Die Schläferin - Ines Allerheiligen - E-Book

Die Schläferin E-Book

Ines Allerheiligen

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Beschreibung

Mossul zur Zeit der IS-Herrschaft: Aliya wächst in einer von Tradition, Glauben und strengen Vorschriften geprägten Welt auf. Ein Leben, das von Gehorsam und religiöser Strenge geprägt ist. Sie gelangt durch eine arrangierte Ehe mit einem jungen Arzt nach London - in eine ihr fremde, kalte und gottlose Gesellschaft. Aliya sucht im Konflikt zwischen Heimweh und innerer Zerrissenheit Zuflucht in einer Moschee und entdeckt dort eine Gemeinschaft von Frauen mit ähnlichen Überzeugungen. Was anfangs wie Freundschaft aussieht, stellt sich bald als ein gefährliches Netz extremistischer Gedanken heraus.

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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Mossul – 2015

London

Geheime Treffen

Gefährliches Spiel

Ein Zeichen

Neue Pläne

Der Anschlag

Ein neues Leben

Mossul – 2015

Die Stadt ächzte unter der erbarmungslosen Mittagshitze. Die Luft flimmerte über den rissigen Asphaltstraßen, wo sich kleine, trügerische Pfützen wie flüssiges Silber sammelten – nur Illusion, geboren aus der Hitze. Die Menschen hatten sich längst in ihre Häuser zurückgezogen, Schutz suchend vor der sengenden Sonne. Selbst die Schatten wirkten stumpf und kraftlos, als hätte die Hitze ihnen jede Tiefe geraubt. Die Fensterläden der meisten Gebäude waren geschlossen. Die Temperaturen waren in dieser Woche auf unerbittliche 43 Grad gestiegen. Der Himmel spannte sich wolkenlos und bleiern über der Stadt, ein endloses Blau ohne Gnade, eine Abkühlung war nicht in Sicht. Man konnte den Staub förmlich auf den Lippen schmecken. Er legte sich auf die Haut, mischte sich mit dem Schweiß und bildete einen dünnen Film, der sich kaum wegwischen ließ. Die Pflanzen in den Vorgärten standen mit hängenden Blättern da, verdorrt und brüchig wie altes Papier.

Mossul, die zweitgrößte Stadt im Irak, gleich nach Bagdad, lag am westlichen Ufer des mächtigen Tigris, der im Osten der Türkei entsprang. Sein Wasser schnitt sich durch die Landschaft, schlängelte sich durch karge Ebenen und fruchtbare Täler, bevor er die syrische Grenze streifte und weiter nach Süden floss. Dort vereinte er sich mit dem Euphrat und gemeinsam zogen sie als gewaltiger Strom durch das Herz Mesopotamiens, bis sie schließlich im Persischen Golf verschwanden.

Der Tigris war das Lebenselixier dieser Stadt, doch in der glühenden Hitze des Sommers schien selbst sein Wasser langsamer zu fließen. Am Ufer waren pudrige Staubschichten abgelagert, die vom Wind in alle Himmelsrichtungen verstreut wurden.

Mossul, eine Stadt voller Geschichte und Vielfalt, war geprägt von ihren zahlreichen Moscheen, deren Minarette sich stolz in den Himmel reckten. Besonders auffällig war die große Moschee des Al-Nuri, deren kunstvoll verzierter Turm das Wahrzeichen der Skyline von Mossul darstellte. Sie war ein Ort des Gebetes, aber auch ein Symbol kultureller Identität und architektonischer Meisterleistung.

Mit der Entdeckung von Öl im 20. Jahrhundert wandelte sich die Stadt rapide. Der neugewonnene Wohlstand zeigte sich in Form moderner Gebäude, die zwischen traditionellen Bauten entstanden. Ölraffinerien schossen aus dem Boden und erstreckten sich über die ganze Umgebung. Es entstand eine neue Infrastruktur mit neuen Straßen, Brücken und Versorgungseinrichtungen, um die wachsende Bevölkerung und Industrie zu unterstützen. Aber Mossul blieb auch weiterhin eine Stadt, die ihre Geschichte nicht vergaß. Die alten Moscheen, die Basare und die engen Gassen erzählten weiterhin die Geschichten aus vergangenen Jahrhunderten.

Doch die friedliche Vielfalt, die Mossul einst auszeichnete, war zerbrochen. Viele Menschen hatten die Stadt in den letzten Jahren verlassen. Im Juni 2014 war Mossul in die Hände des sogenannten Islamischen Staates gefallen. Die brutale Eroberung veränderte die Stadt unwiderruflich.

