Die Schlaflosen - Ulrike Kolb - E-Book

Die Schlaflosen E-Book

Ulrike Kolb

4,8

Beschreibung

Sie leiden an Schlaflosigkeit. Sie suchen Hilfe. Eine Nacht führt sie alle zusammen. Ein Kammerspiel von bezwingender Intensität. Es sind Lebensfrohe oder Lebensmüde, Angestellte in einem Versicherungsunternehmen oder Gestrandete, Frauen, Männer von jung bis fast schon alt, die sich hier zusammenfinden: Alle leiden daran, dass sie nachts keinen Schlaf finden. Sie erhoffen sich Hilfe von diesem Wochenendseminar bei einem berühmtem Schlafforscher, oder sollte man besser sagen: Schlafguru oder Schlafpapst? Aus allen Richtungen reisen sie an auf das Gut Sezkow, das weit außerhalb Berlins liegt und jetzt zum Hotel ausgebaut ist. Die Stimmung ist erwartungsvoll, allein: Der Meister lässt auf sich warten. Ist das Bestandteil des Seminars? Wird man vielleicht beobachtet? Oder sind alle nur Opfer eines Schwindels, um ein heruntergewirtschaftetes Hotel zu füllen? Immerhin zeigt sich das Hotel spendabel, die Betreiber und ihre Angestellten bewirten alle mit Köstlichkeiten, schenken besten Wein aus, um das Warten zu erleichtern. Die ersten Gäste drohen mit Abreise ohne Bezahlung, andere kommen dafür immer mehr in Stimmung. Diese Nacht scheint alle mitzureißen, jeden in die Tiefen seiner Seele zu führen und manchen ganz weit über die eigenen Grenzen hinaus.

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Ulrike KolbDie Schlaflosen

Roman

Bibliografische Information derDeutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.deVom Verlag gesetzt aus der Stempel GaramondUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorfunter Verwendung der Fotografie Water Abstract,© Alex Bramwell – fotolia.comDruck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, RegensburgISBN (Print) 978-3-8353-1211-1ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2439-8ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2440-4

On the road oder 16.10 Uhr

Sie reißt die Augen auf, als könnte sie so die grafische Wirrnis auf der Straße, in die sie hineingleitet, unter ihre Kontrolle zwingen. Die weiße Linie teilt sich, strebt in spitzem Winkel auseinander, jagende helle Striche, als sie die am Lenkrad klebende Hand löst und mit der Fingerspitze Kontakt zur Brille sucht, um sie höher zu schieben. Aber das ist es nicht, es ist nicht die Brille, es ist etwas anderes, das dieses optische Durcheinander vor ihren Augen veranstaltet, ein Schauspiel, in dem sich der Wagen wie von selbst bewegt, guter alter Benz, wenigstens das, und so versucht sie, der Spur des vor ihr herfahrenden Lasters zu folgen, das ist ihr einziger Halt. Rechts eine Autoschlange, die in ihrem Blickwinkel entlangrast, sie ist eingezwängt zwischen der Leitplanke und der Schlange, unmöglich, jetzt anzuhalten, nirgends ein Ausweg, jedes Gefährt folgt dicht dem vorderen, sie greift mit der Rechten hinter die Rückenlehne und tastet auf dem rauen Boden nach ihrer Handtasche, auf der Suche nach dem Etui mit der Ersatzbrille, dabei hält sie den Blick auf das Nummernschild und die steile Rückwand des Lasters gerichtet, auf die Aufschrift HOLZ VON SCHOLZ. Endlich das weiche Leder, und sie zieht die Tasche nach vorn auf den Nebensitz, wühlt darin, während sie in äußerster Anstrengung den Blick auf die Straße und den Wagen vor sich heftet, auf die Leitplanke links, auf die Verkehrsschilder, die sie nur bei zugekniffenem linken Auge entziffern kann, auf die 40 in dem roten Kreis und auf den vor ihr tanzenden und sich jäh vermehrenden und in unzähligen Linien auseinanderstiebenden Mittelstreifen, auf die mächtigen Räder eines vorbeiziehenden Sattelschleppers und irgendwo aufleuchtende und wieder verlöschende rote Bremslichter, gefangen in diffusem Flackern, fingert sie das Etui auf und nimmt die Brille, das HOLZ VON SCHOLZ beruhigt sie in diesem Augenblick, vielleicht wegen der imperativen Wirkung der Großbuchstaben, darüber muss sie grinsen, während sie die Bügel aufklappt, einhändig, bedächtig, und bevor sie die eine Brille abnimmt und die andere aufsetzt, justiert sie ihren Blick, heftet ihn auf die Spur des Lasters und auf die feste, hohe, kantige Schrift, deren Konturen sich in dem Moment, da sie die nackten Augen weit aufreißt, in ein enormes, weiches, schummriges Etwas auflösen, bis das andere, leichtere Gestell auf ihrem Nasenrücken landet und durch die hell getönten Gläser wieder das HOLZ VON SCHOLZ auftaucht und die Linie des Mittelstreifens sich für einen Augenblick entwirrt, klar, richtungweisend, während sie das linke Auge schnell schließt und gleichzeitig das rechte aufhält und dabei das Brillengestell mit der Kuppe des kleinen Fingers hin und her schiebt, um zu testen, wie die Sicht am besten ist, aber als sie beide Augen wieder offen hat, verwirrt sich sogleich alles von neuem, und da jetzt beide Hände das Steuer umfassen, umklammern, nass geschwitzt, fällt ihr auf, wie verkrampft sie die Schultern hochgezogen hat, dabei die Stirn fast an der Windschutzscheibe, als könnte sie so besser sehen, immer das linke Auge zupressend, versucht sie jetzt, tief durchzuatmen, die Muskeln zwischen den Schultern zu entspannen, ein Befehl an das vegetative Nervensystem … aber jedes Mal, wenn sie es öffnet, was ständig unwillkürlich passiert, bäumen sich die Linien in der Straße sofort auf, verschlingen einander, jagen auf die Windschutzscheibe zu, sodass sie das Lid schnell wieder zukneift. Der Verkehrsfunk fällt ihr ein, sie fingert an der Radiotastatur, geht die Sender durch, hört denn diese Baustelle nie auf … Musik, Stimmen, Klavier, immer wieder dasselbe Klavier, aber kein Verkehrssender, nichts, verdammt nichts, sie bleibt bei dem Klavier, etwas Gleichmäßiges, Schumann oder so, und sie greift in das Fach unter der Radioleiste, findet das Phone, fährt mit dem Daumen über den glatten, sofort aufleuchtenden Touchscreen, wagt aber nicht, den Blick von der Straße zu nehmen, das Klavier ist jetzt schneller, eilig, irgendwie entspannend … es kommt ihr ewig vor, dass sie so in dieser Zwangsgefolgschaft rast, eine halbe oder ganze oder mehr als eine Stunde muss das schon sein. Sie schafft es, die gesuchte Nummer zu aktivieren, das Klingelzeichen am anderen Ende, aber nichts außer dem Anrufbeantworter, niemand, das ist Absicht, fährt ihr durch den Sinn … diese halbe oder ganze oder mehr als eine Stunde, das Klavier jetzt sanft, melancholisch, sehnsüchtig, sie bricht bei immer noch zugekniffenem linken Auge in Tränen aus, und als sie an einer endlich auftauchenden Raststätte die Autobahn verlässt und erlöst haltmacht, blicken sie aus dem Rückspiegel, dem sie sich entgegenreckt, Augen an, die ihr uralt vorkommen, als wären es nicht ihre eigenen, umrandet von Schlieren schwarzer Schminke.

