Mein Langeoog - Regula Venske - E-Book

Mein Langeoog E-Book

Regula Venske

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Beschreibung

"Sie sind ein Inseltyp…", so bescheinigte man es einst Regula Venske, denn ihre Reiseziele heißen gern Kreta, Paros, Gozo oder Teneriffa, und nichts läge ihr ferner, als eine mückenumschwärmte Hütte an einem schwedischen See zu beziehen. Doch obwohl sie die unterschiedlichsten Strände auf der ganzen Welt erkundet hat, fühlt sie sich nur an den Küsten des rauen Atlantiks daheim: ausgelöst durch Langeoog, die Insel ihrer Kindheit. In "Mein Langeoog" berichtet Venske nicht nur von Sommerfrische, Reizklima, Dünensingen und Badezeiten – vielmehr lässt sie die Insel zum Ausgangspunkt werden für Geschichten und (deutsche) Geschichte, für Sehnsüchte und Utopien, für Erinnerungen an ihre Familie, an Begegnungen mit Menschen (und Möwen und Quallen), an Lektüren und Lebensthemen.

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Seitenzahl: 203

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REGULA VENSKE

Mein Langeoog

© 2021 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Coverabbildung © Antiquarian Images / Alamy Stock Foto

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-394-1

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-646-1

www.mare.de

In memoriam Jutta geb. Schrödterund Walter Venske

In Liebe und Dankbarkeit

Inhalt

Vorspiel auf Palawan

SOMMERFRISCHE

Nun wollen wir uns mal befassen

Betretung verboten!

Geh weg, du böses Iih!

Ich bin im Wasser zu Haus

Die bürgerliche Ordnung macht niemals Urlaub

Dünensingen

IN MEMORIAM LALE ANDERSEN

Ein Schiff

Eine Frau

Ein Lied

Forever Lili Marleen

LANGEOOGER DÜNENFRIEDEN

Ein Friedhof

Führers Roseninsel

Die russischen Toten sind auch unsere Toten

Tu deinen Mund auf für die Stummen

ERINNERUNGEN

Mädchenwünsche

Essen auf Langeoog

Der Hunger meines Vaters

Die Liebe meiner Mutter

VERRAT

Inseltyp

Wangerooge

Juist Töwerland

Meeresleuchten

BEGEGNUNGEN UND WEGE

Zum Wasserturm

Am Strand. Zum Hafen. In den Dünen

Im Ort. Zur Meierei

Wilde Tiere

Natur

INSPIRATIONEN

Lektüren

Ohne Ufer

Zwischenspiel auf Palawan

Regionalkrimi, Heimatroman

Gott und das Meer

Literatur

Dank

Vorspiel auf Palawan

Was will ich nur auf Palawan? Welcher Teufel hat mich geritten, mit den Kolleginnen auf eine Insel zu fahren, deren Namen ich bis vor Kurzem noch nicht einmal kannte? Es hätte doch gereicht, mich spontan über Lucinas Frage, ob ich wieder mit von der Partie wäre, zu freuen und dann abzuwinken. Später lustige Fotos von ihr und den Mitstreiterinnen auf Facebook zu liken und beim Treffen auf dem internationalen PEN-Kongress in Manila von ihren Abenteuern zu hören.

Im vorigen Jahr war das etwas anderes, als wir, vier Frauen aus aller Welt, uns ein paar Tage vor dem internationalen PEN-Kongress, der in Pune stattfinden sollte, zu gemeinsamen Ausflügen in Mumbai verabredet hatten. Streifzüge durch die Stadt, eine Bötchentour nach Elephanta Island, das Prince of Wales Museum mit dem jetzt unaussprechlichen indischen Namen und abends ein paar gepflegte Bombay Blazer mit Blick auf das Gate of India an der Bar des legendären Taj Mahal Hotels – das war ganz nach meinem Geschmack, die ich Städte liebe. Aber jetzt liege ich hier in einer Hängematte zwischen zwei Palmen, am angeblich schönsten Strand auf der angeblich schönsten Insel der Welt, und sehne mich nach kühlem Nordseewetter und meiner Insel daheim.

