Eine Liebe zu ihrer Zeit - Ulrike Kolb - E-Book

Eine Liebe zu ihrer Zeit E-Book

Ulrike Kolb

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Beschreibung

Meine Ehe wäre längst kaputt, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, sagt sie. Sie sind ratlos über die Gewalt der Lage, über den Zwang zur Heimlichkeit. Das Nichtwiedergutzumachende hat längst seinen Lauf genommen und droht, die Liebe zwischen Meret, der Israelin, und Anton zu ersticken. Beide beginnen ein neues Spiel mit neuen Liebhabern. Man gesteht sich wieder Geheimstes, man mißachtet die Gesetze der Liebe, und schon schnappt die Falle zu, die sie gefangenhält in Sehnsucht und Verlangen.

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Ulrike Kolb

Eine Liebe zu ihrer Zeit

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Über dieses Buch

Meine Ehe wäre längst kaputt, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, sagt sie. Sie sind ratlos über die Gewalt der Lage, über den Zwang zur Heimlichkeit. Das Nichtwiedergutzumachende hat längst seinen Lauf genommen und droht, die Liebe zwischen Meret, der Israelin, und Anton zu ersticken. Beide beginnen ein neues Spiel mit neuen Liebhabern. Man gesteht sich wieder Geheimstes, man mißachtet die Gesetze der Liebe, und schon schnappt die Falle zu, die sie gefangenhält in Sehnsucht und Verlangen.

Über Ulrike Kolb

Ulrike Kolb, Jahrgang 1942, war in verschiedenen Berufen tätig und lebt heute als freie Schriftstellerin und Journalistin in Frankfurt. 1995 wurde sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Preis des Landes Kärnten ausgezeichnet. Bisher sind von ihr neben Essays und Kurzgeschichten erschienen: «Die Rabe», 1984, Erzählung; «Idas Idee», 1985, Roman; «Die Versuchung des Normalen», 1986, Anthologie (als Herausgeberin); «Schönes Leben», 1990, Roman.

Inhaltsübersicht

Es wurde schon ...Eines Tages wird ...Es war in ...Ich hätte noch ...Jeder, der sich ...Die Kastanie vor ...Meret wollte nicht, ...Meret schrieb:Wir werden diesmal ...Wir waren nie ...Meret schrieb:Ich wollte die ...Meret schrieb:Ich schrieb:Meret schrieb:Am Nachmittag desselben ...Einmal trafen wir ...Meret schrieb:Meine Liebe zu ...Es war eine ...Meret schrieb:Merets Stimme aus ...Meret schrieb aus ...Das Licht schlägt ...Am Abend setzte ...Charlottes Hoffnung auf ...Meine Liebe mit ...Von draußen Gekicher ...Meret schrieb:Wie gut, daß ...Meret hatte mir ...Ich sah sie ...Als Meret das ...Meret schrieb:Meine Kopfschmerzen nach ...In ihrem letzten ...

Es wurde schon dunkel, und das historische Ereignis war immer noch nicht eingetreten. Von einem hohen Podest richteten sich Kameras und Scheinwerfer auf die Menschenmenge. Ich schob mich durch das Getümmel und hielt Ausschau nach einem mitteilenswerten Ereignis. In meinem Rücken quäkte es: Affengeile Schlitten, Herr. Es war die Stimme eines kleinen Jungen, der auf einem vor seinem Bauch wippenden Karton Matchboxautos balancierte. Er schien mich für einen Ostler zu halten, denn es waren lauter Luxusmodelle westlicher Automarken. Um ihn loszuwerden, drückte ich ihm ein Markstück in die Hand, aber schon war ich umringt von einer Schar Halbwüchsiger. Sie schrien auf mich ein, indem sie mir sowjetische Militärmützen, Rangabzeichen und Armbanduhren entgegenstreckten.

