Schönes Leben - Ulrike Kolb - E-Book

Schönes Leben E-Book

Ulrike Kolb

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Beschreibung

Schauplatz des Romans ist das Saarland der Nachkriegszeit: die erste deutsche Region, in der das heutige Europa vorweggenommen ist - wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen. La Sarre ist damals weder richtig französisch noch ist das Saarland richtig deutsch. Der Krieg ist zwar vorbei, aber die Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen ist lebendig, die Bewunderung der Deutschen für französische Lebensart und französische Frauen ungebrochen. Eine Fülle anrührender Lebensgeschichten verarbeitet Ulrike Kolb zu einem Gesellschaftspanorama des Alltags der »kleinen« und »großen« Leute. Ein ermordeter Fabrikant und seine Witwe, Arbeiter in einer Marmeladefabrik, ein jüdischer Student auf der Suche nach seinem Nazivater, eine Tochter aus höherem Haus, ein Chauffeur, der Probleme mit der ehelichen Treue hat, ein Homosexueller, der das KZ überlebt hat, Flüchtlinge, Spanienkämpfer und Altnazis. Der Roman verknüpft zahllose Geschichten, die die Autorin erlebt, gesammelt oder erfunden hat: das Unglaublichste ist vorgefunden, das Plausible erfunden.

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Impressum
Cover
Ulrike Kolb - Schönes Leben
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Impressum

In der Nacht, nachdem ihre Mutter ihr gesagt hatte, daß ihr Vater gestorben sei, träumte Lily zum ersten Mal von dem Hund mit dem Frauengesicht. Der Traum führte sie in einen von Backsteingebäuden umgebenen Hof, der sich weit bis zum Horizont erstreckte. Gestalten bewegten sich dort, deren lange Schatten sich unter der niederfallenden Sonne vergrößerten. Fernes Glockenläuten erfüllte die Luft und mischte sich in die Geräusche der Menschen.

Lily sah ihre Mutter in einem langen, dunklen Kleid, dessen Schleppe über den Boden schleifte und sich am Ende zu einem Krokodilschweif verjüngte. Das Kleid fiel in breiten Falten über den Bauch der Mutter und öffnete sich über dem Nabel. Weiße, gespannte Haut schimmerte darunter hervor. Auf dem Kopf trug die Mutter eine weiße Haube, die sich zu einem bizarren Ballon aufbauschte. Streng und bleich leuchtete das Gesicht der Mutter darunter hervor. Weit fort, im entferntesten Winkel des Hofes, bewegte sich eine hünenhafte Gestalt, in der Lily ihren Vater erkannte. Aus seiner Brust wuchs eine Bärenpranke. Sein Haar ragte in alle Richtungen, überhaupt sah er aus wie ein wüster Pirat. Er hielt eine menschengroße Rose in der Hand, deren Stiel, Blätter und Blüte glänzten, als wären sie in schwarzen Lack getaucht worden. Kinder und Tiere spielten zwischen den Erwachsenen, sie balgten sich, schlugen aufeinander ein, vollführten Sprünge und Purzelbäume. Die Sonne fiel tiefer hinab, und hinter den roten Backsteingemäuern erhoben sich Berge, die in rostigen Klippen zum Meer sanken. Zwischen schäumenden Wellen balancierten Schiffe. Männer kämpften darauf und stießen mit Lanzen aufeinander ein.

Als Lily den Hof betrat, erschien eine Person, die einen Hund an der Leine führte. Es war ein niedriges, helles Tier, zwischen dessen Ohren sich ein Frauengesicht wölbte. Dieses Gesicht war sehr ebenmäßig und sanft. Rechts und links seiner Schläfen fielen weich die Hundeohren zu Boden, wie langes, blondes Haar. Das Gesicht war dem Himmel zugekehrt, und Lily wußte später nicht mehr, ob es die Augen offen hielt oder geschlossen. Was sie aber erinnerte, war das Lächeln auf dem Gesicht. Es strahlte eine wunderbare Ruhe aus, wie die heilige Jungfrau in der Kirche.

