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Diese Serie von der Erfolgsschriftstellerin Viola Maybach knüpft an die bereits erschienenen Dr. Laurin-Romane von Patricia Vandenberg an. Die Familiengeschichte des Klinikchefs Dr. Leon Laurin tritt in eine neue Phase, die in die heutige moderne Lebenswelt passt. Da die vier Kinder der Familie Laurin langsam heranwachsen, möchte Dr. Laurins Frau, Dr. Antonia Laurin, endlich wieder als Kinderärztin arbeiten. Somit wird Antonia in der Privatklinik ihres Mannes eine Praxis als Kinderärztin aufmachen. Damit ist der Boden bereitet für eine große, faszinierende Arztserie, die das Spektrum um den charismatischen Dr. Laurin entscheidend erweitert. Teresa Kayser wird entführt, als sie abends ihren Laden verlassen will. Schon wenig später geht eine schriftliche Lösegeldforderung bei Joachim Kayser ein, der vor Angst außer sich ist. Leons Schwager Andreas, der bei der Kripo ist, kommt die Sache sofort merkwürdig vor: Die verlangte Summe ist gering, der Brief für eine Entführung ungewöhnlich. Nach einer professionellen Erpressung sieht es nicht aus. Das Opfer wird derweil von heftigen Kopfschmerzen geplagt. Kurz darauf verliert Teresa das Bewusstsein!
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2020
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»Linus«, sagte Charlotte Hinteregger erschöpft zu ihrem dreizehnjährigen Sohn, »hör auf damit!«
»Vergiss es!«, schleuderte er ihr voller Zorn entgegen. »Es ist deine Schuld, dass Papa weg ist, allein deine. Du hast ihm gezeigt, dass er dir egal ist, und deshalb ist er gegangen. Ich hasse dich, dass du es nur weißt!«
Er sah seinem Vater in diesem Moment so ähnlich, dass sie einen unangenehmen Moment lang das Gefühl hatte, dieser stünde wieder vor ihr und sie hätten einen ihrer zermürbenden Streits, wie sie in den letzten Jahren ihrer Ehe alltäglich geworden waren. Sie zwang sich, dieses Bild aus vergangenen Tagen zu vertreiben und wieder ihren halbwüchsigen Sohn zu sehen, der vor ihr stand und ihr vorwarf, dass sie für alles, was ihm an seinem Leben nicht passte, verantwortlich war.
Er ist erst dreizehn, sagte sie sich, nimm seine Worte nicht so ernst, später wird er sie bereuen. Aber sie war nicht sicher, ob er das tatsächlich tun würde. Sein Zorn auf sie schien täglich zu wachsen.
Sollte sie ihm sagen, dass sein Vater schon früh angefangen hatte, sie zu betrügen? Dass er zwar für seinen Sohn die strahlende Lichtgestalt ohne Fehl und Tadel gewesen war, nicht aber für seine Frau? Dass er sie ständig herabgesetzt und kritisiert hatte, bis sie beinahe selbst den Glauben an sich verloren hätte?
Aber wozu wäre das gut gewesen? Linus hatte entschieden, dass sie die Böse war, schuldig an allem, was in seinem Leben nicht mehr so lief wie gewünscht, und sie wusste, selbst wenn sie ihm die Wahrheit über seinen Vater gesagt hätte: Es wäre nutzlos gewesen, denn er hätte ihr nicht geglaubt. Sein heißgeliebter Papa war großartig darin, Menschen Sand in die Augen zu streuen, sodass sie die Wahrheit nicht sehen konnten. So hatte er es ja auch bei ihr gemacht, sie war lange genug blauäugig und gutgläubig gewesen – bis zu jenem Tag, an dem ihre beste Freundin sie gezwungen hatte, der Wahrheit direkt ins Gesicht zu sehen. Noch heute war sie Marita dankbar dafür.
»Räum den Tisch ab«, sagte sie, während sie sich erhob und zur Spüle ging, um abzuwaschen. Wenn sie irgendwann eine Gehaltserhöhung bekam, würde sie sich endlich eine Geschirrspülmaschine kaufen, nahm sie sich vor.
»Räum doch selbst ab«, sagte Linus und verließ die Küche. Die Tür knallte er hinter sich zu.