In diesem Moment tauchte ihr Gesicht auf. Der Schein eines Lichtkegels erhellte es für einen Augenblick, bevor es wieder in dem Gewimmel aus Köpfen, Schirmen und Gesichtern verschwand und plötzlich an anderer Stelle von neuem aufleuchtete. Ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann mir dieses Gesicht schon einmal begegnet war, und mir fiel auch kein Name dazu ein. Aber ich wußte, ich kannte es, ja, es war mir sogar vertraut. Und während ich in Richtung des Gesichts drängte und dabei versuchte, die immer noch auf mich einbrüllenden Kinder abzuschütteln, verlor ich es wieder aus den Augen. Ich wollte das Gesicht unbedingt wiederfinden, ich lief von einem Ende des Platzes zum anderen und wieder zurück, kämpfte mich bis hinüber zum Reichstag durch, und als ich keuchend haltmachte und mir überlegte, wonach ich eigentlich suchte, mußte ich mir eingestehen, daß ich schon wieder vergessen hatte, wie es aussah, dieses Gesicht, das wie ein Irrlicht aufgeblitzt und wieder verschwunden war.

Es war das Gesicht einer Frau, und ich wußte nicht einmal mehr, welche Farbe ihr Haar hatte. Ich zündete mir eine Zigarette an und machte mich auf den Heimweg.

Eine kalte Novembernacht, feucht und von Laubgerüchen durchzogen. Überall wehende Fahnen, und das Licht der Scheinwerfer erleuchtete die Gesichter der Wartenden: Nachdem die Mauer gefallen war, sollte jetzt auch das Brandenburger Tor geöffnet werden, das hell angestrahlte Tor mit der Mauer davor, auf der sich die Menschen drängten. Manche standen hoch aufgerichtet und fuchtelten triumphierend mit den Armen, manche saßen da und ließen die Beine baumeln, als flösse unter ihnen ein Flüßchen. Füße schlurften durch nasses Herbstlaub, englische, französische und russische Sprachfetzen mischten sich ineinander. Journalisten, die von irgendwo aus der Welt hergekommen waren, stellten Mutmaßungen über die nächsten Ereignisse an.

Nicht weit von mir eine Schlägerei, eine brennende Reichskriegsfahne, die über einem Geknäuel aus Armen, Köpfen und Beinen flackerte und plötzlich heruntergerissen wurde. Aufhören, aufhören, brüllte es, und immer wieder das Deutschlandlied in heiserem Chor samt «Deutschland, Deutschland über alles» und die Protestrufe dagegen. Weiter hinten, im Schutz der Bäume, eine Ansammlung von Stühlen, Luftmatratzen und Schlafsäcken, die sich ein paar Unverdrossene dorthin geschafft hatten, damit sie nur ja den historischen Moment nicht versäumten. Plötzlich ein Trommeln, mal vom Reichstag her, mal aus nächster Nähe, tiefe, harte Töne, die sich in Lautstärke und Tempo steigerten, bis es sich anhörte wie Maschinengewehrrattern.

Ich lief die Straße des 17. Juni entlang. Es nieselte, in meinen Füßen kündigte sich ein rheumatisches Ziehen an, da stand sie plötzlich vor mir. Eine schmale Gestalt, fröstelnd stand sie da und winkte einem Taxi zu, das aber vorbeifuhr. Entmutigt ließ sie den Arm sinken und blickte sich um. Als sie mich sah, bewegte sie sich einen Schritt in meine Richtung, blieb aber sogleich wieder stehen und wandte sich von mir ab. Das Licht der Straßenlaterne erhellte ihr Haar, und ich konnte sehen, wie es sich über ihrer Stirn kräuselte.

Ich wußte, wir waren uns vor Jahren einmal begegnet, aber wo und wann, das wußte ich nicht mehr. An das Gesicht jedoch konnte ich mich genau erinnern. Es war dasselbe Gesicht wie damals, und obwohl es sich verändert hatte, es war weicher geworden und runder, war ich sicher, daß ich mich nicht täuschte. Ich beobachtete sie von der Seite. Sie grub nervös in ihrer Handtasche. Immer wieder schob sie die Hand in die Tiefe des Taschenbeutels und hob den Inhalt daraus hervor, um ihn unters Licht zu halten. Aber sie schien nicht finden zu können, was sie suchte. Schließlich zog sie den Reißverschluß der Tasche zu, und ich meinte, einen kleinen Seufzer zu vernehmen. Dann nahm sie einen Stadtplan aus der Manteltasche, faltete ihn auseinander, setzte eine Brille auf und neigte den Kopf. Ich beobachtete sie eine ganze Weile, bevor ich zu ihr ging. Der Abstand zwischen uns war nur ein paar Schritte, und ich war sicher, daß sie mich bemerkt hatte.