Wenn ich ans Meer fahre, will ich nicht mit den Mädels am Strand sitzen und an einem klebrig-süßen, blauen Getränk nippen, mit einem ebenfalls klebrigen, bunten Papierschirmchen im Haar. Weder möchte ich nach versunkenen Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg tauchen – nun, ich will nicht polemisch werden, diese Unternehmung steht zum Glück nicht auf unserem Programm –, noch will ich mich an einer künstlichen Liane, pardon: Zipline, von einer Seite der Bucht zur anderen schwingen. Leider haben wir genau das heute Nachmittag vor. »Genießen Sie 800 m Adrenalin, während Sie über das unberührte blaue Wasser fliegen!« Danke bestens, ich fahre doch auch nicht zum Seilrutschen in den Harz oder nach Schleswig-Holstein. Solchen Vergnügungen kann ich nichts abgewinnen. Und ich möchte auch nicht eine Bootstour auf einem unterirdischen Fluss durch eine unterirdische Höhlenlandschaft mitmachen, und sollte sie dreimal zum Weltnaturerbe der Menschheit zählen. Meer, das bedeutet ein Gefühl von Weite und Freiheit für mich, unabdingbar gehört der Himmel dazu. Da will ich mich nicht, noch dazu in einer Touristengruppe, in einer klaustrophobischen Situation wiederfinden, sondern allein sein und eins mit dem Universum. Oder mit jemandem schweigen. Das kann ich den Kolleginnen jetzt aber nicht sagen, will ich nicht grob unhöflich sein. Und schließlich freuen wir uns ja auch, uns wiederzusehen.

Seit dem Morgen dudelt mir der Refrain eines Liedes im Kopf herum, das die Flinthörners singen, der legendäre Langeooger Shanty-Chor. »Wat wüllt wi in Amerika, wi fohrn na Bensersiel.« Natürlich singen die Jungs das erst nach der letzten Strophe, nachdem sie zuvor im Eisernen Mann, so der Titel des Songs, drei Fass Rum geleert haben. Anfangs lautet der Refrain noch »Wer will mit uns auf See, auf See? Wir fahren nach Amerika, das Schiff liegt schon am Kai.«

Ich werde mich beherrschen müssen, es nicht am späteren Abend noch vorzusingen, wenn wir den geplanten Zipline-Ausflug (hoffentlich) glücklich überstanden haben und weitere klebrige Getränke genießen.

Habe ich mich jemals in meinem Leben an einen Südseestrand geträumt?

Nein. Ich bin die Frau, die in einer Hängematte am Südseestrand von der frischen Brise an der Nordsee träumt. An vielen Stränden hat mir der Wind den Kopf leer gepustet und das Meer abgelebte Gefühle mit sich genommen und mich auf neue Gedanken gebracht. Wenn ich mich aber zurückerinnere an die Küsten und Kais von Akureyri, Henne Strand, Sint Maartenszee, Land’s End oder Gijon bis, den Globus runter, zur ehemaligen »Goldküste« in Ghana: Immer war es der Atlantische Ozean, der die seelische Verbundenheit bewirkt hat. Das Mittelmeer ist zu blau, zu türkis, zu heiter. Gut und sanft war es mal, die Wiege unserer Kultur und, um es mit Thomas Mann zu sagen, unserer »Gesittung«, und man musste, als man jung war, dorthin reisen und Kulturgeschichte rauf und runter studieren. Wenn man Glück hatte, begegnete man dem Métèque aus Georges Moustakis Chanson (»Avec ma gueule de métèque, de juif errant de pâtre grec et mes cheveux aux quatre vents …«). Immerhin wäre das vielleicht ein Lied, das wir heute Abend gemeinsam singen könnten, weil auch die Kolleginnen es kennen.

