Die Schlafwandlerin - Jack Jordan - E-Book

Die Schlafwandlerin E-Book

Jack Jordan

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Beschreibung

Wird Strafverteidigerin Neve Harper einen Fall verlieren – oder alles, was sie liebt? »Die Schlafwandlerin« ist ein explosiver, rasanter Thriller vom britischen Meister des moralischen Dilemmas, Jack Jordan. Neve Harper ist die beste Strafverteidigerin Londons, und ehrgeizig noch dazu. Sie ist ein echter Glücksfall für den Geschäftsmann Wade Darling, dem vorgeworfen wird, seine Frau und die beiden Kinder im Schlaf ermordet zu haben. Die Indizien sprechen gegen Wade, trotzdem ist die ehrgeizige Anwältin überzeugt, seine Unschuld beweisen zu können. Kurz vor Prozessbeginn erhält die Anwältin jedoch eine unmissverständliche Botschaft: Wenn sie nicht will, dass ihr dunkelstes Geheimnis ans Licht kommt, muss sie Wades Fall verlieren. Für Neve steht bald alles auf dem Spiel – ihre Karriere, ihre Freiheit und die Sicherheit ihrer Stieftochter Hannah. Kann sie ihren Mandanten und ihr berufliches Ethos verraten, einen möglicherweise Unschuldigen ins Gefängnis bringen, um sich und Hannah zu schützen? Psychologischer Thriller mit reichlich Plot-Twists für Leser*innen von Julie Clark, Steve Cavanagh oder Gillian McAllister Wie schon im Thriller »Die Herzchirurgin« stellt der britische Autor Jack Jordan seine Heldin vor die unmögliche Wahl zwischen dem, woran sie glaubt, und dem, was sie liebt. Hohes Tempo und unerwartete Wendungen fesseln Fans von echten Pageturnern an die Seiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jack Jordan

Die Schlafwandlerin

Thriller

Aus dem Englischen von Sigrun Zühlke

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Neve Harper ist die beste Strafverteidigerin Londons. Sie ist ein echter Glücksfall für den Geschäftsmann Wade Darling, dem vorgeworfen wird, seine Frau und die beiden Kinder im Schlaf ermordet zu haben. Die Indizien sprechen gegen Wade, trotzdem ist die ehrgeizige Anwältin überzeugt, seine Unschuld beweisen zu können. Kurz vor Prozessbeginn erhält Neve jedoch eine unmissverständliche Botschaft: Wenn sie nicht will, dass ihr dunkelstes Geheimnis ans Licht kommt, muss sie Wades Fall verlieren. Für Neve steht bald alles auf dem Spiel – ihre Karriere, ihre Freiheit und die Sicherheit ihrer Stieftochter Hannah. Kann sie ihren Mandanten und ihr berufliches Ethos verraten, einen möglicherweise Unschuldigen ins Gefängnis bringen, um sich und Hannah zu schützen?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

TEIL EINS

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

TEIL ZWEI

Tag eins

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Tag zwei

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Tag drei

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

TEIL DREI

Tag vier

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Tag fünf

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

Danksagung

Gewidmet: dem Dream-Team

TEIL EINS

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Fünf Tage bis zum Prozess

Der Gedanke an eine ermordete Familie sollte mich anwidern. Ja, zornig machen. Und doch erfüllt mich freudige Erregung wie vor einem ersten Date: dieses eifrige Schlagen von Schmetterlingsflügeln in meinem Bauch.

Ich sitze über der Akte zu Wade Darlings Fall, das blutrote Band liegt abgewickelt auf meinem Schreibtisch, und betrachte die losen Seiten, eselsohrig abgegriffen aus der Zeit, in der sie bei Adrian Whittaker QC, Kronanwalt, in Gebrauch waren. Ich stelle mir vor, wie er sich vom Bahnsteig der Northern Line vor den einfahrenden Zug wirft, und schaudere. Ein brillanter juristischer Verstand, verloren. Ich habe ihn einmal persönlich getroffen und hätte nie gedacht, dass er der Typ für so etwas sein könnte. Aber andererseits, wer ist das schon, solange er nicht an seine Grenzen gebracht wird?

Erst vor ein paar Tagen war ich grün vor Neid wegen dieses Falles. Jeder Anwalt, der auch nur einigermaßen bei Sinnen ist, hätte ihn angenommen: die Berichterstattung, der Schub für die Karriere, die Anerkennung der Kollegen; Kronanwalt, falls man nicht sowieso bereits dazu berufen wurde. Es ist ein Prozess, von dem man nur träumen kann, zumindest, wenn man von der zugrunde liegenden Tragödie absieht. Ich werfe einen Blick in meinen Kalender und streiche mir den Tag im Geiste an: Mittwoch, 2. Januar 2019, der Tag, der über meine Karriere entscheiden wird.

Als man mir gestern mitteilte, dass ich zur Verteidigung auserwählt wurde, saß ich einen Moment lang einfach nur da und ließ auf mich wirken, dass dieser Fall meine berufliche Laufbahn für immer verändern wird. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, um mich vorzubereiten! Es wäre viel einfacher, wenn mein Mandant nur eines Bagatellvergehens beschuldigt würde; für solche Fälle gibt es Blaupausen. Die Verteidigung in einem solchen Fall könnte ich im Schlaf herunterbeten. Aber innerhalb weniger Tage die Verteidigung für einen Mandanten erarbeiten, dem dreimal lebenslänglich droht, in einem Prozess, von dem es heißt, er würde der größte des Jahres?

Ich reiße mich aus meinen Gedanken und sehe auf meine Hände hinab. Die Knöchel sind weiß, so heftig umklammere ich die Armlehnen meines Schreibtischstuhls. Vorsichtig löse ich sie und bewege die Finger, bis das Blut in die Spitzen zurückfließt. Es ist schon lange her, dass ich eine Akte aus Papier in Händen halten konnte. Selbst die Justiz ist mittlerweile im digitalen Zeitalter angekommen. Ungeachtet dessen hängen ältere, erfahrenere Verteidiger wie Whittaker oft noch an der Vergangenheit, gefangen in dem Aberglauben, dass jede Veränderung der Gepflogenheiten ihre Leistung beeinträchtigen könnte. Ich verstehe das. Das Papier in der Hand fühlt sich richtig an; so muss sich ein Maler fühlen, wenn er seinen Pinsel hält.

Ich streiche mit den Fingerspitzen über den Aktendeckel und genieße den Moment. Ich habe schon früher in Mordprozessen verteidigt, aber noch nie in einem dieser Größenordnung, und mit meinem bevorstehenden fünfzehnjährigen Dienstjubiläum könnte das Timing nicht besser sein. Den Darling-Prozess zu gewinnen, befördert mich stehenden Fußes zum Kronanwalt. Bessere Fälle. Bessere Bezahlung. QC, Queens Counsel, Kronanwalt – diese zwei schlichten Buchstaben hinter meinem Namen, nach denen ich schon länger strebe, als mir lieb ist. Und trotz der kurzen Zeit, die ich zur Vorbereitung habe, hilft der Gedanke an Whittakers jahrzehntelange Erfahrung und Kompetenz, meine Nerven zu beruhigen. Wenn ich mir einen so kurzfristigen Fall aussuchen müsste, würde ich immer einen von ihm wählen.

Ich werfe einen Blick auf die Titelseiten der Tageszeitungen, die aufgefächert auf meinem Schreibtisch liegen. Auf jeder ist das großzügige Landhaus der Darlings abgebildet. Flammen lodern aus den Fenstern. Monatelang haben die Morde die Schlagzeilen beherrscht, bis sich jeder von den schottischen Highlands bis nach Land’s End seine Meinung über den Fall und meinen Mandanten gebildet hatte. Durch das ständige Gerede wurde die Wahrheit so häufig durch den Wolf gedreht, dass ich alle Hände voll damit zu tun haben werde, die Öffentlichkeit wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Lügen sind immer so viel verlockender.

Ich ziehe meine Ausgabe der Metro aus dem Stapel und werfe einen Blick auf meinen Mandanten: Wade Darling nimmt die Titelseite ein, fotografiert, als er nach seiner Verhaftung in Handschellen aus dem Krankenhaus geführt wurde, weil er seine Familie im Schlaf ermordet haben soll. Soweit ich das sehen kann, ist er ein gut aussehender Mann: helle Augen, klar konturierte Wangenknochen, dichtes blondes Haar – außergewöhnlich für einen Mann jenseits der vierzig. Mit seinem guten Aussehen wird er sicherlich in der Lage sein, einige der Geschworenen für sich einzunehmen, falls sie über die ihm vorgeworfenen Verbrechen hinwegsehen können. Auf dem Foto überragt er die Beamten, die ihn flankieren, und selbst in Handschellen strahlt er noch Autorität aus. Ich frage mich, wie er auf seine Familie gewirkt hat, hinter verschlossenen Türen.

Ich atme tief durch, schlage die Akte auf und blättere in den ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und überfliege die Schlagzeilen.

Horror-Haus: Mutter und Kinder

erschossen in Feuersturm!

 

Darling-Massaker: Familienvater angeklagt!