Indem ich ihren Anblick auf mich wirken ließ, kam langsam ein Bild in mir auf. Es war eine größere Gesellschaft. Die Frau saß neben mir an einem langen Tisch, und wir aßen etwas. Sie redete, ja, jetzt meinte ich sogar, mich an den Klang ihrer Stimme zu erinnern. Eine dunkle, gelassene Stimme, die immer bereit ist, in Unruhe umzuschlagen. Eine Stimme, wie ich sie mir bei alt gewordenen, schönen Schauspielerinnen vorstelle. Eine Stimme, die ich mir nur mit einem ganz bestimmten Mund zusammen denken konnte, einem weichen, von kleinen Falten umgebenen Mund, dessen Oberlippe die Unterlippe ein wenig überragt.

Hören Sie, sagte ich, falls Sie ins Zentrum wollen, ich kann Sie mitnehmen. Sie warf mir einen erstaunten und zugleich zerstreuten Blick zu, als nähme sie nicht ganz ernst, was da zu ihr gesagt wurde. Verzeihen Sie, und indem ich mich reden hörte, fiel mir auch schon die Lächerlichkeit dieses Satzes auf, der aber bereits gesagt war: Ich glaube, wir kennen uns.

Ach ja?

Eine spöttische Ungläubigkeit und ein plötzlich klarer, zielgerichteter Blick, in dem jene Art von Abweisung lag, die mich immer in den Zustand von Schuldbewußtsein versetzt. Ich merkte, wie sich gegen meinen Willen das verbindliche Lächeln in mein Gesicht setzte, das ich wie ein Kainsmal mit mir herumzutragen scheine und von dem Dela, meine geschiedene Frau, behauptet, es schade mir mehr als meine Scheu vor öffentlichen Reden.

Also gut, sie lächelte, faltete achtlos ihren Stadtplan zusammen und stopfte ihn in die Manteltasche. Egal, ob Sie mich kennen oder nicht, besorgen Sie mir ein Taxi, wo zum Teufel sind die Taxis in diesem gottverlassenen Frontnest?

Vor sieben oder acht Jahren, Madrid, falls Sie sich erinnern … ein Journalistenkongreß, hörte ich mich sagen, wir saßen während eines Abendessens nebeneinander … Dabei fiel mir ein, daß ich meinen Wagen gar nicht mitgenommen hatte und daß mein Angebot, sie in die Stadt zu bringen, in jeder Beziehung unseriös wirken mußte. Aber sie lachte mir ins Gesicht, als würde auch sie mich wiedererkennen, und murmelte: Madrid, Madrid, das ist ja vielleicht komisch … kommen Sie, haben Sie eine Zigarette für mich? … Madrid, Kongreß, warten Sie.

Sie beobachtete, wie ich meine Taschen durchwühlte, und während mir ihre Hand ungeduldig entgegenfächelte, sagte sie: Ich bin nie in Madrid auf einem Kongreß gewesen, tut mir leid, das muß ein Irrtum sein. Sie schüttelte den Kopf und zog eine Zigarette aus der Schachtel, die ich endlich gefunden hatte. In diesem Moment hielt ein Taxi, dem wir gar nicht zugewinkt hatten, und wir schoben uns durch die offengehaltene Tür auf den Rücksitz.

Sie schnippte ein Feuerzeug an und hielt es vor mein Gesicht. Sagen Sie mal, kann es sein, daß Sie Madrid mit … Sie überlegte, kniff die Unterlippe ein, sog an der Zigarette, indem sie den Kopf leicht zurücklehnte und die Augen schloß. … mit Paris verwechseln? Da war ich nämlich mal auf einem Kongreß, kann das sein?

Ich konnte mich an keinen Kongreß in Paris erinnern, aber ich ließ diese Möglichkeit offen. Wie peinlich, versicherte ich ihr, wie peinlich, daß man alles vergißt.

