DIE SCHRULLEN DER ALTEN LADY - Evelyn Berckman - E-Book

DIE SCHRULLEN DER ALTEN LADY E-Book

Evelyn Berckman

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Beschreibung

Einst galt sie als eine berühmte Archäologin. Jetzt ist Valerie Tor eine exzentrische alte Frau, die offenbar an Verfolgungswahn leidet und behauptet, man wolle sie ermorden. Aber Jacintha Cory, ihre Gesellschafterin, beginnt zu zweifeln, ob es sich dabei nur um die Schrullen einer alten Lady handelt...

Evelyn (Domenica) Berckman (*18. Oktober 1900; †18. September 1978) war eine US-amerikanische Autorin von Kriminal- und Schauer-Romanen.

Der Roman Die Schrullen der alten Lady erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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EVELYN BERCKMAN

 

 

Die Schrullen

der alten Lady

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 102

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE SCHRULLEN DER ALTEN LADY 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Einst galt sie als eine berühmte Archäologin. Jetzt ist Valerie Tor eine exzentrische alte Frau, die offenbar an Verfolgungswahn leidet und behauptet, man wolle sie ermorden. Aber Jacintha Cory, ihre Gesellschafterin, beginnt zu zweifeln, ob es sich dabei nur um die Schrullen einer alten Lady handelt...

 

Evelyn (Domenica) Berckman (*18. Oktober 1900; †18. September 1978) war eine US-amerikanische Autorin von Kriminal- und Schauer-Romanen.

Der Roman Die Schrullen der alten Lady erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DIE SCHRULLEN DER ALTEN LADY

 

 

 

 

 

   

  Erstes Kapitel

 

 

»Mein Sohn kann es kaum erwarten, dass ich sterbe«, sagte Mrs. Tor zu ihrem Anwalt. »Das ist die volle Wahrheit.«

»Oh, das glaube ich nicht«, widersprach er vorsichtig. »Das können Sie doch nicht sagen.«

»Ich sage es, weil es wahr ist, John Dennison.« Sie starrte ihn an, wild und unversöhnlich. »Ich bin ihm im Wege, ich lebe schon viel zu lange, ich bin ihm lästig.«

»Tun Sie ihm da nicht unrecht, oder?«

Sein Ton war meisterhaft, halb ausweichend, halb ehrerbietig. Ausweichend, weil Dennison seine guten Gründe hatte; ehrerbietig, weil es sich um eine Mandantin von einst hervorragendem Geist und bedeutendem Ruf handelte, die jetzt im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Von Mrs. Tors geistigem Verfall hatte er durch den Klatsch im Dorf erfahren. Er zog es jedoch vor, sich selbst ein Urteil zu bilden. So hatte er sie seit Beginn ihres Gesprächs - dem ersten seit mehreren Wochen - mit versteckter, an Furcht grenzender Wachsamkeit beobachtet, um herauszufinden, wie weit ihr Zustand fortgeschritten war. Bis jetzt war ihm nichts Besonderes aufgefallen; ihr energisches, abweisendes Gesicht, das von Runzeln unbarmherzig zerfurcht war, sah traurig aus und hatte eine schlechte Farbe, aber der durchdringende Blick ihrer Augen, ihr scharfer, entschiedener Ton waren immer noch geprägt von ihrer inneren Kraft. Die schlecht sitzenden Kleider und das struppige, grauweiße Haar, das unordentlich unter ihrem Hut steckte, mochten seltsam wirken, doch abgesehen davon war ihr Verhalten zweifellos normal.

»Ja, Sie tun ihm unrecht, nicht wahr?«, fuhr er fort und versuchte behutsam und ohne Hast, sie aus der Reserve zu locken. »Hugh war Ihnen immer ein liebender Sohn, soweit ich ihn kenne.«

»Soweit ich ihn kenne«, äffte sie ihn verächtlich nach. »Und weshalb sollte Hubert ein liebender Sohn sein, wenn ich fragen darf? Ich war ihm keine liebende Mutter.«

»Was das betrifft, so kann ich mir natürlich kein Urteil erlauben, aber...«

»Natürlich können Sie das nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Sie haben nicht die geringste Ahnung.«

»Aber ich hatte den Eindruck«, widersprach ihr Dennison höflich, »dass Sie immer sehr gut für ihn gesorgt haben, dass er in bester Pflege war.«

»Ich habe keine Ausgaben gescheut. Die besten Schulen und die besten Kleider, die teuersten Ferien und Sportausrüstungen. Ich war bereit, ihm alles zu geben, was für Geld zu haben war.«

Dennison, der merkte, welche Richtung das Gespräch nahm, schwieg und war zufrieden.

»Meine Arbeit war mein Leben.« Ihr Blick und ihre Stimme schienen jetzt ganz fern. »Das einzig Wahre in meinem Leben. Ich hätte nie heiraten sollen. Ich tat es aus Langeweile - zwischen einem Job und dem nächsten.«

Das ist der Gipfel der Gleichgültigkeit, dachte Dennison; drei Ehen so abzutun! 