Rottmann kommt an

Zwei Torpfosten, der linke von einem Steinlöwen gekrönt, dessen Kopf auf der einen Seite schräg abgeschlagen ist, was komisch und zugleich stolz aussieht, wie bei einem, der seine Beschädigungen mit Lächeln trägt, ja, der Löwe lächelt, und es sieht aus, als lächle er über die Anmaßung der Natur, über das freche Moos, das sich gräulich über seine lädierte Stelle gezogen hat, und über die Schläge, die ihm die Zeit oder Bomben oder wer weiß wer versetzt haben. Umkreist man ihn, kann man sehen, dass von dem Schweif nur noch ein Stummel übrig ist, ein lächerlicher Rest, der die vergangene Macht des Löwen aber nur umso grotesker hervorkehrt, wie er da thront in königlicher Resignation.

Von dem, was auf dem anderen Torpfosten, dem rechten, einst war, ist nichts mehr zu sehen, er ist vollkommen von Efeu überwuchert. Zwischen den Pfosten ist kein Tor mehr, nur noch ein verrostetes Eisenscharnier deutet exklusive Vergangenheit an. Jetzt kann dort jeder eintreten. Tiefes Nachmittagslicht liegt über der Platanenallee, die in prächtigen Herbstfarben leuchtet und an deren Ende ein Gutshaus steht, dessen Fassade, man kann es von hier schon erkennen, in einem nur teilweise renovierten Zustand ist. An manchen Stellen ist der Putz abgebröckelt und lässt die rohe Backsteinwand frei. Eine einst feierliche, jetzt hilflos wirkende Freitreppe führt mittig zum Eingang. Auch sie ist noch nicht aufgefrischt, dafür aber sehen die Fenster alle neu aus. Sie verteilen sich weiß gerahmt und symmetrisch über die ganze Front, eine Mischung aus Romantik und Preußenstrenge.

Rottmann überlegt, ob er zuerst einen Gang um das Haus machen oder besser gleich die Treppen hinaufsteigen soll, direkt in die Höhle des Löwen. Er ist immer noch voller Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, sich hier anzumelden. Und als er nun zögerlich vor einer geduckten Kellertür unterhalb der Freitreppe von einem Fuß auf den anderen tritt, wird ihm immer klarer, dass, wenn er jetzt nicht sofort das Haus betritt und sich den Empfangsritualen ausliefert, er bestimmt die Flucht antreten wird.