Der Schrecken, der von den Fotos ausgeht, wirkt beinahe hypnotisierend. Ich betrachte die einst prunkvolle Villa, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist; dann die Luftaufnahmen, die aus dem Hubschrauber der Zeitung gemacht wurden, während die Feuerwehrleute noch bis weit in die Abendstunden des folgenden Tages damit beschäftigt waren, die Flammen einzudämmen; und die vom Tag darauf, als immer noch eine dicke Rauchsäule meilenweit in den Himmel aufstieg. Wenn man die Aufnahmen genau betrachtet, kann man die verkohlten Kadaver der Pferde sehen, die in ihren Boxen in die Stirn geschossen und dann den Flammen überlassen wurden. Die Leichen der Familie Darling waren im Schutt gefunden worden. Es hatte beinahe eine Woche gedauert, sie herauszuholen, ihre Knochen zwischen den anderen Überbleibseln zu identifizieren.

Ich ziehe die Fotos der Opfer aus der Akte. Yolanda Darling, 42 Jahre alt, Ehefrau des Angeklagten; Phoebe, 18 Jahre, Tochter des Angeklagten; und Danny, das jüngste Opfer, nicht binär, erst 16 Jahre alt. Alle wurden zunächst für Opfer eines tragischen Unglücks gehalten, bevor Hinweise auf Brandstiftung ans Licht kamen und die Kugeln in ihren Schädeln gefunden wurden. Sie waren eine auffällig gut aussehende Familie, was bei Yolandas Vergangenheit als Model nicht verwundert. Die Kinder hatten das gleiche weißblonde Haar wie ihre Mutter, die gleichen leuchtend blauen Augen.

Obwohl ich den Schriftsatz noch nicht von vorne bis hinten gelesen habe, kenne ich die Geschichte. Wie anscheinend das ganze Land. Ein Ehemann, Vater von zwei Kindern, wird beschuldigt, den Verstand verloren und seine Familie getötet zu haben, bevor er das Landhaus der Familie in Brand setzte. Die Teenager haben vermutlich nichts mitbekommen: Sie wurden im Schlaf in ihren Betten erschossen, die Einschusslöcher befanden sich an den Hinterköpfen. Sie haben weder den Rauch riechen noch das heiße Lecken der Flammen spüren können und auch die Schüsse nicht gehört, da die am Tatort gefundene Mordwaffe mit einem Schalldämpfer versehen war. Yolanda jedoch hatte es schlechter getroffen. Sie muss etwas gesehen oder gehört haben, muss zumindest zum Zeitpunkt der Tat wach gewesen sein, denn sie wurde dort gefunden, wo früher die Treppe gewesen war, hatte Schusswunden im rechten Knie, im Rücken und schließlich im Kopf erlitten. Der dritte Schuss war die endgültige Hinrichtung gewesen. In meiner Vorstellung sehe ich sie zur Treppe rennen, die Augen noch verquollen vom Schlaf, ihr Haar aufgelöst. Ich stelle mir vor, dass der erste Schuss ins Knie sie aufhalten sollte. Der zweite sollte sie zu Boden reißen. Die letzte und tödliche Kugel sollte sie auslöschen.

Mein Mandant war lebend, aber bewusstlos und mit einer Rauchvergiftung im Erdgeschoss neben der Hintertür in der Küche aufgefunden worden, wohin er gekrochen war, um sich in Sicherheit zu bringen. Er hatte Verbrennungen zweiten Grades an der linken Hand und Schmauchspuren an der rechten, sein Pyjama war getränkt vom Blut seiner Familie. Das Gewehr wurde neben ihm gefunden, mit seinen und ausschließlich seinen Fingerabdrücken darauf.

Gut, dass ich Herausforderungen mag.

Als ich mir die Akte durchlese, stelle ich fest, dass sie viel unordentlicher geführt ist, als ich erwartet hätte. Whittaker war unter Juristen hoch angesehen. Einen Blick in seine Welt zu werfen und sie in einem solchen Durcheinander vorzufinden, ist enttäuschend. So wie es aussieht, fehlen sogar einige wichtige Dokumente: eine Kopie des psychiatrischen Untersuchungsberichts der Staatsanwaltschaft über die Krankengeschichte meines Mandanten von Dr. Samantha Heche und, auf den ersten Blick, die Zeugenaussage von Yolanda Darlings Mutter, Annika Viklund. Dass diese Unterlagen so kurz vor dem Prozess fehlen, passt überhaupt nicht zu meinem Bild von Whittaker, und dass Wade Darling auf der Zeugenliste steht, ist noch viel beunruhigender. Normalerweise ist es für einen Angeklagten von Vorteil, während des Prozesses zu schweigen, das Reden uns zu überlassen und der Staatsanwaltschaft nicht die Gelegenheit zu geben, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Vielleicht hatten Whittakers psychische Probleme sich auf seine Arbeit ausgewirkt.

Ich werfe einen Blick auf Wades Anwalt. Eddie Chester, von Williams and Chase. Auch wenn es Adrians Job gewesen wäre, die fehlenden Dokumente einzuholen, ist es der Job des Anwalts des Mandanten, alle Beweise zusammenzutragen, die der Verteidiger vor Gericht benötigt. Als Verteidiger war es Adrians Aufgabe, und ist es jetzt auch meine, als Sprachrohr des Mandanten in dem Fall zu fungieren und seine Verteidigung zu formulieren, um sie vor die Geschworenen zu bringen, aber es obliegt Eddie, das Material beizubringen; der Mann, der unseren Mandanten seit dem ersten Tag, an dem ihn die Polizei des Verbrechens verdächtigte, begleitet hat und ihn am besten kennt. Was bedeutet, dass sowohl Adrian als auch Eddie ihren Job nicht richtig gemacht haben. Ich notiere die fehlenden Dokumente, um sie bei der heutigen Anhörung zu erwähnen.

Ein schnelles Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken.

Artie steht grinsend in der Tür, der Schalk funkelt in seinen Augen.

»Guten Morgen, Neve Harper. Oder sollte ich sagen, Neve Harper, künftige QC?«

»Diesen Blick kannst du dir sparen. Niall hat wahrscheinlich der Schlag getroffen, weil du den Job mir gegeben hast.«

Ich stelle mir vor, wie Niall Richardsons Gesicht aussehen wird, wenn er von meiner Ernennung zur Verteidigerin von Mr Darling erfährt. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir einander in einem Prozess gegenüberstehen. Wir waren zusammen im Referendariat bei Gericht, bevor wir getrennte Wege in verschiedene Kammern gingen, aber unser Ehrgeiz, uns gegenseitig zu übertreffen, wird zuverlässig angestachelt, wann immer sich unsere Wege kreuzen.

»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, antwortet er und lehnt sich gegen den Türrahmen. »Ich habe den Fall einfach an meine vielversprechendste Verteidigerin gegeben. Ein bisschen gesunder Wettbewerb hat noch niemanden umgebracht, oder?«

Arthur Mills – kurz Artie – der Kanzleileiter; der Mann, der dafür sorgt, dass hier alles reibungslos läuft, und der in meiner Karriere präsent ist, seit ich als Anwältin zugelassen wurde. Mit seinen fünfundvierzig Jahren ist er sieben Jahre älter als ich, doch das tut seiner jugendlichen, schelmischen Ausstrahlung keinen Abbruch: Er wirkt immer noch, als würde er an der Universität Erstsemester unter den Tisch trinken, und quarzt, als würde das Päckchen nicht inzwischen mehr als einen Zehner kosten. Es ist unübersehbar, dass der Reichtum und die Privilegien seiner Familie ihn davor bewahrt haben, jemals wirklich erwachsen zu werden.

»Du dürftest heute Morgen der meistgehasste Kanzleivorsteher der Stadt sein. Wen musstest du über die Klinge springen lassen, um an diesen Fall zu kommen?«

Er tippt sich mit dem Finger an den Nasenflügel, während er zu meinem Tisch schlendert und sich auf die Ecke hockt.

»Bist du sicher, dass du das packst?«, fragt er.

Mein Kragen scheint sich um meinen Hals zuzuziehen und drückt gegen meinen Kehlkopf.

»Es kränkt mich, dass du das fragst.«

»Das würde ich jeden anderen auch fragen. Du hast weniger als eine Woche bis zur Verhandlung; kein leichtes Unterfangen.«

»Wenn der Richter die Verhandlung heute Nachmittag nicht verschiebt.«

»Das wird er nicht. Der Prozess wurde schon zu oft vertagt, und die Öffentlichkeit wird allmählich unruhig. Die Staatsanwaltschaft wird nicht wollen, dass die Leute mitbekommen, was für ein kompletter Scherbenhaufen ihr ganzes Justizsystem ist, oder?«

»Wir werden sehen.«

Er atmet scharf aus, sein Atem riecht streng nach Zigaretten, und tippt mit dem Finger auf Adrian Whittakers Notizen zu dem Fall.

»Hat er irgendwas Gutes gefunden, bevor er gesprungen ist?«

Ich werfe ihm einen Blick zu, und er hebt die Hände in gespielter Ergebung.

»Kennst mich doch«, sagt er, während er zur Tür geht. »Ich hab manchmal ein loses Mundwerk.«

»Nun«, sage ich spitz, »wenn das alles wäre …«

Er bleibt in der Tür stehen, mit diesem vertrauten Funkeln in den Augen, jenem anzüglichen Grinsen, mit dem ein Mann eine Frau am anderen Ende des Tresens ansieht, während er sie in Gedanken auszieht.

»Was willst du noch, Artie?«

»Nichts«, antwortet er. »Nur dich ein bisschen aus der Reserve locken.«

»Und warum solltest du das wollen?«

»Ich hab über die Jahre mitgekriegt, dass es sich auszahlt, dich ein bisschen zu provozieren. Du bist am besten in deinem Job, wenn du sauer bist.«

»Soziopath.«

Er lacht herzhaft. Als er sich wieder gefangen hat und mich ansieht, verblasst sein Lächeln allmählich.