»Hubert war ein Unglücksfall«, sagte sie bedauernd. »Mein bisschen Pech im Leben.« Es trat eine Pause ein, kurz, aber abgrundtief. »Es war auch sein Pech«, fuhr sie fort. »Nachdem ich ihn während seiner ganzen Kindheit vernachlässigt und bezahlten Hausangestellten und Lehrern überlassen habe, weshalb sollte er mich da lieben? Das wäre ja wider alle Vernunft.«

»Liebe ist keine Sache der Vernunft.« Er spürte, dass seine Worte lahm klangen. »Sie kann Vernachlässigung, Unfreundlichkeit und schlechte Behandlung überleben. Manchmal«, seine Stimme wurde fester, »wird sie dadurch sogar stärker.«

»So was soll vorkommen.« Ihr Lächeln verhöhnte ihn. »Für willensschwache Menschen, denen es nichts ausmacht, hin und her geschubst zu werden, mag Ihre Theorie zutreffen. Aber was Hubert angeht«, ihr spöttisches Lächeln wurde breiter, »ist es kompletter Unsinn. Dass er es nicht erwarten kann, an mein Geld heranzukommen, ja, das ergibt in meinen Augen einen Sinn.«

»Es geht ihm doch gut«, wandte Dennison ein. »Er ist unabhängig, hat Arbeit.«

»Als Reisender.« Mrs. Tor lächelte abschätzig. »Als Reisender in Wein und Brandy.«

»Aber er ist sehr erfolgreich, oder?«

»Es geht. Ich kenne seinen Geschmack. Er hat sein gutes Auskommen, aber er würde gern auf größerem Fuß leben, ordentlich auf die Pauke hauen. Dieses verwöhnte Luder, mit dem er sich herumtreibt - die Tochter eines Generals Soundso -, wird sich nicht mit einem Mann zufriedengeben, der ständig auf Achse sein und Aufträge an Land ziehen muss, der die Konkurrenz zu fürchten hat. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie sie einen Reisenden in Brandy heiratet.«

Sie sind dennoch verlobt, dachte Dennison. Oder weiß sie das am Ende gar nicht? 

»Was schuldet er mir eigentlich?« Sie war nachdenklich geworden. »Nichts. Und ich verlange nichts von ihm. Ich könnte ein bisschen Liebe und Aufmerksamkeit brauchen, jetzt schon. Aber ich habe kein Recht darauf, also bitte ich auch nicht drum.«

Auf seine Weise schenkt er dir sogar Liebe und Aufmerksamkeit, gestand sich der Anwalt widerstrebend ein. Auf seine ganz besondere, dickköpfige Weise.

»Ich rechne mir das als Verdienst an. Ich mische mich nie in seine Angelegenheiten. Er lebt nebenan, aber er ist sein eigener Herr im Haus.«            

Ja, er wohnt mietfrei, der Glückliche, kommentierte Dennison schweigend. Vor Jahren hatte sie ihr großes Haus entsprechend geteilt.

»Ich gebe ihm ein Taschengeld, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen. Ich habe nicht einmal«, triumphierend klammerte sie sich an ihr Argument, »ich habe nicht einmal einen Schlüssel zu seiner Hälfte des Hauses.«

»Nicht einmal einen Schlüssel?«, wiederholte er bestürzt.

»Keine Sorge.« Ihr boshaftes Lächeln verriet, wie genau sie seinem Gedankengang gefolgt war. »Hubert hat natürlich Schlüssel zu meiner Seite des Hauses. Wenn mir etwas zustoßen sollte und ich so gut wie allein im Haus bin. Mary, diese alte Närrin, wäre in der Not mehr als unbrauchbar. Natürlich hat er Schlüssel zu meinem Haus. Aber das... das bedeutet nicht... bedeutet...«

Die Plötzlichkeit war es, die ihn wie ein Schlag traf: die Plötzlichkeit, mit der es geschah. Ihre Stimme, eben noch fest und bestimmt, brach und stockte; es war unendlich traurig, so als ob man mit ansah, wie ein schwacher, alter Mensch stolperte und zu Boden stürzte. Sie suchte nach Worten und brachte stammelnd ein paar unzusammenhängende Wortfetzen hervor. Gleichzeitig mit dem Straucheln ihrer Gedanken erlebte er, wie das andere geschah, das er kaum beschreiben konnte. Der Ausdruck geistiger Kraft und Überlegenheit, der ihr Gesicht zusammenhielt, rann daraus wie Wasser aus einem Sieb; die Augen wurden leer, der Unterkiefer sank hinunter, so dass der Mund halb offenstand, die Züge erschlafften, und der Ausdruck blöder Heiterkeit breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie kicherte plötzlich, und dieser Laut fuhr ihm eiskalt bis ins Mark. Aber schon verwandelte sich die Heiterkeit in etwas anderes: Verwirrung, Misstrauen, dann Wut. Sie blickte ihn finster an, wich jedoch in ihren Sessel zurück, als fürchtete sie einen Schlag.