Eiche, wie angeordnet, gnädige Frau. Monsieur Camon legte sorgfältig die Papiere zusammen, die Luise Aschen unterschrieben hatte. Die blaue Lampe warf kaltes Licht auf den Schreibtisch, das sich in matten Kreisen von dort ausdehnte. Hell war der Raum nur im Zentrum des Lichtkegels. Monsieur Camon saß in einem dunklen Ledersessel, alle Gegenstände erschienen dunkel in diesem Zimmer, dunkel und groß, und nur das Gesicht und die Hände Monsieur Camons leuchteten hell aus dieser diffusen Dunkelheit hervor. Luise Aschen verschloß ihren Füllfederhalter und schob ihn in die Handtasche. Dabei fielen Monsieur Camon die Fingernägel der kleinen Madame, so nannte er sie bei sich, auf. Sie waren so kurz, daß die Kuppen in schmalen Wülsten darunter hervorwuchsen. Nägel wie bei gestörten kleinen Mädchen, dachte Monsieur Camon, und der rote Lack darauf sah ganz unpassend zu der sonst so eleganten Erscheinung aus, wie spaßhaft aufgetupft. Wie eine kindische Clownerie.

Luise zog einen Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte. Sie mußte noch so viel erledigen, und in ihrem Kopf stieben die Dinge durcheinander. Sie hatte sich auf verschiedenen Zetteln alles notiert, was sie im Kopf hatte behalten wollen, aber auch diese Zettel stellten sich als unzulängliche Versicherung gegen Zerstreutheit und Vergeßlichkeit heraus. Luise hatte nie eine Beerdigung ausgerichtet, und jetzt sollte sie, vom einen auf den anderen Tag sozusagen, all diese wichtigen Angelegenheiten besorgen, die eigentlich Sache der Erwachsenen waren. Sie kam sich idiotisch kindisch vor. Ja, die Grabinschrift. Natürlich, im Grunde war es keine Frage. Sie hatte sich überlegt, in welcher Sprache sie sie in den schönen weißen Stein meißeln lassen sollte, den sie gerade ausgesucht hatte, und sie hatte beschlossen, daß es doch besser sei, auf das deutsche »hier ruht« zu verzichten. Oh wissen Sie, Madame, sagte Monsieur Camon, den sie um Rat gefragt hatte, kennt man die Seele des Volkes? Sie sehen ja, in diesen Zeiten, wo der Mensch sich über nichts mehr wundert, weil alles, worüber er sich noch hätte wundern können, schon stattgefunden hat. Sie sehen ja, … und er schüttelte den Kopf.

Luise nickte und streifte sich die Handschuhe über. Es waren schwarze, mit Seide gefütterte Handschuhe, sie hatte sie heute erst gekauft. Unmittelbar nach ihrer Ankunft im Hotel hatte sie sich schwarz eingekleidet. Es war wie ein Ritual gewesen, als sie loszog und sich auf ihre Streifzüge durch die Geschäfte begab, die grands magasins und die kleinen Boutiquen, das alles gehörte für sie dazu, wenn sie in Paris war. Paris war das Reich der Dinge. Und auch jetzt, trotz des Anlasses, hatte sie sich dieser Gewohnheit hingegeben, und das hatte ihr gutgetan. Das Unwirkliche der Situation, das ihr Leben in einen merkwürdigen Film verwandelt hatte, war plötzlich verschwunden gewesen. Und das hatte sie mehr beruhigt als alle Tabletten und tröstlichen Worte der Leute. Sie gefiel sich in dem Schwarz, und sie stellte sich vor, welches Bild sie während der Trauerfeier abgeben würde. Du sollst eine schöne Witwe haben, mein lieber Robert, auch in dieser Situation soll deinen Wünschen entsprochen werden. Es war wie eine Wiederbelebung gewesen, sich zu drehen und zu wenden vor den Spiegeln, einzutauchen in die Hoffnungen des Vergnügens und des Luxus. Danach hatte sich sogar ihr Appetit wieder eingestellt und sie war in ein Restaurant gegangen und hatte ein ganzes Menü verzehrt. Für Robert Aschen war Paris die zweite Heimat gewesen. Er hatte hier seine Ausbildung als Kaufmann gemacht. Seine testamentarische Verfügung, hier auch beerdigt zu werden, war für Luise keine Überraschung. Sie hatten sich kurz vor dem Krieg in einem Pariser Café kennengelernt. Luise war mit zwei Freundinnen für ein paar Tage hergekommen. Es war irgendein Witz gewesen, mit dem Robert sich an die jungen Damen herangemacht hatte, ein ziemlich blöder Witz, wie Luise fand. Er hatte sich dann ohne zu fragen zu ihnen an den Tisch gesetzt und einfach gesagt, Sie können mich Robert nennen. Dabei hatte er Luise auf eine Weise angesehen, die ihr nicht ganz ernsthaft vorgekommen war, irgendwie eine Spur zu leichtfertig. Und sie war sich nicht sicher gewesen, ob die Art, wie er sich gab, ein Zeichen weltmännischer Unbefangenheit war oder einfach unseriös. Dennoch hatte sie sich auf das Spiel eingelassen. Warum kein kleines Abenteuer, man kann es ja in Grenzen halten.