»Spaß beiseite – alles klar bei dir?«

Er wirft mir den Blick zu. Den Blick, den ich immer um diese Zeit des Jahres bekomme. Eine beleidigende Mischung aus Neugier und Mitleid. Ich spüre, wie meine Schutzschilde hochfahren.

»Mir geht’s gut.«

»Haltet ihr dieses Jahr wieder die Mahnwache?«

»Wie jedes Jahr«, antworte ich kühl. Ich starre auf den Schriftsatz und tue so, als würde ich lesen. »Ist das alles?«

Ich höre sein unterdrücktes Glucksen. »Ja, Miss – ich geh ja schon.«

Die Worte auf der Seite verschwimmen vor meinen Augen. Ich versuche, mich zu konzentrieren, aber ich spüre immer noch, wie er dasteht und mich beobachtet. Ich weiß, dass er grinst, ohne dass ich ihn ansehen muss.

»Was noch, Artie?«

Ich werfe ihm einen Blick zu; er lächelt jetzt noch breiter. Er genießt einen guten Schlagabtausch. Er war schon immer gut darin, die Schwachstelle eines Menschen zu finden, den Dolch in der Seite eines Menschen, und ihn dann in der Wunde umzudrehen. Er wäre ein guter Anwalt geworden, wenn er jemals aus der Kanzlei rausgewollt hätte.

»Niall sollte sich besser warm anziehen«, sagt er. »Ein solcher Blick von dir, und er macht sich vor Angst in die Hose.«

Ich höre, wie er leise in sich hineinlacht, bevor er verschwindet, eine fröhliche Melodie vor sich hin pfeifend, während er durch den Flur in Richtung Sekretariat geht. Als endlich wieder Stille einkehrt, richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Schriftsatz und versuche, die Mahnwache heute Abend aus meinen Gedanken zu verbannen. Aber ich kann mich nicht auf die Worte konzentrieren; sie zerfließen zu bedeutungslosen Klecksen, die mich verhöhnen.

Ich ziehe die Schreibtischschublade auf, nehme meinen Ehering heraus und stecke ihn an. Der goldene Ring ist kühl auf meiner Haut, nachdem er tagelang in den Tiefen meines Schreibtisches verborgen lag. Ich kann mich kaum dazu durchringen, hinzusehen; zu sehen, wie er an meinem Finger glänzt, also streife ich ihn schnell wieder ab und lege ihn in die Schublade zurück. Ich ziehe ihn an, bevor ich gehe, aber jetzt will ich nicht weiter daran denken.

Ich beuge mich über die Akte und beginne zu lesen.

2

Ich sitze hinten im Café an dem Tisch, der am weitesten vom Fenster entfernt ist, und lese vom Leben einer Toten, während ich auf den Mann warte, der beschuldigt wird, sie getötet zu haben, als eine E-Mail-Benachrichtigung in der Ecke des Laptopmonitors neben mir auftaucht.

Lies nicht die Times.

Sie ist von Sam, einem Angestellten der Kanzlei. Ich muss gar nicht fragen, worauf sich seine Mail bezieht. Bei jedem anderen wäre ich ziemlich sauer geworden, aber ich weiß, dass er es nur gut meint. Die Kanzlei will alles dafür tun, dass ich mich voll auf den Prozess konzentriere, keine Ablenkungen. Aber natürlich werde ich nachsehen. Normalerweise meide ich jegliche Berichterstattung über meinen Ehemann, aber ich merke, wie mich die Geschichte anzieht, wie er mich anzieht. Ich gebe seinen Namen in der Suchmaschine ein, gefolgt von »The Times«. Der Artikel erscheint als Erstes in der Liste.

Drei Jahre: Das rätselhafte Verschwinden des Matthew Harper

Ich klicke auf den Link und halte den Atem an. Unter der Überschrift ist ein Foto von ihm, ein professionelles Porträt, das er für seinen Job als Leiter einer Wohltätigkeitsorganisation hatte machen lassen, die sich für Überlebende von häuslicher Gewalt einsetzt, ein Jahr vor seinem Verschwinden: Sein Haar begann allmählich an den Schläfen grau zu werden, feine Falten durchzogen seine olivfarbene Haut, unterstrichen seine Augen, während er in die Kamera lächelte. Mein Mann sah gut aus. Schmerzlich gut.

Seit Ewigkeiten habe ich kein Foto mehr von ihm angesehen. Der Anblick wühlt zu viele Gefühle auf, die ich beflissentlich niederzuhalten versuche. Aber als ich ihn jetzt so betrachte – in diese Augen sehe, in die zu blicken ich nie müde wurde, auf die Lippen, die ich geküsst habe –, spüre ich, wie sie langsam an die Oberfläche kriechen.

In der rechten Ecke des Fotos ist ein zweites, kleineres eingefügt: die letzte bekannte Aufnahme meines Mannes, ein Standbild aus der Überwachungskamera eines Nachbarn, die ihn während seines letzten Laufs aufgenommen hat. Seine weißen Laufschuhe leuchten in der Dunkelheit der Nacht.

Ich werfe einen Blick auf den Vorspann des Artikels.

Drei Jahre nach dem rätselhaften Verschwinden von Matthew Harper taucht Kriminalreporterin Melanie Eccleston noch einmal tief in den rätselhaften Fall ein, der Inspiration für einen der angesagtesten True-Crime-Podcasts wurde, und deckt auf, was aus seinem Darling wurde.

Mein Magen fällt ins Bodenlose, als ich das Wort lese. Darling. Kursiv gesetzt. Ein Hinweis auf die Verbindung, die Eccleston von meinem Leben nach Matthews Verschwinden zum anstehenden Fall ziehen wird. Sam hat mich zu Recht gewarnt, aber wider besseres Wissen lese ich weiter.

Kann ein Mensch sich tatsächlich einfach so in Luft auflösen? Matthew Harpers Verschwinden fesselte 2016 das ganze Land, doch keine unserer Fragen fand eine Antwort. Unter all diesen ungeklärten Fragen sticht eine ganz besonders hervor: Falls Matthew Harper tot ist, was ist mit seinem Leichnam geschehen?

Ein Mann bricht am Abend vor Weihnachten um 20:00 Uhr zu seinem gewohnten abendlichen Lauf im Park auf und kehrt nicht mehr nach Hause zurück. Die letzte Sichtung befindet sich auf der körnigen Aufnahme einer Überwachungskamera eines Privatgrundstückes an der Western Road. Keine Zeugen. Keine Spuren. Um dieses Verschwinden ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, brauchte es nichts als einen Podcast, der den Fall im Rahmen einer True-Crime-Serie behandelte; innerhalb von Tagen nahm die Presse die Geschichte auf, und schon bald hatte sie die ganze Nation in ihren Bann geschlagen, die sich für berechtigt hielt, mein Leben und meine Trauer mit fiebriger Begeisterung auseinanderzunehmen. Aus welchem Grund könnte der Direktor einer Wohltätigkeitsorganisation, der für seine Freundlichkeit und Rücksichtnahme bekannt war, einfach so verschwunden sein? Über Nacht sprossen Internetforen wie Pilze aus dem Boden, die sich mit geradezu religiöser Inbrunst dem Fall eines verschwundenen Mannes widmeten, den sie nie persönlich kennengelernt hatten, und die Geschichte so reißerisch verstärkten, dass ich mein Leben mit alle seinen Details darin nicht mehr wiedererkannte. Zeitungsartikel folgten dem öffentlichen Interesse, und schon bald waren mir die Journalisten auf den Fersen: Die Frau, die dafür bekannt war, Strafprozesse zu gewinnen, fand sich selbst in einen unlösbaren Fall verstrickt.

So mache ich das immer – beschreibe es, wie ich einen Fall analysieren würde. Tatsachenorientiert, nüchtern. Es ist leichter so. Aber dieses Mal ist etwas anders. Vielleicht war es sein Foto, ihm in die lächelnden Augen zu blicken, die mich aus der Seite heraus ansehen; vielleicht ist es aber auch die für heute Abend geplante Mahnwache.

Neve Harper, eine feste Größe in den Gerichtssälen der Hauptstadt, ließ sich davon nicht ausbremsen. Während sie sämtliche Presseanfragen und das Interesse der Medien am Verschwinden ihres Mannes ignorierte, scheute sie sich nie, ihre Mandanten ins Licht der Öffentlichkeit zu stellen, hielt sich stets einen Schritt hinter ihnen und schien sich doch, bei aller Zufälligkeit, immer sehr genau bewusst zu sein, aus welcher Perspektive ihr stoisches Gesicht im Blitzlichtgewitter am vorteilhaftesten zur Geltung kam. Man könnte argumentieren, dass Ms Harper den Tod ihres Mannes ausgenutzt hat, um sich einen Namen zu machen, indem sie sich weigerte, sich als Opfer zu präsentieren, um ihren guten Ruf vor Gericht nicht zu gefährden. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass ihr stiller Ruhm der entscheidende Faktor für ihren Erfolg war, sich den berüchtigten Darling-Prozess zu sichern, für dessen Auftritt vor den Geschworenen bereits ein Termin festgelegt wurde.

Ich knalle den Laptop zu.