Mossul war einst eine Stadt unterschiedlichster Kulturen und Glaubensrichtungen. Kurden, Jesiden, Araber, Schiiten, Sunniten und Christen lebten hier nebeneinander. Ihre Sprachen und Traditionen prägten das Stadtbild und wurden je zerstört durch den Einmarsch der Dschihadisten.

Besonders die Christen litten unter der neuen Herrschaft. Sie wurden vor die Wahl gestellt: entweder zum Islam zu konvertieren, die Stadt zu verlassen oder hingerichtet zu werden. Die Straßen, einst erfüllt von lebhaftem Miteinander, wurden leerer. Häuser standen verlassen, ganze Viertel wirkten wie ausgestorben.

Seitdem herrschten die strengen Regeln des sogenannten Kalifats. Die Scharia wurde mit eiserner Härte durchgesetzt, und das Leben in Mossul veränderte sich dramatisch.

Das Leben in Mossul war nun von ständiger Kontrolle und Furcht geprägt. Für alles gab es Vorschriften und harte Strafen. Männer mussten ihre Bärte lang tragen – ein Symbol der vermeintlichen Rechtschaffenheit. War ein Bart nicht lang genug, folgte eine Geldstrafe von 10.000 Dinar. Auch die Kleidung wurde kontrolliert: War eine Hose nicht kurz genug, gab es zehn Peitschenschläge als Strafe. Doch diese Regeln waren nur der Anfang. Handys wurden verboten, ebenso wie das Internet, Zigaretten, Fotos, Wasserpfeifen und Musik. Alles, was als unislamisch galt oder die Kontrolle der Herrschenden gefährden konnte, wurde rigoros unterdrückt.

Doch wie so oft galt auch hier: Die Regeln trafen nicht alle gleichermaßen. Ausländische IS-Kämpfer genossen Sonderrechte. Ihnen war es gestattet, Internetcafés zu besuchen, während die Einheimischen völlig von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Die Straßen, einst erfüllt von Stimmen und Leben, waren nun still und angespannt. Ein falsches Wort, ein unpassender Blick – schon drohten Strafen, die alles nur noch schlimmer machten.

Das Stadtbild hatte sich verändert. Die Gesichter der Bilder in der Stadt, selbst von Tieren, waren übermalt worden. Die Köpfe von Skulpturen in den Parks, Museen oder öffentlichen Plätzen waren abgeschlagen. Nur Allah sollte die Macht haben, Geschöpfe zu erschaffen.

Die neuen IS - gesteuerten Behörden erhoben auf alles eine Steuer. Wer diese nicht zahlen konnte, musste mitkämpfen. Die traditionellen Lehrbücher in den Schulen wurden verbrannt und es gab neue Lehrbücher. In denen lernten die Kinder etwas über den Zusammenbau von Waffen, wie man diese bediente, wie man einen Panzer fuhr, und sie sahen Videos von Enthauptungen Ungläubiger.

Aliyas Familie gehörte zu denjenigen, die unter der neuen Herrschaft besonders litten. Ihr bescheidenes Einkommen reichte kaum aus, um die ständigen Forderungen der Besatzer zu erfüllen. Für viele Familien war es möglich, ihre Söhne mit Bestechungsgeldern oder Beziehungen vom Schulbesuch fernzuhalten, wo die Ideologie des sogenannten Islamischen Staates gelehrt wurde. Doch Aliyas Familie besaß weder genügend Geld noch einflussreiche Kontakte.

So blieb ihnen keine Wahl. Rais, der einzige Sohn der Familie, musste zur Schule gehen. Täglich verließ er das Haus mit schwerem Herzen, denn der Unterricht bestand längst nicht mehr aus Mathematik, Geschichte oder Literatur. Stattdessen wurde Hass gepredigt, Krieg glorifiziert und Gehorsam gegenüber den selbsternannten Führern eingefordert. Rais war ein schmächtiger Junge von 14 Jahren mit großen ängstlichen Augen. Während seine Klassenkameraden bereits stolz ihre ersten Bartansätze zur Schau trugen, die sie genau nach Vorschrift wachsen ließen, hatte sich auf seiner Oberlippe nur ein kleiner Flaum gebildet. Sie nannten ihn walid sarier, kleiner Junge. Es waren viele Jungen in seiner Klasse, die nicht freiwillig hier waren, aber keiner litt so sehr wie Rais darunter. Aliyas Familie war nicht besonders groß. Neben ihrem Bruder Rais hatte sie noch zwei Schwestern. Muna die Älteste, war mittlerweile zwanzig Jahre alt, während Mariam mit achtzehn nur zwei Jahre jünger war. Aliya selbst war die Jüngste in der Familie. Im Frühling war sie sechzehn geworden. Muna und Mariam waren bereits verheiratet und wohnten nicht mehr im elterlichen Haus. Ihre Hochzeiten waren einfache, aber freudige Anlässe gewesen – Feste voller Lachen, Musik und köstlichem Essen. Erinnerungen, die sich anfühlten, als stammten sie aus einem anderen Leben. Nun lebte sie mit ihren Eltern und Rais alleine im Haus.

