Die Schneckenkönigin - »Wenn aber deine Hand dir Ärgernis schafft, so hau sie ab.« - Regula Venske - E-Book

Die Schneckenkönigin - »Wenn aber deine Hand dir Ärgernis schafft, so hau sie ab.« E-Book

Regula Venske

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Beschreibung

»Zwar musste sie sich jedes Mal aufs Neue überwinden, wenn sie die erste Schnecke des Tages zerschnitt, aber schon bei der zweiten zeigte sich ihre Übung. Mit der Zeit gewann man eben doch eine gewisse Routine, selbst in den schrecklichsten Dingen.« Romy, eine Psychotherapeutin mit eigenwilligen Methoden, scheint mühelos in die Seelen anderer zu blicken, doch ihr eigenes Leben entgleitet ihr zusehends. Während sie versucht, das Chaos zu ordnen, erschüttern brutale Morde Hamburg, Amsterdam, Berlin und London. Wer ist der Killer, der Bibelzitate auf verstörende Weise in die Tat umsetzt? In einem Spiel aus Schuld und Sühne verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahnsinn. Wird Romy erkennen, wie nah die Gefahr wirklich ist?

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Regula Venske

Die Schneckenkönigin – »Wenn aber deine Hand dir Ärgernis schafft, so hau sie ab.«

Thriller

Zum Buch

»Nur eines wusste er: Was immer sie sich für ihn ausgedacht hatte, es würde entsetzlich werden.«Eine Reihe grausamer Morde erschüttert Hamburg, Amsterdam, Berlin und London. Während die Polizeiteams im Dunkeln tappen, ist das nächste Opfer bereits ausgewählt, und die Zeit läuft gnadenlos ab. Die Morde tragen die Handschrift eines brillanten Killers – einer Person, die ihre Kunst in Perfektion beherrscht und ihre Opfer nach einem teuflischen Plan auswählt. Doch was verbindet die Opfer mit dem Killer? Und wer findet es heraus? Romy, eine renommierte Psychotherapeutin mit eigenwilligen Methoden, scheint mühelos in die Seelen anderer zu blicken, doch ihr eigenes Leben entgleitet ihr zusehends. Während sie verbissen die Nacktschnecken im eigenen Garten bekämpft und ihre Patienten mit verstörenden Fragen provoziert, ist sie längst Teil eines perfiden Spiels und Akteurin in einem Mordkomplott. Das Böse ist ihr näher, als sie jemals geahnt hätte …

Regula Venske, Dr. phil., lebt als freie Schriftstellerin in Hamburg. Für ihr Werk, das Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Essays, eine Handvoll liederlicher Gedichte und ungezählte Beiträge für Rundfunk und Printmedien umfasst, wurde sie u. a. mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis, dem Deutschen Krimipreis und dem Lessing-Stipendium des Hamburger Senats ausgezeichnet und für den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden nominiert. Die Autorin, von der Süddeutschen Zeitung einst als »Lust-Mörderin« tituliert, ist dafür bekannt, schwere Stoffe mit Eleganz, Leichtigkeit und schwarzem Humor zu erzählen.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dule964 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3282-3

Zitat

Weh der Welt der Ärgernisse halben!

Matth. 18, 7

Who is who?

Amsterdam

– Frank Vahle: wartet darauf, dass erst er und dann sein Mörder gefunden wird

– Steffen Vahle: Musikkritiker auf Dienstreise, zählt sein Schicksal an Olivenkernen ab

– Job van Dijkstraa: dienstältester Nörgler bei der Amsterdamer Polizei

– Antje Kuijpers: nimmt es mit den Kollegen ebenso tatkräftig auf wie mit Berliner Bollen

– Robbin: Polizeidienstanwärter mit verstärktem Durchblick

*

Berlin

– Romy Schulze: Psychotherapeutin mit eigenwilligen Methoden, sei es im Beruf, sei es beim Kampf gegen die Nacktschnecken in ihrem Garten

– Ronja, Romys Tochter: liebt an Schnecken das Zwittrige und Uneitle

– Gero Schöndorf: Romys Mann, heimlicher Schneckenretter, in dessen Leben am Ende mehr Schwung kommt, als man zunächst denkt

– Dr. Peter (Pit) Pleyer: erhält seltsame Post und scheitert nicht nur als Joker beim Fernsehquiz

– Silvie Peschke: Pleyers attraktive Nachbarin, deren Forschungsthema ihn überfordert

– Wolfgang: Pleyers Schulfreund, Minister für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

– Jadwiga: Spürnase, die – meistens – für Ordnung sorgt

– Frau Kranefuß: trinkt zu viel und will Gerechtigkeit

– Frau Michels: fühlt sich zu Höherem berufen

– Frau Neumann: will Liebe, vielleicht aber auch Macht

– Ulrike Vahle: Steffens Mutter, die erst nicht den Mann und dann nicht den Sohn loslassen kann

– Artur Weber: rebelliert gegen seinen Vater, das Kamera­auge

– Arnulf Weber: ehemaliger Kriegsreporter, fotografiert sich dennoch um sein Leben

– Marie–Jo: Artur Webers Freundin, setzt sich rechtzeitig ab

– Stefan Krudup: versteht sich gut mit seinem Hamburger Kollegen Lemaitre und ist ebenso ausgebrannt wie er

– Mark Seibner: nervt seinen Chef mit Berichten von Hamburger Jazzfestivals

– Sandra: könnte auf Leyla eifersüchtig sein, aber das wäre eine andere Geschichte, in der sie vielleicht nach Amsterdam reisen und mit Robbin Poffertjes essen würde

*

Hamburg

– Alp Karabulut: stirbt, wie er gelebt hat – zu einsam

– Thomas Lemaitre: pflegt sein Image als Lonely Wolf bei der Hamburger Kriminalpolizei und träumt davon, zum Dinner for One einzuladen

– Leyla Wilhelm: geht gern eigene Wege

– Marvin Müller: Jungspund vom Dienst, findet trotzdem was raus

– Oliver Weiß: wird Kommissar Zufall genannt, dabei weiß doch jeder, dass dem, der nicht handelt, das Glück nicht beisteht

– Gebhard: wartet auf den Ruhestand und sorgt einstweilen im richtigen Moment für Espressobonbons

*

London

– Leander Kranefuß: hatte sich seine Hochzeitsfeier etwas anders vorgestellt

*

Münster

– Lili Vahle–Eickhoff: Steffens Schwester, redet sich um Kopf und Kragen

– Kriminalhauptkommissar Hans–Ludger Ochtentrup und Kriminalkommissar Evenkamp: können damit leben, dass sie »Pat und Patachon« genannt und manchmal verwechselt werden

I.