Welch herrliche Abende und Nächte, natürlich auch Tage, habe ich an Mittelmeerstränden verbracht. Aber nie habe ich mich dorthin oder etwa an den Pazifik zurückgesehnt. In Santa Monica holte ich mir nur einen Sonnenbrand und musste eine Woche lang in der Krankenstation meines amerikanischen Mädcheninternats in kalter Quaker Oats-Haferflockenpampe baden. Coppertone people don’t get burnt, wie zu meinem Hohn drehte der kleine Flieger mit dem Reklamebanner seine Runden über dem Strand.

Das vollkommene irdische Glück, so hätte ich in den Proust’schen Fragebogen geschrieben, ist ein Bad in der Nordsee an einem windigen Tag. Einmal dachte ich, ich könnte es auch am Mittelmeer erleben, das war an einem kühlen Tag Anfang März auf der Kassandra-Halbinsel vor Thessaloniki, als die Reisegefährten und ich, abgehärtet durch Nordseewellen, ein erfrischendes Bad im Meer genießen wollten. In Windeseile hatte sich die Kunde im nahe gelegenen Dorf verbreitet. Die Einwohner liefen am Strand zusammen und sahen uns kopfschüttelnd zu, während wir an den Strand zurückschwammen. Die Männer lächelten immerhin, als ich tropfnass aus dem Wasser stieg, aber von den schwarz gewandeten Frauen wurde ich mit strengen Blicken bedacht. Bei aller Liebe zum Meer: Nie wäre ich in dem Moment auf die Idee gekommen, mich zu Hause zu fühlen. Und nun, da das Mittelmeer zum Massengrab geworden ist und es mit der Gesittung der Europäer nicht mehr weit her zu sein scheint, könnte ich gar nicht mehr unbefangen darin baden. Es ist zu türkis und zu grausam.

Und so denke ich an diesem quälend wolkenlosen Tag auf Palawan an Langeoog und widme mein Buch allen, die sich mit mir in Gedanken auf den Weg nach Bensersiel machen – »Langeoog hat einen Kai, Bensersiel hat sogar zwei, und aus diesem schoinen Hafen fährt die Langeoog-Reeiderei«, singen die Flinthörners – und von dort übers Watt gespuckt hinüber auf dieses Fleckchen Erde, jene »wunderschoine Insel mit dem weißen Wasserturm« begeben.

Ahoi, und Besanschot an!

SOMMERFRISCHE

Nun wollen wir uns mal befassen

Lange-oog, Lange-he-oog, ein Wort, das niemals uns betrog …«

Dieser simple Ohrwurm, im Kanon zu singen, zählt zu den ersten Liedern, die ich je lernte, beim Dünensingen am Langeooger Strand. Vom Dünensingen wird noch zu erzählen sein. Und mit diesen Zeilen, Langeoog, Langeoog …, eröffnete ich einen der ersten Texte, die ich je zu Papier brachte und als Achtjährige in mein Tagebuch schrieb, ein Büchlein im Format der damals beliebten Poesiealben, das in späteren Jahren leider einem pubertären Autodafé zum Opfer fallen sollte. Den bunt gemusterten, abwischbaren Einband, meine kindliche Handschrift habe ich auch nach all den Jahren noch deutlich vor Augen. Der Text enthielt allerlei geografische Informationen, die ich mir aus einem Lexikon und diversen Broschüren zusammengeklaubt hatte – Lage über NN, Länge des Sandstrandes, Breite der Insel, Höhe des Wasserturms, Möwenkolonie und Meierei, Ebbe und Flut, Pirolatal und Melkhörndüne, damals mit 21,3 m über NN noch die höchste Erhebung Ostfrieslands, inzwischen auf nur mehr knapp 20 m über NN geschrumpft. Ich endete mit dem Resümee, »Langeoog ist eine wunderschöne Insel und ich wäre froh, wenn ich jetzt dort sein könnte.«

Eigentlich habe ich mit acht Jahren alles Wichtige gesagt. Wie ja das Kind überhaupt vieles klarer versteht und zu benennen weiß als die Erwachsene in späteren Jahren. So vieles, was die Heranwachsende vergaß, muss die erwachsene Frau erst wieder mühselig lernen.

