Die Schöne und der Graf - Viola Maybach - E-Book

Die Schöne und der Graf E-Book

Viola Maybach

5,0

Beschreibung

Diese Serie von der Erfolgsschriftstellerin Viola Maybach knüpft an die bereits erschienenen Dr. Laurin-Romane von Patricia Vandenberg an. Die Familiengeschichte des Klinikchefs Dr. Leon Laurin tritt in eine neue Phase, die in die heutige moderne Lebenswelt passt. Da die vier Kinder der Familie Laurin langsam heranwachsen, möchte Dr. Laurins Frau, Dr. Antonia Laurin, endlich wieder als Kinderärztin arbeiten. Somit wird Antonia in der Privatklinik ihres Mannes eine Praxis als Kinderärztin aufmachen. Damit ist der Boden bereitet für eine große, faszinierende Arztserie, die das Spektrum um den charismatischen Dr. Laurin entscheidend erweitert. Antonia Laurin konnte nicht atmen. Sie konnte sich auch nicht mehr bewegen. Wie zur Salzsäule erstarrt saß sie da und starrte auf die Bühne, die vor wenigen Augenblicken ihr Sohn Konstantin betreten hatte, etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Stücks. Bis dahin hatte sie das Geschehen ein wenig zerstreut verfolgt. Die Jugendlichen der Theater-AG des Gymnasiums, das ihre vier Kinder besuchten, gaben sich redliche Mühe. Einige spielten munter und unbefangen, anderen merkte man die Nervosität an, wieder andere wirkten ein wenig hölzern und sagten ihre Texte so, dass man merkte, wie mühsam sie sie auswendig gelernt hatten. Das Stück war von den Jugendlichen selbst geschrieben worden, es bildete die Lebenswirklichkeit vieler Teenager gut ab. Das Publikum jedenfalls hatte seinen Spaß, immer wieder brandete Gelächter in der Aula auf. Und jetzt stand plötzlich Konstantin da und schien die Bühne auszufüllen. Er sagte nur einen einzigen Satz, noch nicht einmal mit erhobener Stimme. Danach wurde es mit einem Schlag ganz still. Wieso eigentlich, fragte sich Antonia verwirrt. Was hatte er anders gemacht als die anderen? Kein Darsteller hatte bislang eine ähnliche Wirkung erzeugt wie Konstantin, auch das muntere Mädchen nicht, das bis jetzt für die meisten Lacher gesorgt hatte. »Ach, halt bloß die Klappe, du Angeber«, sagte einer der anderen Jungen zu Konstantin auf der Bühne. Konstantin richtete sich kerzengerade auf und sah ihn nur an – und dann entwickelte sich ein zunehmend bedrohlicher werdender Streit zwischen ihm und dem anderen Jungen, dem nicht nur Antonia, sondern auch alle anderen im Saal atemlos folgten. Sie vergaß ihre Umgebung, sah nur noch das Geschehen auf der Bühne und ertappte sich bald dabei, dass sie die Figur, die ihr Sohn spielte, von ganzem Herzen verabscheute. Sie sah nicht mehr, wer sie spielte, sondern nur noch diesen Jungen, der versuchte, den anderen seinen Willen aufzuzwingen und dem für die Erreichung dieses Ziels jedes Mittel recht war. Als am Ende des ersten Aktes der Vorhang fiel, setzte tosender Applaus ein, aber sie konnte die Arme nicht heben, um ebenfalls zu klatschen.

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Seitenzahl: 114

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Der neue Dr. Laurin – 9 –Die Schöne und der Graf

Aber Liebe lässt sich nicht befehlen

Viola Maybach

Antonia Laurin konnte nicht atmen. Sie konnte sich auch nicht mehr bewegen. Wie zur Salzsäule erstarrt saß sie da und starrte auf die Bühne, die vor wenigen Augenblicken ihr Sohn Konstantin betreten hatte, etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Stücks.