3. Oktober

Es fühlte sich an, als hätte man ihm einen Mühlstein um den Hals gebunden. Oder war er bereits begraben, drückte eine Grabplatte auf seine Brust? Irgendetwas lastete schwer auf ihm, hielt auch seine Arme und Beine fest im Griff, nahm ihm die Luft zum Atmen. Doch konnte er nicht sehen, was es war, Kopf und Hals schienen wie festgeschraubt, ließen sich nicht bewegen. Selbst die Augen zu öffnen, war schwierig, seine Lider, die Wimpern mussten gegen einen Widerstand ankämpfen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine schwarze Nase wahr, die nicht die seine war. Ihn umgab ein ekler Geruch, eine Mischung aus übersäuertem Magen und Gummihandschuhen, die zum Reinigen von Latrinen benutzt worden waren. Während er noch überlegte, was das alles bedeuten könnte, kam es ihm hoch. Er musste sich erbrechen. Aber da war nichts, kein Spalt, in den er sich hätte übergeben können. Stattdessen drückte irgendetwas Stinkendes, Schwarzes direkt gegen sein Gesicht. Und so kämpfte er um Platz, um einen winzigen Zwischenraum, und da es keinen gab, bemühte er sich, was ihm hochkam, wieder runterzuschlucken, und die ganze Zeit über rang er vor allem nach Luft.

Als das Würgen nachließ, befahl er sich, logisch zu denken. Das war doch immer seine Stärke gewesen. Er durfte nicht zulassen, dass ihn sein Verstand jetzt im Stich ließ. Aus eigener Kraft, so viel war ihm klar, würde sein Körper ihn nicht aus dieser Lage befreien können. Das Einzige, was ihn – vielleicht – retten konnte, war sein Grips. Seine Fähigkeit, messerscharf zu denken. Rohe Körperkraft war etwas für andere Leute. Wo war er? Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und was hatte derjenige mit ihm vor?

Man hatte ihm offenbar eine Gummimaske übers Gesicht gezogen. Er erkannte sie wieder, genau diese Art von Maske hatte er auf einem Foto gesehen. Auf mehreren Fotografien. Was um alles in der Welt … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Aber die Bilder schossen ihm durch den Kopf, Alpträume der vergangenen Wochen. Eine abgeschnittene Hand. Der Fuß in einer Plastiktüte. Das Messer, das in einem Auge gesteckt hatte. Bei der Erinnerung daran kam es ihm wieder hoch. Luft, er brauchte Luft! War er nicht eben in bester Stimmung bei sich zu Hause gewesen, mit dieser Frau? Sie hatte ein sirrendes Lachen gehabt. Eine Sirene. Er hatte sie zu sich herunter auf die Chaiselongue gezogen, als sie von der Toilette zurückkam. Wo war sie jetzt? Und wo, zum Teufel, war er?

Als er um sein Leben bettelte, konnte er seine eigene Stimme nicht hören. Und so nahm er nicht wahr, ob er in den kommenden Stunden jemals aufhörte zu flehen. Und wenn ja, wann. Von Kopf bis Fuß und bis ins Mark war er eine einzige dumpfe, schreiende, aber vielleicht lautlose Qual. Dabei machte, wer immer ihn hier festhielt, gar nichts. Machte noch nichts, sollte er besser denken. Denn wer es auch sein mochte, hatte ihn gefesselt und hier festgebunden. Und wartete ab. Ließ sich Zeit. War es die Frau? Er konnte sie nicht sehen, aber plötzlich wusste er, dass sie da war. Irgendwo neben ihm saß sie und beobachtete ihn. Labte sich an seiner Angst, plante den nächsten Schritt. Warum gehörte ausgerechnet er zu den Auserwählten, jenen Männern, die sie zu Opfern bestimmt hatte? Er kannte sie nicht. Was wollte sie von ihm, was hatte sie mit ihm vor? Er wusste es nicht, hatte keine Ahnung, keine Vorstellung von der Tortur, die ihm bevorstand. Aber eines wusste er: Was immer sie sich für ihn ausgedacht hatte, es würde entsetzlich werden.

Ich musste meinen Stil verfeinern, nicht wahr? Das wurde mir schnell klar. Das erste … nennen wir es einfach … Kapitel war mir zu grob geraten. Zu plakativ. Die Metapher zu dick aufgetragen, das hält man auf Dauer nicht durch. Und es sollte ja nicht bei diesem einen … dieser einen Aktion bleiben. Im Gegenteil, das war nur der Auftakt gewesen. Ein Experiment. Sie verstehen? Immerhin hab ich inzwischen gelernt, nicht zu streng mit mir ins Gericht zu gehen. Für ein Debüt ist mir die Sache schon recht gut gelungen. Alles nach Plan verlaufen. Wobei mir die Amsterdamer Atmosphäre zugutekam. Kein Scherz, die meiste Zeit dort war ich total bekifft, und das ganz ohne mein Zutun. Ich selbst hab nicht den allerkleinsten Krümel geraucht. Sind Sie mal in Amsterdam gewesen? Dann wissen Sie, was ich meine. Es reicht völlig aus, in den Straßen und Gässchen herumzulaufen, all die Schwaden zu inhalieren, die aus den Cafés auf die Straße ziehen. Ich gebe zu, das hat mir die Ausführung meines Plans vielleicht doch erleichtert.

Womit ich nicht sagen will, dass es mir leichtfiel. Im Gegenteil. Im Prinzip eine eklige Sache. Aber ich hatte nun einmal beschlossen, auf mich selbst keine Rücksicht zu nehmen. Ich würde das durchziehen. Tja, und hier sind wir nun. Sie und ich. Ich hab’s durchgezogen. Letztlich ist es doch wie bei allem im Leben, oder nicht? Disziplin. Fleiß. Willenskraft. Ist es nicht das, was ihr uns immer predigt? Nur so kommt Kunst zustande.