So sind mir aus der frühen Zeit einige Sätze überliefert, die mein Vater in ein Tagebuch notierte, das glücklicherweise keiner Vernichtung zum Opfer fiel. Demnach fasste ich als Vierjährige meine Erkenntnis über Autorität hellsichtig zusammen: »Vati, der liebe Gott und die Polizei, die haben zu bestimmen.« Noch Fragen? Ja, ich hatte eine. »Freust du dich eigentlich, Vati, dass du es in deinem Männergarten so gut hast?«

Jahre später, als ich bei einem Empfang nach einem Kongress wichtige Männer in dunklen Anzügen, in wichtige Gespräche oder wichtige Gedanken vertieft, Häppchen kauend, rauchend oder sich an Gläsern festhaltend an ihren Stehtischen sah, dachte ich: Ach, so also geht es zu im Männergarten. Ich konnte zwar so tun, als ob. Aber ich wusste, dass ich nicht wirklich dazugehörte. Das vierjährige Mädchen, das ich einmal war, hatte schon alles begriffen.

Im Sommer, als ich gerade drei Jahre alt geworden war, 1958, reiste meine Familie zum ersten Mal nach Langeoog. In den folgenden Jahren sollte es unser allsommerliches Ferienziel werden. Sommerfrische, so sagte man damals noch, und alles lief nach festem Plan und festen Regeln ab, über die man sich heute wundern mag. Aber in Anbetracht der manchmal chaotischen Reisegestaltung in meiner eigenen späteren Familie – ein Mann, der vergisst, überhaupt Urlaub zu beantragen, sodass eine hektische Mutter mit den Kindern allein vorausfahren muss; nächtliches Herumirren auf der Berliner Stadtautobahn, weil man die richtige Ausfahrt verpasste und der Mann sich weigert, anzuhalten und nach dem Weg zu fragen oder wenigstens auf die Karte zu sehen; ein gerissener Keilriemen in den Kasseler Bergen und Rutschpartien in den österreichischen Alpen mit Sommerreifen im Schnee, um die schlimmsten Vorkommnisse dezent zu verschweigen –, kurzum, in Anbetracht mancher idiotischen Unternehmung, an der ich selbst beteiligt war, hege ich durchaus auch Bewunderung für die damals herrschende Ordnung. Tage vor der Reise wurde der große Kabinenkoffer vom Dachboden geholt und die Kleidung, die mitgenommen werden sollte, durfte nicht mehr schmutzig gemacht werden. In der Erinnerung meiner älteren Schwester begann die Schonzeit für die mitzunehmende Kleidung bereits zwei Wochen vor Reisebeginn. Ein Gleiches galt in der letzten Ferienwoche, wenn meine mit den Jahren zunehmend umständlicher werdende und leicht ängstliche Mutter bereits eine Woche vor der Abreise schon wieder den Koffer packte. In späteren Jahren sollte sie wiederkehrend von einer Familie schwärmen, deren Töchter während der gesamten Langeooger Zeit tagein, tagaus denselben Trainingsanzug getragen hatten. So etwas Praktisches! Allerdings ging die Bewunderung nicht so weit, dem guten Beispiel zu folgen. Man musste schließlich für alle Eventualitäten gerüstet sein – und das bedeutete auch, die mitgebrachten Sachen tunlichst zu schonen und aufzusparen für den Fall, dass man sie vielleicht später noch bräuchte. (Dieser Lebenshaltung verdanke ich einen Stapel noch völlig unbenutzter, leicht angegrauter Geschirrtücher aus Leinen mit dem eingestickten Monogramm meiner Großmutter im Schrank. Offenbar stammen sie noch aus deren Aussteuer, und weder sie noch meine Mutter haben sich jemals daran vergriffen. Ob ich sie zu Lebzeiten einmal in Gebrauch nehmen werde?)

