von Adlerstal lag dagegen in der Region Eden, dem kleineren östlichen Teil von Waldlande. Eden war als die gutbürgerliche und reiche Seite des Landes bekannt und beinhaltete neben der Kleinstadt Adlerstal weiters die Hauptstadt, Bronzestadt, sowie das kleine Dorf Altfelde an der östlichen Grenze des Landes. Dieses wurde allerdings seit Jahrhunderten nicht mehr bewohnt. Es lag nahe, dass die Anstalt in Adlerstal eigens von Menschen aus Eden und somit Auszubildenden aus vermögenden Familien besucht werden konnte. In dieser Region gab es keine mittellosen Häuser. Wären sie unbemittelt, blieb ihnen keine andere Wahl als die Flucht nach Hel zu ergreifen.
Adlerstal war eine äußerst moderne Stadt, die besonders strukturiert war und mehrere befestigte Wege und Straßen bot, damit sich die Einheimischen rasch und sicher fortbewegen konnten. Das Zentrum der Stadt bot einen Marktplatz, der belebt von zahlreichen wohlhabenden Geschäftsleuten war, welche die neuwertigsten Waren anboten. Obwohl das Waldlande für artenreiche Bäume bekannt war, mussten diese in Adlerstal lange gesucht werden. Einzig ein gegenüber der Lehranstalt geschaffener kleiner Park mit Bäumen, die in gütigem Abstand eingepflanzt worden waren, versprühte noch eine gewisse Atmosphäre der einstigen Waldlande.
Ein Leben in dieser schönen Region war geprägt von harter Arbeit, dies war der allgemeine Tenor aller. Daher pochten Eltern bei ihren Nachkommen ohne Kompromisse auf Ordnung, Fleiß und Ehrgeiz, wobei Faulheit und jegliche Schwäche nicht toleriert wurden. Dabei kam nicht selten vor, dass Kinder von ihren Erzeugern verstoßen wurden, da diese der Meinung waren, ein Leben im Überfluss nicht verdient zu haben. Nicht das Glück und die Tatsache in Eden geboren zu werden, sollte über ein Bleiberecht entscheiden, sondern der Verdienst von harter und schonungsloser Arbeit. Alle diese Bedingungen und ungeschriebenen Gesetze waren den Kindern von Beginn ihres Lebens an eingebläut worden, um den Traum von Eden fortwährend erhalten und beschützen zu können.
Dabei gab es für die Nachkommen keine größere Motivation als der Anblick von Hel selbst. Anjo und seine Gruppe kannten einige Auszubildende aus Helheim, der angrenzenden Nachbarstadt von Adlerstal. Die Schlafunterkünfte der Auszubildenden der beiden Städte trennte nur ein großer Park, der die Grenze zwischen Helheim und Adlerstal sowie den Regionen Hel und Eden darstellt. Geteilt wurde das Lande vor 35 Jahren, wobei Helheim damals noch nicht existierte, da Adlerstal aus beiden Städten bestand und erst mit der Teilung halbiert wurde. Bis dahin waren Unterkünfte und Lehranstalten der beiden Städte noch mit allen gesellschaftlichen Schichten durchgemischt. Dies führte keineswegs zu Problemen, im Gegenteil, zahlreiche Freundschaften entstanden über die diversen Ortschaften verteilt und niemand fragte nach dem Besitz seines Gegenübers.
Allerdings gehörte dies nun der Vergangenheit an, ohne Ausnahme war mit der Zeit nur noch in den eigenen Kreisen verkehrt worden. Die kürzliche Ziehung einer Grenze und das Ausrufen von zwei unterschiedlichen Regionen stellte das Leben im gesamten Lande auf den Kopf. Niemand aus Eden durfte Gespräche mit Menschen aus Hel führen, geschweige denn jemanden aus Hel zu lieben oder zu begehren. Dies war besonders von der geküssten Seite des Landes, wie die Menschen von Eden gerne betonten, eisern hochgehalten und gelebt worden. In der Region Hel war diese Abneigung stets mit Bedauern aufgenommen worden, dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich den Bestimmungen zu fügen und die Distanz zur gesellschaftlichen Oberschicht zu halten. Die Bewohner und Bewohnerinnen der größeren westlichen Seite waren machtlos - das Sagen hatten andere. Das Waldlande war von einer offiziell gewählten Fraktion geführt worden, die sich alle fünf Jahre der Wahl stellen musste und nun seit 1957 ununterbrochen die Geschicke des Landes leitete, »der Zirkel«.