Trotz der großen Hitze trug Aliya an diesem Vormittag eine Abaya und einen Niqab. Nur ihre großen, mandelförmigen Augen, die die Farbe von dunklen Smaragden hatten, blickten wachsam durch den schmalen Schlitz des Niqabs und beobachteten die Autos, die sich im zähen Mittagsverkehr durch die Straßen von Mossul kämpften. Über ihre Hände hatte sie schwarze Handschuhe gezogen. Aliya achtete sehr streng auf die Kleiderordnung, die seit der Einnahme von Mossul durch den Islamischen Staat eingeführt wurde, und auch sonst hielt sie sich an die neuen Regeln. Zu gerne wäre sie an Stelle von Rais zur Schule gegangen, um alles über den wahren Islam zu lernen. Aber als Frau war es ihr nicht erlaubt, und so musste sie im letzten Jahr die Schule verlassen und ging seitdem ihrer Mutter im Haushalt zur Hand.

Jeden Abend, wenn Rais im Bett war, nahm sie heimlich seine Schulsachen und zog sich damit in die kleine Speisekammer zurück. Dort machte sie es sich hinter dem Regal mit den eingemachten Kichererbsen bequem und verschlang die neuen Bücher, als wären sie ein großer Schatz. Die Worte brannten sich in ihr Gehirn ein, und sie musste sie kein zweites Mal lesen. Rais hatte die Bücher achtlos auf den Tisch geworfen. Aliya las die Worte, die er so sehr hasste, und konnte nicht begreifen, warum seine Ablehnung so stark war. Vielleicht war es die ständige Angst, beobachtet und bestraft zu werden, wenn er auch nur das Falsche dachte. Sie aber empfand eine tiefe Ruhe und Nähe zu Allah, wenn sie in den Büchern ihres Bruders las.

Aliya quälte sich weiter durch die Hitze. Jeder neue Schritt schien schwerer zu sein als der letzte. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und ihre Kleider klebten unangenehm an ihrer Haut.

An der nächsten Ecke befand sich ein großer Obstund Gemüsemarkt, Aliyas letztes Ziel für diesen Tag. Als sie am Marktstand ankam, an dem die Familie für gewöhnlich einkaufte, war der Verkäufer bereits dabei, einige seiner Waren einzuräumen, um für das Mittagsgebet zu schließen.

„Kann ich noch von den Datteln bekommen?“

Aliya blickte beschämt auf die Straße, um den Mann nicht direkt anzuschauen.

„Natürlich, welche hättest du denn gerne?“

„Ich nehme ein Kilo von den losen Datteln dort rechts“, sie zeigte auf eine Kiste mit großen Datteln. Sie ging immer zu diesem Marktstand, um Datteln zu kaufen. Sie waren weich und besonders süß. Die ganze Familie liebte es, diese Datteln am Abend zu essen, während der Vater aus dem Koran rezitierte. Der Verkäufer nahm vier Hände voll und ließ die Datteln in eine Papiertüte fallen. Dann wog er diese ab.

„Bitte schön, genau ein Kilo.“

Aliya bezahlte, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg nach Hause. Der Muezzin hatte bereits angefangen zum Gebet zu rufen, und sie musste sich beeilen, um das Zuhur, das Mittagsgebet nicht zu verpassen. Vom Markt aus waren es nur wenige Minuten bis zum elterlichen Haus. Die Al Schabab Straße war eine schmale Straße, gesäumt von niedrigen Häusern mit abblätterndem Putz und eisernen Toren. Das Haus ihrer Familie hob sich von den anderen ab, zumindest für Aliya. Es war ein wunderschönes Haus, nicht wegen seiner Größe oder seines Glanzes, sondern wegen der Geborgenheit, die es ausstrahlte. Ein kleiner Garten schmückte den Eingangsbereich und zog sich einmal um das Haus herum. Er war gerade groß genug, dass die Familie dort einige Hühner halten und ein wenig Gemüse anbauen konnte. Aliya liebte die Arbeit im Garten. Sie hatte direkt an der Mauer, die den Garten umgab, wunderschöne Beete angelegt. Die eine Hälfte der Beete war mit bunten Blumen bepflanzt, um deren Blüten sich im Frühling eine Vielfalt von Insekten tummelten, und die andere Hälfte der Beete war mit Tomaten, Kichererbsen, Bohnen und einer Vielfalt von Kräutern bestückt, deren Duft in der warmen Luft hing.