»W-wo ist es?«, wimmerte sie. Ebenso wie ihr Gesicht hatte sich ihre Stimme bis zur Unkenntlichkeit verändert und war jetzt hoch und drängend. »Sie haben g-gesagt, Sie... würden... es bringen!«

Er befeuchtete seine Lippen und suchte nach einem passenden Wort, nach irgendeinem Wort.

»Holen Sie es!« Sie hatte ihm keine Zeit gelassen. »Holen Sie es!«

»Ja, ja«, sagte er schnell. »Das werde ich tun.«

»M-mehr Geld?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Sie wollen m-mehr...?«

»Nein«, antwortete er zögernd. »Nein.«

»Sie werden... Sie werden... es holen? V-versprechen Sie?«

»Ja«, besänftigte er sie, »ja, ja«, und beim letzten Ja sah er es wieder geschehen, nur umgekehrt. Vernunft und Bewusstsein strömten in ihr Gesicht zurück. Etwas an dem Aussehen des Anwalts musste ihr aufgefallen sein, denn sie fragte sofort: »War ich anders, jetzt eben?«

»N-nein«, leugnete er, ganz außer Fassung.

»Was habe ich gemacht?« Sie ignorierte seine Antwort. »Was habe ich gesagt?«

»Nichts Besonderes«, entgegnete er ohne Zögern. »Sie haben offenbar einen Moment den Faden verloren. Das ist alles. Vielleicht eine kleine Bewusstseinsstörung?«

»Und das war wirklich alles?« Sowohl ihre Stimme als auch ihr Blick wirkten skeptisch.

»Ja«, bestätigte er tapfer. »Um die Wahrheit zu sagen, es ging so schnell, dass ich es fast nicht bemerkt hätte.«

»Das nehme ich Ihnen nicht ab - so wie Sie mich angestarrt haben«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, Sie lügen.«

Er lächelte nachsichtig, aber trotz seiner Erleichterung darüber, dass sie wieder Herr ihrer Sinne war, war er davon überzeugt, dass sich der Anfall jeden Augenblick wiederholen würde. Es lag so etwas in ihrem Blick...

»Er will mich aus dem Weg haben«, stieß sie plötzlich hervor. Wieder war ihre Stimme anders als sonst, ausgehöhlt von drohendem Unheil. »Will mich loswerden.«

»Hugh?«

»Er will mich irgendwo einsperren.«

Jetzt hatte sie wirklich den Verstand verloren.

»Er will alles an sich reißen«, erklärte sie. »Mich beobachten, bis ich weit genug bin, und mich dann im Handumdrehen in eine Gummizelle stecken. Natürlich mit ärztlicher Zustimmung, ganz korrekt und legal.« Nach kurzer Pause fuhr sie wütend fort: »Aber Sie können ihm etwas von mir ausrichten. Sagen Sie meinem Sohn, dass er vielleicht nicht mehr lange zu warten braucht. Es gibt einen guten Grund dafür, bestellen Sie ihm das von mir. Nämlich weil - weil ich nicht warten werde.« Sie grinste ihn triumphierend an. »Nein, ich werde nicht warten. S-sagen Sie... s-sagen Sie...«

Es geschah wieder; obwohl er es geahnt hatte, traf es ihn völlig unvorbereitet. Wieder waren die finster blickenden Augen, die ihn anstarrten, leer geworden, die scharfen, festgefügten Züge verrutschten, lösten sich auf - ein einfältiger, schmachtender Ausdruck des Erbarmens trat diesmal an ihre Stelle.

»Der arme Mann«, murmelte sie. »Ja, hier ist Geld, ja, Sie werden... es mir besorgen? Kein leichtes Leben, sagen Sie. Nein, nein, kein leichtes...«

»Mrs. Tor.« Dennison stand auf, sein Herz schlug heftig. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Es ist für mich immer eine große Freude...« Mein Gott, jetzt erhob sie sich. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann...«

Sie war in Richtung Tür gegangen und hörte offensichtlich nicht zu.

»Es trifft sich gut, ich habe gerade einen Termin im Ort«, log er schnell. »Darf ich Sie nach Hause fahren?«

In diesem Augenblick verzerrte ein neuer Krampf ihr Gesicht; sie wandte sich dem Anwalt zu, ihre Augen glühten, ihr Mund verzog sich. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie sie. »Mir nachspionieren... nachspionieren...« Ein Speichelfaden schlängelte sich über ihr Kinn, aber so unglaublich es auch war, der Ausdruck halbwacher Vernunft kehrte in das Gesicht zurück - ein vorüberziehender Wolkenschatten, der unendlich traurig war.