Eccleston hat sich noch nie zurückgehalten, aber so tief unter die Gürtellinie ist selbst sie bisher noch nie gegangen. Nach Matthews Verschwinden hatte sie mich monatelang verfolgt, in dem verzweifelten Bemühen, diejenige zu sein, die mich kleinkriegte. Sobald der Glanz der Story zu verblassen begann, schien auch ihr Stern zu sinken, weshalb sie sich fortan darauf konzentrierte, meinen Charakter zu verleumden. Der Jahrestag entfacht ihren Groll zuverlässig aufs Neue.

Ich sehe schweratmend auf den geschlossenen Laptopdeckel hinunter.

Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich kann später an ihn denken, bei der Mahnwache. Nicht vorher.

Ich trommele mit den Fingern auf die Tischplatte. Es ist bereits sechs Monate her, seit ich meine letzte Zigarette geraucht habe, aber in Momenten wie diesen sehne ich mich nach meiner schmutzigen Gewohnheit.

Die Glocke über der Tür läutet. Das Café gehört zu meinen Lieblingscafés, klein und unauffällig, versteckt in einer Seitenstraße in der Nähe des Gerichtsgebäudes. Niemand würde erwarten, hier auf Wade Darling zu treffen. Das Café ist so gut wie leer, bis auf eine ältere Frau allein an einem Tisch am Fenster und zwei Anwälte von Murrell and Bergmann, die abgeschieden in einer Nische sitzen und die ich schon seit mehr als zehn Jahren kenne. Als Wade und sein Anwalt durch die Tür treten, sind sie nicht zu übersehen.

Wade kommt mit gesenktem Kopf herein, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Augen durch eine Sonnenbrille verdeckt, die Schultern gebeugt, was ihm einen verlegenen, beinahe abweisenden Ausdruck verleiht. Während sein gutes Aussehen einst die Titelseiten füllte, wirkt er jetzt, als wollte er sich am liebsten unsichtbar machen. Aber selbst mit gesenktem Kopf überragt er alle anderen im Raum.

Sein Anwalt hingegen ist genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Eddie Chester ist klein, kahlköpfig und von stämmiger Statur. Ich kann die Arroganz, die er ausstrahlt, praktisch sehen, an dieser typisch draufgängerischen Art, die ein Mann an den Tag legt, um ein paar Zentimeter zu kompensieren, entweder an Körpergröße oder anderswo.

Er bellt dem Barista hinter dem Tresen eine Kaffeebestellung zu und stolziert dann zu mir herüber, packt die Lehne des Stuhls mir gegenüber und schleift ihn unter lautem Quietschen über den Hartholzboden zu sich heran. Wade lässt sich lautlos auf den Stuhl neben ihm fallen.

»Guten Morgen«, sage ich.

»Mrs Harper«, sagt Chester. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

Mir fällt auf, dass er nicht erwähnt, ob das, was er gehört hat, eher gut oder schlecht war. Zur Begrüßung streckt er mir die Hand hin und zerquetscht mir fast die Finger.

»Es ist Ms«, antworte ich, während ich meine Hand zurückziehe. Das Blut pocht in meinen Fingerspitzen. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf meinen Mandanten.

»Mr Darling, es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Neve Harper, und ich wurde nach dem Tod von Mr Whittaker gebeten, Sie in Ihrem bevorstehenden Prozess zu vertreten.«

Ich halte ihm meine Hand hin. Seine zittert und ist kalt, seine Nägel sind bis auf die Haut abgekaut. Seine andere Hand ist vom Feuer verbrannt, die Haut wellig, in seltsam fleischigen Wülsten verheilt. Er lässt sie unter dem Tisch verschwinden, als er mich dabei ertappt, wie ich daraufstarre, und nimmt die Sonnenbrille ab. Nur eine Sekunde lang blicken wir uns in die Augen. Seine Augäpfel sind blutunterlaufen und heben sich beinahe schaurig vom leuchtenden Blau seiner Iris ab.

»Mr Whittakers Tod muss ein Schock für Sie gewesen sein, aber bitte, seien Sie versichert, dass Sie bei mir in überaus fähigen Händen sind.«

Er nickt stumm.

Ich räuspere mich. »Ich danke Ihnen beiden, dass Sie gekommen sind. Angesichts des Medienrummels um Sie, Mr Darling, hielt ich es für das Beste, einen diskreten Ort für unser erstes Treffen auszuwählen.«

Er wendet sich an seinen Anwalt und registriert meine Worte kaum: »Müssen wir das wirklich noch mal besprechen? Ich habe doch schon alles mit dem letzten Kerl durchgekaut.«

»Ich fürchte, ja«, werfe ich ein in dem Bewusstsein, dass er Chester blind zu vertrauen scheint. Etwas, das ich ändern muss, und zwar schleunigst. »Ich habe alle Notizen von Mr Whittaker, und mir liegen auch die Informationen aus den bisherigen Anhörungen vor, aber damit ich Sie vor Gericht bestmöglich vertreten kann, muss ich Ihre Version der Ereignisse direkt von Ihnen hören. Ich verstehe, dass Sie bereits sehr lange warten.«

»Lange?«, spottet er. »Ich habe praktisch ein Jahr lang in Hausarrest verbracht. Und als ich endlich einen Gerichtstermin bekomme, der nicht mehr verschoben wird, springt mein Anwalt vor den verdammten Elfuhrzug.«

Trotz der Geschmacklosigkeit seiner Aussage kann ich seine Verärgerung nachvollziehen. Einen Verhandlungstermin vor Gericht zu bekommen, ist heutzutage fast so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn: jahrzehntelange Unterfinanzierung, ein unmöglicher Rückstau an Fällen, ganz zu schweigen von dem Mangel an Anwälten, verursacht durch unmenschliche Arbeitszeiten bei unzureichender Bezahlung, sodass die gesamte Rechtshilfe praktisch kurz vor dem Zusammenbruch steht. Wenn ein Fall dann das Glück hat, einen Termin zu bekommen, kann es passieren, dass ein Angeklagter und sein Verteidiger bei Gericht ankommen, nur um festzustellen, dass es Verzögerungen bei den vor ihnen liegenden Prozessen gibt und ihrer aus dem Terminplan gestrichen wurde. Wie ein Blick in die Akte zeigt, wurde Wade Darlings Fall bereits zweimal verschoben.

Er ist vor Frustration rot angelaufen, aber als er mir in die Augen sieht, weicht die Farbe schnell aus seinem Gesicht.

»Entschuldigen Sie bitte. Mir ist gerade klar geworden, dass Sie ihn vielleicht persönlich kannten.«

»Nicht besonders gut«, antworte ich mit einem höflichen Lächeln und sehe auf meine Uhr. »Vor der Anhörung heute Nachmittag müssen wir noch ein paar Dinge klären. Zuallererst: Sind Sie damit einverstanden, dass ich Sie verteidige?«

Wade blickt wieder zu seinem Anwalt. Es beunruhigt mich, wie sehr er sich auf ihn verlässt: »Na ja, von einem Toten kann man sich ja wohl schlecht verteidigen lassen, oder?«

Chester antwortet mit einem Glucksen. »Sie ist gut, Junge. Eine der Besten. Ich würde dich nicht irgendeinem Kümmerling aus dem juristischen Nachwuchs ausliefern.«

Wade sieht mir wieder in die Augen und mustert mich von oben bis unten. Nach ein paar angespannten Sekunden nickt er seufzend.

»In Ordnung.«

»Großartig«, erwidere ich und lächle verkrampft. »Also, heute steht nur ein kurzes Treffen mit dem Richter an, um sicherzustellen, dass wir bereit sind und wie geplant mit der Verhandlung fortfahren können, aber wie mit Mr Chester am Telefon besprochen, werden wir morgen früh eine ausführlichere Besprechung bei Ihnen zu Hause abhalten, in der Sie mir die Ereignisse aus Ihrer Sicht schildern. Haben Sie noch irgendwelche Fragen an mich, bevor wir beginnen?«

Wade zupft an dem Nietnagel an seinem Daumen, zupft zwischen seinen vernarbten Fingerspitzen herum, bis Blut fließt.

Er stößt einen weiteren Seufzer aus. »Wann hört das denn endlich mal auf? Ich halte es nicht aus, wenn der Prozess noch einmal verschoben wird, das halte ich nicht aus.«

Ich bemerke, wie seine Hände auf der Tischplatte zittern.

»Wegen der verdammten Presse kann ich schon nicht mehr vor die Tür. Die belagern regelrecht das Haus. Ich kann nicht mal mehr die Vorhänge aufmachen, wenn ich nicht auf irgendeiner Titelseite landen will. Das geht schon viel zu lange so.«

Mir fällt auf, dass er das ganze Drama nur auf sich selbst bezieht. Kein Wort über den Tod seiner Familie, keine Erwähnung von Trauer oder Gerechtigkeit. Nur die Unannehmlichkeiten, die die Anklage mit sich bringt. Im Geiste mache ich mir eine Notiz, dass wir daran arbeiten müssen, wenn er die Geschworenen überzeugen will.

»In einer idealen Welt hätten wir mehr Zeit, um uns vorzubereiten, Mr Darling. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte keine Bedenken, Ihren Fall so kurz nach einem Wechsel des Verteidigers vor Gericht zu bringen. Aber ich kann mir nur vorstellen, wie schwer das alles für Sie sein muss, was ich auch heute vor dem Richter deutlich machen werde. Wenn Sie bis zur Verhandlung mit mir zusammenarbeiten, können wir das schaffen. Aber ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass wir nur fünf Tage haben – wenn Sie wollen, dass alles weiterläuft wie geplant, brauche ich Ihr volles Vertrauen und Ihre uneingeschränkte Kooperation.«

Wir starren uns über den Tisch hinweg an, wägen einander schweigend ab.