Und dann war alles sehr schnell gegangen. Robert hatte Luise ohne ihre beiden Freundinnen zum Essen eingeladen, danach in ein Varieté, und dann waren sie die ganze Nacht herumgezogen, von einer Bar zur nächsten. Er hatte nicht gegeizt, sondern sich von seiner großzügigsten Seite gezeigt. Auch damals hatte sie sich ein Paar Handschuhe gekauft, das heißt, Robert hatte sie ihr spendiert. Es war ihr märchenhaft vorgekommen, wie ihre neue Eroberung den teuren Preis mit frivoler Beiläufigkeit zahlte. Die Freundinnen waren alleine nach Dresden zurückgefahren, denn an diesem Tag hatte Luise beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen: auf die Karte Robert Aschen. Und sie hatte damit gewonnen. Das schöne Leben hatte nach der Hochzeit noch eine Weile angedauert. Sie waren in die Schweiz zum Wintersport gefahren und hatten so leicht und so wohlhabend gelebt, daß sie nur am äußersten Rand ihres Bewußtseins wahrnahmen, was um sie herum geschah. Erst der Krieg hatte sie auf den Boden der Realität gezwungen, und das Aufkommen war jäh wenn auch nicht so hart wie für andere gewesen. Es war nur der Unterschied zu dem sanften Lauf der Dinge zuvor gewesen, der sie schockierte. Ein paar Leute aus Roberts Clique hatten bereits früher fliehen müssen, kurz nach fünfunddreißig. Aber mit derlei Schikanen hatte sich Robert abgefunden, zumal er ja nicht selbst fliehen mußte. Erst der Krieg hatte Robert und Luise zutiefst erschreckt. Es waren dann Briefe mit geheimnisvollen Absendern gekommen, in denen um Hilfe gebeten wurde. Robert kam diesen Bitten des öfteren nach, dabei achtete er aber darauf, daß auf keinen Fall ein Kontakt seinerseits mit den Flüchtlingen ruchbar wurde. Über Josef Sukow, seinen langjährigen Fahrer, ließ er den ehemaligen Spießgesellen des Vergnügens gewisse Geldbeträge zukommen, nicht einmal Luise wußte davon. Später, zur Zeit der Deportationen verlor er die Flüchtlinge aus den Augen. Es war Robert Aschen einfach zu gefährlich geworden, den Kontakt in diesen horriblen Zeiten, wie er sich auszudrücken pflegte, aufrecht zu erhalten. Die Ansinnen der Hilfesuchenden waren unverantwortlich gewesen, wie Robert fand, schließlich habe ich Verantwortung für Frau und Belegschaft, sagte er sich. Er war bereits siebenunddreißig in die Partei eingetreten, aber aus rein taktischen Gründen, wie er später behauptete, sozusagen aus Gründen der Verantwortung und der Fürsorgepflicht seinen Leuten gegenüber. Eine tiefe Abneigung gegen Brutalität und Gewalt hielt ihn von vielen Dingen ab, die andere amüsierten. Zum Beispiel die Jagd oder Stierkämpfe in Südfrankreich nicht einmal Boxkämpfe mochte er sehen. Und die Brutalität, die damals im Gange war, hatte ihn zu dem privaten Schluß kommen lassen, lieber erst gar nicht daran zu denken. Denn fing das Denken erst an, ließ es einen nicht mehr los. Besser war es, den Gesetzen des Handels zu folgen, den Geboten des fantasievollen Paktierens, wenn es sein mußte mit dem Teufel. Seine französischen Sprachkenntnisse hatten ihm dabei beste Dienste geleistet, und im Zuge der Sequestrierung Lothringens war ihm manches Schnäppchen gelungen.