Rechtzeitig vor Reisebeginn wurde der Koffer vom Gepäckdienst abgeholt, damit er bei Ankunft auf der Insel schon auf uns wartete. Es warteten auch die Strandutensilien: Spaten, Schippchen und Förmchen, die Gießkanne und das Holzbrett mit Griff, mit dem der letzte Schliff an die Sandburg gelegt und der Sand festgeklopft werden konnte, nicht zu vergessen die Lampions für den Laternenumzug, der den alljährlichen Höhepunkt der Sommerferien und des abendlichen Dünensingens bildete. Bald nach unserer Ankunft stiegen wir auf den Dachboden der Pension Stiekel hoch, um diese Schätze aus dem Verschlag, der mit unserem Namen beschriftet war, wieder in Besitz zu nehmen. Die Wiedersehensfreude wie auch der typische Geruch der Holzverschläge unterm Dach sind mit der Erinnerung sofort wieder präsent. Das stattliche alte Haus im Rudolf-Eucken-Weg, um 1890–1891 erbaut, gibt es noch, es heißt jetzt Böttcher Huus und beherbergt statt einer Frühstückspension nun Ferienwohnungen. Ein traditionelles Friesenhaus mit Veranda und Windfang, das Treppchen an der Eingangstür, auch die Fensterrahmen erinnern an früher. Dort, auf dem Fenstersims im Parterre, breitete der Sohn einer anderen Familie seine Strandfänge aus, Krebse und Seesterne, vielleicht auch Seepferdchen? Nach einigen Tagen zog ein übler Verwesungsgeruch hoch in die darüber liegenden Zimmer, und der Junge musste seine Schätze anderswo aufbewahren.

Wo einst das Bauern- und Kräutergärtchen der Schwestern Stiekel war, ist jetzt alles zubetoniert und bebaut. Auch das Häuschen im hinteren Garten, das die beiden Fräulein Stiekel während des Sommers bewohnten, musste weiteren Ferienunterkünften weichen. Ich weiß, es waren zwei, in meiner Erinnerung aber verschmelzen sie zu einer Person, dem archetypischen, zeitlosen, wiewohl ältlichen Fräulein Stiekel. Vage Erinnerungen habe ich daran, dass ich ihnen eigenmächtige Besuche in ihrer kleinen Küche abstattete. Einmal brieten sie gerade Fisch und ich durfte mit ihnen essen und bekam auch ein Stück Kabeljau oder Rotbarschfilet, das mir sehr gut mundete, obwohl ich doch sonst so mäkelig beim Essen war. Einmal ließ ich mich, so wurde berichtet, an ihrem Küchentisch nieder, griff nach der Zeitung und sagte: »Nun wollen wir uns mal befassen.« Ebenfalls eine vage Erinnerung daran, dass die Fräulein lachten, eine deutlichere Erinnerung, dass dieser Ausspruch in meiner Familie zu einer Art geflügeltem Wort avancierte, was mich zunehmend verdross. Was war so komisch daran? Zugegeben, das Kind, das ich war, konnte noch nicht lesen. Aber befassen konnte es sich schon.

War man angekommen, waren die Strandschätze vom Dachboden geholt, ging es freilich noch lange nicht an den Strand. Es gab die heilige Regel, dass man sich erst an das Reizklima gewöhnen müsste, was mindestens einen Tag Zurückhaltung auferlegte. Am Tag der Anreise, oft auch noch am Tag danach, herrschte strengstes Badeverbot, allenfalls begab man sich auf einen kleinen Rundgang Richtung Dünen, am Wasserturm vorbei – den man von Jahr zu Jahr inniger als alten Bekannten, wenn nicht gar treuen Freund begrüßte. Symbol der Stetigkeit und der Wiederkehr. Von oben aus den Dünen herab sah man schon einmal das Meer, die Erwachsenen studierten die Tafeln mit den Angaben zu Badezeiten, Luftdruck und Wassertemperatur. 16° C schienen üblich zu sein. Aber nie wäre es uns eingefallen, gleich am ersten Ferientag ins Wasser zu hüpfen. Das galt als höchst ungesund, wenn nicht gar todbringend. Auch wäre niemandem eingefallen, außerhalb der Badezeiten in der Nordsee zu baden – und dabei bin ich geblieben und wundere mich immer wieder darüber, wie viele Urlauber heutzutage bei Ebbe ins Wasser gehen, darunter anscheinend durchaus vernünftige Leute, sogar Kinderärzte und Therapeuten bei ihren alljährlich auf Langeoog stattfindenden Fortbildungswochen.