Mit der uneingeschränkten Kontrolle über das Waldlande konnten die zehn Fraktionsangehörigen des Zirkels ihre Wünsche und Vorstellungen ausleben und schrittweise einführen. Da das Lande, nach Meinung des Zirkels, nur einen Nutzen von besitzstarken Familien hatte, war fortwährend die vermögendere Region des Landes modernisiert und verschönert worden. Im Jahre 2000 war anschließend mit der Teilung des Landes eine neue Zeitrechnung eingeführt worden, die speziell für Eden schlagen sollte.
Über Nacht waren die Menschen aus Hel zu Abschaum und Ausgestoßenen aus der Gesellschaft geworden, denen kein Blick gewürdigt wurde und die lediglich lebten, um den Aufträgen aus Eden zu dienen. Dabei war es ihnen nicht gestattet, auch nur einen Fuß nach Eden zu setzen, denn die dort lebenden Menschen hatten Angst ihres Reichtums beraubt zu werden. Mit der Einführung einer Grenze war diese Angst Vergangenheit, ab dann waren die besitzstarken Familien endlich unter sich.
Wenige Augenblicke nach dem Glockengeläut trat Lehrmeisterin Xuan, eine mit 35 Jahren äußerst junge Lehrkraft, in den Raum ein. Artig wurde sie von ihren Auszubildenden begrüßt. Sie strahlte beharrlich eine gewisse Portion Verbissenheit aus und war zu jeder Zeit ihres Lebens enorm unter Stress. Daher war es keineswegs eine Überraschung, dass sie eintrat und ohne jegliche Umschweife mit dem Lehrvortrag fortfuhr.
»Liebe Auszubildende, wir machen unmittelbar dort weiter, wo wir zuletzt aufhören mussten. Bitte öffnet in eurem Geschichtsbuch Seite 333.« Unverzüglich gehorchten die Jugendlichen und blickten beflissen in deren umfangreiches Buch.
»Flora, bitte lese an der zuletzt markierten Stelle weiter. Der Rest lauscht sittsam.«
Die Auszubildende räusperte sich und strich mit ihren zarten Fingern ihre langen schwarzen Haare hinter die Ohren. Normalerweise kamen bei ihr nun glitzernde Ohrringe zum Vorschein, allerdings war in der Lehrzeit jeglicher Schmuck nicht gestattet. Jeder und jede Auszubildende in Adlerstal hatte die idente Uniform zu tragen. Über dieses geschlossene Auftreten war Flora keineswegs erfreut, denn sie zeigte sich gerne in bunten Kleidern. Dadurch konnte sie aus ihrem grauen Dasein ausbrechen, das sie seit dem Tod ihrer Mutter umhüllte. Ihr blieben in ihrem Zuhause nichts als Stress und zu ihrem Glück Bücher, in die sie leidenschaftlich gerne ihre Nase gesteckt hatte.
Mit zurückhaltender und sanfter Stimme begann die 18-Jährige zu lesen. »Der Rebellionsanführer Hektor rief seinen Anhängern lautstark zu. >Meine lieben Mitstreiter, beruhigt euch. Solange wir wirr durcheinanderreden, ist keine Kommunikation möglich< Doch seine ruhige Stimme drang nicht in die Ohren der spärlich anwesenden Wütenden. Seine rechte Hand Zlatan bemerkte dies und brüllte den Schäumenden entgegen, ruhig zu sein. Stille kehrte ein und Hektor konnte fortfahren.
>Das Adelshaus wurde unterwandert. Diese für uns bedrohliche Entwicklung fand schleichend über mehrere Jahrzehnte statt und führt unser Lande in ein Elend, in eine Abhängigkeit, die wir nicht dulden können und dürfen< Seine Zuhörer wirkten aufgebracht, beinahe fassungslos über das, was sie zu hören bekamen. Doch nicht der Inhalt konsternierte sie, sondern Hektor, den sie für einen gefährlichen, kranken Mann hielten. Das Adelshaus war gütig und gerecht, welcher Laus konnte sich in Hektors Kopf nur festgesetzt und in ihm solche Gedanken verursacht haben? Bestürzt sahen die Anwesenden zu Hektor und Zlatan auf, die durch Zlatans dargestellter Brutalität immens eingeschüchtert waren.