Bis dahin hatte sie das Geschehen ein wenig zerstreut verfolgt. Die Jugendlichen der Theater-AG des Gymnasiums, das ihre vier Kinder besuchten, gaben sich redliche Mühe. Einige spielten munter und unbefangen, anderen merkte man die Nervosität an, wieder andere wirkten ein wenig hölzern und sagten ihre Texte so, dass man merkte, wie mühsam sie sie auswendig gelernt hatten. Das Stück war von den Jugendlichen selbst geschrieben worden, es bildete die Lebenswirklichkeit vieler Teenager gut ab. Das Publikum jedenfalls hatte seinen Spaß, immer wieder brandete Gelächter in der Aula auf.

Und jetzt stand plötzlich Konstantin da und schien die Bühne auszufüllen. Er sagte nur einen einzigen Satz, noch nicht einmal mit erhobener Stimme. Danach wurde es mit einem Schlag ganz still. Wieso eigentlich, fragte sich Antonia verwirrt. Was hatte er anders gemacht als die anderen? Kein Darsteller hatte bislang eine ähnliche Wirkung erzeugt wie Konstantin, auch das muntere Mädchen nicht, das bis jetzt für die meisten Lacher gesorgt hatte.

»Ach, halt bloß die Klappe, du Angeber«, sagte einer der anderen Jungen zu Konstantin auf der Bühne.

Konstantin richtete sich kerzengerade auf und sah ihn nur an – und dann entwickelte sich ein zunehmend bedrohlicher werdender Streit zwischen ihm und dem anderen Jungen, dem nicht nur Antonia, sondern auch alle anderen im Saal atemlos folgten. Sie vergaß ihre Umgebung, sah nur noch das Geschehen auf der Bühne und ertappte sich bald dabei, dass sie die Figur, die ihr Sohn spielte, von ganzem Herzen verabscheute. Sie sah nicht mehr, wer sie spielte, sondern nur noch diesen Jungen, der versuchte, den anderen seinen Willen aufzuzwingen und dem für die Erreichung dieses Ziels jedes Mittel recht war.

Als am Ende des ersten Aktes der Vorhang fiel, setzte tosender Applaus ein, aber sie konnte die Arme nicht heben, um ebenfalls zu klatschen. Als sie es endlich schaffte, den Kopf ihrem Mann zuzuwenden, der neben ihr saß, und sie seinem Blick begegnete, las sie darin die gleiche Erschütterung, die sie selbst verspürte. Sie mussten sich nicht mit Worten verständigen, sie wussten beide, dass die Entscheidung bereits gefallen war.

Sie waren ja hier, um sich ein Bild von Konstantins schauspielerischer Begabung zu machen. Der Regisseur Oliver Heerfeld war auf ihn aufmerksam geworden und wollte ihn als Hauptdarsteller seines neuen Films verpflichten. Nur die Einwilligung der Eltern fehlte noch: ihre und Leons. Würden sie ihrem sechzehnjährigen Sohn erlauben, wochenlang einen Film zu drehen und dafür der Schule und seinem gewohnten Umfeld fernzubleiben? Er würde natürlich unterrichtet werden, aber niemand konnte vorhersagen, wie sich diese Erfahrung auf sein weiteres Leben auswirken würde. Erst seit kurzem wussten sie, dass Konstantins Zukunftspläne sich geändert hatten: Er wollte nicht länger Medizin studieren, sondern Schauspieler werden.

Bis zu diesem Abend hatten sie gehofft, das werde sich vielleicht noch einmal ändern. Diese Hoffnung, musste sich Antonia eingestehen, war in dem Augenblick zerstoben, da Konstantin die Bühne betreten und seinen ersten Satz gesagt hatte. Sie verstand nichts von Schauspielerei, aber sie hatte einen Blick dafür, wann ein Mensch am richtigen Platz war.

»Er muss das machen«, hörte sie Leon leise sagen.

Sie konnte nur nicken, seine Worte waren wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken.

Kyra, ihre Jüngste, die neben ihr saß, tastete nach ihrer Hand. »Er ist toll, Mama«, flüsterte sie.

»Ja, das ist er, Mäuschen.«

Auch auf den Gesichtern ihrer anderen beiden Kinder, Kaja und Kevin, konnte Antonia lesen, was sie in ihnen vorging. Keiner von ihnen, dachte sie, nicht einmal Kaja, die Konstantins Zwillingsschwester war, hatte erwartet, dass er sich auf der Bühne so vollkommen in einen anderen Menschen verwandeln würde. Konstantin Laurin war hinter seiner Rolle verschwunden.