Zornig werden konnte sie auch. Sie riss die Tür wieder auf, lief hinter ihm her, packte ihn am Arm. »So redest du nicht mit mir!«, sagte sie. »Und es kommt nicht infrage, dass du dich hier zuhause auf die faule Haut legst. Ich arbeite den ganzen Tag, ich bin genauso müde wie du!«
Er machte sich unwillig los. »Ich muss noch einen Aufsatz schreiben.«
»Zuerst hilfst du mir in der Küche! Den Aufsatz hättest du längst schreiben können.«
Sie sah ihm fest in die Augen, bis er nachgab, aber zum ersten Mal fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn er sich ihr völlig verweigerte. Noch gab es die Zeiten, in denen sie besser miteinander zurechtkamen, in denen Linus plötzlich weich und anhänglich war. Dann hatte sie das Gefühl, er ahnte vielleicht, dass er seinen Vater zu Unrecht auf ein Heldenpodest stellte und dass nicht seine Mutter die allein Schuldige am Scheitern ihrer Ehe war. Aber diese guten Zeiten schienen immer kürzer zu werden und immer seltener aufzutreten. Schon bald war es dann wieder so wie heute, und sie verlor den Mut, weil sie Angst davor hatte, es würde immer schlimmer werden zwischen ihr und Linus, und eines Tages würde er ihr ganz entgleiten.
Er sagte kein Wort mehr, während er den Tisch abräumte und dabei mehr Krach machte, als nötig gewesen wäre. Mit verschlossenem Gesicht trocknete er anschließend ab. Sonst versuchte Charlotte meistens, die Stimmung aufzulockern, indem sie etwas Belangloses erzählte, aber heute stand ihr nicht der Sinn danach. Sie schwieg ebenfalls und atmete erleichtert auf, als Linus fertig war und die Küche verließ. Da erst gestattete sie sich ein kurzes Innehalten, aber sie ließ es nicht zu, dass die Tränen flossen. Nicht jetzt, nicht hier. Später vielleicht, wenn sie im Bett lag und sicher sein konnte, dass Linus nicht plötzlich noch einmal auftauchte.
Sie ging ins Bad, betrachtete aufmerksam ihr Gesicht im Spiegel. Sie war 32 Jahre alt, Linus hatte sie mit neunzehn bekommen, natürlich zu früh, aber damals hatte es sich richtig angefühlt. Max, Linus’ Vater, hatte eigentlich nicht heiraten wollen, sich dann aber von seinen – und ihren – Eltern drängen lassen. So wie sie selbst auch. Ja, es waren die beiden Elternpaare gewesen, die auf einer Heirat bestanden hatten, damit alles ›seine Ordnung hatte‹. Heute wusste sie natürlich, dass das die falsche Entscheidung gewesen war. Sie hätte Linus allein aufziehen sollen, dann wäre sie heute besser dran, davon war sie überzeugt.
Sie beugte sich näher zum Spiegel, untersuchte ihr Gesicht auf Zeichen des Kummers. Sie hatte feine Fältchen um die Augen, aber sonst konnte sie nicht viel entdecken. Eigentlich sah sie aus wie immer, was sie verwunderlich fand. Sie trug ihre dunklen Haare seit einiger Zeit kurz, die neue Frisur stand ihr gut. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht, mit einer leicht nach oben strebenden Nase und einem vollen Mund, den sie gern mit Lippenstift betonte. Außerdem war sie schlank, denn sie trieb Sport, damit sie nicht vom vielen Sitzen an der Kasse einen dicken Hintern bekam. Ihre Kolleginnen im Supermarkt sagten immer: »Wieso bist du eigentlich nicht längst wieder verheiratet? Bei dir stehen die Typen doch Schlange!«
Sie lachte dann immer und tat so, als ginge es ihr bestens. Die Frauen waren in Ordnung, aber sie hatte keiner von ihnen erzählt, dass ihre Ehe mit Max sie von Männern kuriert hatte, für immer. Sie würde nie wieder heiraten, sie kam allein besser zurecht. Nicht, dass sie sich nicht nach einem Mann gesehnt hätte, mit dem sie alles hätte teilen können – aber sie würde keinem Mann mehr vertrauen können. Sie würde immer erwarten, dass er eines Tages sein wahres Gesicht zeigte, so, wie es bei Max gewesen war. Sie hatte Marita, und es gab noch ein paar andere Frauen, mit denen sie sich gut verstand. Das musste genügen.