Niemand erwog Hektor Gegenkehr zu geben, zu groß war die Angst vor Zlatan, dem Friedensstörer.
Hektor vernahm von seiner Erhöhung ein zustimmendes Nicken seiner Verbündeten und führte fort. >Ich habe alles Mögliche versucht, um mit dem Adel zu sprechen und sie davon abzubringen, diesen Weg der Abhängigkeit einzuschlagen. Leider stieß ich bloß auf taube Ohren und vergiftete Herzen< Hektor senkte dramatisch seinen Kopf, er wirkte verzweifelt. >Mir ist Hochverrat vorgeworfen worden, wodurch zugleich ihr, da ihr nun meinen Worten lauscht, Hochverrat begeht<
Schlagartig ging ein Raunen durch das anwesende Volk. Die Skepsis gegenüber Hektor und seinem geplanten Aufstand gegen das gutartige Adelshaus wuchs in unvorstellbare Höhen. Abschreckende Geschichten von vergangenen Verbrechen gegenüber dem Adel und der folgenden Bestrafungen tauchten in den wenigen Köpfen auf. Keineswegs wollte irgendjemand gehängt oder noch schlimmer auf unvorstellbarste Weise verbrannt werden. Diese drohenden Szenarien machten ihnen Angst, sodass sie mit schnellstem Fuß die Versammlung hinter sich ließen und sich die kommenden Tage zur Sicherheit in den eigenen Wänden einsperrten.
Einige wenige Anhänger von Hektor blieben jedoch und verschworen sich mit dem Rebellionsanführer gegen den Adel. Großen Anteil daran hatte Zlatan, der mit seinen fokussierten Augen den Haufen musterte und folglich noch mehr Angst verbreitete als die Todesstrafe des Adels. Zlatan hatte ein hervorragendes Gedächtnis, das ihn dabei unterstützte, alte Feinde selbst nach langer Zeit wiederzuerkennen. Sobald er sich ein Gesicht eingeprägt hatte, war dieses seinen Ideen ausgeliefert, dessen waren sich die kümmerlichen Anwesenden bewusst.«
Lehrmeisterin Xuan unterbrach Flora. »Was hältst du davon, wenn Menschen psychisch unter Druck gesetzt werden und was macht dies folglich mit einem Individuum?«, fragte Xuan die Auszubildende Flora.
Überrascht über die Frage, kam Flora ins Stottern. »Ehm, ich, ich kann dies nicht nachvollziehen, bekanntermaßen hemmt solcher Druck den Menschen und blockiert sein natürliches Ich. Zlatan nutzte seine Kraft und Brutalität aus, um die anderen gefügig zu machen.«
»Kann dies auf Dauer gutgehen?«, fragte Lehrmeisterin Xuan abermals nach.
Betroffen und traurig sah Flora zu ihrer Lehrmeisterin auf. »Ich denke nicht. Wenn sich ein Mensch nicht entfalten kann, werden sich über kurz oder lang Defekte in der Psyche kenntlich machen.«
»Gut gemacht Flora, dein Wissen wird der Waldlande in ein paar Jahren enorm zunutze werden. Eines noch, was denkst du über Hektor?«
»Ich empfinde es als großen Fehler, was er macht, denn im Adelshaus saßen die für das Waldlande besten Köpfe und deren Entscheidungen mussten akzeptiert werden. Wie kommt ein einzelnes Individuum dazu, seine unbedachte Meinung über die Entscheidung von Experten zu stellen?« Flora war wieder gefasster geworden, unzählige Male hatte sie sich bereits mit dieser Rebellion mit Hilfe von Geschichtsbüchern beschäftigt.
»Denkst du, eine solche Rebellion wäre heute noch möglich? 300 Jahre später?«, fragte die Lehrmeisterin.