Es war vorher viel von seiner großen Begabung die Rede gewesen – Ariane Tornow, seine Lehrerin, und der Regisseur Oliver Heerfeld hatten immer wieder darauf hingewiesen, aber sie hatten sich nichts darunter vorstellen können, Leon und sie. ›Begabung‹ war schließlich nur ein Wort, aber was bedeutete es letztlich? Begabt waren wahrscheinlich viele, aber wie groß musste eine Begabung sein, um zwingend einen Weg zu einem ganz bestimmten Beruf zu weisen?

Jetzt wusste sie es besser. Konstantin musste Schauspieler werden, auch wenn es ihn vielleicht unglücklich machen würde, denn offenbar verliefen ja die wenigstens Karrieren in diesem Bereich erfolgreich.

Plötzlich war sie sehr müde, am liebsten wäre sie mit Leon nach Hause gefahren, hätte sich das Stück gar nicht weiter angesehen. Was sie hatte wissen wollen, hatte sie erfahren – wozu also noch bleiben?

Zugleich wusste sie natürlich, dass sie nicht gehen konnte, ohne Konstantin zu verletzen und Unverständnis bei ihren anderen Kindern zu ernten. Aber sie wusste auch, wie es sie schmerzen würde, Konstantin weiterhin zuzusehen. Er war so vollkommen zu dieser unangenehmen Figur geworden, die er spielte, dass es sie erschreckte. Wo holte er das her? Trug er Charakterzüge dieses Menschen in sich, den er darstellte? Sie bekam Angst bei dieser Vorstellung.

Sie spürte Leons Hand auf ihrer und wandte sich ihm zu. »Es ist schrecklich und schön zugleich«, flüsterte er ihr zu. »Und völlig anders als erwartet. Wir haben keine Wahl, Antonia.«

Das war es: Sie hatten keine Wahl, denn auch Konstantin hatte keine.

Ihr Vater fiel ihr ein, der ja noch nicht wusste, dass Konstantins Pläne sich geändert hatten. Ihr Vater war Professor Dr. Joachim Kayser, Gründer der Kayser-Klinik, die heute von seinem Schwiegersohn, Dr. Dr. Leon Laurin, geleitet wurde, dem irgendwann seine Kinder Kaja und Konstantin an der Spitze der Klinik folgen würden – so zumindest hatte es bis vor kurzem ausgesehen. Doch daraus würde nichts werden, wie sie jetzt wusste.

Der Vorhang hob sich erneut, der zweite Akt begann.

*

Maja Vonstetten hatte darauf bestanden, ihren Bruder Robert und ihre Schwägerin Ella zur Schultheateraufführung zu begleiten, schließlich spielte ihre dreizehnjährige Nichte Mia, ihr Patenkind, eine Rolle in dem Stück. Mia spielte munter und unbefangen, es war eine Freude, ihr zuzusehen. Sie spielte, dachte Maja, ein bisschen sich selbst, und das machte ihr erkennbar wenig Schwierigkeiten. Andere hatten es da schwerer: Sie mussten Charaktere darstellen, die ihnen nicht einmal ähnelten, und das gelang den meisten nicht ganz überzeugend.

Eine große Ausnahme allerdings gab es: Der unangenehmste Charakter des Stücks wurde von Konstantin Laurin dargestellt, und er war so … ja, so echt, dass sein Spiel bei Maja Gänsehaut erzeugte. Ob er wirklich so ein Ekel war? Oder war er der geborene Schauspieler? Sie kannte nur seine Mutter, weil sie mit Mias kleinem Bruder Benny schon mehrmals bei ihr in der Praxis gewesen war – am Montag stand der nächste Besuch an. Das war meistens nervenaufreibend, weil Benny bei seinem vorherigen Kinderarzt eine traumatische Erfahrung gemacht hatte: Der Mann hatte ihm Blut abnehmen müssen und war dabei so ungeschickt vorgegangen, dass der Kleine gebrüllt hatte vor Schmerzen. Derartiges konnte bei Frau Dr. Laurin oder ihrer Kollegin nicht passieren. Aber leider hatte Benny seitdem panische Angst vor Ärzten.