Damals, sagte sie, damals als mein Freund Ted Kerner … vielleicht kennen Sie ihn ja auch, wenn Sie mich kennen? Sie blickte mich forschend an. Sie erzählte, daß ihr der Kongreß deshalb so gut im Gedächtnis geblieben sei, weil es ihren Freund Ted damals im Hotelzimmer erwischt hätte, eine Herzattacke, an deren Folgen er immer noch leide.

Ich tat, als dächte ich nach, aber ich wußte genau, ich war nie auf einem Kongreß in Paris gewesen.

Waren Sie vielleicht der, der den genialen Vortrag über die kreative Potenz des Chaos am Schreibtisch gehalten hat, erinnern Sie sich? Mein Freund Ted zitiert bis heute daraus, diese Sache mit der kreativen Chaospotenz und dem unkreativen Potenzchaos, waren Sie das nicht? Sie musterte mich von der Seite, und ich war mir sicher, sie machte sich lustig über mich.

In dieser Nacht feierten Meret und ich den nicht eingetretenen historischen Moment. Sie wollte etwas Typisches, etwas Berlinisches, und ich lud sie zu Franz Diner ein, wo sie sich mit Appetit über ein Kotelett mit Sauerkraut hermachte. Wir tranken Bier und Korn, je später es wurde, desto wacher wurde ich. Und ich glaube, ihr ging es ebenso.

Sie erzählte, daß sie für zwei Jahre in Paris sei, um für eine Zeitung in Israel über Europa zu berichten. Später kam sie auf ihre Mutter zu sprechen, die in Berlin geboren war.

Bis heute hört man es ihr an, sagte sie, sogar ihr Hebräisch klingt nach Berlin. Sie hat eine Lehre bei einer Hutmacherin gemacht, bei einer Frau mit dem Namen Mai, und bis heute liegt auf ihrem Kleiderschrank eine Hutschachtel, so ein großes rundes Ding, dessen Deckel mit einer Zeichnung geschmückt ist. Die Zeichnung zeigt eine Dame, darunter steht «Nicht nur im Mai trägt die Berlinerin Hüte von Mai». Die Dame ist knabenhaft schlank und hat die Schulter hochgezogen, auf die sie das zur Seite gedrehte Kinn schiebt. Eine affektierte und schrecklich angestrengte Haltung. Ihr Gesicht ist nur im Profil zu sehen, ihr Blick ist nach oben gerichtet, und natürlich trägt sie einen Hut, ein schwarzes Käppchen, das eng an dem zitronengelben, gewellten Haar anliegt und über der Stirn in einen Schleier übergeht, der wie eine Spinne die obere Hälfte ihres Gesichts überspannt. Als Kind habe ich mich immer vor den Spiegel gestellt und die komische Haltung dieser Dame nachgemacht. Ich dachte, alle Berlinerinnen sähen aus wie diese Dame mit dem Hut und überhaupt alle Frauen in Deutschland, was eine zwiespältige Bewunderung in mir hervorrief.

Meret versuchte, mir die verdrehte Kopfhaltung zu demonstrieren, und spitzte den Mund, wobei ihre Oberlippe sich noch mehr über die Unterlippe schob, was eine unwiderstehliche Wirkung auf mich hatte. Ich wußte immer noch nicht, woher ich sie kannte, und ich war froh, daß auch sie sich nicht erinnern konnte, wo sie mich schon einmal gesehen hatte, obwohl auch mein Gesicht ihr bekannt vorkam.

Es war schon sehr spät, als ihr einfiel, daß ihr Großvater nicht weit von hier ein Geschäft gehabt hatte. Es muß hier in dieser Gegend gewesen sein, sagte sie, können wir nicht vorbeifahren? Ich meine, es suchen? Irgendwo Nähe Savignyplatz, eine kleine Firma, Berliner Konfektion. Als meine Mutter, sie war sechzehn damals, sich einer Jugendgruppe anschloß, einer Art jüdischer Wandervogelbewegung mit sozialistischen Vorstellungen, als sie sich von ihrem teutonischen Verlobten trennte und Berlin verließ, um in Palästina einen Kibbuz aufzubauen und alle Hüte für immer an den Nagel zu hängen, soll mein Großvater so erbost gewesen sein, daß er sich weigerte, sie an den Bahnhof zu begleiten.