»Ich hätte nie gedacht... dass mir so was passieren würde«, sagte sie klagend, nicht zu ihm. »Jedenfalls nicht das.« Ein Lachen entfuhr ihr, Inbegriff der Trostlosigkeit. »Irgendetwas, wofür es sich lohnt zu leben...«

Er stand schweigend da und wagte kaum zu atmen.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie voller Würde, immer noch zu jemandem, der nicht hier war, »ich danke Ihnen«, und schwankte aus dem Zimmer. Ohne einen Moment zu zögern, schoss Dennison zur Tür und sah, wie sie auf dieselbe schlafwandlerische Weise aus dem Zimmer taumelte.

Nachdem er seine Sekretärin kurz ins Bild gesetzt hatte, stürzte er hinaus, voller Angst, dass sie vielleicht schon einen zu großen Vorsprung hatte. Doch seine Sorgen waren unbegründet, die riesige alte Mietskaserne hatte ein großes und hohes Treppenhaus. Er lief auf Zehenspitzen zum obersten Treppenabsatz. Von hier aus konnte er gut sehen, wie sie unter ihm im Schneckentempo eine Kurve nahm. An das Treppengeländer geklammert, stieg sie vorsichtig Stufe für Stufe hinunter, so als ob ihr jeder Schritt abwärts einen Stoß oder einen leichten Schock versetzte. Ab und zu blieb sie stehen. Als sie das Haus verlassen hatte und er ihr auf den Fersen folgte, so schnell er es wagen konnte, war seine nächste Sorge, wohin sie sich jetzt wenden würde. Wenn sie für unbestimmte Zeit umherirrte, würde das die Sache unendlich erschweren. Jetzt war sie nach rechts abgebogen, Gott sei Dank, aber ob ihre unsicheren und schlendernden Schritte heimwärts gerichtet waren... Ja, mit grenzenloser Erleichterung beobachtete er, wie sie vorsichtig die Straße überquerte, schließlich das Gartentor ihres Hauses erreichte und langsam den gepflasterten Gartenweg hinaufging.

 

Auf dem Rückweg waren Dennisons Gedanken in einem Zustand, der sehr oft einem beunruhigenden Erlebnis folgt, nämlich mehr oder weniger chaotisch. Als Mrs. Tor - wie üblich unangemeldet - in sein Büro gekommen war, hatte er zunächst angenommen, sie wolle ihn wegen der Einstellung einer neuen Gesellschafterin konsultieren; die letzte war gerade in dem üblichen Wirbel höchster Erregung und verletzter Gefühle abgereist, und zwar aus dem üblichen Grund: weil sie zu sehr Mrs. Tors scharfer Zunge ausgeliefert gewesen war. Als sich Mrs. Tor stattdessen geradewegs auf die geheimen Wünsche und dunklen Absichten ihres Sohnes gestürzt hatte, fühlte er sich überrumpelt, völlig unvorbereitet, mit ihr zu diskutieren, bis er ahnte, wohin der Hase lief...

Ein Lächeln, das sich auf seinem Gesicht auszubreiten begann, wurde von einem anderen Gedanken weggewischt. Diese Bankgeschichte, von der er erfahren hatte, diese mysteriösen und häufigen Geldabhebungen, die offensichtlich nicht mit Mrs. Tors Haushaltsausgaben zusammenhingen, für die sie jede Woche einen Scheck von mehr oder weniger gleicher Höhe ausstellte. Es handelte sich nicht um besonders hohe Beträge, aber sie mussten inzwischen auf eine beträchtliche Summe angewachsen sein. Was machte Mrs. Tor mit dem Geld? Und was konnte man gegen die Sache unternehmen? Soweit er wusste, nichts. Das Geld gehörte ihr, sie hatte ungehinderten Zugang dazu, solange man sie nicht für nicht voll verantwortlich erklärte. Und solange sich ihr Narr von einem Sohn weiterhin hartnäckig weigerte, ihr auch nur die geringsten Beschränkungen aufzuerlegen.

Er beschleunigte den Schritt und dachte darüber nach, was sie wohl mit dem vielen Geld machte. Sie mochte diese Summen, die nie weniger als fünfzig Pfund betrugen, aus irgendeinem törichten oder unvernünftigen Grund abheben, aber dass sie einen bestimmten Zweck verfolgte, daran hatte er nie einen Augenblick gezweifelt.

Seine Gedanken wandten sich blitzartig anderen, verwandten Fragen zu. Er verwaltete bereits einen Teil von Mrs. Tors Vermögen, nachdem sie ihn selbst damit beauftragt hatte. Konnte er nach dem entsetzlichen Erlebnis von eben ihren Sohn davon überzeugen, dass sie dringend des Schutzes bedurfte, und ihn dazu überreden, einem Entmündigungsantrag zuzustimmen? Der Augenblick war gekommen, wo sie nicht mehr in der Lage war, eigenverantwortlich zu handeln, er würde ihren Sohn zwingen, das einzusehen. Dann die Bestellung des Vormunds. Es konnte keinen Zweifel geben, wer für diese Rolle am geeignetsten war... Er runzelte die Stirn. Natürlich konnte in diesem Stadium nur der Sohn und kein anderer den Antrag stellen.