»Sie bekommen es«, sagt er schließlich.

»Das freut mich.« Ich wende mich an Chester. »Jetzt habe ich ein paar Fragen an Sie.«

»An mich?«, sagt er mit einem weiteren dieser irritierenden Gluckser.

»Ja. Haben Sie schon an vielen Mordprozessen gearbeitet?«

Chester sitzt mit einem Ruck kerzengerade und bläht sich abwehrend auf. »Einige«, antwortet er.

»Ich verstehe. Und gehen Sie sonst auch in die Verhandlung, obwohl noch wichtige Beweisstücke fehlen?«

Wades Augen weiten sich, als er zu seinem Anwalt blickt, der anfängt, unruhig auf seinem Stuhl umherzurutschen, und ins Stottern gerät.

»Was in aller Welt … was wollen Sie damit andeuten?«

»Ich deute gar nichts an«, antworte ich kurz. »Die Akte spricht für sich. Wir haben weniger als eine Woche bis zur Verhandlung, und uns fehlen noch das psychiatrische Gutachten von Dr. Samantha Heche sowie eine Kopie der Zeugenaussage von Yolandas Mutter Annika. Es liegt in Ihrer Verantwortung, diese Dokumente bei der Staatsanwaltschaft anzufordern, richtig?«

»Es ist vollkommen normal, dass es bei dieser Art von Verfahren zu Verzögerungen kommt.«

»Nicht so kurz vor Verhandlungsbeginn, Mr Chester, und schon gar nicht bei einem Fall, den ich übernehme.«

Er starrt mich ausdruckslos über den Tisch hinweg an, mit jeder Sekunde werden seine Wangen rosiger.

»Wir sind noch nicht im Gerichtssaal, Ms Harper. Sie nehmen mich in die Mangel, als stünde ich im Zeugenstand …«

»Mr Darling«, falle ich ihm ins Wort, »wie lautete Yolandas Mädchenname?«

»Viklund«, antwortet er.

»Vielen Dank. Und Mr Chester …« Ich drehe mich zu ihm um und genieße den Anblick seiner fassungslosen Miene. »Ist nicht einer Ihrer wichtigsten Mandanten die Familie Viklund?«

Der Name Viklund ist kein Name, den ein Anwalt einfach so übergeht; die Familie verfügt wahrscheinlich über das schmutzigste Geld nördlich der Themse.

Eine Ader an Chesters Stirn tritt pochend hervor.

»Ich weiß nicht, was Sie mir damit unterstellen wollen.«

»Noch einmal, ich unterstelle Ihnen gar nichts.«

Ich ziehe das Dokument unter der Akte hervor und schiebe es den beiden Männern hinüber. »In den letzten fünf Jahren hat die Familie Viklund Ihnen fast zweieinhalb Millionen Pfund für Ihre Dienste bezahlt. Das macht den Hauptteil des Jahresumsatzes Ihrer Kanzlei aus, um genau zu sein. Das ist ein beachtlicher Interessenkonflikt, finden Sie nicht auch?«

Chester hat es endgültig die Sprache verschlagen, sein Mund steht weit offen, sein ganzes Gesicht ist knallrot angelaufen.

»Mr Darling, wer hat Ihnen die Zusammenarbeit mit Mr Chester empfohlen?«

»Die … die haben mich angesprochen. Eddie sagte …«

»Ich habe mich ihm angeboten, weil ich der Richtige für den Job bin«, ruft Chester, schreit mich praktisch an.

»Ist das so? Ich weiß, Sie sagten, Sie hätten schon an einigen Mordprozessen gearbeitet, aber laut der öffentlich einsehbaren Behördendaten haben Sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren nur drei Mandanten in einer solchen Anklage vertreten. Das macht Sie wohl kaum zur besten Wahl, oder? Was mich dazu bringt, Ihre Absichten in diesem Fall infrage zu stellen.«

Wade sieht mich eindringlich an. Der verlegene Mann, der eben das Café betreten hat, ist verschwunden, seine Augen sind lebendig geworden, seine Schultern haben sich aufgerichtet. Ich weiß, dass ich ihn habe.

»Mr Darling, wenn Sie mal über die Schulter schauen, sehen Sie zwei Männer in marineblauen Anzügen. Das sind Antony Murrell und Robert Bergmann von Murrell, Bergmann und Kollegen. Sie haben bereits Dutzende von Mandanten mit ähnlichen Anklagen wie Ihrer vertreten, und sie sind die beste Wahl für Ihren Fall. Als Ihre Verteidigerin kann ich Ihnen nur empfehlen, sie zu beauftragen.«

Von der Seite her kann ich Chesters perplexen Blick auf mir liegen spüren.

»Das können Sie doch nicht machen«, stottert er. »Wenn Sie glauben, dass wir jemals wieder mit Ihrer Kanzlei zusammenarbeiten …«

»Ich glaube nicht, dass wir derzeit so viel mit Ihnen zusammenarbeiten, Mr Chester«, antworte ich kühl. »Und Sie wissen genau, dass es meine Pflicht ist, meinen Mandanten über alle Bedenken zu informieren, die ich bezüglich seiner Vertretung habe, wie es dem Verhaltenskodex der Anwaltskammer entspricht.« Ich sehe ihm noch einmal tief in die Augen, bevor ich mich an unseren Mandanten wende. »Mr Darling, es ist Ihre Entscheidung.«

Chester dreht sich zu ihm und starrt ihn ungläubig an, während Wades Augen auf mir ruhen. Ich sehe die Andeutung eines Lächelns an seinen Mundwinkeln zupfen.

»Eddie«, sagt er. »Du bist gefeuert.«

»Was?«

Ich nicke Antony und Robert zu, die auf mein Signal hin aufstehen und zu uns kommen.

»Mr Chester, Mr Bergmann hier wird Sie in Ihr Büro begleiten, wo er alles zusammentragen wird, was wir benötigen.«

Chester ist kurz davor zu verglühen. Seine Wangen blähen sich auf und fallen in sich zusammen, während Worte sich in seinem Mund bilden und wieder zerfallen. Er stottert hektisch, blickt zwischen Wade und mir hin und her und starrt zu den Anwälten auf, die ihn ablösen werden.

»Du verdammte Schlange«, faucht er schließlich und sticht mit einem dicklichen, zitternden Finger in Richtung meines Gesichts.

»Eine der Besten, sagten Sie, wenn ich mich recht erinnere«, antworte ich, als der Barista mit den Getränken an den Tisch kommt. »Eddie hier möchte seine Bestellung zum Mitnehmen, bitte.«

Chester steht auf, schimpft und flucht in einem unsinnigen Strom aus Worten, während Wade mir in die Augen schaut und leise grinst.

»Kein Wunder, dass dein Kerl sich aus dem Staub gemacht hat«, ruft Chester mir über die Schulter zu, bevor er aus dem Café stürmt.

Meine Wangen werden heiß angesichts dieses Schlags unter die Gürtellinie, und sie röten sich noch mehr, als mein Mandant mich durchdringend ansieht und sich zweifellos fragt, was Chesters Stichelei sollte. Ich räuspere mich und setze ein schmales Lächeln auf.

»Wollen wir anfangen?«

3

Ich sitze in der Anwaltsbank und lege meine Waffen bereit: die Akte, das Notizbuch mit meinen Gedanken zu dem Fall und direkt daneben einen frischen Schreibblock mit gelbem Papier für die Notizen, die ich mir während der Anhörung machen werde. Niall Richardson besetzt das andere Ende der Bank.

Das ist das erste Mal seit etwa einem Jahr, dass ich Niall sehe. Das letzte Mal, als sich unsere Wege kreuzten, war am Hove Crown Court, als wir im Bateman-Betrugsverfahren auf verschiedenen Seiten der Bank arbeiteten. Ich trug den Sieg nach Hause, und an seinem Auftreten heute Nachmittag bei Gericht erkenne ich, dass sein Ego immer noch davon angeschlagen ist. Wir haben jeder zwei Fälle gegeneinander gewonnen, der Darling-Prozess wird zeigen, wer am Ende als Sieger hervorgeht. Seit wir den Gerichtssaal betreten haben, haben wir nicht mehr als ein freundliches Nicken gewechselt.

Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, um zu sehen, ob seine Perücke abgenutzter aussieht als meine, was eher als Zeichen von Erfahrung und Reife gilt als von Nachlässigkeit. Ich halte Ausschau nach jeder Strähne, die sich aus der Tresse gelöst hat, den Flecken um den Haaransatz herum.

Wade Darling sitzt schweigend auf der Anklagebank, sein Blick wandert aus großen Augen unruhig durch den Raum und nimmt die getäfelten Wände, die weißen Perücken und schwarzen Roben auf. Obwohl er wahrscheinlich schon früher in dem Glaskasten saß, während der vorangegangenen Termine – der Anklageerhebung, den administrativen Anhörungen – im sogenannten Dock zu stehen, führt dem Angeklagten zuverlässig das Schicksal vor Augen, das ihn erwarten könnte.

Die Assistentin des Richters, eine kleine junge Frau mit einer dickrandigen Brille, begrüßt Niall und mich jeweils mit einem Nicken.