Luise hatte sich in diesen Dingen Roberts Ansichten angeschlossen. Sie bekam Kopfschmerzen, wenn sie heute an all dies dachte. Im übrigen war sie für das Schöne zuständig. Sie haßte alles, was nicht schön war. Sie war sich in dem großen Flug des Weltgeschehens immer vorgekommen wie ein schaukelndes Etwas. Die Dinge wuchsen und bewegten sich, verflüssigten sich, fluteten heran und stürzten über sie hinweg. Das einzig Zuverlässige war für Luise ihre Schönheit. Sie allein verschuf ihr Zugang zu der Welt der Ernstzunehmenden, derer, zu denen man aufschauen konnte, wie die jungen Frauen damals sagten. Und den Einsatz dieses außergewöhnlichen Vorzugs, denn sie war so schön, daß sich die Leute selbst in Paris auf der Straße nach ihr umsahen, hatte sie zu einer wahren Kunst entwickelt. Die Dramaturgie ihrer Auftritte war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war naiv und gekonnt. Manchmal erreichte sie Hollywoodniveau. Politik war ihr zutiefst suspekt, immer gewesen, und wie man sieht, hatte ich recht, sagte sie nach fünfundvierzig. Außerdem hatte sie eine Aversion, gebündelt zu werden, in irgendeiner Menge unterzugehen. Die Pflichtübungen im Bund deutscher Mädel hatten sie maßlos gelangweilt, und für das Fidele des Gemeinschaftslebens hatte sie auch nichts übrig gehabt. Sie verabscheute Arbeiten wie die in einem Bauernhaushalt, dem sie im Zuge des NS-Arbeitsdienstes als Kindermädchen und Küchenhilfe zugewiesen worden war. Als sie Robert Aschen kennenlernte, wußte sie sehr bald, daß hier gelebt wurde, wie es ihren Wünschen entsprach. So hatte sie es sich vorgestellt.

Und jetzt saß sie dem Bestattungsunternehmer Monsieur Camon gegenüber und mußte Entscheidungen treffen. Gott seis gedankt gab es Leute wie diesen erfahrenen Spezialisten seines Fachs. Sie nehmen die Dinge in die Hand, man kann sie ihnen vertrauensvoll überlassen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihr eine Verantwortung aufgebürdet, die ihr wie ein unüberwindliches Gebirge erschien. Morgens, wenn sie aufwachte und aus dem Fenster hinaus auf den Fabrikhof blickte, stießen Flüche in ihr hoch. Dieses finstere Gebäude, diese Zuckerrüben, dieser Ruß, dieser Gestank, diese Schlote und Halden, dieser ganze Dreck. Sie würde am liebsten alles verkaufen und irgendwo ins Grüne ziehen.