Wieviel das alte Mädchen wohl wert war? Was er selbst für sie verwaltete, konnte nur ein Bruchteil ihres Vermögens sein. Es musste sich um eine eindrucksvolle Summe handeln, denn sie hatte drei reiche Männer geplündert; vielleicht wollte sie sie dafür bestrafen, dass sie sich überhaupt angemaßt hatten, sie zu heiraten. Wenn man sie dagegen heute sah! Sie war immer noch arrogant, immer noch zäh, aber geistig hatte sie sehr nachgelassen.

Als er sein Büro betrat, dachte er über die Bestellung zum Vormund und die damit verbundenen Vorteile nach. Der Gedanke, ihr ganzes Vermögen und nicht nur einen Teil davon zu verwalten, erschien ihm sehr verlockend.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Ja, ja.« Mit überschwänglichem Wohlwollen öffnete der Mann weit die Eingangstür seines Hauses. »Kommen Sie herein, Miss Cory, kommen Sie herein. Schön, dass Sie mich besuchen. Sind Sie mit dem Auto da?«

»Nein, ich bin mit dem Zug gekommen.«

»Warum haben Sie mich denn nicht benachrichtigt? Ich hätte Sie am Bahnhof abgeholt.«

»Vielen Dank, Mr. Kerwin, aber das war nicht nötig. Vom Bahnhof bis zu Ihnen ist es nicht weit, und es war ein hübscher Spaziergang.« Sie hatte Zeit, ihn zu mustern, die groben Gesichtszüge, den kräftigen Körperbau, die freundlichen grauen Augen, die ungewöhnlich groß waren. Insgesamt wirkte er warmherzig, aufrichtig und sympathisch. Trotzdem empfand sie ihm gegenüber eine gewisse Geringschätzung, was ihr selbst unerklärlich war.

Er nahm ihr den Mantel ab und brachte ihn hinaus. Er hatte kräftige Schultern und ein angenehmes, rustikales Äußeres. Im selben Moment bemerkte sie, wie gepflegt er war und dass sein rustikales Aussehen durch einen riesigen, offenbar handgestrickten rehfarbenen Pullover und eine rehfarbene, samten schimmernde Wildlederhose hervorgerufen wurde. Na und, was ist schon daran auszusetzen, dass er sich gut kleidet, fragte sie sich und versuchte, gegen ihr unbegründetes Vorurteil anzukämpfen. Allerdings sah er eigensinnig aus, oder? War das vielleicht der Grund für ihren ungünstigen Eindruck?

Er kam schnell zurück und rief bestürzt aus: »Um Himmels willen, setzen Sie sich doch, habe ich Ihnen etwa keinen Platz angeboten? Wie großartig von Ihnen, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben, von London hierherzukommen. Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar, Miss Cory.«

»Ich habe es gern getan.« Sie schob ihr Urteil vorläufig auf. »Vor allem, weil Sie mir geschrieben haben, dass ein Gespräch hier in Ihrem Haus wichtig ist und mit dem Job zu tun hat.«

»Es hat alles mit dem Job zu tun«, antwortete er. »Aber möchten Sie nicht etwas trinken, bevor wir uns unterhalten? Kaffee, Sherry, oder was darf ich Ihnen sonst anbieten?«

»Überhaupt nichts, vielen Dank. Ich habe gerade erst ausgiebig gefrühstückt.«

»Nun gut, Miss Cory, wenn Sie lieber gleich zur Sache kommen wollen. Nur - darf ich vorher noch etwas sagen?« Sein Blick war unsicher und entschuldigend zugleich. »Wir müssen von Anfang an ehrlich zueinander sein. Sind Sie damit einverstanden? Absolut ehrlich?«

»Ich weiß nicht, was Sie mit ehrlich meinen«, entgegnete sie, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. »Wenn Sie befürchten, dass ich mich für jemand ausgebe, der ich nicht bin, oder dass ich Ihnen gefälschte Referenzen vorlege...«

»Um Gottes willen, nichts dergleichen!« Er war entsetzt. »Kaum mache ich den Mund auf, trete - trete ich ins...« Er hatte Mühe, sich zu fangen. »Nein, was ich meine, ist...«

Er brach wieder ab, und sie begann zu begreifen, dass er Schwierigkeiten mit der Sprache hatte.