Damals dachte ich, meine Kunst wäre nicht perfekt. Mit anderen Worten: wäre noch gar keine Kunst. Wäre nicht einmal Handwerk. Wenn ich ehrlich war: gerade mal Anfängerglück. Ich mach mir nichts vor. Das, was ich mir vorgenommen hatte, erforderte sorgfältigste Planung und Vorbereitung. Damit ich am Ende sagen kann, es war gut. Inzwischen bin ich vielleicht schon nah dran. Aber die Sache in Amsterdam entsprach nicht dem Ideal. War so lala. Ich hätte strategischer vorgehen müssen. Ein Zeichen hinterlassen, an dem ich erkennbar bin. Nicht für jeden erkennbar natürlich. Aber für mich. Und für die Eingeweihten. Die zwar zu dem Zeitpunkt nicht eingeweiht waren. Die ich aber irgendwann zu Eingeweihten erklären würde. So wie jetzt Sie. Sie sind mein Höhepunkt. Der krönende Abschluss, mit Ihnen bringe ich mein Projekt zu Ende.

Und eigentlich, so wurde mir klar, brauchte ich mehr als ein Zeichen. Jeder Künstler hat doch seine eigene Handschrift. Nicht bloß eine eigene Signatur. Die könnte man, wenn man wollte, leicht fälschen. Das, was ich schaffen würde und womit ich begonnen hatte, ist hingegen ein echter van Gogh. Oder ein Rembrandt. Jedenfalls mehr als ein Machwerk aus dessen Werkstatt. Hier agiert nicht einfach ein gelehriger Schüler, nein, hier geht es um Meisterschaft. Ich würde eine Komposition von Mozart vorlegen – keine gefällige Nachempfindung. Wie hieß dieser Mann aus dem Amadeus-Film? Salieri? Genau. Also keine Fälschung Salieris.

Okay, es ist mein altes Thema. Aber inzwischen habe ich meine Lektion gelernt. Learnt my lesson well … Aus welchem Song stammt das jetzt wieder? Keine Ahnung, aber macht nichts. Überzogene Selbstkritik bringt dich im Leben nicht weiter. Perfektionismus ist unproduktiv. Ist nicht gut genug für den Profi. Nicht Perfektion, sondern Exzellenz ist es, was zählt. Nach Unnachahmlichkeit müssen wir streben. Oder heißt es Unnachahmbarkeit? Egal. Und sowieso, in dieser Kunst war ich schließlich kein Profi. Ich bin jemand mit einer Mission.

Meine … wie soll ich es nennen … Tat klingt nach Understatement. Unaufgeregt. Tötung mutet langweilig an, klinisch-steril. Ich nenne es also Aktion. Die eigentliche Aktion war mir recht gut gelungen. Ich sagte es wohl schon. Mit einem Handkantenschlag setzte ich den Mann außer Gefecht. Lange genug, um ihn quer durchs Zimmer zu ziehen und an die Heizung zu binden. Sein Alkoholkonsum kam mir dabei zupass. Mit eurem Größenwahn steht ihr euch selbst im Wege. Werdet fahrlässig, unvorsichtig. Kommt erst wieder zu euch, wenn ihr längst an die Heizung gefesselt seid. Tja, Sie waren da auch nicht klüger als alle anderen, tut mir aufrichtig leid, das feststellen zu müssen. Irgendwie habe ich wohl die Hoffnung gehegt, dass Sie anders wären.

Eins wurde mir bei meiner ersten Aktion allerdings klar, da­rauf würde ich in Zukunft achten: dass meinen … Partnern genügend Zeit bleibt, um zu begreifen, wie größenwahnsinnig ihr seid. Bei diesem ersten Mal ging es zu schnell. Wie so oft bei den ersten Malen. Da war zu viel Ungeduld im Spiel, ich wollte es hinter mich bringen. Und vielleicht lag es auch daran, dass ich vorher so lange brauchte, bis ich ihn fand. Bis ich ihn ausfindig machte, herausfand, was aus ihm geworden war. War gar nicht so einfach, der Mann hatte nicht viele Fährten gelegt, kaum irgendwo Spuren hinterlassen. Tja, der hatte, als er jung war, auch andere Pläne. Dass er am Ende mit seinem eigenen Schwanz im Mund daliegen würde, hat er sich wohl nicht vorgestellt.

Ich gebe zu, es war eine spontane Idee. Der Typ hatte einfach zu viel Werkzeug im Haus. Das schrie förmlich danach, benutzt zu werden. Dennoch, es war eine zu krude Aktion. Eigentlich nicht mein Stil. Zwar hat sie mein Anliegen klipp und klar auf den Punkt gebracht. Aber genau das machte sie unkünstlerisch. Beim nächsten Mal, so nahm ich mir vor, würde ich mehr Raffinement entfalten. Meine Aktionen sind schließlich keine Pamphlete, das verstehen Sie wohl? Außerdem sollte die jeweilige Aktion auch zur Zielperson passen. Aber so what, insofern stimmte das damals dann schon, irgendwelche Subtilitäten wären an diesen Kandidaten wohl vergeudet gewesen, so versifft, wie der war. Ich meine, bei Ihnen sieht das natürlich ganz anders aus. Oder sollte ich sagen … bei dir? Du … Sie verdienen die große Oper, keinen Heimwerkermord. Aber in jenem Fall: Schwanz ab. Ein Slogan aus seiner Jugend, insofern doch irgendwie richtig. Sie stimmen mir zu? Auf Ihr Wohl! Vielmehr, genau, auf dein Wohl. An das Du muss ich mich erst gewöhnen. Aber wir haben ja Zeit. Prost! Es lebe die Kunst!

1. 20. Juni

Was die Therapeutin beobachtete

Durchs Fenster beobachtete Romy, wie der junge Mann die Straße entlangschlurfte und sie sodann überquerte, wobei er den Weg nicht in einem lässigen Bogen diagonal abschnitt, wie sie selbst und die meisten ihrer Besucher es normalerweise machten. Nein, er hatte sich akribisch vorgearbeitet und einen Schritt vor den anderen gesetzt, bis er das Haus auf der anderen Straßenseite erreicht hatte, das direkt gegenüber ihrem lag. Dort blieb er stehen, schaute vorschriftsmäßig erst nach links und dann nach rechts und schließlich wiederum nach links, als könne in dieser ruhigen Hermsdorfer Wohnstraße aus dem Nichts ein Auto heranrasen, ohne dass man es schon Minuten vorher gehört hätte. Er schickte sich an, die Straße in einem akkuraten rechten Winkel zu überqueren. Nach zwei Schritten hielt er jedoch abrupt inne und vergewisserte sich aufs Neue, dass wirklich kein Auto kam, bevor er seinen Weg fortsetzte. Romy vermerkte ihre Beobachtung auf einem kleinen Notizblock, dessen Blätter am unteren Rand ein Em­blem zierte – eine stilisierte Schnecke, zweifarbig, in zartem Rosarot und Rostbraun. Ein Geschenk ihrer Tochter vor fünf Jahren. Romy hatte den Block erst eine Weile liegen lassen und geschont, bevor sie sich dazu durchgerungen hatte, ihn zu benutzen.