In diesem Moment sieht er sich als achtjährigen Bub von hinten, dem ein Rucksack auf dem Rücken wippt und der eine von Sonne und Schatten wild flackernde Allee entlangrennt, so schnell, als ginge es um sein Leben. Diese Erinnerung überwältigt ihn, ihm ist ganz flau von der Wucht eines früheren Gefühls.

Auch heute trägt er einen Rucksack bei sich, ein albernes Ding, wie er findet, das er seiner Frau zuliebe benutzt. Sie hat es ihm zu einem der letzten Geburtstage geschenkt, und er bringt es einfach nicht fertig, sie vor den Kopf zu stoßen. Der Rucksack des erwachsenen Rottmann ist allerdings nicht aus kakifarbenem schmutzigem Leinen wie der des Jungen, sondern aus weichem, teurem Leder, und es passt alles hinein, was er für ein, zwei Übernachtungen braucht. Er hält ihn schlenkernd an der Schlaufe und begibt sich so die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt achtet er darauf, in die Mitte der Stufen zu treten, und auf einmal ist alles wieder da, der Geruch von Malzkaffee, von alten Hosen, alten Federbetten, altem Stall, alten Vorhängen, altem Holz, alten Schuhen, altem Zaumzeug, altem Heu, altem Papier, alten Büchern … ein sinnverwirrender Schwall von Vergangenheit.

Die Tür ist unverschlossen. Einem Messingschild ist zu entnehmen, wo man sich befindet: Hotel Gut Sezkow. Es ist eine massive Holztür, die sich nicht ohne Widerstand öffnen lässt, bevor sie den Blick in ein geräumiges Entree freigibt, von dem aus sich eine breite Treppe nach rechts und links teilt. Ein alter Schreibtisch dient als Rezeption, er ist jedoch verwaist. Niemand scheint hier erwartet zu werden. Der ganze Empfang wirkt etwas provisorisch. Rottmann blickt um sich, und da er der Einzige hier zu sein scheint, macht er sich auf den Weg durch die angrenzenden Räume. Gleich nebenan ist alles für eine Veranstaltung vorbereitet, mit Stuhlreihen und einem kleinen Tisch für den Vortragenden. Eine offene Tür führt zu zwei kleinen Räumen, deren Wände mit dicht gefüllten Regalen zugestellt sind. Die oberen Reihen sind durch zierliche Leitern zu erreichen. Überall darin Bücher, gereiht und gestapelt, chaotisch wie in einer privaten und häufig benutzten Bibliothek. Von dort aus geht es durch eine geöffnete Flügeltür in einen langgestreckten Salon, zu dessen einer Seite eine Reihe bodentiefer Fenster den Blick in einen weiten Park freigibt. An der Längswand gegenüber den Fenstern bildet eine eiserne Empore eine weitere Ebene, die über eine ziselierte Wendeltreppe zu erreichen ist. Auch dort oben sieht man Regale, sie reichen bis zur Decke und sind vollgestopft mit Büchern. Der Raum ist in einem müden Blau gestrichen und mit Sesseln und Sofas aller Stilrichtungen möbliert, deren Bezug an manchen Stellen abgewetzt ist. Man sieht, kaum ein Möbelstück ist neu. Dazwischen Couchtische, auf denen sich Kerzenleuchter und Zeitschriften und alle möglichen kleinen Dinge befinden. In einer Ecke unter der Empore steht ein Flügel, dessen schwarzer Lack stumpf geworden und an manchen Stellen abgeblättert ist.

Am Ende landet Rottmann in einem Wintergarten, dem Speisesaal, der an drei Seiten von Glaswänden umfasst ist. Er ist angefüllt von einem Sammelsurium unterschiedlich großer weiß gedeckter Tische. Die fensterlose Wand ist von einer riesigen Fotografie, die einen etwas ramponierten Theatersaal zeigt, fast ganz bedeckt. Ein halb geraffter Vorhang gibt den Blick auf eine leere Bühne frei, ein Bild tiefer Verlassenheit. Rottmann blickt es lange an und fragt sich, was es ist, das diese Verlassenheit bewirkt. Vielleicht weil alles so aussieht, als sei hier einmal Leben gewesen, dessen geheimer Widerschein sich noch im Dunkel hinter der Bühne andeutet.

All das weckt die widersprüchlichsten Regungen in Rottmann. Er ist froh, nicht in einem dieser überkandidelt renovierten Häuser gelandet zu sein, gegen die er eine tiefe Aversion empfindet, wie er überhaupt alles Feingemachte verabscheut. Zugleich aber meint er, etwas merkwürdig Gewolltes hier zu wittern, das ihm genauso wenig behagt wie das Feingemachte und das in ihm sofort den Verdacht von Ideologie wachruft. Vielleicht weil er sich an Zeiten erinnert fühlt, in denen er selbst übertrieben ökologischen und linken Ideen verfallen war, die ihm heute peinlich sind. Aber dann wieder beruhigt er sich, dazu ist das Ganze hier zu gepflegt, die Renovierung zu professionell, zu gut durchdacht. Auch die Fotografie spricht gegen Ideologie, sie ist einfach zu gut, denkt er. Er betrachtet das Bild jetzt von nahem, setzt die Brille auf, sucht vergeblich nach einer Signatur, geht wieder auf Abstand und überlegt, ob es das Werk einer Frau oder eines Manns ist. Ganz gefangen genommen davon, überrascht er sich dabei, wie er in dem Theaterraum umherwandelt, und wie sich die Bühne öffnet und weiterführt in andere Räume.