Oft entfiel das Baden aber auch noch an den darauffolgenden Tagen. Das war der sogenannten Inselkrankheit geschuldet. Was mag diesen Durchfall, unter dem so mancher Pensionsgast in den ersten Tagen nach der Ankunft litt, wohl verursacht haben? War die Unpässlichkeit, neben dem ominösen Reizklima, der anderen Wasserqualität – kam es vielleicht noch aus einem hauseigenen Brunnen? – geschuldet? Oder der frischen Milch aus der Inselmeierei? Wie dem auch immer sei, man ertrug die Inselkrankheit als notwendiges Schicksal, Kohletabletten wurden verabreicht, da musste man durch. Die Gemeinschaftstoiletten auf dem Gang teilte man sich mit anderen Familien, auch den typischen Geruch nach Desinfektionsmitteln – Kalk? – habe ich noch in der Nase. Vor einiger Zeit vermeinte ich, noch einer winzigen Spur davon auf den Toiletten der Inselmeierei am Ostende Langeoogs zu begegnen. Manchmal vergaß ein an der Inselkrankheit leidender Feriengast, in der Eile des Geschäfts die Tür abzuschließen, das sorgte für heiteren Gesprächsstoff in der Familie noch lang über die Reise hinaus.

Wie langweilig im Grunde das alles. Wie wunderbar. Eine kleine Geborgenheit. Alles war genau so, wie es sein musste.

Betretung verboten!

Alles war genau, wie es sein musste? Ach nein, es ging ja doch einiges schief. Gleich die erste Anreise bescherte ein Abenteuer. Wir reisten – mit dem Reiseunternehmen Hummel, später Hummel-Scharnow – mit der Bahn von Münster in Westfalen an, was mehrmaliges Umsteigen erforderte, bis man endlich in Bensersiel aufs Schiffsteigen konnte. Bis Esens brachte einen die Bundesbahn, dann ging es – bis 1968 – mit der schmalspurigen Kleinbahn Jan Klein über Esens West bis Bensersiel Hafen. Aufs Schiff und vom Schiff herunter gelangte man damals noch über einen schmalen und recht wackeligen Holzplankensteg. Einmal hätte mich dünnes Kind beim Verlassen der Fähre eine hinter mir drängelnde dicke Frau beinahe ins Wasser geschubst, wenn nicht ein Crewmitglied mich geistesgegenwärtig festgehalten hätte. Zu guter Letzt bestieg man am Langeooger Hafen das Inselbähnchen, das die Gäste mit seinen bunten Waggons noch immer vom Anleger ins Inseldorf bringt. Da die Inselbahnen auf anderen Inseln inzwischen abgeschafft wurden, hat Langeoog Waggons und Lok von Spiekeroog und Juist eingekauft. Die wichtigste Entscheidung zu Urlaubsbeginn lautet daher nach wie vor: Nehmen wir den gelben Wagen, den grünen oder den blauen? Die Kinder entschieden sich meist für Orange, und dabei bin ich geblieben.

Doch auf unserer ersten Fahrt war es noch nicht so weit. Noch fuhr der Zug von Münster durch die schöne Landschaft Richtung Emden oder vielleicht auch schon von Emden Richtung Norden. Und irgendwann musste die kleine Regi aufs Klo. Meine Mutter ging mit mir in den Nachbarwaggon hinüber, weil dort die 1. Klasse war und die Toilette entsprechend größer und gepflegter. Bewaffnet war sie mit dem »Kulturbeutel« sowie einem Waschlappen, um mir Gesicht und Hände zu waschen, denn ich hatte Schokolade gegessen und nicht nur an einem der beliebten Bahlsen-Kekse geknabbert, von denen auf den Fahrten zu meiner Großmutter nach Hannover in der Regel ein Keks von Münster bis Osnabrück, alternativ von Münster bis Hamm, je nachdem, wo wir umsteigen mussten, und ein zweiter von Osnabrück oder Hamm, je nachdem, bis nach Hannover reichte. Ob wohl der Erfinder des Bahlsen-Kekses dieses Gebäck eigens so konzipiert hat, dass ein Kind sich auf der Bahnfahrt nicht langweilt, sondern damit beschäftigt ist, sämtliche Zäckchen fein säuberlich einzeln abzuknabbern?