»Ich denke nicht. In meinem Freundeskreis und überdies zuhause hätte ich noch niemals Kritik über den Zirkel gehört.« Die gefestigte und sichere Art, mit der Flora dies aussprach, spiegelte allerdings keinesfalls ihre Haltung wider. Nervös blickte sie zu Adeva, mit der sie seit einem Jahr liiert war.
Lehrmeisterin Xuan war erfreut und lächelte ihr zu. »Gut. Anjo, bitte weiterlesen.«
Anjo, benannt nach einem Urahnen, freute sich, weiterlesen zu dürfen. Sein kurzes blondes Haar war stets perfekt zur Seite gekämmt, dies betonte insbesondere sein schmales Gesicht. Geboren wurde der sprachgewandte Jugendliche in Bronzestadt, wobei sein Vater ein aktives Mitglied des Zirkels war und somit seine Familie in reichen Gefilden verkehrte. An den muskulösen Oberarmen war rasch erkennbar, wie sportlich begabt er war, wobei er sich dennoch mehr für Politik interessierte. Gleich seinem Vater hegte er lediglich einen Traum - eines Tages ebenfalls Mitglied des Zirkels zu werden und die Geschicke über das Lande zu lenken.
»Der Rebellionsanführer und seine wenigen Gefährten zogen los, um den Adel zu stürzen. Gleichwohl überlebte dieser Wunsch nicht allzu lange, es führte kein Weg an den Wachen des Adelshauses vorbei. Von Beginn an war dieser Kampf zum Scheitern verurteilt gewesen, denn die karge Anzahl an Rebellen stellte niemals eine ernstzunehmende Gefahr für das Adelshaus dar. Den verschiedenen Geschichtsbüchern zufolge dauerte die Rebellion ganze vier Jahre, jedoch spielte sich diese hauptsächlich in den Köpfen weniger ab. Der Kampf und somit das Ende der Rebellion gegen das Adelshaus, war 1737 an nur einem Tag problemlos von den Wachen des Landes geschlagen worden.
Daraufhin setzte der Adel ein mächtiges Statement, um vor künftigen Schnellschussreaktionen und weiteren Rebellionen abzuraten. Sämtliche Familienmitglieder der Rebellen waren aufgesucht und wegen Hochverrat hingerichtet worden. Der Vollzug ging mit Hilfe einer großen Statue eines Adlers aus Bronze, die bis heute in Bronzestadt am Hauptplatz emporragt, vonstatten. Die Statue hat am Hinterteil eine winzige Öffnung, durch die schändliche Menschen in das Innere geschoben werden konnten. Bei schmalen Körpern ließ es sich einrichten, zwei Menschen gleichzeitig hinzurichten. Unter dem Adler befand sich eine Feuerstelle, die entfacht worden war, sobald die Angeklagten im Körper der Statue waren. Durch das einzigartige Luftsystem im Adler waren die Todesschreie derart verstärkt, wodurch diese laut Zeugenberichten im gesamten Lande zu hören waren.«
Lehrmeisterin Xuan musterte an dieser Stelle des Buches üblicherweise die Gesichter der Auszubildenden, um deren Gefühlsregung zu beobachten. Ein Teil war schockiert, ob dieser Brutalität der Hinrichtung. Andere waren fasziniert und wirkten erfreut, endlich die Wahrheit über den bronzenen Adler erfahren zu haben. Alle in der Gruppe sahen ihn bereits hautnah am Hauptplatz von Bronzestadt, nur kannte niemand dessen Historie und Bedeutung.
»Hektor, der Rebellionsanführer, musste zusehen, wie seine Frau und Kinder hingerichtet worden waren, ehe die Wachen des Landes ihn und seine Verbündeten in den verfluchten Hundert-Tode-Wald verbannten. Bis zum heutigen Tag war keiner der Rebellen je wieder gesichtet worden.«
»Danke Anjo, denkst du, diese Rebellion hatte einen Zusammenhang zur Rebellion 120 Jahre später?«, fragte Xuan ihren Auszubildenden.