Gnädige Frau, sagte Monsieur Camon, er hatte sich diese deutsche Anrede eingeprägt, denn nicht selten waren während der letzten Jahre Kunden deutscher Herkunft zu ihm gekommen, gnädige Frau, wiederholte er, wenn ich auf das Eigentliche zu sprechen kommen darf, und er stellte eine Flasche Cognac auf den Tisch. Im vorliegenden Fall würde er ohne die Bekundung eines gewissen väterlichen Mitgefühls, sehr vorsichtig versteht sich, ohne jede Aufdringlichkeit, nicht auskommen. Diese kleine Madame schien der Sache, die ihr das Schicksal eingebrockt hatte, nicht gewachsen zu sein. Ein junges, verwöhntes Ding, nicht gerade überwältigt von Trauer, ein verwirrtes Hühnchen. Er bot ihr einen Cognac an, aller Erfahrung nach ein guter Einstieg ins Gespräch. Luise hatte den Kopf über einen Katalog mit Särgen gebeugt und biß am Nagel ihres rechten Zeigefingers. Diese pauvre petite malheureuse, dachte Monsieur Camon, als sie schuldbewußt den Finger aus dem Mund nahm und nach dem Glas griff. Madame, sagte er, wir haben unser Möglichstes getan, es ist nicht leicht für Angehörige, aber ersparen kann ich es Ihnen nicht. Er wartete einen Moment, er wollte ihr das Gefühl geben, auf eine derart belastende Angelegenheit, wie sie nun auf sie zukommen würde, innerlich vorbereitet zu sein. Ah, sie nickte. Ein zögerndes, tapferes Senken des Kindergesichts, das, wie Monsieur Camon fand, einen merkwürdigen Gegensatz zu der Eleganz ihrer Kleidung bildete. Äußerst reizvoll, dieser Gegensatz, dachte er, und er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie die kleine Madame bei der nun anstehenden Konfrontation reagieren würde. Er stellte sich das Zittern ihres Mundes vor, wie sie erbleichte und ihr Entsetzen angesichts des zur Person gewordenen Todes. Die Vorstellung gefiel ihm. Er genoß den Vorteil seiner Situation. Sie war ihm so vertraut, daß er ohne die geringsten Skrupel den Anblick der kleinen, ratlos in dem Katalog blätternden Madame auskosten konnte.

Er schlug ihr vor, die Entscheidung auf später zu verschieben und erhob sich aus seinem Sessel. Er tat dies mit der übertrieben erscheinenden Anstrengung, die im Laufe der Jahre Bestandteil seines Benehmens geworden war. Auch mit solchen Gesten wollte er der Kundschaft zeigen, daß er sich mit ihrem Kummer identifizierte. Der Mensch in Trauer ist ein Mensch in der Krise, pflegte er zu seinen Angestellten zu sagen, er ist zugänglicher für die Sprache der Zeichen als für die der schönen Worte. Ein Mensch in Trauer nimmt durch die Haut wahr, nicht durch das Hirn. Wie mit einem Kinde muß man mit ihm reden. Man muß ihm das Gefühl des Umsorgtseins geben. Der Trauernde soll die Gewißheit haben, alle Mühen würden ihm abgenommen und er brauche nur zu tun, was man ihm sagt. Rückfall, pflegte Monsieur Camon zu sagen, passagerer, trauerbedingter Rückfall in ein vorgeschichtliches Stadium der Seele. Der Mensch öffnet seine verborgensten Räume, eine ungewollte Naivität hat ihn weich gemacht, die Trauer beraubt ihn seines gewöhnlichen Selbstschutzes. Sie bewirkt einen seelischen Entkleidungsakt, man hat es mit einem psychisch nackten Menschen zu tun, dessen Wunde empfindlich offen daliegt, äußerst empfänglich für Schmerzzufügung. Deshalb Vorsicht mit Worten.