So sinnierend über die Frage, ob er bleiben oder sich einfach und bevor jemand von ihm Notiz genommen hat wieder davonmachen soll, schiebt er den Flügel einer zur Terrasse führenden Glastür auf und erblickt in der Scheibe plötzlich eine Frau, oder besser die Spiegelung einer Frau in einem Sessel. Dabei hat er sich doch die ganze Zeit allein in dem Raum geglaubt. Vielleicht ist es nur ein Bild, das da irgendwo hängt, ein Bild einer Frau, die sich in einer Glastür spiegelt?

Die Frau trägt eine dunkle Kappe auf hochgestecktem Haar, den Kopf hält sie schräg zur rechten Schulter geneigt, und auf ihren Knien liegt eine aufgefaltete Zeitung. Der Gedanke, dass sie ihn beobachtet haben könnte, verwirrt ihn. Er vermeidet es, sich umzudrehen. Ihm ist, als habe er etwas nicht ganz Gesellschaftsfähiges getan, etwas Anstößiges, und wieder steigt in ihm ein Gefühl auf, das ihn beherrschte, als er ein Junge war. Warme Pein überrieselt ihn. Das ist schon ein richtiger Tick bei dir, die Sache mit dem Nasejucken, hat seine Frau neulich behauptet, und sie finde seinen Finger an besagter Stelle ganz besonders unappetitlich. Wenn du wüsstest, wie das aussieht, hatte sie (unter anderem) gesagt, als sie einander Wahrheiten an den Kopf schleuderten, die sie später gerne wieder zurückgenommen hätten, die dann aber in der Welt, im Gehör des anderen waren wie ein Bild im Internet, das niemals wieder gelöscht werden kann. Wenn du wüsstest, wie das aussieht! Aber selbst wenn ihm eine solche Peinlichkeit nicht unterlaufen sein sollte, allein zu wissen, von einer schweigsam in einem Sessel sitzenden Frau unbemerkt beäugt worden zu sein, ist ihm unbehaglich.

Unschuldig, dieses Wort fällt ihm jetzt ein, und er fragt sich, wieso eigentlich? Wieso eigentlich unschuldig? Er tritt hinaus auf die Terrasse, atmet tief durch und versucht, den Gang durch den Speisesaal zu rekapitulieren, vom ersten Schritt an hinten bei der Parkseite, dann den Slalom zwischen den Tischen hindurch, den Weg zum Fenster, dann wie er das große Bild mit dem verlassenen Theatersaal in Augenschein genommen hat. Dabei überlegt er angestrengt, womit seine rechte Hand währenddessen beschäftigt war. Aber die Hand hat gemacht, was sie wollte, ohne seinem Gedächtnis Rechenschaft abzulegen, und er muss lachen, das ist ja wie eine Kleine-Jungen-Geschichte von früher. Er stellt sich vor, wie er eine solche Kette von Überlegungen seiner Frau mitteilen würde und wie sie sich beide darüber amüsieren. Das sind eigentlich die guten Momente unserer Ehe gewesen, denkt er und ruft sich zur Ordnung, sagt sich, wer immer dich wobei auch immer gesehen hat, geh jetzt am besten weg von hier, sofort, auf der Stelle. Eine wirre Abfolge von Gedanken oder besser Bildern oder doch Gedanken (als ob es einen Unterschied zwischen Gedanken und Bildern gäbe, du Esel!) flattert ihm durch den Sinn, nicht einzuordnen in die Rangliste von wichtig bis weniger wichtig oder völlig unwichtig. Und als er sich jetzt umdreht, gewappnet für eine Begrüßung, ist der Sessel, in dem soeben noch eine Frau saß, leer.

War es vielleicht doch keine so gute Idee, hierherzukommen?