Sie nickte, so wie man einem Kind zunickt, dem man etwas fürs Leben beibringen möchte.

Diese verrückte Familie, sie haben deutschnational gewählt und nicht nur Chanukka, sondern auch Weihnachten gefeiert. Weihnukka haben sie es im Spaß genannt, sie leerte ihr Glas, und als sie den Kopf wieder hob, haftete über ihrer Oberlippe ein Schaumbart, der die Bewegungen ihres Mundes mitmachte. Lächelte sie, hob er sich wie eine weiße Raupe rechts und links nach oben. Halb singend wiederholte sie: Weihnukka …

Weißt du, sagte sie, wir duzten uns, obwohl wir einander immer noch nicht vorgestellt hatten, weißt du, meine Großmutter hatte eine Art musikalischen Salon, jahrelang hat sie am ersten Sonntag im Monat eine Matinee veranstaltet. In den Zeiten, die selbst meine unsentimentale Mutter die guten alten nennt, war es ihr gelungen, berühmte Pianisten und Sänger an Land zu ziehen. Aber in den letzten Jahren waren nur noch Tante Lotti und Tante Lucinde übriggeblieben. Tante Lotti spielte Klavier, und Tante Lucinde sang das Lied von der Forelle und das von der schönen Müllerin oder von dem Grün, das ich so gern hab. Meine Mutter hat noch heute eine Schellackplatte im Schrank liegen, die Tante Lucindes Mann zur silbernen Hochzeit pressen ließ. Wenn wir sie auflegten, brach meine Mutter immer in boshaftes Gelächter aus, denn sie konnte Tante Lucinde nicht ausstehen und fand ihren Gesang ein unerträgliches Geknödel.

Irgendwann muß mein Großvater seine Meinung geändert haben, aber da war es zu spät. Die ganze Familie hatte Berlin schon verlassen, auch meine Großmutter. Der Mann muß doch zur Vernunft kommen, soll sie immer gesagt haben. Als sie nichts mehr von ihm hörte, wollte sie wieder zurück, was meine Mutter und ihre Schwestern verhindert haben. Nach dem Krieg erzählte eine Nachbarin, mein Großvater soll in seiner alten Ulanenuniform aus dem Ersten Weltkrieg, die er immer wie eine Reliquie im Kleiderschrank gehütet hatte, auf die Straße gegangen sein und lauthals «Raus mit uns, raus mit uns» gerufen haben.

Und nach einer Pause und einem schnell geleerten Glas Schnaps warf sie mir einen Blick zu, direkt in die Augen, daß ein sanfter Schrecken in mir hochfuhr.

Ich bin übrigens zum erstenmal in Berlin, sagte sie, ich hatte vorher nicht den Mut dazu. Und außerdem bin ich froh, jemanden gefunden zu haben, der mir zuhört.

Später liefen wir durch die Straßen Charlottenburgs auf der Suche nach dem Haus, in dem die Firma ihres Großvaters gewesen war. Aber jedesmal, wenn sie meinte, so ähnlich könnte es ausgesehen haben, sie kannte es von einer alten Fotografie aus dem Album ihrer Mutter, kamen ihr sogleich wieder die Zweifel, denn nirgends waren die beiden um eine Säule sich windenden nackten Knaben aus Stein zu finden, an die sie sich doch so genau erinnerte. Nach langer vergeblicher Suche kam ihr auch dieser einzige Anhaltspunkt fragwürdig vor, und sie wußte jetzt gar nicht mehr, was sie auf der Fotografie in Wirklichkeit gesehen hatte und was nicht.

Wir verbrachten die Nacht zusammen in ihrem Hotel, und als ich sie am nächsten Morgen zum Flughafen begleitete, wußte ich, daß dies nicht unsere letzte gemeinsame Nacht gewesen war.

Eines Tages wird man uns unter einer Lawine aus Nachrichtengeröll hervorbaggern, uns, die wir mit Armen und Beinen um uns schlagen. Wir bilden uns ein, der Erstickung an den massenhaft mitgeteilten Ungeheuerlichkeiten durch wilde Bewegung zuvorzukommen. Wir glauben, durch panisches Strampeln könnten wir uns schützen, wenigstens uns selbst. Dabei werden wir nur mehr und mehr zugeschüttet. Es donnert auf uns herab, Steine, Geröll vom Himmel.