Ja, sie saß jetzt an einer Supermarktkasse, denn ihre Ausbildung zur Steuerfachgehilfin hatte sie wegen Linus abbrechen müssen. In den ersten Jahren nach seiner Geburt hatte sie überhaupt nicht gearbeitet, sondern sich nur um Linus gekümmert. Max hatte immer gesagt, er verdiene schließlich genug, er könne sich eine Frau leisten, die nicht arbeite. Erst später hatte sie begriffen, wie herabsetzend seine Worte gemeint waren. Max hatte sie demütigen wollen, und das hatte er auch geschafft.
Schon bald nach Linus’ Geburt war es zwischen ihnen immer schlechter gelaufen und als sie ihn dann eines Tages mit einer anderen Frau gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass sie in Zukunft auf eigenen Füßen würde stehen müssen. Die Stelle im Supermarkt war frei gewesen, sie hatten sie sofort genommen. Sie hatte eigentlich nur kurz bleiben wollen, um sich in Ruhe eine andere Stelle zu suchen, aber bald feststellen müssen, dass ihre Möglichkeiten begrenzt waren, da sie keine Ausbildung vorzuweisen hatte. Die Bezahlung war nicht schlecht, bei den Dienstplänen nahmen sie Rücksicht darauf, dass sie einen Sohn hatte, den sie allein versorgte, und so saß sie noch immer im Supermarkt an der Kasse.
Mittlerweile machte ihr der Job sogar manchmal Spaß. Sie kannte viele Kundinnen und Kunden, wechselte ein paar Worte mit ihnen, verstand sich gut mit den anderen Frauen und wenigen Männern an den Kassen. Der Supermarkt war ein Teil ihres Lebens, eine Art zweites Zuhause geworden. Sie verdiente nicht gerade viel, aber immerhin zahlte Max für Linus, so kamen sie ganz gut zurecht. Linus freilich verachtete sie natürlich auch wegen ihres Jobs. Sein Vater war Ingenieur, damit ließ sich angeben. Aber eine Mutter an der Supermarktkasse fand er nur peinlich.
Sie trat einen Schritt zurück, den Blick immer noch auf ihr Gesicht geheftet. Sie würde vielleicht doch noch versuchen, eine Ausbildung zu machen, auch wenn es finanziell schwierig werden würde. Der Gedanke war ihr neulich gekommen. Sie hatte Lust auf etwas Neues. Sie brauchte Ablenkung von den ewigen Streitigkeiten mit Linus, und sie hoffte, diese Ablenkung zu finden, wenn ihr Kopf mit anderen Dingen beschäftigt war als den Schwierigkeiten mit ihrem Sohn.
Sie ging in ihr Schlafzimmer und rief Marita an, Marita Kromberg, ihre treue Freundin seit Jugendtagen. Marita hatte die Ausbildung zur Steuerfachgehilfin seinerzeit beendet, und sie hatte Charlotte durch ihre schwierige Ehe und deren Ende begleitet.
»Charly«, sagte sie, »gerade habe ich an dich gedacht. Alles okay bei dir?«
»Nein, ich habe wieder Stress mit Linus. Bitte, sag mir, dass der eines Tages vorbei sein wird.«
»Er würde eher vorbei sein, wenn du ihm endlich die Wahrheit über seinen Vater sagen würdest.«
»Es wäre sinnlos, er würde mir nicht glauben.«
»Zuerst vielleicht nicht, aber er würde zumindest anfangen nachzudenken und irgendwann erkennen, dass sein Vater nicht ganz so ist, wie er denkt.«
»Und dann? Er würde zusammenbrechen, weil er niemanden mehr hätte, an dem er sich innerlich aufrichten kann.«
Marita seufzte. »Du weißt, dass ich das anders sehe. Er hat sich ein völlig falsches Bild von Max zurechtgebastelt, eine Illusion. Die kann ihm keine echte Hilfe sein, um sich im Leben zu orientieren.«
Sie sprachen eine Weile darüber, es tat Charlotte gut, ihrer Freundin zuzuhören. Allmählich wich die Spannung von ihr, die sich seit dem Zusammenstoß mit Linus in ihr aufgebaut hatte.
Sie hörte Linus ins Bad gehen, aber sie wusste schon vorher, dass er nicht mehr an ihre Tür klopfen und ein Friedensangebot machen würde. So war es dann doch.
Sie schaffte es trotzdem, irgendwann einzuschlafen.