»Erheben Sie sich.«

Bevor wir uns ganz von unseren Plätzen erheben können, tritt der Richter mit wallender Robe bereits ein und nimmt mit einem scharfen Ausatmen Platz.

Richter Douglas McConnell ist, im Gegensatz zu seiner Ehrfurcht gebietenden Präsenz, eher klein von Statur. Seine Perücke mit den grauen Locken wirkt zu groß für ihn, und seine schmale, fast zierliche Gestalt scheint in seiner Robe, die einen Richter normalerweise autoritär und erhaben wirken lässt, beinahe zu ertrinken. Aber was ihm an körperlicher Größe fehlt, macht sein mürrischer Gesichtsausdruck wett. Seine buschigen Augenbrauen sind permanent zusammengezogen, was ihm, selbst wenn er lächelt, einen bedrohlichen Ausdruck verleiht.

»Guten Tag«, sagt er scharf, ordnet seine Akten und weckt seinen Laptop auf. »Ms Harper, willkommen bei diesem Prozess.«

»Danke, Euer Ehren.«

Der Richter grüßt Niall und nimmt dann seine Halbmondbrille ab, während der Gerichtssaal verstummt. Seine Miene verdüstert sich.

»Zunächst möchte ich Mr Whittakers gedenken und würdigen, welchen Verlust es für unseren Berufsstand bedeutet, dass er nicht mehr unter uns weilt.«

Niall und ich nicken zustimmend. Richter McConnell beugt sich vor und verschränkt die Finger.

»Ungeachtet der überaus betrüblichen Umstände muss ich jedoch gestehen, dass mich der Gedanke an eine weitere Verzögerung in diesem Verfahren frustriert. Jeder in diesem Saal wird wissen, wie hoch das Interesse der Presse an dem Angeklagten und dem bevorstehenden Prozess ist, und offen gestanden wird es zunehmend peinlich, dass wir wiederholt nicht zur endgültigen Festsetzung eines Verhandlungstermins gelangt sind.«

Er blickt von seinem erhöhten Sitzplatz auf uns herab. Fast fünfzehn Jahre stehe ich nun vor Richtern im Gerichtssaal, und immer noch muss ich mich zusammenreißen, nicht zu ihnen aufzublicken wie ein gescholtenes Kind.

»Wenn sich dieses Verfahren weiter verzögert, werden wir in ganz England und Wales niemanden mehr finden, der noch nicht von dem Angeklagten oder der Tragödie, um die es hier geht, gehört hat. Ich möchte also noch einmal unmissverständlich klarmachen, dass diese Anhörung heute stattfindet, um sicherzustellen, dass es nichts mehr gibt, was uns daran hindern könnte, diese Sache vor Gericht zu bringen. Ich hoffe aufrichtig, dass dies der Fall ist.«

Er überprüft etwas auf seinem Laptop-Bildschirm.

»Mr Richardson«, sagt er. »Ist die Anklage bereit, fortzufahren?«

»Ja, Euer Ehren«, sagt Niall kühl.

»Das freut mich zu hören«, antwortet der Richter beinahe mahnend.

»Ms Harper. Sie wurden erst kürzlich als Vertreterin des Angeklagten berufen. Wurden Sie angewiesen?«

»Ja, Euer Ehren«, antworte ich mit fester Stimme. »Der Angeklagte hat zugestimmt, sich von mir vertreten zu lassen, mit einer weiteren Beratung morgen. Leider, Euer Ehren, habe ich einige Bedenken bezüglich des zeitlichen Ablaufs des Verfahrens.«

Richter McConnells schwere Augenbrauen rucken nach oben und seine schlaffen Lider mit ihnen.

»Ich hoffe, Sie scherzen, Ms Harper.«

»Ich fürchte, nein, Euer Ehren. Obwohl wir weniger als eine Woche bis zum Verhandlungstermin haben, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir immer noch auf einige wichtige Dokumente der Staatsanwaltschaft warten.«

Ich spüre, wie Niall mir vom anderen Ende der Bank aus einen Blick zuwirft. Die Augen von Richter McConnell weiten sich noch mehr. »Auch wenn ich sicher bin, dass mein ehemaliger Studienkollege eine gute Erklärung für die Verzögerung hat«, sage ich und werfe Niall einen kurzen, abschätzigen Blick zu, »solange wir nicht vollständig über alle notwendigen Unterlagen verfügen, Euer Ehren, kann mein Mandant nicht auf einen fairen Prozess hoffen.«

»In der Tat«, schnauzt Richter McConnell und starrt meinen Gegner finster an. »Worauf warten Sie, Ms Harper?«

»Eine Kopie des Untersuchungsberichts von Dr. Samantha Heche sowie die Zeugenaussage von Mrs Annika Viklund, Euer Ehren.«

Ich ertappe Niall dabei, wie er die Akte schnell bis zu dem Dokument durchblättert, in dem die Beweise aufgeführt sind, auf die er und Whittaker sich geeinigt hatten.

Es mag die Aufgabe des Anwalts sein, das Material zu beschaffen, aber es ist unsere Aufgabe als Verteidiger, sicherzustellen, dass wir über alle relevanten Beweise verfügen, um sie dem Gericht vorzulegen. Es zahlt sich aus, wenn der Richter sieht, wie sich mein Gegner windet.

»Was ist der Grund für diese Verzögerung, Mr Richardson?«, fragt Richter McConnell.

Niall errötet, die Scham setzt seine Wangen in Flammen.

»Das muss ich mir erst einmal ansehen, Euer Ehren. Aber ich bin sicher, dass es eine überzeugende Erklä…«

»Überzeugend? Die Verhandlung soll am Montag beginnen, Mr Richardson – ein Prozess, der seit fast einem Jahr vorbereitet wird, wovon die meiste Zeit Ihnen zur Verfügung stand. Sie wollen mir doch wohl nicht allen Ernstes weismachen, dass es zu diesem Zeitpunkt noch irgendeinen Grund für eine Verzögerung gibt, der als überzeugend durchgehen könnte?«

Es braucht schon einiges, um Niall aus der Fassung zu bringen. Normalerweise wirkt er, gestützt von einer schwer erträglichen Arroganz, kompetent und unerschütterlich, aber wenn man ihn jetzt so ansieht, wirkt er fast wie ein verängstigter kleiner Junge.

»Nein, Euer Ehren. Ich kann mich nur entschuldigen im Namen der …«

»Bis heute Nachmittag fünf Uhr ist jedes Dokument an Ms Harper überstellt, das sie verlangt. Ist das klar?«

»Ja, Euer Ehren.«

Er wendet seine Aufmerksamkeit mir zu.

»Ms Harper, Sie werden in meinem Büro anrufen und den Eingang der Dokumente bestätigen.«

»Ja, Euer Ehren.«

Er nickt knapp und blickt zwischen uns beiden hin und her.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragt er in einem Ton, der nahelegt, dass wir es besser nicht wagen sollten, sonst noch etwas vorzubringen.

»Nein, Euer Ehren«, antworten wir unisono.

Er steht ohne ein weiteres Wort auf, und wir erheben uns alle.

Ich drehe mich zur Anklagebank um und nicke Wade zuversichtlich zu, der mir im Gegenzug ein hoffnungsvolles Lächeln schenkt, bevor er hinausgeführt wird. Ich kehre zu meinem Arbeitsplatz zurück und packe meine Sachen ein.

»Das ging ja gut los, was, Niall?«, sage ich, sobald der Richter den Raum verlassen hat.

»Du hättest mich anrufen und diese Akten anfordern können«, gibt er bissig zurück.

»Ja, hätte ich.« Endlich begegne ich seinem Blick und lächle ihn reserviert an. »Wir sehen uns am Montag.«

Ich nehme meinen Koffer und mache mich auf den Weg zu den Türen.

»Wenn du schmutzig spielen willst, Neve«, ruft Niall mir nach, »dann spielen wir schmutzig.«

Ich gehe weiter, ohne stehen zu bleiben, denn ich weiß, dass meine Ungerührtheit ihn nur noch mehr auf die Palme bringen wird.

Freut mich zu hören.

4

Ich starre auf die in meiner Hand zitternde Kerze hinab und frage mich, wie es sich anfühlen würde, wenn sich meine Lunge mit Rauch füllte wie bei den Darlings. Mein Fleisch würde in den Flammen zusammenschmoren.

Ich denke an Yolanda Darlings rußverschmierte Zähne, ihr schwarzes Lächeln, eines der wenigen Körperteile, die das Feuer überlebt haben. Ich denke an die Dachbalken, die auf ihrem zerschmetterten Grab lagen, und an die Stunden, die es dauerte, sie zu befreien. Die Funken der Motorsäge, die sich durch Stahl und verkohlte Schlackenblöcke beißt. Das Brummen des Baggers, der die Schichten der Zerstörung abträgt.

Das hätte ich sein können. Es hätte jede von uns sein können. Man muss sich nur in den falschen Mann verlieben, mehr braucht es nicht. Es ist wie russisches Roulette: die Waffe zwischen uns hin und her schieben, reihum den Lauf in den Mund stecken, abdrücken, bis eine schließlich die Kugel abbekommt.