Zu Beginn seines Unternehmens hatte Monsieur Camon sein Lehrgeld gezahlt. Unwillentlich hatte er Kunden vor den Kopf gestoßen, ohne daß er auch nur im mindesten gewußt hätte, wieso. Bis er verstanden hatte, daß die Disposition des Trauernden für Leidzufügungen außergewöhnlich ist. Seit dieser Erkenntnis waren ihm derlei Malheurs nur noch selten vorgekommen. Heute verstand er es, den Ariadnefäden par les labyrinthes de l’âme seiner Klienten zu folgen, herauszufinden, um welchen Trauercharakter es sich handelt, und darauf konnte er bauen. Sowohl dramaturgisch als auch kommerziell. Es ist die Atmosphäre, um die es hier geht, pflegte er zu sagen, es ist die Wahrung der menschlichen Würde bei allen Vorgängen, auch den unvermeidlich trivialen. Es geht darum, von Anfang bis Ende des Bestattungprozesses eine ernste Feierlichkeit herzustellen. Denn der Hinterbliebene ist in seiner Verwirrung meist nicht in der Lage, die dazu nötige Entschiedenheit aufzubringen. Gleichgültig, ob er nun das geschehene Sterben als Verlust, Erleichterung oder gar als Glück für sich empfindet. Eine existentielle Erschütterung ist immer da. Wo der Mensch auch hingehen mag, ob in einen Himmel oder in eine Hölle, ob er nun in den großen Kosmos eingeht oder im Nichts zu Nichts wird, ob er in einem anderen Wesen wiedergeboren wird oder den Weg in ein anderes Weltensystem aufnimmt, der Anlaß bleibt ein äußerst feierlicher, wenn nicht der feierlichste überhaupt, den man sich vorzustellen vermag. Denn das Rätsel des Todes ist das einzige Rätsel, pflegte Monsieur Camon zu sagen, von dem man mit Sicherheit weiß, daß nie ein Mensch es lösen wird. Und das ist das feierlichste daran. Der Mensch taucht in sein singuläres Geheimnis ein, und die im Leben Zurückgelassenen werden von einer dunklen Ahnung befallen, die ihnen Angst macht. Und diese Angst hat nichts mit der Furcht vor Einsamkeit zu tun, wie ein verbreiteter Irrtum glauben machen möchte, pflegte Monsieur Camon zu sagen, sondern es ist die Angst vor dem Wesentlichen. Der Trauernde empfindet Angst, weil sich ihm der Abgrund des Unergründlichen geöffnet hat, der nichts bietet als Finsternis. Angesichts dieses Ausblicks, der sich als schreckliche Ahnung in seine Seele senkt, zittert der Zurückgelassene. Vielleicht, pflegte er zu sagen, wenn Kunden sich auf Gespräche über den Tod einließen, vielleicht ist es die Angst vor der Wahrheit an sich.

Aber im Falle der kleinen Madame machte Monsieur Camon nicht einmal den Versuch, über den Tod zu philosophieren. Ein auffälliger Zug um ihren Mund herum, der ihren geschminkten Lippen die klare Kontur nahm, ließ sie sehr unsicher erscheinen. Monsieur Camon fragte sich, ob dies ein trauerbedingter Zug sei oder ob er einen konstitutiven Charakterzug Madame Aschens ausmachte. Ich muß Sie darauf vorbereiten, daß sich die Physiognomie der Unfallopfer sehr verändert. Leider ist dies oftmals in einem solchen Ausmaß der Fall, daß selbst nächststehende Verwandte den Dahingeschiedenen nicht wiedererkennen. Dennoch, ich hoffe sehr, daß diese schmerzhafte Begegnung Ihnen ein würdiges Bild hinterlassen wird. Wir arbeiten mit ausgezeichneten Visagisten zusammen, Madame, und die Verantwortung den Gefühlen unserer Kunden gegenüber ist uns erstes Gebot.

Er schloß eine Tür auf, die in einen langen, weißen Korridor führte. Luise schwieg. Sie folgte dem kleinen alten Herrn, der mit sanfter Stimme auf sie einredete, sie war auf eine Weise sanft, daß Luise die Nebengeräusche des Sprechens hörte. Das einzig Harte an Monsieur Camon war sein Gang. Er trat fest auf, und seine auf dem Boden ungedämpften Schritte hatten etwas zur Ordnung Rufendes. Der Korridor öffnete sich zu einem Raum, der mit Särgen angefüllt war, ein Lagerraum, von dem aus ein weiterer Korridor führte. Luise spürte, wie ihr der Mund zitterte. Ich bin ein reines Nervenbündel, dachte sie, ich werde alles falsch machen. Der Gang kam ihr unendlich vor.