Irgendwo, vielleicht in Emden, vielleicht in Norden, hatten wir einen längeren Aufenthalt. Meine Mutter und ich kümmerten uns nicht darum. Ich mich sowieso nicht, aber auch meine Mutter wollte später keine Lautsprecheransagen gehört haben. Es kann sein, dass der Zug ein paar Mal hin und her ruckelte, auch das scherte uns nicht.

Irgendwann waren Gesicht und Hände ausreichend gesäubert und wir wollten den Rückweg in unser Abteil antreten. Und staunten nicht schlecht, als wir aus der Toilettentür traten und der Zug gleich hinter dieser Toilettentür endete. Der andere Zugteil war mittlerweile abgekoppelt worden und fuhr längst Richtung Nordsee weiter, mitsamt meinem Vater und meiner großen Schwester, außerdem einem »Haushaltslehrling«, wie wir sie in meiner frühen Kindheit hatten, aber ohne uns.

Die Handtasche meiner Mutter samt Ausweis, Fahrkarten, Portemonnaie – falls sie das alles überhaupt in ihrer Handtasche hatte – lag bei meinem Vater im Abteil. Da lag sie gut, schließlich brauchte man auf einer Zugtoilette kein Geld. Allein und verloren auf einem fremden Bahnhof vielleicht aber doch – um zu telefonieren, zum Beispiel. Handys waren noch nicht erfunden.

So standen wir, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, recht verloren buchstäblich auf dem Abstellgleis. »Betreten der Gleisanlagen verboten!« In solchen Situationen war meine Mutter schnell überfordert. Aber Rettung nahte in Gestalt eines freundlichen Eisenbahners in Uniform, der sein Scherflein dazu beitrug, dass mein Urvertrauen in die wundersamen Fähigkeiten der Männer nicht nur keinen Schaden nahm, sondern im Gegenteil weitere Bestätigung fand. Er hob mich auf den Arm und trug mich sicher über die Gleise zum Bahnhofsgebäude hinüber. Die Uniform kratzte ein wenig am Hals, der Geruch nach Tabak und Rasierwasser war mir nicht unangenehm. Vor allem beeindruckte mich allerdings, dass der Mann einfach über die Gleise schritt, obwohl deren Überquerung doch strengstens verboten war. Meine Mutter hastete hinterdrein, den schokoladeverschmierten Waschlappen in der Hand und den Kulturbeutel unterm Arm.

Irgendwie wurde mit dem Zugführer telefoniert, vielleicht auch nur mit dem nächsten Haltebahnhof, auf diese Weise auch der dazugehörige Ehemann und Vater informiert, irgendwie wurden wir wieder zu unserem Zug gebracht, feierten Wiedersehen im Abteil und das Abenteuer fand ein glückliches Ende. Das Kind aber hatte einiges gelernt. Erstens: Auf Bahnfahrten war man grundsätzlich hungrig und außerdem zu warm angezogen. Zweitens: Männer waren kompetenter als Mütter, meine Mutter und die Mütter dieser Welt mögen mir diesen Satz verzeihen. Und drittens tat man gut daran, auf Lautsprecherdurchsagen zu achten.