»Zwanghafte Persönlichkeit?«, notierte sie. »Fremdneurose, Angststörung?«

Der junge Mann – ein Jugendlicher eher, schlaksig und mit ungepflegten langen Haaren, aus denen das Hennarot zur Hälfte herausgewachsen war – hatte inzwischen ihren Vorgarten erreicht und durchquerte ihn, wobei er nun allerdings kein einziges Mal mehr nach rechts oder links schaute. Zu löchrigen schwarzen Jeans trug er ein verwaschenes schwarz-gräuliches T-Shirt und zerschlissene knöchelhohe Chucks, die einmal grün gewesen sein mochten. In seine Ohrläppchen waren Löcher in der Größe von Zwei-Euro-Münzen gestanzt. War dieser Trend nicht längst aus der Mode gekommen? Romy machte sich eine weitere Notiz und seufzte.

Manche Patienten, Patientinnen zumal, pflegten, kurz bevor sie die Haustür erreichten, einen Moment zu pausieren. Sie taten so, als wollten sie frische Luft tanken und die üppige Blumenpracht bewundern, die Romys ganzer Stolz war und sogar in der Nachbarschaft für Gesprächsstoff sorgte. In Wirklichkeit schöpften ihre Besucher hier Mut und besannen sich auf das, was sie der Therapeutin gleich erzählen wollten. Mochten sich die Nachbarn auch über die Methoden ihrer Gartenpflege ereifern, für die meisten Menschen, die Romy aufsuchten, und ganz bestimmt für diesen jungen Mann, blühten Pfingstrosen, Levkojen und Phlox in ihrem Vorgarten vergeblich. Im Grunde, dachte sie, war der ganze herrliche Frühsommer mit seinem Duft nach Jasmin und Jelängerjelieber an einen Burschen wie ihn verschwendet. Aber immerhin hatte er die erste Bewährungsprobe bestanden und war halbwegs pünktlich erschienen. Sie hatte seinen Termin gezielt für viertel vor elf anberaumt. Für einen wie ihn musste dies eine fast nicht zu bewältigende Uhrzeit sein. Eine echte Herausforderung. Er meinte es mit der Suche nach Hilfe offenbar ernst.

Jetzt war er stehen geblieben und betrachtete ihr Messingschild an der Hauswand. Lange hatte sie überlegt, ob sie ihr Praxisschild nicht doch lieber am Pfosten neben der Gartenpforte anbringen sollte, sich dann aber für die Hauswand entschieden. Das bot ihren Besuchern den Anschein von Diskretion – auch wenn die Nachbarn natürlich wussten, weswegen die Menschen Romys Praxis aufsuchten. Zugleich gab es ihr die Gelegenheit, ihre Patienten für einen Moment von ihrem Fenster aus zu studieren, bevor sie eintraten. Fast alle, selbst diejenigen, die schon lange zu ihr kamen, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre sogar, zeigten irgendeine spezifische Reaktion auf das Schild. Vergewisserten sich, dass es da war, riefen sich die Inschrift in Erinnerung, als stünde eine tiefsinnige Botschaft darauf: »Romy Schulze, Psychologische Psychotherapeutin, alle Kassen, Sprechstunden nach Vereinbarung«. Selbst wenn sie nur einen flüchtigen Blick auf das Schild warfen, so konnte Romy auf ihrem Beobachterposten für einen Augenblick ihre ungeschützten Gesichter sehen, bevor sie die Praxis betraten. Ein Leichtes, hier vorab auf ihre gegenwärtige Gemütsverfassung zu schließen.

Plötzlich hob der junge Mann, am Telefon hatte er sich als Artur Weber vorgestellt, den Kopf und schaute direkt zu ihr herüber. Romy duckte sich unwillkürlich, dabei wusste sie, dass er sie durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousien nicht sehen konnte. In all den Jahren hatte sie sich diesen Reflex nicht aberziehen können. Insgeheim schalt sie sich dafür. Er ist ein Patient, erinnerte sie sich. Er sieht mich nicht. Er hat keine Macht über mich.

Was Artur dachte

Wieso hatte er sich auf diesen Nonsens eingelassen? Es war eine Schnapsidee gewesen, auf Marie-Jo zu hören und hierherzukommen! Er hätte es wissen müssen, hatte ja auch dagegen protestiert, wenngleich zu zaghaft, wie immer. Immer kriegten sie einen herum. Erst seine Mutter, neuerdings unterstützt durch Marie-Jo, die unbedingt seine Freundin sein wollte. Sich einbildete, seine Freundin zu sein. Dabei war er ohne sie viel besser dran, war sein eigener Herr gewesen. Oder, na ja, fast. Doch jetzt … Aber gegen ihre Argumente kam er nicht an. »Deine Mutter hat recht. Es wird dir guttun, du wirst schon sehen. Wann befreist du dich endlich von deinem Vater? Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich, andere haben lediglich die Macht über dich, die du ihnen gibst …« Und so weiter, bla, bla. All diese schönen Sätze, die immer aufs selbe hinausliefen: dass sie selbst Macht über ihn ausüben wollte. Er bezweifelte, dass das für ihn eine Verbesserung wäre. Dann doch lieber Zoff mit dem Alten. Offene Feldschlacht, Mann gegen Mann.

Kurz überlegte Artur, ob man sagen konnte, dass sein Vater und er mit offenem Visier kämpften. Visier, das hing doch sicher mit dem lateinischen Wort für Sehen zusammen. Video, ich sehe … ich habe eine Vision. Mann, Alter, ich bin gar nicht so dumm, wie du immer behauptest, wozu hast du mich schließlich aufs Gymnasium geschickt! Aber eines stimmte nicht, mit offenem Visier kämpfte sein Vater nicht. Vor seinem Gesicht war immer ein Kamera-Auge.

»Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Ach ja, die Schnecke! Saß immer noch da. Für einen Moment hatte er sie glatt vergessen. Eine Stimme wie eine Schleimspur. Guckte ihn aufdringlich an, was sie vermutlich für aufmunternd hielt, mit ihren feucht glänzenden braunen Augen. Täuschte Mitgefühl vor, hielt aber die Hand dafür auf und ließ sich die Heuchelei für hundertsechzig Euro pro Stunde berappen. Oder wie viel auch immer die Stunde hier kostete. Egal, das war nicht sein Problem, er war privat über seinen Vater versichert. Die Mutter in der gesetzlichen Krankenkasse, was schon alles über seine Familie aussagte, was man wissen musste. Klassengegensatz in der Ehe, so hatte es seine Mutter genannt. Selbst schuld, dachte Artur, warum hatte sie sich auch auf den alten Sack eingelassen? Das war doch nicht ausschließlich seinetwegen gewesen. Neben allem anderen ging ihm ihr ewiges Aufopferungsgequatsche auf die Nerven. Oder nein, genauer gesagt, diese ganze Opferhaltung ging ihm am Arsch vorbei. Aber er wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Und darüber reden schon gar nicht. Ihn legte diese Frau mit ihrem Pseudo-Mitgefühl nicht herein. Artur presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme. Starrte stur vor sich hin. Wenn sie Geduld hatte und abwarten konnte – er konnte es auch.

Was die Therapeutin sich fragte

Diese traurigen jungen Leute, was hatte man ihnen angetan? Ronja war auch so, sie hätte gut zu diesem Artur gepasst, mit seinen Löchern in der Hose, in der Lippe und in den Ohren. Und den Löchern in seiner Seele. Wo kamen sie her? Diese Generation, dachte Romy, war wie tot geboren. Aber das stimmte natürlich nicht. Erwachsen zu werden, war auch in ihrer Jugend schwierig gewesen, schon immer hatten die Menschen Probleme gehabt. Nur nicht so viel Muße, darüber nachzudenken. Oder darüber zu schweigen, während jemand mit ihnen schwieg und die Stille erträglich machte. Aber sei es, wie es sei, während der verbleibenden fünfunddreißig Minuten würde sie dem Burschen das Gefühl vermitteln, alle Zeit der Welt für ihn zu haben. Gegen Ende der Stunde jedoch würde sie ihm einen Köder hinwerfen, der ihn so aufregen würde, dass er aufspringen und davonstürmen würde. Auf diese Weise ersparte sie ihm den Hinweis, dass die Sitzung für heute beendet war. Diese kleine Kränkung würde sie ihm erlassen. Dafür würde sie ihm eine größere zumuten, eine, gegen die er rebellieren musste. Oh ja, sie würde ihn provozieren. Sie verstand sich darauf. Indem sie ihn demütigte, würde sie ihm einen Energieschub verpassen. Er würde darüber nachdenken, würde sie zurückweisen, ihr seine Meinung dazu sagen wollen. Sollte er allerdings den Köder nicht schlucken und zum zweiten Termin nicht erscheinen, so wäre es auch in Ordnung. Dann hatte es eh keinen Sinn. Besser, sie blieben gleich weg, als dass Romy zu viel Mühe in sie investierte. Da dieser Artur Weber aber nun schon einmal hergefunden hatte, morgens um kurz vor elf, war sie sich ziemlich sicher, dass er wiederkäme. Sie kannte diesen Typus. Noch reagierte er ängstlich, verstockt. Verstopft, dachte Romy. Wie so viele Männer, ob jung oder alt, litt dieser Artur an emotionaler Verstopfung. Irgendwann aber würde es aus ihm heraussprudeln, dann würde sich alles, was ihn bedrückte, entladen. All die Kränkungen und Verletzungen, die sich über Jahre in seiner Seele angestaut hatten. Sollte er sich einstweilen ruhig verweigern, wenn ihm das ein Gefühl von Sicherheit gab. Immerhin hatte sie sich so Gedanken über das Abführmittel machen können, das für ihn am besten geeignet war. Sie würde es ihm in Form einer harmlosen Frage verabreichen, so viel stand fest, und auch, dass es mit seinem Vater zu tun haben würde. Dazu musste sie nicht einmal etwas Persönliches über ihn wissen. Es war nun einmal ein Naturgesetz, dass Söhne ihre Väter ermorden wollten. Die Frage war daher: Wie erfolgreich konnten sie Angriff und Gegenwehr sublimieren? Mit anderen Worten, wie weit durfte sie mit ihrer Herausforderung gehen?

Was Artur dachte

Du sollst deinen Feinden vergeben, aber nicht eher, als bis sie gehenkt? Also echt, die Frau hatte einen Hau. Er war doch kein Mörder! Was bildete diese Schnecke sich ein! Und dafür, dass sie ihm hier mit Heinrich Heine kam, schmiss sein Vater Geld zum Fenster hinaus. Aber wehe, wenn er von seinem Erzeuger mal ein bisschen Kohle für einen neuen Verstärker brauchte. Dann hieß es gleich, verdien dir selbst was hinzu. Er sollte seinem Vater von dieser Stunde berichten: Stell dir vor, die Alte hat mich gefragt, wie ich dich am liebsten zur Strecke bringen würde. Also erhängen, erstechen, erdrosseln, erschießen, oder was es so alles gibt. Die freie Auswahl – aber vielleicht würde mir ja etwas ganz Besonderes für dich einfallen, eine Methode für meinen Vater persönlich.

Er hatte es schon immer vermutet: Die meisten Therapeuten waren selbst verrückt. Obwohl – zur Not würde ihm natürlich schon das eine oder andere einfallen. Die eine oder andere Methode. Elektroschocker, hatte Artur spontan gedacht, als die Frau ihm am Ende der Stunde diese unmögliche Frage stellte. Aber zuallererst probiere ich das Gerät mal an Ihnen aus, ganz persönlich. Wie finden Sie das, Frau Doktor? Er hatte ihr zugenickt und weiter geschwiegen.