»Neve«, sagt jemand eindringlich und reißt mich aus meinen Gedanken. »Hast du gehört? Ich sagte, deine Kerze ist ausgegangen.«

Ich starre in das Gesicht meiner Schwiegermutter, das durch ihre Kerze von unten beleuchtet wird. Selbst in dem schwachen Licht kann ich ihre Augen erkennen, scharf und fragend beobachten sie meinen benommenen Gesichtsausdruck. Ihr Name ist Margaret, was sie hasst, weshalb sie darauf besteht, Maggie genannt zu werden. Sie trägt ihr Haar zu kurz für ihr strenges, spitzes Gesicht.

Ich sehe auf meine Kerze hinab, und der Geruch des Rauchs steigt mir in die Nase. Im Stillen schelte ich mich dafür, meinen Gedanken freien Lauf gelassen und dabei gleich meine Unvoreingenommenheit verloren zu haben. Mein Mandant ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist.

Ich sollte an Matthew denken. Ich bin es gewohnt, ihn zu verdrängen, ein Bewältigungsmechanismus, auf den ich in den letzten drei Jahren geschworen habe, aber manchmal fürchte ich, ich bin zu gut darin geworden. Das Begraben von Schuld, Kummer, Schmerz. Das Verstecken des Eherings in den Tiefen meines Schreibtisches.

»Ich habe gesagt, wir hätten diese elektrischen kaufen sollen«, sagt Maggie jetzt. »Deine ist auch ausgegangen, Hannah.«

Meine Stieftochter, die so dicht neben mir steht, dass unsere Arme einander streifen bei der kleinsten Bewegung. Ich frage mich, ob ich sie noch so nennen darf, wo ihr Vater doch tot ist. Oder mutmaßlich tot, sollte ich sagen.

»Es ist sowieso zu kalt hier draußen«, sagt Hannah.

»Es ist nicht kalt«, gibt Maggie verärgert zurück. »Für Januar ist es mild.«

»Mag sein, aber mir ist kalt.«

»Das kommt davon, dass du nie genug isst.«

Maggie sieht auf ihre Kerze hinab und seufzt, wodurch die Flamme erlischt und einen sich kräuselnden Rauchfaden hinterlässt.

»Wir gehen nicht hinein, bevor wir nicht zumindest etwas gesagt haben«, verkündet sie und holt ein Feuerzeug aus der Jackentasche.

Es ist jetzt das dritte Jahr, in dem wir das hier machen, mehr für Maggie als für uns. Früher waren noch andere Leute dabei. Im ersten Jahr wollten einige sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, sodass sich in dem Park, der angeblich der Stelle am nächsten war, an der Matthew verschwunden war, eine Versammlung aus einander fremden Menschen gebildet hatte, ein Meer aus Kerzen, das sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Wir hatten die Mahnwache auf den zweiten Januar gelegt, um zu verhindern, dass sein Andenken in den Festtagen unterging. Die Mühe hätten wir uns sparen können. Ich denke an unser totenstilles Weihnachtsessen, als wir zu dritt am Tisch saßen und das einzige Geräusch das Rauschen des Fernsehers im Hintergrund und das Rascheln der Papierhüte waren, die wir pflichtbewusst aufgesetzt hatten, während Matthews Stuhl leer blieb. Was die Mahnwache betraf, so hatte die öffentliche Aufmerksamkeit für seinen Verbleib bald nachgelassen, und die Zahl der Teilnehmer war unweigerlich geschrumpft. Ohne einen Leichnam beizusetzen oder ein Grab, das wir jedes Jahr besuchen könnten, stehen wir jetzt in Maggies Garten, eingehüllt in die abendlichen Schatten.

Hannah und ich sehen zu, wie Maggie immer wieder das Rädchen schnippen lässt, ohne dass es ihr gelingt, eine Flamme zu entzünden, bis sie den Tränen nahe ist.

»Maggie.«

Ich strecke die Hand aus, um es ihr abzunehmen. Unsere Blicke begegnen sich, ihre Augen glänzen im warmen Schein ihres Hauses in unserem Rücken, das sich in der feuchten Oberfläche spiegelt.

Ich zünde meine Kerze an und lege meine Hand um die Flamme.

»Nimm sie, um deine anzuzünden, Han.«

Hannah sieht zu mir auf, und ich bewundere ihr Gesicht im gelblichen Licht der Kerzenflamme: oval geformt, mit runden, weichen Wangen; die Augen große grüne Teiche, die jeden ihrer Gedanken verraten, wobei ihnen jedoch nichts entgeht, auch wenn sie erst sechzehn Jahre jung ist. Sie hat die gleichen Augen wie ihr Vater, so hell grün, dass sie im Kontrast zu ihrem kastanienfarbenen Haar beinahe grau wirken, dem Haar, das sie von ihrer Mutter hat.

Seit dem Tod ihrer Mutter, als sie noch ein kleines Mädchen war, lebt Hannah bei ihrer Großmutter. Maggie hatte meinen Mann zu diesem Arrangement gedrängt. Ein junges Mädchen braucht eine Frau, die es großzieht, keinen alleinerziehenden Vater, der ständig arbeitet – so in der Art hatte sie argumentiert, bevor Matthew und ich uns kennenlernten. Alle, die Maggie nahestehen, wissen, wie sehr sie sich das Leben erleichtern können, indem sie ihren Forderungen nachgeben.

Hannah hält ihre Kerze an meine, ihre Stirn legt sich in Falten, als sie sich konzentriert, und Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als ich den Funken der Zufriedenheit in ihren Augen sehe, weil die Flamme schließlich brennt. Sie ist jetzt im selben Alter wie Danny Darling zum Zeitpunkt der Morde. Wieder überkommt mich das Verlangen nach einer Zigarette.

Matthew und ich haben uns kennengelernt, als Hannah gerade sechs Jahre alt geworden war, im Park, wo ich mit meinem Hund spazieren ging. Hannah hatte ihren Vater zu mir geführt, weil sie Sam streicheln wollte. Er war ein alter Hund in seinen letzten Zügen, der zitterte, wenn er zu lange stehen musste, aber sein Lebenswille war noch immer ungebrochen. Während Hannah Sam streichelte und kicherte, als er ihre Hand ableckte, blickte ich in die Augen des Mannes, den ich heiraten würde, und lächelte.

Maggie hält vorsichtig ihre Kerze an Hannahs. Wir stehen schweigend da und halten unsere Hände schützend um die Dochte.

»Dann fange ich an«, sagt Maggie, als weder Hannah noch ich etwas sagen. Sie räuspert sich.

»Matthew war ein guter Mensch«, sagt sie, bevor sie es merkt. »Ist ein guter Mensch.«

Die Verlegenheit ist ansteckend. Im Laufe der Jahre ist uns allen dieser Fehler schon unterlaufen. Ist ein Mann wirklich tot, ohne eine Leiche, die man zur Ruhe betten kann, oder ohne Asche, die man verstreuen kann? Aber Hannah und ich sind nachsichtiger als Maggie es einer von uns gegenüber jemals wäre.

»Es ist jetzt drei Jahre her, dass du von uns gegangen bist«, fährt sie fort. »Drei Jahre, in denen ich mich eine Mutter ohne Sohn nenne. Drei Jahre, in denen ich mich jeden Tag frage, wo du bist. Ich frage mich, ob es dir gut geht oder ob du …«

Ihre Lippe bebt. Ich hasse es, wenn Maggie weint; sie wird dann abweisend und gefühllos. Ich habe sehr schnell gelernt, den Mund zu halten, bis die Tränen versiegen.

»Du fehlst uns«, sagt sie schließlich und bemüht sich sichtlich darum, die Fassung zurückzugewinnen. »Und ich liebe dich.«

Sie nickt, es wirkt wie ein Abführungszeichen, das das Ende ihrer Rede markiert; ihre Selbstbeherrschung gewinnt die Oberhand.

Ich schaue auf Hannah hinab, die tief in Gedanken in die Dunkelheit starrt. Sie sieht mich an und errötet.

»Ich liebe dich, Dad«, sagt sie.

»Das genügt nicht«, sagt Maggie.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Versuch es«, antwortet sie streng.

Hannahs Wangen werden noch tiefer rot, und ihr Blick sucht die Terrassenplatten ab, als könnte sie die Worte unter unseren Füßen finden. Eine Haarlocke weht über ihr Gesicht. Ich strecke die Hand aus, streiche sie zurück hinter ihr Ohr und zwinkere ihr ermutigend zu.

»Dann bin ich jetzt dran«, sage ich.

Aber als ich tief einatme, um zu beginnen, kann ich nicht mehr heraufbeschwören als Hannah. Die Worte drängen sich in meiner Kehle, meine Gedanken wirbeln durcheinander. Ich spüre ihre Blicke auf mir: Maggie entrüstet und unerbittlich; Hannah mit diesen quälend vertrauten Augen.

»Wir vermissen dich«, zwinge ich zwischen den Zähnen hervor. »Wo auch immer du bist, wir vermissen dich.«

Meine Kehle brennt wie Feuer. Ich schlucke schwer und senke den Blick auf meine Kerze. Sie ist wieder ausgegangen. Der Rauch kräuselt sich zu mir herauf und sticht mir in die Augen.

»Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt noch die Mühe mache«, blafft Maggie. »Nächstes Jahr machen wir das jedenfalls nicht mehr. Es ist unübersehbar, dass es euch beiden nichts bedeutet.«

»Menschen trauern auf unterschiedliche Weise, Nanny«, sagt Hannah leise.

»Nun, ein paar liebevolle Worte für deinen Vater sind ja wohl nicht zu viel verlangt. Ihm ein wenig Respekt zu erweisen, das Richtige zu tun.«

Die Tränen sind wieder da, folgen der Niedertracht ihrer Worte auf dem Fuße. Sie entreißt uns beiden die Kerzen, bläst Hannahs und ihre in einem Zug aus und stürmt ins Haus.