»Ich denke nicht, da die Rebellionsanhänger und alle ihre Familienmitglieder hingerichtet oder vertrieben worden waren und somit die Glut gelöscht werden konnte. Dennoch bin ich der Meinung, wie übrigens ferner meine Eltern, dass damals die Saat des Hasses gesät worden war, die 120 Jahre später bei der zweiten und leider erfolgreichen Rebellion geerntet worden war. Lange Zeit mussten wir unter dieser Tragödie leiden, trotzdem bin ich der Überzeugung, dass unser Lande dank des Zirkels wieder auf dem rechten Weg ist.«
»Großartig Anjo, eine hochgradig reife Meinung, mit der du und deine vorbildhaften Eltern sicherlich nicht allein dastehen«, sagte Lehrmeisterin Xuan und zwinkerte ihrem Vorzeige-Auszubildenden zu. Der Rest der Gruppe wollte der Lehrmeisterin ebenfalls vermitteln, derselben Meinung zu sein, wodurch eine offene Befürwortungsrunde entstand, in dem die Arbeit des Zirkels honoriert wurde. Xuan ließ ihre Auszubildenden reden und war äußerst zufrieden, wie energisch sich die Diskussion entwickelte und wie rege sich alle beteiligten.
»Sie sollten alle bestraft werden, für das, was ihre Vorfahren während der Rebellion angestellt haben. In ihnen fließt dasselbe Blut und solange noch einige von denen draußen herumlaufen, können wir uns nicht sicher fühlen«, rief Milan hinaus. Alle applaudierten und nickten sich gegenseitig anerkennend zu. Die Lobhuldigungen des Zirkels und der Hass gegen die Rebellion dauerten bis zum fünfmaligen Glockengeläut an, ehe die jungen Auszubildenden sich auf den Weg in einen anderen Raum begaben und eine zufriedene Lehrmeisterin hinterließen. Sie war augenscheinlich stolz und begeistert von ihrer Gruppe.
Mit dem siebenmaligen Glockengeläut kehrten die Auszubildenden der neunten Stufe aus ihrer Essenspause zurück. Pünktlich fand sich desgleichen der Lehrmeister für Landkunde, Aviv, im Raum ein. Trotz seines hohen Alters von 63 Jahren behielt er mit seinen kurzen grauen Haaren und gestutztem Vollbart stets ein verführerisches Aussehen. Zudem trug er jederzeit unzählige Armbänder, die zum Teil seinen Unterarm bedeckten. Geboren war er in einem damals noch vereinten Adlerstal worden, vor der Teilung des Landes in zwei Regionen.
Seine Ausbildung als Lehrmeister schloss Aviv mit 30 Jahren ab, wodurch er mit den Jahren reichlich an Erfahrung sammeln konnte und bereits zahlreiche Zirkelmitglieder lehren durfte, wie beispielsweise Anjos Vater, Arvid. In Landkunde konnte Aviv niemand die Stirn bieten, er wanderte bereits durch das gesamte Waldlande und las sämtliche Bücher, die ihm in die Quere kamen. Tagtäglich jagte er neuen Entdeckungen und Erfahrungen nach, der Durst nach Neuem schien sich nie stillen zu lassen.
Als Aviv den Raum betrat, blickte er in erschöpfte Gesichter, dies war für ihn kurz nach der großen Essenspause keine Überraschung, sondern alltägliche Normalität. Aviv war bekannt, dass die Lehrvorträge beim siebenmaligen Glockengeläut regelmäßig eine Herausforderung waren und die Auszubildenden erst aus ihrer Müdigkeit befreit werden mussten. Ebenso wusste er, welch hoher Druck auf den Aufzuklärenden lastete. Die tagtägliche Menge an Neuigkeiten, die aufgenommen werden mussten, war nach Meinung von Aviv nicht endend wollend. Somit hatte er großes Verständnis für die Erschöpfung der Auszubildenden und versuchte in seinen Vorträgen stets mit einem sachten Tempo zu starten, ehe sich Besserung sichtbar machte.
»Liebe Auszubildende, ich hoffe, ihr habt gut gespeist und könnt nun einen Teil eurer kostbaren Energie für Landkunde aufwenden. Ist dies für den heutigen Tag euer letzter Vortrag und könnt ihr mit dem Klang von acht Glocken den Heimweg in die Unterkunft antreten?«, fragte Lehrmeister Aviv.