Das Bild eines hingeschossenen Körpers auf einer Straße, die Beine verdreht, den Arm unter der Achsel abgerissen, das Gesicht schwarz und aufgedunsen, den hochgerutschten Rock über schmutzigen toten Schenkeln, halb bedeckt von zerrissenen, blutigen Strümpfen. Unsere Arme rudern, eine ununterbrochene Anstrengung, das Luftloch um uns ist noch nicht verschlossen, und durch die permanente Bewegung unserer Extremitäten, so denken wir, ließe sich dieses Loch zum Nachschub von Atemluft offenhalten. Eine nachrichtenfreie Zone, um die Haut ein letzter freier Raum. Das Perpetuum mobile unseres Berufs: die nie versiegende, täglich von neuem hochgejagte Unruhe als Triebkraft. Eine unheimliche Energie. Bestimmte Nachrichten haften aufdringlich lange im Gedächtnis, man weiß nicht, warum. Zum Beispiel die Sache mit der Ratte, die einem vier Monate alten Kind ein Augenlid abgefressen hat. Sie hatte sich durch den Fußboden in das Kinderzimmer genagt, und als die Eltern vom Schreien des Kindes geweckt wurden, war es schon zu spät.

Nichts schlimmer als Stillstand. Das Vakuum zwischen unserer Haut und dem Nachrichtengeröll, dieses rettende Vakuum, es droht sich aufzufüllen. Der Unrat wird Ereignis für Ereignis direkt in unsere Haut dringen. Die Vorstellung schon macht uns krank, und wir stellen alles an, das zu verhindern, was womöglich längst stattgefunden hat. Die Nachrichten, unser Lebenselixier, ohne das wir ermüden, verdorren, von Trübsal heimgesucht werden. Wir, die wir uns von Katastrophen ernähren.

Ach, was wissen wir denn von der Ruhe, nach der wir uns sehnen, hatte Meret einmal gesagt.

Übergeschnappte Angestellte und verrückt gewordene Hunde, die, anstatt zu bellen, lange, winselnde Reden halten. Alle künden von einer Zeit nie dagewesener Schrecken. Etwas Neues? Oder ein naturwüchsiges Phänomen der Jahrtausendwende?

Diese Phantasien scheinen sich auszubreiten, eine Hirnpest, Anton, hatte sie gesagt und die Mundwinkel heruntergezogen.

Bei euch scheint man besonders an ihnen zu hängen, ich verstehe das nicht, sagte sie. Hört auf damit. Es ist doch Schwachsinn zu glauben, die Dinge hätten einen von langer und womöglich göttlicher Hand vorbereiteten Sinn. Was für ein Quatsch. Warum legt ihr in alles soviel Bedeutung? Wir, die Nachrichtenmacher, wissen doch, daß das meiste Zufall ist!

In meinem Viertel läuft ein Mann herum, seit Jahren streunt er durch die Straßen, ausgestattet mit ein paar Plastiktüten. Auch er war einmal Journalist, einer dieser brillanten Scharfmacher. Was er schrieb, war ätzend, wie unsere Kinder sagen würden. Heute hält er lange Reden an ein nicht vorhandenes Publikum. Ich habe einmal versucht zu verstehen, was er sagt, aber es war unmöglich, nichts als bedeutungsschwer betonte Vokale und Konsonanten. Nie habe ich jemanden großartigere Reden halten hören als diesen Scheinrhetoriker. Wenn man ihn anspricht, antwortet er, als würde er etwas mit Sinn von sich geben, aber es ist akustisch nicht zu verstehen. Sein mit roter Säuferhaut überzogenes Gesicht sieht einen blöde an, manchmal beneide ich ihn.

 

Ich beugte mich über sie und sog ihren warmen Atem ein. Sie öffnete die Augen und sah hoch. Ihr Blick streifte mein Gesicht und verschwand unter den oberen Augenrändern. Das Gleiten der Iris durch das Weiße im Auge, ein Blickkegel aus dem Schatten hervor und sofort verschwunden. Dann ruhten die Wimpern wieder über der Wange, schwarz und zu Dreiecken verklebt, wie nasse Pinselspitzen. Durch eine Öffnung der Augen ein Sog auf eine Bahn hinab, in einen Raum.