Der Schlafpapst ist nicht der einzige Grund dafür, dieses Wochenende auf Sezkow zu verbringen. Schon lange hatte Rottmann sich vorgenommen, hier in die Gegend und zu diesem Haus zu fahren, in dem er als Kind einmal gewesen war, obwohl nicht alt genug, um sich wirklich daran erinnern zu können. Schon seit der Maueröffnung hatte er sich das vorgenommen, es aber immer wieder aufgeschoben. Auch weil das Retrogetue mancher Wiederentdecker des Preußentums ihn abstößt, so wie ihn überhaupt jede Nostalgie abstößt, ja, mehr als das. Es kotzt mich an, denkt er. Und als er neulich bei einem Abendessen neben jemandem saß, der von seiner Sehnsucht nach den Landschaften Ostpreußens sprach, und als dieser Jemand wiederholt betonte, diese seine Sehnsucht komme daher, dass er dort geboren worden sei und dass diese Landschaften sich seinem tiefsten Inneren eingeprägt hätten, weil er sie mit den ersten Atemzügen eingesogen habe, und als Rottmann erfuhr, dass der Mann nur zwei Monate dort gelebt hat, dachte er, wie sehr solche Sehnsüchte oft künstlich gehegt werden. Er fragte den Mann, ob man wirklich Sehnsucht nach einer Landschaft haben könne, die man so jung verlassen hat. Worauf der heftig die Meinung vertrat, so etwas komme öfter vor, als man denke, etwa wenn die Sehnsucht der Eltern sich in die Seele der Kinder gesenkt habe. Anders könne er sich diese wirklich starke Sehnsucht, die er empfinde, nicht erklären. Rottmann gab zu, dass sich dagegen nichts sagen lasse, und trotzdem meldete er seine Zweifel an, sagte sogar, er nehme ihm ein solch tiefes Verlangen nicht ganz ab, und ärgerte sich zugleich über die eigene Gereiztheit bei dem Gespräch. Jedenfalls ist er jetzt froh, dass von Nostalgie hier in dem Haus nichts zu spüren ist, in dem eher etwas Unentschiedenes die Atmosphäre bestimmt, etwas Provisorisches und Widersprüchliches. Also, sagt er zu sich, bist du in der »dir liebsten Stimmung deines Lebens«, wie seine Frau gern spottet, ganz da, wo du zu Hause bist: in schönster Ambivalenz.

Allmählich trudeln Gäste ein

Allmählich trudeln die Gäste ein, parkende Autos füllen den Platz vor der Freitreppe, und inzwischen ist auch der Empfang besetzt. An der Rezeption, das heißt, hinter dem als Rezeption dienenden alten Schreibtisch, erledigt eine junge dunkelhäutige Frau das Einchecken der Gäste, wenn sie nicht gerade jemanden zu seinem Zimmer begleitet oder Fragen beantwortet. Etwa die, ob der Professor schon da sei oder ob schon öfter hier solche Seminare stattgefunden hätten. Sie trägt einen dünnen Rock, dessen Saum transparent um die Knie flattert, dazu ein zierliches Jackett. Ihre schlaksigen Beine sind unentwegt in Bewegung, und eine Kette aus blauen Holzkugeln wippt um ihren Hals wie ein Kinderschmuck. Das passt zu ihrem Pferdeschwanz, der, neigt sie den Kopf, mal über die eine, mal über die andere Schulter fällt. Man will sie, wenn man sie so sieht, am liebsten mit ›Kindchen‹ ansprechen, man will ihr über die klare, hohe Stirn streichen, dabei ist ihr Auftreten alles andere als kindlich, im Gegenteil. Sie ist selbstbewusst, ja versiert in ihrer Rolle, vielleicht sogar eine Idee zu versiert, sodass es in manchen Momenten etwas übertrieben wirkt. Ihre Aussprache hat einen leicht sächsischen Ton, und Rottmann muss an seine Großmutter denken und an ihr ›määne glääne Bubbi‹, wie sie seine Mutter gerne genannt hatte – ein Kosewort, das nach ihrem Tod in der Familie als zärtliche Ansprache weiterlebte. So kommt es, dass Rottmann dem Sächsischen, das er selbst nicht beherrscht, ein positives Vorurteil entgegenbringt.

Die junge Frau bittet Rottmann jetzt, ihr zu seinem Zimmer zu folgen, und indem er hinter ihr die Stufen nimmt, liegt ihm die ganze Zeit der familiäre Kosename auf der Zunge, und als sie sich plötzlich umdreht und fragt, ob er etwas gesagt habe, wird ihm bewusst, dass ihm tatsächlich das ›määne glääne Bubbi‹ aus dem Mund gerutscht sein könnte. Nein, nein, murmelt er, das muss ein Irrtum sein. Mit seinem Rucksack schlenkernd, folgt er ihr über rote Teppichläufer durch den Gang und die Treppe hoch bis in die zweite Etage, wo seine Begleiterin die Tür zu einem sonnendurchfluteten Zimmer öffnet. Er solle doch nur einmal aus dem Fenster schauen, fordert sie ihn auf, ist das nicht herrlich, und sie wendet sich ihm zu, ihm, der eine Idee kleiner ist als sie, was ihm jetzt erst auffällt.

Seine Antwort ist nichts als Floskel, irgendwas von Danke, vielen Dank, und er gräbt in seinem Rucksack auf der Suche nach dem Geldbeutel, den er soeben beim Einchecken doch noch in der Hand gehabt hatte, aber jetzt nicht finden kann. Er will ihr unbedingt ein Trinkgeld geben. ›von Bülow‹, so steht es auf einem kleinen Namensschild an ihrem Revers. Sie stößt beide Fensterflügel auf und lehnt sich hinaus, indes Rottmann sich aufs Bett fallen lässt, um besser den Rucksack durchwühlen zu können. Dabei muss er immer wieder zu ihr hinschauen. Sie hat ihm dem Rücken zugekehrt, und er beobachtet ihren Rocksaum, der ihre Kniekehlen auf bezirzende Weise umspielt. Da bückt sie sich, hebt seinen Geldbeutel vom Boden auf und reicht ihn Rottmann mit einer unvergleichlichen Geste von ironischer Grazie, die ihn sprachlos macht.