Rasch kamen ihm jede Menge erfreute Zustimmungen und Kopfnicken entgegen, wodurch Aviv erleichtert war, diese mitleiderregenden jungen Menschen nicht allzu gequält zu sehen. Aviv konnte sich nicht erinnern, damals eine ähnliche schonungslose Ausbildung zum Erwachsenen durchgemacht haben zu müssen.
»Heute widmen wir uns dem südlichsten Gebiet unserer Fünf Lande, dem Südlande. Dieses ist extremen Bedingungen ausgesetzt, über das gesamte Jahr herrschen durchwegs unmenschlich hohe Temperaturen. Diese sollen die Menschen angeblich von Zeit zu Zeit verrückt machen und im schlimmsten Falle zum Tode führen. Für uns völlig unvorstellbar, wie sich solch eine glühende Hitze anfühlen muss, sind die Menschen aus dem Südlande den Gegebenheiten Tag und Nacht ausgesetzt. Die Wenigen, die eine Reise aus den Waldlande in das Südlande wagten, kehrten entweder an der Grenze bereits um oder verloren ihr Leben, weil sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Wie es dazu kommen kann, dass die Sonne in diesem Lande über das gesamte Jahr hinweg ununterbrochen stärker scheint als bei uns oder in Westlande, dieses Phänomen konnte bis zum heutigen Tage nicht geklärt werden.«
Für die Auszubildenden war spürbar, wie Lehrmeister Aviv jedes Mal in seinem Element war, sobald er mit seinem Lehrvortrag startete. Er lebte für seine Arbeit und damit seine Berufung, Jugendlichen die Fünf Lande anschaulich zu erklären und nahezubringen. Der größte Traum von Aviv war, die gesamten Fünf Lande zu bereisen, allerdings verhinderten immerwährend unterschiedliche Gründe und Vorfälle dieses imposante Unterfangen. Mittlerweile war er in einem hohen Alter angekommen, das seinen Traum nicht unbedingt erschwinglicher gestaltete.
»Ebenfalls ist uns überliefert worden, dass der nördliche Teil vom Südlande ungemein hügelig und gemäßigter zu beleben ist. Je weiter in den Süden vorgedrungen wird, desto heißer werden die Temperaturen und mehr Sand verteilt sich über den verbrannten Boden. Im Südosten soll sich eine unbewohnbare Wüsteninsel befinden, doch darüber sind leider nicht mehr Details bekannt, was ich zutiefst bedauere.«
Dem Lehrmeister Aviv war anzusehen, wie gerne er dieses Geheimnis für sich gelüftet hätte, trotzdem war es kaum möglich solcherlei Details zu erfahren, denn einen offiziellen Austausch mit dem Südlande gab es seit hunderten von Jahren nicht mehr. Daher war Aviv, wie ebenso die Auszubildenden, an Erzählungen und Überlieferungen von vor langer Zeit angewiesen. Welche Entwicklung das Südlande mittlerweile vollzogen hatte, ging somit spurlos an Aviv vorbei.
»Hat jemand von euch eine Ahnung, wie über das Südlande geherrscht wird?«, fragte Aviv in die Runde.
Niemand antwortete, womöglich waren alle überrascht, nach dem langen Vortrag eine Frage gestellt zu bekommen.
»Anhand der letzten Überlieferungen wird das Südlande von einem König regiert. Nach Berechnungen und losen, geheimen Kontaktversuchen müsste derzeit der 41. König des Landes an der Macht sein, welcher ein hohes Ansehen unter seinem Volk genießen soll, wie überraschenderweise alle vergangenen Könige aus diesem Lande. Mir wurde überliefert, dass die Menschen dort stets ihre Könige verehren und huldigen, egal welche Entscheidungen von diesen getroffen worden waren.«
Aviv führte fort. »Historisch sind weder Widerstände noch Aufstände gegen die Herrschaft der Könige bekannt, obwohl die Macht mancherlei Könige in einer unvorstellbaren Tyrannei ausartete. Aber davon habt ihr bestimmt bereits von Lehrmeisterin Xuan gehört.«
Anjo signalisierte eine Frage stellen zu wollen, dieses Thema schien ihn besonders zu interessieren. »Ist es nicht vernünftig, die Worte und Entscheidungen des Königs zu akzeptieren und als Gesetz zu betrachten?«, fragte Anjo überzeugt.