*
Till betrachtete seinen Vater mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. Wie konnte sich ein erwachsener Mann nur so gehen lassen? Er hatte schon wieder zu viel getrunken und war auf dem Sofa eingeschlafen. Der Fernseher lief noch. Till schaltete ihn aus und deckte seinen Vater mit einer Decke zu, blieb aber noch neben dem Sofa stehen. Wie ein alter, heruntergekommener Mann sah er aus: unrasiert, mit wirren Haaren, zerdrückter Kleidung, nach Zigaretten und Alkohol stinkend. Ein Wunder, dass er seinen Job noch nicht verloren hatte, aber es würde sicher bald so weit sein, wenn er so weitermachte.
Till schaltete die Stehlampe aus und zog die Vorhänge zu, dann stellte er den Wecker. Sein Alter musste zum Glück nicht allzu früh raus. Er war Produktionsleiter beim Rundfunk.
Früher einmal hatte er gut ausgesehen, war charmant gewesen, lebhaft, witzig. Till und er hatten sich gut verstanden, sie waren sogar ein Herz und eine Seele gewesen, zusammen zum Fußball gegangen, ins Schwimmbad, sie hatten Fahrradtouren gemacht. Bei denen war auch seine Mama dabei gewesen. Für Fußball hatte sie sich nicht interessiert, und ins Schwimmbad war sie nicht gern gegangen, aber sie war gern Fahrrad gefahren. Für ihre Touren hatte sie immer ein ganz tolles Picknick vorbereitet. Dafür hatten sie sich jeweils einen besonders schönen Ort gesucht, ihre Decke ausgebreitet und es sich dann richtig gut gehen lassen. Meistens war es ihnen gelungen, einen Weiher oder See zu finden, in dem man schwimmen konnte. Sein Papa und er waren hineingesprungen, hatten sich abgekühlt und wenn sie zurückgekommen waren, hatte seine Mama schon mit dem Essen auf sie gewartet. Ihm traten Tränen in die Augen, als er die Bilder vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sah.
Diese Bilder gehörten zu einer Zeit, die schon sehr lange zurücklag, so kam es ihm zumindest vor. Und wenn man bedachte, dass er erst dreizehn war, dann waren drei Jahre tatsächlich ein ziemlich langer Zeitraum, fast ein Viertel seines bisherigen Lebens. Drei Jahre war es jetzt her, dass seine Mama an Krebs gestorben war, und damit hatte sich sein bis dahin so schönes Leben von Grund auf verändert. Seine Mama war weg, aber sein Papa in gewisser Weise auch – jedenfalls war nicht mehr viel von dem Mann übrig, der er früher gewesen war. Sie unternahmen nichts mehr zusammen, Till und er, sein Papa war nicht länger charmant und witzig, und er sah auch nicht mehr gut aus. Er war ein stiller, in sich gekehrter, trauriger Mensch geworden, und Till gab sich zum Teil selbst die Schuld daran: Er hätte es besser schaffen müssen, seinen Papa aufzuheitern.
Aber es war ihm nicht gelungen, und deshalb konnten sie so nicht weitermachen, denn dann würde vielleicht alles noch schlimmer werden, als es jetzt schon war. Dann würde sein Papa auch noch seinen Job verlieren oder vielleicht ebenfalls sterben, wie seine Mama – nur nicht an Krebs, sondern an Kummer.
Er verließ leise das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Bad wusch er sich, dann rief er Linus an, seinen besten Freund.
*
Teresa Kayser war zufrieden mit den Tageseinnahmen, wieder einmal. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit ihr neues Modegeschäft eröffnet, und es war von Anfang an besser gelaufen als erwartet. Sie hatte ihr erstes Geschäft ja vor ziemlich langer Zeit schon geschlossen, noch vor ihrer Heirat mit Professor Joachim Kayser, der es seinerzeit selbstverständlich gefunden hatte, dass sie als seine Ehefrau ganz für ihn da sein würde. Sie selbst hatte es erstaunlicherweise auch selbstverständlich gefunden, die Zweifel waren erst später gekommen. Und das Bedauern darüber, ihren geliebten Beruf aufgegeben zu haben.
Sie lächelte in sich hinein. Es war nicht einfach gewesen, ihm klarzumachen, dass sie mit Anfang Sechzig noch einmal einen beruflichen Neustart hatte wagen wollen, aber auch er hatte in den vergangenen Jahren dazugelernt, zum Glück. Heute war er stolz auf seine erfolgreiche Frau, und er hatte sich selbst wieder eine Beschäftigung gesucht: Früher hatte er die Kayser-Klinik geleitet, heute brachte er ihr Archiv auf den neuesten Stand. Diese Arbeit war nützlich, und er machte sie gern. So waren sie beide mehr als zufrieden mit ihrem neuen Leben.