Wenn ich an Meret denke, denke ich als erstes an diese Augen und die Bewegungen ihrer Lider.

Du bist verrückt!

Wieso?

So was überhaupt nur zu denken!

Warum nicht? Was ist dabei?

Ich kann meinen Mann nicht so betrügen.

Ach wirklich? Du tust es doch.

Ich meine, nur bis zu einem gewissen Punkt.

Macht es denn einen Unterschied?

Jedenfalls nicht so –

Die Arme unter dem Kopf, die Augen eingebettet in dunklere, faltige Haut. Draußen hämmerte es, Stimmen durchs Fenster, Aneinanderschlagen von Metall und das mit Hupen und Schreien vermischte Rauschen des Verkehrs. Meret hatte sich ausgestreckt und rauchte. Mir fiel auf, wie breit ihre Hände waren. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Brauen, die sich wie ein Accent circonflexe in der Mitte aufeinander zubewegten, Zeichen äußerster Anspannung, ich kannte es schon.

Es geht nicht.

Schade, ich hätte zu gern gesehen, wie du wohnst.

Vielleicht später.

Später ist nichts anders.

Vielleicht doch.

Es war in einem Hotel in Paris, in der rue du Dragon. Ich saß auf der Bettkante und hatte ein Buch auf den Knien liegen. Die aufgeschlagene Seite zeigte den Ausschnitt eines Bildes, das ich immer wieder betrachtete. Ein Mann ragt, das Kinn in die Hand gestützt, aus dem Kronengefieder eines Vogels. Ein anderer Mann hebt den Arm zum Schlag, sein Kopf ist in ein transparentes Gehäuse gesperrt, dessen Spitze bizarr nach oben zeigt. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, man sieht nur, daß er aufgeworfene Lippen hat. Ich hatte Meret das Buch über Hieronymus Bosch mitgebracht, um ihr dieses Bild zu zeigen, denn es schien mir alle Wirren darzustellen, die ich zur Zeit empfand und in denen ich mich manchmal zu verlieren glaubte.

Sie bewegte den Arm zum Nachttisch und tastete nach dem Aschenbecher, aber die Asche fiel zu Boden. Ich schlug das Buch zu und legte mich neben sie. Kurz zuvor hatte ich mich angezogen, aber jetzt schob ich noch einmal meine Schuhe von den Füßen und hörte sie, einen nach dem anderen, mit einem dumpfen Geräusch aufkommen.

Mir ist, als würden wir uns schon immer kennen, sagte sie ernst. Ich antwortete nicht. Es kam mir abgedroschen vor, so etwas zu sagen, und zugleich hätte ich es ihr gern geglaubt.

Hast du deinen Mann oft betrogen? wollte ich wissen.

Sie schüttelte den Kopf. Eher selten.

Und du?

Was, ich?

Ich meine, als du noch verheiratet warst?

Ob ich meine Frau oft betrogen habe?

Zum Beispiel.

Vielleicht zwei- oder dreimal, log ich.

Sie seufzte. Weißt du, sagte sie, vor kurzem war etwas passiert. Unsere Tochter, sie war schwanger. Wir sind mit ihr zum Arzt gegangen und haben gewartet, bis sie aus dem Behandlungszimmer kam. Du mußt wissen, sie ist erst siebzehn.

Sie konnte kaum gehen, sie hatte Schmerzen, und man hatte ihr Valium gegeben. Ich wollte sie stützen, aber sie stieß mich von sich. Laß mich, schrie sie, faß mich nicht an, und sie schlug meinen Arm weg. Dann klammerte sie die Hände um ihren Bauch und zog die Schultern hoch. Vornübergebeugt ging sie vor mir her und tat, als gäbe es uns nicht. Mein Mann und ich folgten ihr, ich trug ihren Mantel, mein Mann ihre Tasche. Wie Verbrecher kamen wir uns vor. Unser kleines Mädchen, sie war so zerbrechlich, als sie ein Kind war. Nie hatte ich mir vorstellen können, daß sie einmal eine Frau sein würde.