Seitdem die Schwestern zu den Familien ihrer Ehemänner gezogen waren, war der Garten ihr kleines Reich. Sie fütterte die Hühner und machte den Stall sauber. Der Gemüseanbau war nicht immer leicht. An manchen Tagen gab es nicht genug Wasser, um die Pflanzen zu bewässern. Dann vertrockneten sie oder Aliya erntete das Gemüse, wenn es noch sehr klein war, bevor es nicht mehr genießbar war. Das Haus war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, um es vor den Blicken der Nachbarn, hauptsächlich vor den Blicken der Männer, zu schützen. So konnte Aliya auch ohne Abaya und Hijab im Garten herumlaufen, arbeiten oder einfach nur entspannen.

Ganz hinten im Garten stand eine kleine Laube, versteckt hinter einem knorrigen Olivenbaum. Zwei kräftige Weintraubenreben hatten sich im Laufe der Jahre um die hölzerne Struktur gewunden. Ihre Ranken, verschlungen wie ein natürliches Netz, umhüllten das Häuschen fast vollständig. Ein kleiner schmaler Steinweg schlängelte sich vom Hauseingang direkt dorthin. Es war eine weiße und eine rote Traube, die sich je von einer Seite an der Laube entlang schlängelten.

Im Herbst verwandelte sich die Laube in ein wahres Paradies. Die Weinreben hingen dann schwer unter der Last praller, saftiger Trauben, die in der milden Herbstsonne schimmerten. Aliya liebte es, hier zu sitzen und die süßen Früchte direkt von den Reben zu pflücken. Sie musste nur den Kopf heben und konnte die Trauben mit dem Mund greifen, fast als wäre sie im Paradies.

In der Laube gab es viele Sitzkissen sowie Kissen, die an die Wände angelehnt waren. Im Sommer saß die ganze Familie hier und genoss leckeren Chai, Mate oder Mokka, aß selbstgemachtes Gebäck und lauschte den Koranversen, die der Vater vorlas. Auf der anderen Seite des Gartens, dort, wo die Sonne am längsten schien, hatte Aliya im letzten Jahr einen kleinen Dattelbaum gepflanzt. Es war ein zartes Bäumchen, kaum mehr als ein dünner Stamm mit ein paar grünen Blättern, die trotzig aus der trockenen Erde ragten. Sie hatte ihn selbst gezogen, aus den Kernen der süßen Datteln, die sie immer auf dem Markt kaufte.

Bis der kleine Dattelbaum die ersten Früchte tragen würde, würden noch viele Jahre vergehen. Sie stellte sich vor, wie sie eines Tages unter dem breiten Schatten ihres eigenen Dattelbaums sitzen würde. Die Blätter würden sanft im Wind rascheln, während sie sich gegen den Stamm lehnte, die Augen halb geschlossen, neben ihr eine kleine Kanne mit dampfendem Tee, dessen Duft sich mit der warmen Luft vermischte. Und in ihrer Hand hielte sie frische, goldbraune Datteln, süß und weich, von ihrem eigenen Baum.

Als Aliya zu Hause ankam, eilte sie ins Haus. Ihre Schritte führten sie direkt in die Küche, wo sie zügig die Früchte und das Gemüse, das sie auf dem Markt gekauft hatte, in die Kühlkammer legte. Es war wichtig, alles schnell zu verstauen, bevor die Wärme die frischen Lebensmittel verderben konnte. Nachdem sie die Hände und das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, begab sie sich in den großen Salon. Dort warteten bereits ihre Eltern und Rais, bereit zum Mittagsgebet. Der Raum war schlicht, aber gepflegt. Bunte Teppiche lagen auf dem Boden, und in einer Ecke flackerte schwach das Licht einer alten Öllampe. Aliya holte ihren eigenen Gebetsteppich aus dem Regal, breitete ihn sorgfältig auf dem Boden aus und stellte sich dahinter auf. Sie spürte die Stille im Raum, eine friedliche Stille, die mit jedem Atemzug tiefer wurde. Gemeinsam neigten sie ihre Köpfe zum Gebet und lauschten den vertrauten Worten ihres Vaters.