Als sie Robert das letzte Mal gesehen hatte, hatten sie sich gestritten. Sie war erbost zurückgeblieben. Sie wäre so gerne mitgekommen nach Paris, aber Robert hatte es nicht gewollt. Er war der Ansicht, sie müsse sich um Lily kümmern, die mit Grippe im Bett lag, was Luise völlig überflüssig fand. Schließlich hatten sie ihr Leben bis dahin auch nicht nach dem Kind ausgerichtet. Luise hatte geargwöhnt, ihr Mann wolle sich mit seinem Freund Hermann amüsieren. Du hast eine Weibergeschichte, hatte sie ihm unterstellt, mach mir doch nichts vor. Ich kenn dich doch. Ich dachte, ich hätte einen anständigen Ehemann, aber ich habe einen Lebemann geheiratet. Türenschlagend war sie aus dem Zimmer gestürzt und hatte sich weinend auf ihr Bett geworfen. Am Abend vor seiner Abreise hatte sie ein wunderbares Abendessen gekocht. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Robert mit allen Mitteln der Verführung umzustimmen. Schneebällchen mit Kalbsbraten und Weinsauce. Den ganzen Abend lang hatte sie sich jegliche Bemerkung zu dem eigentlichen Grund dieser Inszenierung verkniffen. Sie gab sich charmant und witzig, sie flirtete ein bißchen mit Hermann, machte Scherze über die alten Junggesellen, die es nicht lassen können, und setzte sich zu später Stunde Robert auf den Schoß, um ihm zu demonstrieren, daß sie ganz ihm gehöre, und daß dies auch sein Freund Hermann wissen solle.

Später hatten sie miteinander geschlafen. Immer wenn Luise die Liebe eher strategisch einsetzen wollte, passierte ihr das Unerwartete, daß plötzlich die in den Jahren verloren gegangene Leidenschaft hochkam und sie am Ende die Kontrolle über ihre zugleich geschickt und intuitiv in Szene gesetzten Aktivitäten verlor. Es ging immer um dasselbe: Sieg oder Niederlage. In diesem Spiel waren sie sich einig. Offene Kämpfe wie in jener Nacht setzten elektrifizierende Energien frei. Luises Zorn über die Verweigerung der Reise hatte einen geradezu tierischen Liebesanfall Roberts zur Folge. Aggressiv hatten sie sich übereinander hergemacht und die so gestellte Machtfrage den Einfällen ihrer Körper überlassen. Am nächsten Morgen war Luise in der festen Überzeugung aufgewacht, er würde sie nach Paris mitnehmen. Aber er war bei seinem lakonischen Nein geblieben und hatte sie enttäuscht und haßerfüllt zurückgelassen.

Als der Anruf der französischen Polizei kam, war sie gerade dabei, sich für den Abend zurechtzumachen. Sie hatte nicht auf dem Trockenen sitzen bleiben wollen und hatte sich mit ihrem alten Verehrer Fred Strauß verabredet. Schon bei den ersten Worten des Anrufers wußte sie, daß etwas Entsetzliches passiert war. Es war, als senke sich der Boden unter ihr. Und als wenige Tage später zwei Polizeibeamte bei ihr erschienen und ihr rätselhafte Fragen stellten, bevor sie ihr eröffneten, es läge da ein Verdacht vor, alles deute darauf hin, daß die Spurstange des Wagens angesägt worden sei, war ihr, als entfernten sich die Wörter, die an sie gerichtet wurden, in eine unendliche akustische Ferne. Sie hatte Mühe, überhaupt zu verstehen.

Wenn sie jetzt, Monsieur Camon durch den endlosen Korridor folgend, an all dies dachte, traten ihr Tränen in die Augen. Und in ihre Schuldgefühle angesichts der Verwünschungen, die sie nach Roberts Abreise gegen ihn ausgestoßen hatte, mischte sich die Idee, daß er sich mit Absicht auf diese Weise davongemacht haben könnte, allein um sie zu strafen.