Seinen Vater zur Strecke bringen … War es nicht genau das, was auch Marie-Jo von ihm wollte? Aber warum? Und was war eigentlich mit ihrem eigenen Erzeuger? Indem sie Artur diese Therapeutin empfohlen hatte – diese Terrorpatin, dachte er – lenkte sie geschickt von sich selbst ab. Er würde nicht wieder hingehen. Aber Marie-Jo würde er am Abend ein Spiel vorschlagen. Wie killen wir unsere Väter? Mal sehen, ob sie dann weiter so psychomäßig tough war, wie sie die ganze Zeit tat.

Was die Therapeutin nach ihrer Sprechstunde trieb

Wenn ihre Patienten sich leer geredet oder leer geschwiegen hatten, zog Romy sich in ihren Garten zurück und sprach mit den Blumen, bis sie eine von ihnen war. Als Rambler-Rose sah sie sich gern, ein Rambling Rector, ein umherschweifender Pfarrer vielleicht. Eine pflegeleichte Sorte, die man getrost sich selbst überlassen konnte, dabei edel und stolz, eine überbordende Augenweide, die zudem einen üppigen Duft verströmte und sich nicht darum scherte, ob er an taube Nasen vergeudet wurde. Im Internet hatte sie gelesen, dass diese Sorte durchaus im Schatten Wurzeln schlagen konnte, die Triebe sich allerdings der Sonne entgegenstreckten. Das traf genauso auf sie zu. Und wie die Rambler-Rose entschied sie selbst, wohin sie wachsen und wo sie andocken wollte. Ja, genau so war sie selbst. Mit harten Stacheln, die sich festkrallen konnten, aber dennoch zart und anschmiegsam, stets darauf bedacht, anderen Freude zu bereiten, egal, ob die lieben Mitmenschen es verdienten oder nicht. Selbstbestimmt und doch auf der Suche nach Halt. Glücklicherweise hatte sie ihn in Gero gefunden.

Auch ihre Patienten verglich Romy gerne mit Pflanzen. Artur Weber, dieser störrische junge Mann heute, war er nicht ein morsches Apfelbäumchen, das beim nächsten Sturm brechen würde? Verdorrt, bevor es Früchte getragen hatte. Zu schade darum. Oder war er nicht einmal das? Glich er vielleicht einem stacheligen Kaktus, wie so viele von ihnen? Beim nächsten Mal, wenn er denn wiederkäme, wüsste sie mehr. Ach, und das ganze Unkraut! Allabendlich führte sie ihren persönlichen Sisyphuskampf dagegen, rutschte auf den Knien zwischen den Beeten umher, riss Disteln und Brennnesseln aus, bis ihr die Hände bluteten.

Den härtesten Kampf aber führte sie gegen die Schnecken. Diese widerlichen Nacktschnecken, Spanische Wegelagerer, der Name sagte schon alles. So bitter im Geschmack, dass sie kaum natürliche Feinde hatten. Was hatte sie im Laufe der Jahre schon alles gegen diese Biester unternommen! Schneckenkorn und Schneckenkragen hatte sie ausprobiert, Kupferdraht, Bierfallen und Vergiften mit Koffein … Alles untauglich, das Einzige, was wirklich half, war, zur Schere zu greifen. Mochten die Nachbarn auch schief gucken und Ronja schimpfen oder gar in Tränen ausbrechen. Das Kind war einfach zu zart besaitet. Das Durchschneiden war doch im Grunde die sanfteste Methode von allen. Ein schneller Schnitt, die Schnecke merkte ihn kaum, und dann: aus die Maus. Um die Ecke die Schnecke! Wie zog sich dagegen der Schneckenkorntod in die Länge – das war nun wirklich grausam! Es kam vor, dass sich die Tiere in ihrem Todeskampf zwei, drei Meter weiterschleppten, eine kolossale Strecke, wenn man eine Schnecke war. Dabei hinterließen sie eine widerliche Schleimspur, ekelhaft. Leider erwischte man mit dem Gift auch die nützlichen Schnecken, jene, die sich von abgestorbenen Pflanzenteilen ernährten und keine Plage darstellten, sondern im Gegenteil zur natürlichen Nahrungskette gehörten. Nein, so ein unsinnig qualvoller Tod durch Vergiften, der wahllos alle treffen konnte, die den Schneckenkorn-Pfad kreuzten – und womöglich auch die Vögel und andere Tiere, die sich von den Schnecken ernährten –, das war nicht ihr Stil. »Gegenüber Tieren keine Hintergedanken«, hatte sie Gero gegenüber erklärt, als er sie danach gefragt hatte. »Und gegenüber Menschen?« – »Vielleicht.«

Dieses Jahr war es besonders schlimm. Nach dem zu milden Winter gab es in Berlin eine wahre Schneckenplage, selbst die Zeitungen berichteten davon. Jetzt, nachdem am frühen Nachmittag ein warmer Juniregen vom Himmel gepladdert war, krochen sie in Scharen hervor.

Sie ging zum Schuppen hinüber und holte die für diesen Zweck reservierte Schere. Zwar musste sie sich jedes Mal aufs Neue überwinden, wenn sie die erste Schnecke des Tages zerschnitt, aber schon bei der zweiten zeigte sich ihre Übung. Mit der Zeit gewann man eben doch eine gewisse Routine, selbst in den schrecklichsten Dingen. Da war eine … Sie bückte sich und griff zu. Und schnitt. Und da … Und da … Und Schnitt! Und Schnitt! Und Schnitt!

Was die Tochter sah

Das war wieder typisch, nun hatte sie schon zweimal Hallo gerufen, aber Romy hörte sie nicht. Wenn die mit ihren Blumen zugange war, war sie für niemanden sonst zu sprechen. Warum bin ich eigentlich als Mensch auf die Erde gekommen, dachte Ronja. Sie hätte besser daran getan, sich für eine Inkarnation als Brombeerranke oder kleiner Ginkgo-Setzling zu entscheiden, dann hätte ihre Mutter sich intensiver um sie gekümmert. Was heißt, intensiver? Dann hätte ihre Mutter sich überhaupt mal um sie gekümmert. Oder eine Buchsbaumhecke … Aber na ja, zurechtgestutzt hatte ihre Mutter sie auch so. Solange man nicht als Nacktschnecke in Romys Klauen geriet, sollte man wohl nicht klagen.