»Würdest du behaupten, es sei vernünftig und gut?«, antwortete Aviv mit einer Gegenfrage.
»Ja, natürlich. Wir haben gleichfalls unseren Zirkel gewählt und richten uns nach deren durchdachten Entscheidungen.«
»Genau das ist der Unterschied, die Mehrheit der Wählenden in Waldlande hat den Zirkel gewählt, das Volk im Südlande kann sich deren Herrscher allerdings nicht aussuchen. Der Titel des Königs wurde bislang stets vom Vater zum Sohn weitervererbt, seit knapp 1.600 Jahren.«
Durch diese Feststellung fühlte sich Milo bemüßigt, seine Gedanken mit den anderen zu teilen. Er streckte seine Hand über seinen Kopf, welchen kurze braune Haare zierten, die stets zerzaust in die Luft ragten. Wie die meisten Menschen in Waldlande, war er mit leuchtend grünen Augen versehen. Eine allzu große Laufbahn nach der Ausbildung erwartete er von sich selbst nicht, zu durchschnittlich waren seine Fähigkeiten und folgend gedämpft die Erwartungen. Die Fußstapfen seines Vaters, der als bekannter Architekt hohen Status im Lande genoss, waren für Milo nicht in Reichweite.
»Das Adelshaus war damals auch nicht gewählt worden und die Menschen waren zufrieden«, sagte ein überzeugter Milo.
Erstaunt blickte Lehrmeister Aviv auf und wendete sich an den Auszubildenden. »Waren tatsächlich alle damit zufrieden? Wieso kam es dann zweimal zu einer Rebellion?«, fragte er eifrig nach.
Diese Fragen veranlasste Anjo, sich abermals einzubinden. »Es wird immer Querdenker geben, die ein Problem mit deren eigenem Versagen und jämmerlichen Leben haben. Nur weil sie sich selbst nicht ertragen können, wollen sie ferner andere dafür leiden sehen.«
Dies kostete Lehrmeister Aviv ein Grinsen. »Dieser Ansicht sind unzählige Menschen in diesem Lande, besonders in Eden. Es ist aber essenziell, ebenso andere Ansichten und Meinungen wahrzunehmen und zu akzeptieren, sonst entsteht Unmut und in weiterer Folge eine Rebellion.« Aviv beobachtete, welch Wut seine Worte in Anjo auslösten.
»Sind sie auf der Seite der Rebellen?«, fragte Anjo ungehalten mit bissigem Ton. Der Rest der Gruppe schien schockiert über diese Frage und wartete gespannt auf die Reaktion des Lehrmeisters.
Dieser blieb jedoch ruhig und sachlich, wie eh und je. »Anjo, ich muss euch beibringen, über das Augenscheinliche hinauszublicken. Nur weil eure Freunde und eure Familie glücklich sind, bedeutet es noch lange nicht, alle Menschen in Waldlande würden desgleichen empfinden. Wenn wir anderen Meinungen aufdrängen und sie zu gewissem zwingen, nehmen wir ihnen deren zustehende Freiheit. Wir rauben sie ihnen, indessen ist die Freiheit unser allerhöchstes Gut. Es muss möglich sein, dass jeder seine Meinung frei kundtut. Woran denkt ihr liegt es, dass die Könige im Süden auf derartige Weise verehrt werden?«
Totenstille breitete sich im Raum aus, während die Luft mit jedem Augenblick dünner wurde. Da niemand antwortete, führte Lehrmeister Aviv fort. »
Könnte es nicht daran liegen, dass die Menschen im Südlande gezwungen und mundtot gemacht wurden? Deren Freiheit ist nicht ansatzweise mit unserer Freiheit zu vergleichen und trotzdem sind sie vermutlich glücklich, da sie es nicht besser wissen.«
Die Auszubildenden wussten nicht, was sie darauf erwidern sollten und was der Lehrmeister versuchte, ihnen weiszumachen. »War er ein Anhänger der Rebellion und sollte dem Zirkel gemeldet werden«, fragte sich Milo insgeheim. Misstrauisch blickten sich die Anwesenden in die Augen und vermuteten denselben Gedanken zu haben.