Konstantin Laurin betrat die Bühne, und Maja spürte fast körperlich, wie die Spannung im Saal stieg. Der Junge hatte eine unglaubliche Bühnenpräsenz. Sie ging oft ins Theater, sie konnte das beurteilen. Er musste nicht einmal die Stimme erheben, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wahnsinn, dachte sie, ich muss Frau Dr. Laurin am Montag sagen, wie toll ich ihren Sohn fand. Das freut sie bestimmt.

Nun kam auch Mia wieder auf die Bühne und verbreitete zunächst einmal gute Laune, wie bei ihren vorherigen Auftritten, doch dann gab es eine böse Auseinandersetzung zwischen ihrer Figur und der, die Konstantin Laurin darstellte. Am Ende musste Mia in Tränen ausbrechen. Maja wusste, dass das die Szene war, die ihr am meisten Kummer bereitet hatte.

»Ich kann einfach nicht auf Kommando weinen, ich weiß überhaupt nicht, wie ich das anstellen soll!«, hatte sie noch gestern Abend geklagt.

Jetzt jedoch konnte Maja zusehen, wie Konstantin Laurins Figur so bedrohlich wurde, dass der muntere Teenager, den Mia darstellte, allmählich erstarrte vor Angst und schließlich in echte Tränen ausbrach.

Wahnsinn, dachte sie, das hat allein der Junge geschafft. Entweder ist er genial oder er ist der schreckliche Mensch, den er gerade darstellt.

Sie hatte Frau Dr. Laurin noch nicht gesehen, aber sie war sicher, dass sie ebenfalls im Publikum saß. Wie das Spiel ihres Sohnes wohl auf sie wirkte? War sie beeindruckt oder erschrocken?

Vielleicht konnte sie am Montag, wenn sich die Gelegenheit ergab und Benny sich nicht allzu sehr anstellte, vorsichtig danach fragen.

*

Teresa Kayser saß ganz hinten in der letzten Reihe, ohne ihren Mann Joachim. Sie hatte ihn angeschwindelt über ihre Pläne für diesen Abend, und sie hatte dafür gesorgt, dass weder Joachims Tochter Antonia noch ihr Mann oder ihre Kinder sie zu Gesicht bekamen. Sie litt unter dem Zerwürfnis ihres Mannes mit seiner Tochter und hätte die beiden gern wieder versöhnt, aber die Wunden, die sie einander geschlagen hatten, waren tief.

Sie verstand Antonia, die jetzt, da ihre Kinder zwar nicht erwachsen waren, aber doch die ständige mütterliche Anwesenheit nicht mehr brauchten, wieder in ihren Beruf zurückgekehrt war. Joachim hingegen hielt an seiner Meinung fest, dass seine Tochter unverantwortlich handelte. »Kyra ist elf, Kevin kommt gerade in die Pubertät, und die Zwillinge sind immer noch mittendrin – und sie geht arbeiten, obwohl sie das nicht nötig hat? Da muss man sich ja nicht wundern, wenn so viele junge Leute vom rechten Weg abkommen!«

Sie hatte schon mehrmals zu vermitteln versucht, vergeblich. Ihr Mann hielt an seinen Meinungen fest, Antonia an ihren.

Sie war Mitte vierzig und wollte sich verständlicherweise keine Vorschriften mehr machen lassen, wie sie zu leben hatte. Aber die Ansichten eines alten Mannes ließen sich nicht mehr so ohne weiteres ändern. Allerdings fragte sie sich manchmal, wieso eigentlich sie, die ja nicht viel jünger war als ihr Mann, Verständnis für Antonia aufbringen konnte.

Es war dann noch etwas dazugekommen, was Joachim empört hatte: Die Sache mit dem ›Haushaltsmanager‹, die er rein zufällig erfahren hatte. Antonia und Leon hatten keine geeignete Haushaltshilfe finden können, und schließlich einen jungen Mann engagiert, der keine entsprechende Ausbildung, keine Zeugnisse, keine Referenzen vorzuweisen gehabt hatte.