Als Ronja noch ein Kind war, hatte ihre Mutter sie an schönen Sommertagen zum Schneckensammeln verdonnert. Damals schwor sie auf die Methode, die Schnecken in heißes Wasser zu werfen, angeblich ein schneller Tod. Und angeblich konnten Schnecken keine Schmerzen empfinden. Ronja verspürte einen Brechreiz und zog sich, einer spontanen Eingebung folgend, hinter einen Oleanderstrauch zurück. Dabei trat sie aus Versehen gegen ein Windlicht, sodass es den Kiesweg entlangkullerte. Sie fluchte leise zwischen den Zähnen, aber ihre Mutter nahm auch hiervon keine Notiz. Es könnte sonst was passieren, dachte Ronja. Ich könnte doch glatt ein Einbrecher sein. Vermutlich würde sie mich erst bemerken, wenn ich ihr ein Messer an die Kehle hielte und »Geld oder Leben!« riefe. Aber vielleicht nicht einmal dann. Und sicherlich wäre auch der dümmste Einbrecher nicht so dumm, ihrer Mutter ein Messer an die Kehle zu setzen, während die mit einer großen Schere bewaffnet Schnecken zerschnitt.

Was die Eheleute besprachen

»Na, schöne Frau, wie steht die Quote?« Gero war von hinten leise an Romy herangetreten und drückte ihr einen Kuss auf den Nacken. »Ich würde dich ja umarmen«, murmelte er, »aber …« Er reckte die Arme seitlich hoch, um ihr zu zeigen, was ihn daran hinderte. In der linken Hand hielt er eine Flasche Rosé, in der rechten zwei Gläser. Romy wandte sich zu ihm um und suchte seine Lippen, während sie die Arme um ihn schlang und hinter seinem Rücken schnell einer weiteren Schnecke den Garaus machte.

»Mmmmh, lecker.« Er grinste. »Sei froh, dass du mich gefunden hast. Andere Männer kämen mit so was nicht klar, die würdest du mit deinen Schnecken schwer traumatisieren. Und vor allem mit deiner Schere.«

»Kein Problem, ich würde sie schon therapieren. Andere Männer nähmen mir vielleicht die dreckige Arbeit ab.«

»Ich habe immerhin schon mal die Flasche entkorkt. Wo wollen wir sitzen?«

Ihr Grundstück war groß und bot ihnen Auswahl. Sie entschieden sich für eine intime Zweiersitzgruppe im hinteren Teil des Gartens, die von der Terrasse aus fast nicht zu sehen war. Gero stellte die Gläser ab, zog den Korken aus der Flasche und schenkte großzügig ein. Romy legte die Schere auf den Tisch, wischte sich die Hände an der Gartenschürze ab und griff nach ihrem Glas.

»Hast du Ronja gesehen?«, fragte Gero.

»Du meinst meine gynomorphe Tochter, die einen an Sauerampfer erinnert?«

Gero prostete ihr zu, wobei sein freundliches Nicken kaum merklich in ein Kopfschütteln überging. »Ich meine deine hübsche Tochter, die vielleicht mit der Hoffnung herkam, dass ihre Mutter sie zum Essen einladen würde.«

»Dann soll sie sich nicht hinter der Hecke verstecken, sondern an der Tür klingeln wie andere Leute auch. Wir sind hier doch nicht im Kindergarten.« Romy knallte ihr Glas auf den Tisch, sodass der Wein überschwappte, und nahm es erschrocken wieder an sich. »Was ist nur mit ihr passiert?«

»Gar nichts ist passiert, Romy. Außer, dass sie sich endlich von ihrer Mutter abgrenzt. Und dabei, wie es eben die Art junger Leute ist, ein wenig übertreibt.«

»Ein wenig? Ich bitte dich, sie wird im Herbst siebenundzwanzig. In ihrem Alter hatte ich schon …«

»Eine fünfjährige Tochter, ich weiß. Heutzutage brauchen die jungen Leute nun einmal län…«

»Die jungen Leute vielleicht, aber doch nicht die jungen Frauen. Die sind in der Regel sehr gut aufgestellt. Sie könnte längst mit dem Studium fertig sein.«

»Jeder geht seinen eigenen Weg. Du solltest sie lieber …«

»Komm mir nicht so, Gero. Sag mir nicht, was ich tun und lassen soll. Und unterbrich mich nicht dauernd.«

»Du machst dir zu viele Sorgen, Romy. Mehr will ich gar nicht sagen. Dabei weißt doch gerade du …«

»Wenn sie sich hinter der Hecke versteckt und außerdem die Haare so raspelig trägt, dass man sie mit einem Kaktus verwechseln könnte, muss sie sich nicht wundern, wenn man sie übersieht. Und dabei war sie doch mal so ein süßes Mädchen.«

»Seit wann denkst du, dass erwachsene Frauen süß sein sollen?«

»Ich denke, sie will mich bestrafen.«

»Bestrafen? Dich? Unsinn, wofür? Sind wir ein bisschen symbiotisch veranlagt, gnädige Frau?«

Romy warf einen kritischen Blick in ihr Glas, als koste es sie Überwindung, daraus zu trinken, dann leerte sie es hastig und hielt es ihm entgegen. »Mehr, bitte, bei diesem Wetter verdunstet der Wein so schnell.«

»So kenn ich mein Mädchen.« Er goss nach, während er weitersprach. »Was hältst du davon, wenn ich Ronja für morgen zum Abendbrot einlade? Vorausgesetzt, du versprichst mir eines. Und guck mich nicht so misstrauisch an, während ich mit dir rede. Herrje, wenn du deine Patienten auch so anguckst, kriegen die ja einen zusätzlichen Schaden.«

Romy hörte ihn lachen und spürte plötzlich eine abgrundtiefe Müdigkeit in sich aufsteigen. Mein Gott, dieses Leben. Ging das alles immer so weiter? Dieses Sich-Sorgen-Machen und Wir-müssen-darüber-Sprechen und dieses Beisammensitzen wie ein vorbildliches Ehepaar und dieses Zu-viel-Wein-dabei-Trinken auch? Drehten sie sich nicht alle ewig im Kreis?

»Versprich mir, dass das Thema Ronja damit für heute erledigt ist«, sagte Gero. »Denn so geht es nicht weiter. Du willst Therapeutin sein und machst alle Fehler, die andere Mütter auch machen. Hör mal, das Mädel ist schließlich erwachsen.«

Er sah sie an, braun gebrannt, gut gelaunt. Romy ärgerte sich. Immer hatte dieser Mann gute Laune. Dass er einen leichten Knoblauchgeruch verströmte, machte die Sache nicht besser.