Das Schweigen war allerdings erst durch Haru beendet worden. »Aber die Leute aus Hel können doch in Freiheit leben, ihr Gebiet ist sogar größer als unseres. Sie haben somit mehr als ihnen zustehen sollte, dafür könnten sie sodann einfach dankbar sein.«
»Tatsächlich hat Hel eine größere Fläche als Eden, aber gibt es nicht dafür einen Grund, warum sie in einem größeren Gebiet leben? Warst du schon einmal in der Region Hel?«, fragte Aviv nach.
Haru schüttelte den Kopf.
»War überhaupt einer von euch schon mal dort? Ich gehe nicht davon aus, da es seit eurer Geburt verboten ist. Die Landschaft in Hel ist noch wie seit Anbeginn der Zeit, Wälder wohin das Auge reicht und darum trägt unser Lande diesen Namen, Waldlande. Obgleich die Wälder bedauerlicherweise immer weniger werden, wurde befohlen diese roden zu lassen und damit den Reichtum in Eden auszubauen und fortwährend zu garantieren.«
Lehrmeister Aviv bemerkte seine innere Wut und wie er sich durch sein Reden in eine verzwickte und gefährliche Lage versetzte, doch konnte er sich nicht zügeln.
»Wie euch auffällt, gibt es in Eden kaum noch Wälder, da sie längst beseitigt worden sind, um immer mehr und modernere Gebäude zu schaffen. Dabei wurde übersehen, gleichzeitig neue Bäume zu pflanzen und somit die Wälder am Leben zu halten. Denn Bäume und Pflanzen, die uns von der atemberaubenden Natur geschenkt wurden, sind lebensnotwendig für uns Menschen.« Kurz musste der Lehrmeister verschnaufen. »Oder seid ihr anderer Meinung?«, fragte Aviv interessiert nach.
Keinerlei Regung in der Gruppe, woraufhin der Lehrmeister sichtlich enttäuscht war, denn derartiges hätte den Auszubildenden mittlerweile in Naturlehre beigebracht werden sollen. Als Aviv einst neben Landkunde zusätzlich Vorträge über Naturlehre hielt, war dies zumindest noch in den Büchern enthalten. Allerdings würde es ihn nicht überraschen, wenn dies den jährlichen Änderungswünschen des Zirkels ebenfalls zum Opfer gefallen war.
Lehrmeister Aviv redete sich ein Stück weit in Rage und ertappte sich selbst dabei. Daher war er erfreut über das achtmalige Glockengeläut, wodurch er den Raum schleunigst verlassen konnte, ehe er mehr Schaden anrichtete. Die Auszubildenden unterhielten sich jedoch anschließend über das gerade Geschehene. Sie flüsterten sich zu, damit niemand Falsches davon Wind bekam.
»Der alte Aviv wird immer schräger im Kopf. Natürlich ist es seine Aufgabe uns aufzuklären, doch wirkt er offen und freundlich Hel gegenüber«, merkte Anjo an.
»Den brauchen wir nicht ernst nehmen, ich habe von meinen Eltern gehört, dass der Alte seit langer Zeit an Verwirrtheit erkrankt sein soll«, sagte Vesna, die Partnerin von Anjo. »Und wenn ich ihn derart reden höre, muss es definitiv die Wahrheit sein.« Gelächter brach aus, als Vesna ihren Satz zu Ende brachte.
Ein anstrengender Lehrtag ging für die Auszubildenden zu Ende, es war keineswegs einfach, derart massenhaft Informationen aufzunehmen, doch war deren Lehranstalt auch als die beste des Landes bekannt. Somit war es kein Wunder, welch Herausforderung auf die jungen Menschen wartete, denn ein Abschluss konnte ein künftig sorgenfreies Leben garantieren. Die meisten ehemaligen und aktuellen Zirkelmitglieder besuchten einst diese Lehranstalt, wodurch sämtliche Familien in Eden ihr gesamtes Hab und Gut zusammenscheffelten, um ihren Nachwuchs ebenfalls hier ausbilden zu lassen, damit diese eines Tages ähnlich gute Menschen wie sie werden würden.