»Es ist folgendermaßen«, fuhr er fort. »Ich bin hier in einer schlimmen Lage, ich kann es nicht anders nennen. Da gibt es Dinge, die ich nicht verschweigen kann, und ich werde es auch gar nicht erst versuchen. Wenn ich Ihnen also - nun, das Schlimmste gesagt habe, bitte ich Sie nur um eins.« Er schüttelte den Kopf, als ob ihn Fliegen piesackten. »Um eine ehrliche Antwort. Ich meine, wenn sie nein lautet, teilen Sie es mir ohne Umschweife mit. Lassen Sie mich nicht einfach im Stich, sagen Sie nicht, dass Sie es sich überlegen wollen, oder irgendsowas. Das wäre Zeitvergeudung, und wenn ich mich nicht ganz furchtbar irre, ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er schien sich von irgendeiner grauenhaften inneren Vision loszureißen. »Bieten Sie auch nicht an, es versuchen zu wollen, wenn Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, dass Sie es nicht schaffen können. Halbherzige Gefühle dieser Art, halbherzige Einstellungen bringen uns in der augenblicklichen Situation nicht weiter. Entweder widmen Sie sich dieser Aufgabe, wenn überhaupt, hundertprozentig oder gar nicht. Das habe ich gemeint, als ich sagte, wir müssten ehrlich zueinander sein.« Er blickte sie versöhnlich an. »Das ist alles, was ich meinte, Miss Cory, ehrlich.«

»Natürlich«, murmelte sie beschämt und ziemlich verstört. »Es war dumm von mir, Sie so misszuverstehen.«  

»Aber warum denn? Es geht nur darum zu begreifen, dass in diesem - in diesem Fall das Beste, das Sie geben können, vielleicht nicht genug ist.« Seine Augen erforschten das unsichtbare Unheil und kehrten dann zu ihr zurück. »Aber bevor wir zum Thema kommen«, er war plötzlich schüchtern, »könnten wir vielleicht ein wenig über Sie sprechen, Miss Cory, ja?«

»Natürlich«, stimmte sie herzlich zu. »Ich habe damit gerechnet, dass Sie sich für meinen Lebenslauf interessieren, er ist nur ziemlich langweilig - da gib| es nicht viel zu erzählen.«

»Ich weiß nicht einmal Ihren Vornamen«, versuchte er ihr in entschuldigendem Ton zu helfen. »Sie sind immer J. Cory für mich gewesen.«

»Jacintha. - Also, ich habe so gut wie keine Familie. Mein Vater ist tot, er hat in einer Anwaltspraxis in der Nähe von Cambridge gearbeitet. Meine Mutter hat eine Rente und wohnt in einem Altenheim. Wir schreiben uns nur selten, wir hatten nie viel miteinander gemein. Mein Vater hat mir eine Versicherung hinterlassen - eine von den Summen, die zunächst recht ordentlich aussehen, bis man sie anbricht. Ich bin dann nach Somerville gegangen, habe im Fach Musik Examen gemacht...«

»Was, Sie haben Musik studiert?« fiel er ihr ins Wort. »Das ist ja wunderbar. Was für ein Instrument spielen Sie?«

»Klavier. Nicht schlecht, aber nicht gut genug, um Konzerte zu geben.«

»Hmm.«

»Aber mir war schon immer klar gewesen, dass ich nicht unterrichten oder begleiten wollte, deshalb nahm ich eine Stellung in einer Künstleragentur an.«

»Als Sekretärin?«, fragte er.

»Nein, eigentlich nicht.« Der schwache Ausdruck der Enttäuschung oder sogar Verachtung war ihr nicht entgangen. »Obwohl ich ziemlich gut Schreibmaschine schreiben kann. Nein, ich musste mich um die Programme kümmern, mit den Künstlern verhandeln, besprechen, was sie singen oder spielen würden, alle Unterlagen zum Druck vorbereiten, Korrektur lesen. Die Programme erscheinen nämlich in drei bis vier verschiedenen Sprachen, sie müssen absolut fehlerfrei sein.«

»Ich muss gestehen, darüber habe ich noch nie nachgedacht.« Er war wieder mit ihr zufrieden. »Verdammt klug von Ihnen.«

»Und nebenbei habe ich eine ganze Menge vom Management mitgekriegt - wie man Tourneen plant, Zug- und Flugverbindungen herausfindet, Hotelzimmer reserviert und Public Relations macht. Es ist ziemlich kompliziert, aber interessant, und ich bin ganz gut zurechtgekommen.« Angeregt durch seine naive Bewunderung fuhr sie unvorsichtig fort: »Ja, und dann lernte ich durch diese Agentur jemand kennen...« Sie brach erschreckt ab.

»Sie lernten jemand kennen«, wiederholte er nach einem Augenblick. Seine Stimme und sein Verhalten waren nicht fordernd, aber zwangen sie, den Satz zu beenden.

»Ja, jemand, der mir eine bessere Chance bot.«

»Hmm.« Sein Gesichtsausdruck hatte sich geändert, während sich seine Gedanken einem Problem zuwandten, das er offensichtlich voll Missvergnügen betrachtete. »Was ich aus alldem zu entnehmen scheine«, sein Blick, der nach einem Moment wieder zu ihr zurückkehrte, war genauso ausdruckslos wie seine Stimme geworden, »ist, dass Sie sozusagen die Zeit überbrücken wollen, bis diese bessere Chance kommt.« Er machte wieder eine Pause. »Sie betrachten also die Stelle bei meiner Mutter als - als eine Art Notbehelf?«

»Ja«, musste sie zugeben.