Könnte er sich in diesem Moment als einen Fremden sehen, würde er in herzhaftes Lachen ausbrechen angesichts seines verdatterten Gesichtsausdrucks bei geöffnetem Mund und herabhängender Unterlippe. Die junge Frau steht im Gegenlicht, kleine Haarflusen haben sich leuchtend um ihr Kopfrund aufgerichtet, Rottmann greift sich ans Herz und entschuldigt sich für seine Zerstreutheit, immer noch sitzend und zu ihr emporblickend. Sie nimmt den Zehneuroschein in Empfang, den er ihr reicht, und blickt ihn dabei an, als wollte sie sagen, schon gut, schon gut, Tölpel, alles verziehen. Ihrem Mund entschlüpft ein beiläufiges Danke und der Wunsch zu einem angenehmen Aufenthalt, genauer gesagt, ›Guude Tage, mein Herr, vielleicht gennse hier wasse sonstwo nich gennen‹. Und zwinkernd wie eine Krankenschwester, die das zur Schau getragene Leiden ihres Patienten für arg übertrieben hält, verlässt sie den Raum und den aufspringenden Rottmann, der ihr durch die geöffnete Tür nachblickt.

Aber Rottmann leidet wirklich. Seit Wochen hat er kaum mehr als zwei Stunden pro Nacht geschlafen, zumindest glaubt er das. Wenn er in den Spiegel sieht, schaut ihn eine Theatermaske an, ein Gesicht, dem der Maskenbildner zu viel Grau unter die Augen und in die Falte zwischen Nase und Wangen aufgetragen hat, lemurenhaft, am Ende angekommen. Früher wären ihm weiß Gott was für Sprüche eingefallen, früher wäre er neben die junge Frau ans Fenster getreten, und zwar atemnah, hätte herausgefunden, aus welchem Land sie oder ihre Eltern stammen, hätte sie diskret berührt, ihr die Hand auf den Arm gelegt, sie zur Tür geleitet, hätte herausgefunden, wie sie zu dem ›von Bülow‹ kommt, und vor allem hätte er mit ein paar Bemerkungen ihre Neugier geweckt, hätte ihr einen guten Witz erzählt, etwas Sprühendes, Übermütiges. Stattdessen liegt er erschöpft auf dem Bett, ein Schwächling in embryonaler Haltung, ein Köter, ein Geschlagener.

Frau von Bülow also, eine somalische oder äthiopische Schönheit, die ihm, bevor sie das Zimmer verließ, das heißt, bevor er aufgesprungen war, die Hand auf die Schulter gelegt hat. Oder bildet er sich das jetzt nur ein? Hat sie ihm wirklich die Hand auf die Schulter gelegt? Er versucht, sich die Szene ins Gedächtnis zurückzuholen, wie sie mit dem unausgesprochenen ›Schon gut‹ den Geldschein in Empfang nimmt, wie sie ihm … ja was nun? Über die Schulter streicht oder gar über die Stirn? Ja, auch das könnte sein. In diesem Moment spürt er ihre Hand tatsächlich an verschiedenen Stellen seines Gesichts zugleich, aber er kann sich nicht wirklich erinnern, ob das, was er spürt, Einbildung ist oder … der soeben vergangene Moment ist verschwunden. Was die junge Frau auch immer getan oder gesagt haben mag, Rottmann ist sich keiner Geste, keines Tons mehr sicher. Er ist ganz verwirrt.

Der zerknüllte Ausdruck der Homepage des Schlafpapstes und das Programm für das Wochenende liegen vor ihm auf dem Bett. Er ist froh, dass bis zur Begrüßung und dem ersten Vortrag noch Zeit ist, so kann er sich wenigstens etwas entspannen. Er dreht sich auf den Rücken und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen.

Es ist ein Eckzimmer, belichtet von Westen und Süden, so wie Rottmann es liebt. Räume, in die von zwei oder gar drei Seiten Tageslicht fällt, sind für ihn immer ein Genuss. Die hohen Fenster werden von naturfarbenen, großzügig auf den Boden fallenden Baumwollvorhängen umrahmt. Ansonsten besteht die Möblierung nur aus dem Nötigsten – ein alter Tisch, zwei einfache Holzstühle und, zu seiner Enttäuschung, kein Fernseher. Später stellt er fest, dass die Abmessung des Duschbads etwa der Größe eines Schranks entspricht und er sich darin kaum bewegen kann. Er denkt darüber nach, ob er als Kind schon einmal in diesem Zimmer gewesen sein könnte. Aber es gleiten nur dunkle, mit Möbeln vollgestopfte Räume durch seine Vorstellung, nichts, was mit diesem lichten Raum eine Ähnlichkeit hat.