»Das wird im Chaos enden! Da geht doch jetzt schon alles drunter und drüber!«, hatte er prophezeit.

Doch offenbar lief der Haushalt ziemlich reibungslos, jedenfalls nach allem, was sie hörte. Sie erkundigte sich diskret hier und da und hatte den Eindruck, dass man sich um Antonia, Leon und die Kinder keine allzu großen Sorgen machen musste.

Sie war Joachims zweite Frau, Antonias Mutter war schon lange tot. Erst spät hatten sie einander wiedergefunden, und sie waren glücklich über ihre späte Liebe. Als sie geheiratet hatten, war Joachim noch berufstätig gewesen, erst danach hatte er die Leitung der Klinik an Leon übergeben. Aber obwohl sie keine Familie mehr gründen konnten, war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass sie, Teresa, als seine Frau nicht mehr arbeiten würde. Dabei hatte sie ihre elegante Boutique und die Arbeit darin geliebt, und eigentlich hätte sie dort zumindest gern noch ein Standbein behalten, aber er hatte davon nichts wissen wollen. In solchen Fragen war er konservativ, darüber wollte er nicht einmal diskutieren.

Es war einer der wenigen Reibungspunkte zwischen ihr und ihm, aber da sie es harmonisch liebte, vermied sie Streitereien möglichst von vornherein. Sie hatten so viele Gemeinsamkeiten, sie wanderten beide gern, gingen in die Oper, ins Theater, in Konzerte, sie besuchten Ausstellungseröffnungen und wurden oft eingeladen, da sie einen großen Bekanntenkreis hatten – das alles zählte mehr als ein paar Meinungsunterschiede, jedenfalls in ihren Augen. Wäre sie zwanzig Jahre jünger, hatte sie freilich schon oft gedacht, dann sähe die Sache anders aus. Aber mit Mitte sechzig war sie zu alt zum Kämpfen.

Sie hatte in der Zeitung von dieser Schultheateraufführung gelesen. In dem Artikel war Ariane Tornow, die die Theater-AG ins Leben gerufen hatte, interviewt worden. Sie hatte berichtet, dass die Schülerinnen und Schüler das Stück selbst geschrieben hatten, es beschreibe die Lebenswirklichkeit heutiger Teenager, sei amüsant, aber manchmal auch erschreckend. Auch einige der Darstellerinnen und Darsteller waren befragt worden, unter anderem Konstantin Laurin, Joachims ältester Enkel.

Sie hatte den Jungen schon eine Weile nicht mehr gesehen und das Interview daher mit Interesse gelesen. Es war auch ein Bild von Konstantin abgedruckt worden, sie hatte ihn kaum wiedererkannt. Er kam ihr viel erwachsener vor als bei ihrer letzten Begegnung.

Sie hatte Joachim weder den Artikel noch das Bild gezeigt, aber einen Entschluss gefasst: Sie würde sich diese Aufführung ansehen. Und deshalb saß sie jetzt hier in der letzten Reihe, ohne dass die Familie etwas davon wusste.

Ihr war die Luft weggeblieben, als Konstantin die Bühne betreten hatte – und offenbar nicht nur ihr. Er hatte eine starke Ausstrahlung, die den anderen fehlte. Scheinbar mühelos schaffte er es, dass sich die Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierte. Er spielte einen unangenehmen Jungen, der nach und nach die Macht in der Gruppe übernahm und versuchte, den anderen seinen Willen aufzuzwingen, ohne dass die es sofort bemerkten. Dann aber gab es einen Aufstand gegen ihn …

Teresa war aufrichtig erschrocken, je länger sie Konstantin zusah. Wo hatte er das her? Wie konnte ein Sechzehnjähriger einen so unangenehmen Menschen spielen, ohne einer zu sein? Oder war er in Wirklichkeit so, und niemand hatte es bisher bemerkt?

Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, während ganz langsam eine Frage in ihr aufstieg: Würde dieser Junge, der auf der Bühne in geradezu beängstigender Vollkommenheit einen anderen Menschen verkörperte, gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester tatsächlich der nächste Chef der Kayser-Klinik werden?

Bisher war das der Plan gewesen – aber war er das immer noch?

*