»Ich will keine Therapeutin sein«, wies sie ihn zurecht. »Ich bin Therapeutin.«

»Ja, klar.« Er nippte an seinem Glas. »Aber trotzdem ist jetzt mal langsam Loslassen angesagt.«

Romy starrte auf ihr Glas. Der Rosé hatte dieselbe Farbe wie ihre Sahara-Strauchrosen. Wein, vermischt mit Sonnenlicht und drei Tropfen Blut. Obwohl ihre Hände gebräunt waren und schmutzig von der Gartenarbeit, leuchteten die Handknöchel weiß, während sie ihr Glas umklammerte. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete sie die Hand und ließ das Glas auf die Steinplatte fallen, wo es in kleine Stücke zersprang. Was brechen kann, bricht schnell. Herzen, Glück und Glas. Auf Geros ehemals weißer Hose formten die Spritzer ein hässliches rosafarbenes Muster.

Gero reagierte wie immer, er blieb gelassen. Der Blick, mit dem er sie bedachte, verriet eher Amüsement als einen Tadel. Nachsichtig lächelnd stand er auf und ging ins Haus, um Handfeger und Kehrblech zu holen.

2. 11. Juli

Was Pit in der Post fand

Von außen war dem Umschlag nichts anzusehen gewesen. Er hätte alles Mögliche enthalten können, eine Werbebroschüre für einen Vortrag oder eine Veranstaltungsreihe, einen Spendenaufruf oder eine Rechnung, die Einladung zu einem Gartenfest oder einem Konzert. Ein schlichtes weißes Kuvert mit selbstklebendem Verschluss, Format DIN A5, der Adressaufkleber per Computer beschriftet. Flüchtig nahm er seinen Namen darauf zur Kenntnis. Herrn Dr. Peter Pleyer, Marienstraße, 10117 Berlin-Mitte. Der Zusatz »Mitte« gefiel ihm, er war altmodisch, überflüssig. Jemand hatte Stil, nahm sich Zeit. Ein Absender war nicht zu entdecken. Noch während Pleyer die Treppe hochstieg, riss er den Umschlag auf. Er hätte auch den Fahrstuhl hinauf zu seiner Maisonettewohnung, die im fünften Stock eines teuer sanierten Altbaus lag, nehmen können, aber Pit Pleyer war ein Mann, der sich fit hielt; man sah ihm seine achtundfünfzig Jahre nicht an. Im Gehen zog er den Inhalt aus dem Kuvert. Eine zusammengefaltete DIN-A4-Seite, der Computerausdruck eines verwackelten Fotos, das wahrscheinlich mit einem Handy aufgenommen worden war. Pleyer brauchte eine Weile, bis er begriff, was er da sah. Oder besser gesagt, bis er es so weit wahrnahm, dass er es hätte beschreiben können. Denn wirklich begreifen tat er es nicht.

Nun saß er am Schreibtisch in seiner Bibliothek – wenn man den Raum denn so nennen wollte. Hier las er für gewöhnlich seine Post, die er handschriftlich mit einem dem jeweiligen Adressaten angepassten Montblanc-Füller zu beantworten pflegte. Im Grunde aber war seine gesamte Wohnung eine einzige Bibliothek, mit Ausnahme von WC und Badezimmer natürlich. Pit Pleyer verabscheute Menschen, die neben der Toilette einen Stapel Bücher griffbereit hielten. Zwar handelte es sich zumeist um primitive Comics, Zeitschriften oder polemische Pamphlete, manchmal aber kannten diese Leute vollends keine Scham und verbannten selbst die Klassiker auf den Lokus. In solchen Haushalten sah man ihn genau einmal und dann nie wieder; solche Menschen waren ihm einfach zu ordinär.

Längst hatte er die übrige Post achtlos beiseitegelegt und starrte auf den körnigen Ausdruck auf der Tischplatte vor sich. Was sollte das? Selbst für einen schlechten Scherz war dieses Bild nicht geeignet. Es zeigte einen älteren Mann, der mit heruntergelassener Hose in einer Art Kellerraum lag – war das Linoleum? Oder etwa nackter Beton? Seine Hände waren mit Handschellen an ein Rohr gefesselt. Halb lag er, halb saß er. Nein, weder noch, er war in sich zusammengesackt und tat gar nichts mehr. Beim zweiten Hinsehen war Pit Pleyer sich sicher. Der Mann war eindeutig tot. In seiner Brust steckte irgendetwas mit einem schwarzen Griff, wahrscheinlich ein Messer. Um die Einstichstelle herum hatte sich ein dunkler Fleck auf dem grobkarierten Hemd ausgebreitet. Das Hemd sah ärmlich aus, selbst auf der Abbildung roch es nach Flohmarkt oder Kirchenbasar, und das war bestimmt nicht der kümmerlichen Qualität dieses Fotoabzugs geschuldet.

Am meisten aber irritierte Pleyer, den Mediziner, ein anderes Detail an dem Bild. Irgendetwas hatte der Kerl im Mund. Was konnte das sein? Ein dicker Wurm? Eine Schnecke? Er wusste, dass er so etwas irgendwo schon einmal gesehen hatte, konnte es aber nicht zuordnen. Es war zu unappetitlich.

Was sollte das? Wollte ihm jemand eine Botschaft zukommen lassen? Gar einen Hilferuf? Er war schließlich Arzt. Oder handelte es sich um eine Drohung? Er saß in allerlei Ausschüssen und Vorständen, kannte einflussreiche, mächtige, kurzum interessante Leute. Der Mann auf diesem Foto zählte allerdings nicht zu ihnen. Das Hemd verriet einen Loser. Wieso dachte er, es handele sich um einen älteren Mann? Nun, es brauchte eine gewisse Zeit, so viel Fett anzusetzen. Pleyer hatte für den Verfall einen Blick. Er war Ästhet, des pieds à la tête. Nicht allein, was Frauen anging. Es war abstoßend, wie manche Leute sich gehen ließen. Dennoch, so viel erkannte er auf den zweiten Blick dann doch: gut möglich, dass der Mann jünger war als er selbst oder jedenfalls nicht wesentlich älter.