Nach dem Gebet winkte die Mutter Aliya zu sich her. „Komm, folge mir in die Küche“, sagte sie mit einem Lächeln. Aliya schaute ihre Mutter fragend an, als diese weitersprach.

„Heute ist ein besonderer Tag. Wir erwarten Gäste zum Tee.“

„Was für Gäste?“ Aliya war erstaunt, denn gewöhnlich empfingen sie Gäste nur an den Wochenenden. Es wurde immer schon Tage vorher gekocht und alles war vorbereitet, um die Gäste willkommen zu heißen. Doch heute war es anders. Die Mutter senkte den Blick, als wollte sie etwas abwägen, ehe sie mit leiser Stimme antwortete: „Es wird dein zukünftiger Ehemann sein. Und seine Eltern.“

Aliya riss erstaunt die Augen auf und starrte ihre Mutter ungläubig an.

„Was? Wer ist dieser Mann?“

„Du kennst ihn nicht“, antwortete ihre Mutter ruhig. „Jetzt frag nicht zu viel. Es ist nicht der Zeitpunkt. Geh schnell nach oben in dein Zimmer und richte dich her für deinen großen Tag. Ich werde alles für die Gäste vorbereiten.“

Aliya lief die Treppe hinauf, ihre Schritte hallten leise in dem stillen Haus. In der ersten Etage befand sich ihr Zimmer. Früher hatte sie es mit ihren beiden Schwestern Mariam und Muna geteilt. Doch im letzten Jahr hatte sich alles verändert. Muna war als erste ausgezogen, direkt nach ihrer Hochzeit. Nur ein halbes Jahr später folgte Mariam. Nun war Aliya alleine in dem großen Zimmer zurückgeblieben, das früher voller Lachen und Gespräche gewesen war. Es fühlte sich seltsam ruhig an, fast schon leer. Das Zimmer nebenan gehörte Rais. Das Schlafzimmer der Eltern lag am anderen Ende des Flurs.

Aliya ließ sich auf ihr Bett fallen, atmete tief ein und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Nein, sie hatte weder Angst noch war sie traurig, denn sie kannte die Tradition, nach der ein Mann für die Töchter der Familien ausgesucht wurde.

Der Mann kam mit seinen Eltern zu Besuch in das Haus der Familie der Frau, die er heiraten wollte oder die seine Familie für ihn ausgesucht hatte. Die Tochter des Hauses servierte den Tee und hielt sich bedeckt. Dies war der erste Kontakt von Mann und Frau. Sollte ihr Vater einverstanden sein und den Mann als gut für seine Tochter halten und auch die Familie des Mannes stimmte zu, würde alles für die Hochzeit vorbereitet werden. Das waren die Traditionen, und sie würde sie akzeptieren.

Aliya stand auf und ging in das kleine Badezimmer, das direkt an ihr Zimmer grenzte. Sie wusch sich das Gesicht und fuhr mit ihren Fingern durch die Haare, um sie zu kämmen. Für diesen besonderen Tag wählte sie ihre schönste Abaya aus. Ein Hauch von Aufregung stieg in ihr hoch, begleitet von einem Gefühl, das sie nicht genau benennen konnte. Freude? Nervosität? Vielleicht beides. Sie war bereit, ihren zukünftigen Mann kennenzulernen.

Nachdem sie fertig war, setzte sie sich ans Fenster, von dem aus sie einen weiten Blick auf den Garten hatte. Die Blumen, die Bäume und der sanfte Wind, der durch das offene Fenster strich, schienen sie zu beruhigen. Sie griff nach ihrem Koran, öffnete ihn und begann, einige Verse mit flüsternder Stimme zu lesen. Die vertrauten Worte gaben ihr Trost, halfen ihr, sich zu sammeln und den Moment still zu genießen.

Sie wartete darauf, dass ihre Mutter nach ihr rief. Erst dann würde sie nach unten gehen, in den Salon zu den Gästen.

Es klopfte leise an der Tür.

„Aliya? Bist du bereit?“

Aliya sprang auf, küsste den Koran mit einem sanften Kuss und legte ihn dann sorgsam auf seinen Platz zurück. Ihre Finger berührten das wertvolle Buch mit einer Zärtlichkeit, als wollte sie sich von ihm noch etwas Trost holen, bevor sie sich der Realität stellte. Sie öffnete die Tür und trat hinaus, die Spannung in ihrem Körper spürbar, aber auch eine seltsame Ruhe innerlich.

„Ja, Mama. Ich bin bereit“, sagte sie, die Worte fast flüsternd.