Hannah hat beide Elternteile verloren: ihre Mutter an den Krebs, als sie noch sehr jung war, und ihren Vater in ihren frühen Teenagerjahren. Dies sollte ihr Moment sein, auf ihre Weise, aber Maggie schafft es immer, dafür zu sorgen, dass sich in solchen Situationen alles um sie dreht. Obwohl ein kleiner Teil von mir sich fragt, ob sie vielleicht recht hat. Ob Hannah meinem Beispiel folgt und ihre Gefühle vergräbt, wenn es um ihren Vater geht?

Ich schaue auf sie hinab, in ihren Augen spiegeln sich Gedanken und Gefühle, die ihr stoisches Gesicht nicht erreichen.

»Sie meint es nicht böse«, sage ich. »Sie liebt dich sehr.«

»Ich wünschte, wir müssten das nicht mehr machen«, murmelt sie.

»Dann machen wir es nicht mehr.«

Als wir hineinkommen, ist Maggie dabei, die Küche aufzuräumen und sich in eine nur allzu vertraute Rage hineinzusteigern. Ich vermeide es, sie zu mir einzuladen. Sie tut immer so, als sei es noch das Haus ihres Sohnes und nicht meines, setzt schon beim Eintreten einen kritischen Blick auf und sieht sich stirnrunzelnd um. Matthew würde das nicht gefallen. Matthew würde ein aufgeräumteres Zuhause wollen. Matthew …

»Danke für den Abend, Maggie«, presse ich heraus. In der Enge der kleinen Küche sehne ich mich auf einmal wieder danach, die kalte Nachtluft einzuatmen. Ich sehne mich nach Gesellschaft und fürchte sie gleichzeitig; das zweischneidige Schwert der Einsamkeit, das mich verletzt, wohin ich mich auch wende. Der Gedanke daran, nach Hause zurückzukehren, erfüllt mich mit Sehnsucht und Furcht gleichermaßen.

»Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«, fragt Hannah.

»Morgen ist Schule«, wendet Maggie ein.

»Ich muss nur eine Viertelstunde früher los …«

»Du kommst schon an guten Tagen kaum aus dem Bett«, sagt Maggie leise, aber scharf.

Hannah sieht mich mit ihren großen grünen Augen an, und Schuldgefühle packen mich.

»Vielleicht ein anderes Mal«, sage ich und streichle ihr übers Haar. »Ich habe heute Abend noch zu tun, da werde ich keine gute Gesellschaft sein.«

»Und ich bin sicher, du hast noch Hausaufgaben zu machen«, sagt Maggie zu Hannah.

Sie nickt und schlüpft ohne ein weiteres Wort nach draußen. Zurück bleiben Maggie und ich. Es fühlt sich an, als hätte Hannah die ganze Luft mitgenommen, die eben noch im Raum war.

»Gute Nacht, Neve.«

Ich bin nicht länger willkommen. Sie geht ins Wohnzimmer hinüber, beengt und spießig, in dem Matthew und ich viele obligatorische Weihnachtsfeiern verbracht haben. Ich denke an mein eigenes Wohnzimmer, das mich erwartet: ein kleines Zimmer in meinem kleinen Vierzimmerreihenhaus, das gerade genug Platz für das abgewetzte burgunderfarbene Sofa bietet, das Matthew ausgesucht hat, und einen Sessel am Sprossenfenster im Erker, der meiner war. Bücherregale umrahmen den Kaminsims, in denen sich Jurabücher drängen. Die bescheidene Größe meines Hauses ist Geschenk und Gefängnis zugleich, je nach Tageszeit.

»Kann ich am Wochenende kommen?«, fragt Hannah vom Flur aus.

»Neve hat einen wichtigen Fall«, sagt Maggie, bevor ich den Mund aufmachen kann. »Sie wird keine Zeit haben, dir hinterherzulaufen.«

Ich möchte ihr sagen, dass sie nicht für mich sprechen soll, aber sie hat recht. Bis zum Ende des Prozesses wird meine gesamte Zeit dem Darling-Fall gehören.

»Nach dem Prozess kannst du eine ganze Woche bleiben, was hältst du davon?«

Maggie macht Anstalten, zu widersprechen.

»Abgemacht«, antwortet Hannah, kommt herein und schlingt die Arme fest um mich, als wollte sie das Angebot besiegeln, bevor Maggie es auseinandernehmen kann. Ich erwidere die Umarmung und atme den süßen Duft ihres Haars ein, eine köstliche Mischung aus Kokos und Jugend.

»Dann komm schon«, sagt Maggie ungeduldig. »Deine Hausaufgaben erledigen sich nicht von selbst.«

Widerstrebend löse ich mich aus Hannahs Wärme und spüre, wie der vertraute Schmerz in meine Brust zurückkehrt, als ich ihr nachsehe, wie sie zur Treppe geht.

Maggie wendet sich zur Tür und wringt dabei die Hände, sichtlich unangenehm berührt dadurch, dass wir jetzt allein miteinander sind. Man könnte meinen, wir wären uns im Laufe der Jahre nähergekommen, aber das ist nicht Maggies Stil. Ihre Welt bestand aus ihrem Kind und danach ihrem Enkelkind; jeder andere ist für sie nur Konkurrenz um ihre Zuneigung. Ich folge ihr und schlüpfe in meine Jacke.

»Du solltest dir mal ein paar Freunde in deinem Alter suchen, Neve«, sagt sie, als sie die Tür öffnet. »Hannah sollte sich mehr um ihre Altersgenossinnen bemühen, aber sie scheint das nicht für nötig zu halten, wenn sie ja dich hat.«

Die Spitze trifft mich schmerzhaft.

»Ich bin aber nicht nur ihre Freundin, oder? Ich bin ihre Stiefmutter.«

»Ich weiß nicht genau, was diese Situation aus uns allen macht«, antwortet sie. »Aber ich will nicht, dass Hannah die Chance auf ein gesundes Gefühl für Normalität opfert, weil sie in der Vergangenheit feststeckt.«

»Niemand verlangt von ihr, irgendetwas zu opfern, außer dir, Maggie.«

Sie presst die Lippen zusammen und stößt durch die Nase einen erschöpften Seufzer aus.

»Ihr Vater ist tot, Neve. Und da du nur über ihn mit uns verwandt bist, frage ich mich, wie gesund es ist, das fortzuführen. Ob wir nicht erwägen sollten, etwas Abstand zwischen uns zu bringen, Hannah zuliebe.«

Hannah zuliebe.

Ich schlucke den Schmerz hinunter. Ich kann ihn fast schmecken, einen bitteren Beigeschmack, der auf meiner Zunge liegen bleibt.

»Ich werde so lange in Hannahs Leben sein, wie sie es wünscht. Gute Nacht, Margaret.«

Ich reiße den Griff meines Koffers mit den Akten und Rechtsbüchern heraus und werfe mir die Tasche über die Schulter. Maggies Blick fällt auf etwas, und ihre Gesichtszüge werden schärfer.

»Du trägst deinen Ehering nicht.«

Ich schaue auf meine linke Hand hinunter, die auf dem Riemen meiner Tasche an meiner Schulter liegt. Ich muss vergessen haben, ihn anzulegen, bevor ich die Kanzlei verlassen habe. Ich schiebe mich zur Tür hinaus und trete mit gesenktem Kopf auf die Straße hinaus.

»Ich bin froh, dass du so schnell darüber hinwegkommst«, sagt Maggie von der Tür aus. Ihr Gesicht ist noch härter als zuvor, sie blickt ihre lange, spitze Nase entlang auf mich herab.

»So ist es nicht, Maggie …«

»Das wird es Hannah ebenfalls leichter machen, darüber hinwegzukommen. Sie kann sich an dir ein Beispiel nehmen. Gute Nacht, Neve, und viel Glück mit dem Fall.«

Sie schließt die Tür, bevor ich etwas erwidern kann. Ich stehe auf der ruhigen Straße, höre, wie sich der Schlüssel im Schloss auf der anderen Seite dreht, und schaue auf die Stelle, wo mein Ehering stecken sollte.

Das ist das Problem, wenn man Witwe ist. Niemand lässt es dich je vergessen.

* * *

Ich biege um die Ecke meiner von Reihenhäusern gesäumten Straße. Sie sind alle ähnlich gebaut, mit großen Sprossenfenstern, die in der Sommerhitze zusammenkleben und im Winter klappern wie Zähne. Auf den Gleisen, die direkt hinter unseren Gärten liegen, rattert lautstark ein Güterzug vorbei. Autos parken Stoßstange an Stoßstange vom oberen Ende der Straße bis ans untere Ende, wo die St John’s Church eingeklemmt zwischen den Häusern steht. Sie wirkt immer etwas fremd und fehlplatziert, wie heutzutage die meisten Kirchen in der City, nachdem Wohnhäuser und Wolkenkratzer um sie herum gebaut wurden. Ihr Glockenturm ragt hoch in den dunklen Nachthimmel auf, die Lichter der Stadt überblenden die Sterne am Himmel. Ich sehe auf die Uhr: Es ist kurz vor der vollen Stunde. Bald werden die Glocken läuten. Ich bereite mich gern darauf vor, um nicht zu erschrecken; die Glocken klingen nachts immer lauter als am Tag.