Monsieur Camon redete und redete. Wenn auch das Leben, gnädige Frau, sagte er, ungerade und verschlungene Wege geht, so soll der Dahingegangene mit der Bestattung doch eine letzte Ordnung finden. Eine angemessene Zeremonie, dies ist unsere vornehmste Aufgabe. Die Philosophie des Abschieds ist ja eine Wissenschaft für sich, und glauben Sie nicht, daß wir es uns leicht damit machen. Auf dem Wege des Adieux soll der Mensch präsentabel sein, um nicht zu sagen: schön. Er soll sagen können, das Leben war ein Kampf, doch meine niedergeschlagenen Lider haben Frieden geschlossen. So wollen es die Kunden. Wobei, gnädige Frau, ich sowohl die werten Hinterbliebenen wie auch den Dahingegangenen als meine Kunden ansehen möchte. Ich wüßte nicht, wem ich mich mehr verpflichtet fühlte.

Jetzt endlich waren sie an einer Tür angelangt, die Monsieur Camon langsam öffnete. Sie betraten eine Art nobles Wohnzimmer, in dessen Mitte ein großer alter Tisch stand, auf dem ein Blumenbouquet prangte. An der Wand hing ein Gemälde, das einen ländlichen Trauerzug zeigte. Die Trauernden folgten mit gesenkten Köpfen einem von einem Pferdefuhrwerk gezogenen Sarg. Die Szene war in schweres herbstliches Licht getaucht und vermittelte den Eindruck ewigen, altmodischen Friedens, so jedenfalls dachte Luise beim Anblick des Bildes. Sehr bald öffnete sich die Tür zu einem nächsten Raum, den Luise nun, von Monsieur Camon schweigend gefolgt, betrat. Robert lag auf einer Bahre, er trug einen Smoking. Sein Gesicht war an der linken Seite von einem Pflaster verdeckt. Luise empfand nichts. Hätte ihr jemand gesagt, es ist ein Irrtum, das ist nicht der Robert Aschen, den du geheiratet hast, sie hätte es sofort geglaubt. Sie beugte sich über seine Hände und berührte sie mit dem Zeigefinger. Es sah komisch aus, wie der abgenagte, rote Fingernagel hilflos auf die toten Hände tippte. Aber nicht einmal die Kälte der Haut vermochte in Luise eine Spur von Schrecken, Entsetzen, Trauer oder sonst eine Empfindung hervorzurufen. Der Bestattungsunternehmer beschloß für sich, während er sie aufmerksam beobachtete, sie könne ihren Mann nicht geliebt haben. Es erstaunte ihn geradezu, wie ungerührt sie dastand, nicht einmal erstarrt, und ihm fuhr durch den Sinn, daß man diese Person in die Knie zwingen müsse.

Max Cheer schlug die Augen auf. Er hatte nicht gut geschlafen, immer wieder war er aufgewacht, klebrigen Fuselgeschmack auf der Zunge. Der Mann neben ihm schnarchte. Der Algerier war gestern erst angekommen. Er lag mit offenem Mund da, sein Kopf war zur Seite gewandt, und aus seiner Kehle kamen rhythmisch rollende Töne. Gestern, Max erinnerte sich jetzt, abendliche Sauferei. Eine Flasche Fusel war herumgereicht worden. Max hatte sich zu den anderen Männern gesetzt. Hatte sich aufs Mitlachen beschränkt. He, kennst du diesen? Die meisten Pointen verstand er sowieso nicht, und da er sich zu blöde vorkam, nachzufragen, lachte er einfach mit. Ihm selbst fielen keine Witze ein. Stille Wasser, Mann, ich sags ja, Anton hatte ihm auf den Rücken geklopft, mit einer Wucht, daß ihm der Kopf nach hinten schnellte. Die Edda hat ein Auge auf dich, verdammt noch mal, und der Kleine tut, als wär er ein Mönch. Habt ihrs gesehn, wie Blücher hat sie sich an ihn ran gemacht. Ist einem ja vom Zugucken schon der Knochen gestiegen. Hat ausgesehn, als hätt sie ihm die Brust geben wolln, armes Deutschland, und der Säugling merkt nix. Max war nichts Schlagfertiges eingefallen. Eddas Achselschweiß hatte gerochen wie ein Gemisch aus Maggi und nasser Wolle. Er hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt und gelacht, sollen sie denken, ich bin naiv. In Wirklichkeit bin ich nicht naiv, sondern anders, ganz anders. Womöglich unfähig.

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