Margot kommt an

Nach ihrer katastrophalen Autobahnfahrt hat Margot den Wagen an der Raststätte stehen lassen. Sie wagte nicht, selbst weiterzufahren. Vor Monaten hatte sie schon einmal eine Sehstörung beim Fahren erlebt, aber die war vorübergehend, ein paar plötzliche Undeutlichkeiten, die sie ihrer allgemeinen Nervosität zuschob. Dass ihre Augen aber so verrücktspielen wie heute, ist neu. Ich bin völlig erledigt, denkt sie, völlig erledigt. Sie murmelt es wie ein Mantra: völlig erledigt, völlig …

Die Aufregungen der letzten Monate, die Nachricht eines möglicherweise bösartigen Tumors unter einer Rippe, Untersuchungen beim Onkologen, das Eingeschlossensein in einer dieser unerträglichen Röhren, Arbeiten, die sie lange aufgeschoben und am Ende unter Hochdruck zu Ende hat bringen müssen, ein Artikel über Schaufensterpuppen, der sie viel mehr Zeit kostete als gedacht, vergessene Verabredungen, Vorwürfe ihrer Tochter von wegen ›egozentrisch und nicht erreichbar‹ … immerhin sind die Laborergebnisse bisher nicht beunruhigend. Ein Test steht noch aus, aber der Arzt hat ihr Mut gemacht. Danach hat sie ein paar wichtige Dinge in ihrem Leben in Ordnung gebracht, auch finanziell, sodass sie sich die siebzig Euro für das Taxi von der Raststätte bis zum Gutshaus leisten konnte. Sie gönnt sich dieses Seminar, um das größte Problem, das sie hat, in Angriff zu nehmen – die Schlaflosigkeit.

Mit ihrer großen roten Ledertasche über der Schulter eilt sie in die Empfangshalle. Von Andrang kann nicht die Rede sein. Nur da und dort jemand in einem Sessel oder draußen auf der Terrasse. Die Formalitäten sind schnell erledigt, die von Fürsorge erfüllte Stimme Frau von Bülows auf dem Weg hinauf zum Dachzimmer ist eine einzige Ankündigung von Ruhe. Margot kennt die Stimme vom Telefon, es ist die, die sich immer mit »Bieloo« gemeldet hat, und sie hat sich dabei eine reife Dame mit üppigem Busen vorgestellt. Die junge Frau, die jetzt mit schnellen Schritten vor ihr die Treppen hochsteigt, kann verschiedener von der, die ihr die Stimme am Telefon suggerierte, nicht sein.

Es wird sich alles ein bisschen verschieben, sagt sie, lassen Sie sich nur Zeit. Der Herr Professor scheint sich etwas zu verspäten.

Margot streckt sich auf dem Bett aus, sieht auf verwinkelte Ecken mit Wandschrägen und Balken. Dachstuben haben etwas Besänftigendes für sie, vielleicht weil sie Erinnerungen an früher wachrufen, als sie noch schlafen konnte. Etwa an die erste Studentenbude, ein Zimmer ohne Toilette und Waschbecken, einfach nur eine ausgebaute Dachkammer. Damals schlief sie noch tief und fest, auch wenn die Musik nebenan so laut war, dass sie manchmal glaubte, sie komme aus ihrem eigenen Radio. Damals, das heißt gleich nach dem Internat, als sie berauscht war von der plötzlichen Freiheit, als alles möglich war, alles, einfach alles. Der erste Sex mit einem Kommilitonen, missglückte Versuche, bis die ›kleine Operation‹ endlich klappte. Der Kommilitone, der von der Telefonzelle ein paar Straßen weiter den ärztlichen Notdienst anrief, weil sie Angst hatte zu verbluten, und dann der alte Doktor, der dem Tollpatsch die Leviten las.

Da sind Sie aber ziemlich brutal vorgegangen, mein Freund.

Das war Freiheit, wir waren besoffen von Freiheit, und dazu gehörte, »es« einfach so zu machen, ohne große Liebe, schlicht unter dem Motto, da muss man durch, und danach wurden mit einem Tauchsieder Spaghetti gekocht.

Was willst du eigentlich hier, hast du nicht die letzte Zeit wieder besser geschlafen, eigentlich zum ersten Mal seit Jahren endlich wieder vier Stunden am Stück?

Aber was heißt ›letzte Zeit‹? Die Tage, Monate und Jahre fließen ineinander … du weißt nicht mehr, wann etwas angefangen hat und wann es zu Ende ging … Seit wann er sich herangeschlichen hat, der Horror Nacht. Wann es anfing, dass du panisch wirst bei dem Gedanken an die Stunden nach dem Sonnenuntergang. Dass du dir angewöhntest, alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen und zu zählen und dich darüber zu wundern, wie wenig Zeit vergangen ist seit dem letzten Blick auf das Ziffernblatt. Dass die Konturen zwischen Nacht und Tag und Tag und Nacht zu einer Fläche ausgelaufen sind, dass es keinen Anfang mehr gibt und kein Ende … Wie lange ist es her, dass du morgens voller Lust in die Stadt gefahren bist, um ein Kleid zu kaufen, oder Schuhe, deren Preis niemand erfahren durfte, närrisch vor Freude bei dem Gedanken ›ich mache was ich will‹ … wie lange ist es her, dass Lynns Stimme verschwunden ist, Lynns neugierige, stets warme Stimme? Wann ist sie gestorben? Vor zwei Jahren oder vor drei? Nur dass es Herbst war, weißt du noch. Der Herbst könnte deine Zeit sein, das hat Lynn einmal gesagt, und du weißt eigentlich gar nicht genau, was sie damit gemeint hat.