»Hmm, in diesem Fall«, er blickte finster, fast missgestimmt drein, »wäre es besser gewesen, Sie hätten das von Anfang an klargestellt, Miss Cory. Es hätte uns beiden Zeit gespart.« Er wollte aufstehen. »Jemand, der beabsichtigt, diese Stelle für ein paar Monate anzunehmen, nützt mir nichts, im Gegenteil. Ich danke Ihnen, dass...«

»Nicht für ein paar Monate«, platzte sie heraus, ohne zu beachten, dass er sie entlassen hatte. »Für ein Jahr. Mindestens für ein Jahr.«

Er stand immer noch halb aufgerichtet da, schweigend und offenbar unentschlossen. Dann ließ er sich langsam wieder in seinen Sessel sinken und sagte kühl: »Das ist besser.« Seine Augen, die sich wieder auf sie hefteten, waren noch voller Misstrauen. »Aber woher wissen Sie, dass es so lange dauern wird? Ein ganzes Jahr?«

»Ich weiß es«, sagte sie unbewegt, entschlossen, es nicht weiter zu erklären. »Es ist eine geschäftliche Absprache.«

»Sie versprechen mir das, ja?«

»Ja.«

»Ich kann mich darauf verlassen? Vollkommen?«

»Vollkommen. Es ist etwas, was sich auf keinen Fall in weniger als einem Jahr entwickeln kann. Ich würde Ihnen sowieso, bevor ich gehe, früh genug Bescheid geben.« Sie hielt inne. »Das heißt, wenn Sie mich für die Stelle überhaupt noch in Betracht ziehen.«

»Aber sicher«, antwortete er wieder etwas freundlicher. »Es tut mir leid, dass ich eben ein bisschen gereizt war.« Seine Entschuldigung, die ernst und ungeschickt wirkte, erweckte in ihr zum ersten Mal ein echtes Gefühl der Sympathie. »Aber Sie werden gleich sehen, warum ich nichts in der Schwebe lassen kann. Ich meine, warum ich nichts dem Zufall überlassen kann, nicht einmal die kleinste Einzelheit.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wir wollen jetzt über meine Mutter sprechen, Miss Cory.«

Sie wartete - nicht nur voll Sympathie, sondern auch mit wachsender Anteilnahme. -

»Meine Mutter ist Mrs. Tor, Mrs. Valerie Tor«, sagte er. »Vielleicht haben Sie von ihr gehört?«

»Nein«, gestand sie. »Sollte ich?«

»Großer Gott, nein. Sie zählt heute zum alten Eisen, das war alles lange vor Ihrer Zeit, vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich war selbst noch ein Kind und erinnere mich nur, dass ich aus zweiter Hand von ihr hörte - irgendetwas spielte sich in fernen Ländern ab. Es stand in den Zeitungen, und die Leute sprachen mich darauf an, meistens war es ziemlich aufregend. Ich ging noch zur Schule«, erklärte er, »und sie war überall in der Welt, in Spanien, in Südamerika, überall, nur nicht dort, wo ich war.« Er lächelte traurig. »Aber sie hat eine Zeitlang großes Aufsehen erregt.«

»Es ist mir unangenehm, so unwissend zu erscheinen«, sagte sie, als er eine Pause machte, »aber was hat sie getan?«

»Oh, sie hat irgendetwas in Südamerika ausgegraben, eine Grabstätte, glaube ich. Nichts im Vergleich zu den Ausgrabungen in Ägypten. Aber soweit ich mich erinnere«, er zog die Stirn kraus, »fand sie Gold, wo kein Gold hätte sein sollen, und es gab einen Mordskrach unter den Wissenschaftlern, sie schrieben lange Briefe an die Zeitungen und beschimpften sich gegenseitig.«

»Sie war also Archäologin?«

»Ja. Sie hat Medaillen von gelehrten Gesellschaften eingeheimst und Zeitungsausschnitte gesammelt, Tonnen von Zeitungsausschnitten, um zu beweisen, dass sie in ihrer Zeit Furore gemacht hat und auf der ersten Seite stand.«

»Ich verstehe«, murmelte sie.