Vor einiger Zeit erhielt ich Post von Schülerinnen und Schülern einer Klasse 5b, die allerlei von mir wissen wollten. Warum ich Schriftstellerin geworden sei, woher ich meine Ideen bekäme, welches mein Lieblingsbuch sei. Aber dann verblüfften mich die Kinder mit der Frage, was meine frühesten Kindheitserinnerungen seien. Ich zögerte die Antwort ein wenig hinaus, weil ich erst einmal darüber nachdenken musste. Oder war mir die Antwort zu peinlich? Denn neben diesem Bahnabenteuer fiel mir eine weitere frühe Szene ein, die ebenfalls damit zu tun hat, dass ich unterwegs pinkeln musste. Das sollte weder einem kleinen Mädchen noch einer erwachsenen Frau peinlich sein.

In meiner anderen Erinnerung, so schrieb ich den Kindern, bin ich noch sehr klein, also wirklich klein, und gehe mit meinen Eltern spazieren, beziehungsweise sie spazieren mit mir. Und dann muss ich mal. Meine Mutter verschwindet mit mir hinter eine Hecke, ich erinnere mich an eine Wiese, vielleicht war es auch nur ein Rasen mit Blumenbeet. Da kann ich mein Höschen herunterlassen, sodass mich niemand sieht, und soll mich hinter die Hecke oder den Rosenbusch hocken. An die Szenerie erinnere ich mich, nicht aber an die gewechselten Worte. Angeblich habe ich, bevor ich den Erdboden wässerte, meine Mutter gefragt: »Steht hier auch nicht ›Betretung verboten‹?«

Das kleine Mädchen, das in solcher Situation solch eine Frage stellt, tut mir heute noch leid, und das nicht weniger, nur weil ich selbst es war. Mein Mitleid ändert jedoch nichts daran, dass ich spontan oft immer noch ähnlich empfinde und mich dann bewusst dazu durchringen muss, die verinnerlichten Verbotsschilder zu ignorieren. So fuhr ich viele Jahre später mit einer Studienfreundin übers Wochenende nach Langeoog. Am Abend unternahmen wir eine Strandwanderung und wollten irgendwann die Kirschen essen, die wir mitgebracht hatten. Schon halb illegal ließen wir uns in einem leeren Strandkorb nieder, um den herum ein kleiner Burgwall einen klaren Besitzeranspruch markierte. Nun gut, wenn die rechtmäßigen Burgenbauer kämen, konnten wir uns immer noch freundlich bedanken und gehen. Während ich aber noch, mit mulmigem Gefühl im Bauch, versuchte, mich mit dem Blick aufs Meer und den Sonnenuntergang anzufreunden, fing meine Reisegefährtin schon an, von den mitgebrachten Kirschen zu futtern. Völlig unbekümmert spuckte sie die Kirschkerne sodann in den Sand. In einer fremden Burg! Mir war es äußerst unangenehm, aber leider zeigte sie nicht das geringste Verständnis für meine Gewissensqualen, sondern stupste die Kerne nur nonchalant mit den Zehen unter den Sand und wuschelte mit den Fußsohlen noch ein wenig darüber. Als echte Tochter meiner Mutter wurde ich sofort von allerlei Schreckensvisionen geplagt. Vor meinem inneren Auge sah ich buddelnde Kinder, von denen sich das jüngste einen Kern in den Mund, wahlweise auch in die Nase oder ein Ohr stecken würde, und einen jähzornigen Rentner, der uns erst bei der Inselpolizei anzeigen und überdies bei nächster Gelegenheit mit seinem Spaten erschlagen würde. Was eben die Fantasie so hergibt an einem lauschigen Sommerabend.

Wer meine Texte kennt, hält mich vermutlich für nicht annähernd so brav. Mag sein, dass ich vor allem gegen die Verbote aus Kinderzeiten und gegen meine Schüchternheit und Mädchenbravheit anschreibe. »Betretung verboten?« Egal!

Gerade wenn es verboten ist, so schrieb ich den Kindern der Klasse 5b, bleibe ich gerne da. Weil es aber in der Wirklichkeit mitunter gefährlich zugeht – man denke nur an die Gleisanlagen, die man besser nicht überquert! –, male ich mir die Abenteuer in der Fantasie aus. Da kann alles gut enden – in der Wirklichkeit ist das, wie ja schon Kinder wissen, leider nicht immer der Fall.

Geh weg, du böses Iih!