Wie lange ist es her, dass ihr euch getrennt habt, Franz und du, dass er ausgezogen ist? Und wie lange ist der Morgen her nach der Nacht, in der du zum ersten Mal überhaupt kein Auge zugetan hast? Als dich morgens im Büro die plötzliche Idee überfiel, an deinen Lidern hingen Haare, die dir übers Gesicht bis zum Kinn fallen? Wie lange ist es her, seit der Folterer anfing, dich ins Visier zu nehmen? Dein persönlicher Folterer, der dir vertraut ist wie nichts sonst. Kill him! (O-Ton Franz). Und wann hast du angefangen, mit ihm zu sprechen, weil du dachtest, er würde irgendwann antworten … Wie kommt es, dass du überhaupt noch lebst? Dass du immer noch bei dieser Komödie mitmachst, bei diesem Spiel ›törichte Hoffnung‹? Wie kommt es, dass du dir immer noch die Mühe machst, zu duschen, die Schuhe anzuziehen, zum Arzt zu gehn, dich in diese Röhre schieben zu lassen … Wie kommt es, dass es dir nicht längst egal ist, was das Labor des Onkologen herausfindet? Wie kommt es, dass in dem Film ›Margots Leben‹ immer noch Szenen auftauchen, in denen du ein Brautkleid trägst oder in denen Franz’ Hand sich auf eine bestimmte Stelle deines Körpers legt, oder dass du einen fünf Tage alten Kinderfuß auf der Oberlippe spürst und seinen Duft einsaugst? Oder der Augenblick, als du zum ersten Mal vor einer Klasse standest und deine eigene Stimme hörtest, als du dachtest, das Herz bleibt dir stehen, du aber loslegtest und eine Rede hieltest und dich wundertest, dass du das bist. Und hinterher die Albträume, in denen du ohne Manuskript dastehst und dir die Stimme versagt? Diese Szenen, die ein Regisseur irgendwo über den Wolken sich für dich ausgedacht hat, die sich immer wieder abspielen, trotz der zwei Therapien und der vielen Gespräche mit Franz und Lynn. Aber genau das scheint es zu sein, was dich am Leben hält. Was immer noch stärker ist als der Wunsch, endlich im Wasser davonzutreiben für immer.

Schon jetzt ist klar, man nimmt dich wieder nicht wahr. Kaum bist du hier, schon übersieht man dich. Du sitzt in einem Raum in einem breiten Sessel, dem einzigen, der hier steht, mitten vor der Terrassentür, aber man sieht dich nicht … da kommt einer daher und schaut sich alles genau an, jeden Tisch, jeden Gegenstand, das Bild an der Wand. Jedem Stuhl, jedem Vorhang, jeder Staubflocke schenkt er seine Aufmerksamkeit, sogar dem Kaugummi, den er in die Handfläche spuckt, bevor er ihn abschnippt … aber dich sieht er nicht. Du bist einmal wieder Luft, ein Nichts von einem Sesselinhalt, du könntest genauso gut nicht da sitzen … während der Mann da, so wie er sich bewegt, wie er seinen Rucksack schlenkert, wie er die eine Fußspitze nach innen dreht, nur damit sie der anderen im Weg ist, aussieht, als habe er es auf nichts anderes abgesehen als zu stolpern, nur damit man sich um ihn kümmert … dieser Typ ist einer, der sofort die Augen aller auf sich zieht, auf den man instinktiv zugeht, dem man sich vorstellt und dem man die Hand reicht … solche Leute stehen in einem Laden und werden immer zuerst bedient, ohne etwas dafür zu tun, während du darauf wetten kannst, dass die Verkäuferin dich übersieht. Selbst wenn du an der Reihe bist, richtet sie den Blick auf die neben dir stehende Person, und du musst dich mit hochgestrecktem Zeigefinger und einem Hallohier-bin-ich-Lächeln bemerkbar machen.

Sollst du dir die Haare noch schnell färben? Zeit dazu wäre. Du siehst ziemlich verkommen aus, wenn du die Kappe abnimmst, lauter Grau im Scheitel.

Ach, der Kerl aus dem Speisesaal, ich sehe es ihm an, ich hab da eine gute Nase, er ist einer von denen, die es nicht nötig haben, sich aufzuplustern, nein, bei ihm geht alles ganz anders. Er gehört zu den schwachen Helden, er ist einer, vor dem man sich sofort niederbeugen möchte, um ihm, wenn er gestolpert ist, den gelösten Schnürsenkel zuzubinden. Einer von denen, die etwas auf sich ziehen, das womöglich mit Liebe zu tun hat. Er löst etwas aus, das einen ganz verstört, diese Mischung aus Fürsorge und Erotik und zugleich einer Prise Protest.