»Ich hoffe also, Sie können sich vorstellen«, fuhr er behutsam und überlegt fort, »dass Mutter eine geistreiche Frau war. Mehr als das, sie war hochbegabt, und sie wusste es. Ungeduldig, anmaßend und von höllischem Temperament. Aber jetzt beginnt sie nachzulassen, sie hat Bewusstseinsstörungen. Oder benutze ich das falsche Wort? Jedenfalls passiert es, dass sie vergisst, wo sie ist, dass sie jemanden, mit dem sie spricht, nicht erkennt. Ich habe es selbst erlebt. - Ich habe Ihnen versprochen«, unterbrach er plötzlich seinen Gedankengang, »dass ich nichts verschweigen werde, dass ich offen zu Ihnen sein werde.«

»Ja«, sagte sie gedehnt. Sein Schweigen hatte nach einer Antwort verlangt. »Aber das hört sich alles gar nicht so schlimm an; so geht es doch vielen alten Leuten, oder?«

»Glauben Sie wirklich?« Er schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. »Es schreckt Sie nicht ab?«

»Vorläufig nicht, aber natürlich...«

»Mir geht es genauso«, unterbrach er sie. »Ganz genauso. Diese gemeinen Schufte, die es so schlimm wie möglich hinstellen wollen, tun so, als ob sie reif für die Irrenanstalt wäre - oder wenigstens beinahe.«

»Wie alt ist Ihre Mutter?«

»Wie alt?« Er schüttelte die quälenden Gedanken ab und lachte. »Ich hatte immer den Eindruck, dass sie bei ihrem Alter um ein paar Jahre gemogelt hat. Aber was macht das schon? Sie ist achtzig, darauf können Sie sich verlassen. Mag sein, es sind ein paar Jahre mehr oder weniger, aber achtzig kommt so ungefähr hin.«

»Das ist gar kein so hohes Alter.« Wieder hatte er offensichtlich einen Kommentar erwartet. »Jedenfalls heute nicht.«

»Nein. Körperlich geht es ihr auch gut. Sie ist so zäh wie eh und je, sie hat eine enorme Konstitution. Aber wie gesagt, sie leidet an diesen Anfällen. Das kann man nicht ignorieren.«

»Ich bin keine Krankenschwester«, warnte sie ihn, plötzlich beunruhigt. »Am wenigsten eine psychiatrisch ausgebildete.«

»Gott sei Dank«, antwortete er herzlich. »Wenn Sie sich mit dem Quatsch abgeben würden, wäre ich nicht interessiert. Trotzdem haben Sie den Kern der Sache getroffen, Miss Cory«, erklärte er mit neuem Ernst. »Jetzt kommen wir zum Wesentlichen.«

Sie wartete.               

»Sie hat immer Gesellschafterinnen gehabt«, fuhr er fort. »Ich glaube, ihr Anwalt annonciert meistens für sie, vielleicht täusche ich mich aber. Der springende Punkt ist, dass die alten Mädchen, die auf die Anzeigen antworten, mit meiner Mutter in Konflikt geraten, und dann gnade ihnen Gott - sie frisst sie bei lebendigem Leib und spuckt die Stücke einzeln wieder aus. Arme, eingeschüchterte Hühner, die über das Wetter und die Preise schwatzen, über dies und jenes...« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sie treiben sie auf die Palme, sie reizen sie zur Weißglut. Meine Mutter in ihrer schlimmsten Wut muss man erlebt haben, sonst glaubt man es nicht.«

Ihr Schweigen, das darauf folgte, traf ihn schwer.

»Um Himmels willen, habe ich Sie jetzt abgeschreckt?«, flehte er sie an. »Sie ist nicht gewalttätig, ganz und gar nicht. Abgesehen von diesen Anfällen, ist sie meistens ganz normal. In der Tat normaler als die meisten.«

Er beugte sich flehend zu ihr und machte sich zum Anwalt seiner Mutter.

»Sie braucht eine Freundin, Miss Cory. Jemanden, der gebildet ist, der Phantasie hat. Jemanden, der sie für etwas interessieren, sie beschäftigen, sie von sich selbst ablenken kann. Es wird Ihnen sehr helfen, dass Sie jung sind.« Er grinste. »Mein Gott, wie sehr sie alte Leute hasst. Komisch, nicht wahr?«

»Sie sagten gerade, dass sie Anfälle hat.« Sie überging seine freudlose, scheinbar scherzhafte Bemerkung, ihre Aufmerksamkeit war an einem Wort wie an einem hervorstehenden Nagel hängengeblieben. »Was für Anfälle?«

»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht genau. Ich bin zu selten hier.« Sein Ton war entschuldigend. »Ich habe sie nur ein wenig Unsinn reden hören, vielleicht...«

»Aber was für Unsinn? Ich muss mir doch ein Bild machen können. Wenn sie mir irgendwas an den Kopf wirft, wie soll ich mich dann verhalten? Können Sie sich nicht an irgendetwas Bestimmtes erinnern, ganz gleich, was es ist?«

Es trat eine Pause ein. Gerade als sie die Hoffnung aufgab, dass dabei etwas herauskommen würde, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Mir scheint, dass sie von Zeit zu Zeit einen Widerwillen gegen dieses Haus empfindet. Ich habe allerdings nicht besonders darauf geachtet...« Er schwieg zweifelnd. »Aber sie schien sich vor irgendjemandem oder irgendetwas im Haus zu fürchten - wollte ausreißen, einfach weglaufen.« Er lachte gequält. »In ihrem Alter? In ihrem Zustand?«

Sie senkte den Kopf und stellte sich dieses Bild des Verfalls vor.