Die Schuld - Ian Taylor - E-Book

Die Schuld E-Book

Ian Taylor

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Beschreibung

Sozialdrama trifft auf das Erwachsenwerden und auch auf übernatürliche Kräfte in Die Schuld.

Dieses Buch spielt 1962 in einer Kleinstadt in England. Es ist eine Zeit des Standesdünkels, wo ein Mensch nach seiner täglichen Arbeit beurteilt wird und der Aldermaston March, eine Bewegung gegen die atomare Aufrüstung, bevorsteht.

Nach einer regnerischen Nacht treffen sich vier Jungen im Römerlager: Brock aus der Mittelschicht; Red, dessen Arbeiterfamilie Großes mit ihm vorhat; Mouth vom Schrottplatz; und Raggy, der taube Einfaltspinsel. Sie beschließen, hinunter zu den überschwemmten Feldern am Flussufer zu gehen, um dort zu jagen.

Als die vier Shack, den örtlichen Wildhüter, treffen, gibt er ihnen den Rat, die Landschaft respektvoll zu behandeln, da sie sonst die Rache des Wilden Mannes, des übernatürlichen Hüters, treffen wird. Ungeachtet der Warnungen setzen die vier ihre Pläne fort.

Schon bald lauert der Tod und einer nach dem anderen muss sich seinen Dämonen stellen ... und auch der Schuld, die sie ganz und gar einnimmt. Unten am Fluss brauen sich uralte Kräfte zusammen, denn der Geist des Wilden Mannes erwacht.

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DIE SCHULD

IAN TAYLOR

ROSI TAYLOR

Übersetzt vonJOHANNES SCHMID

Copyright (C) 2021 Ian Taylor & Rosi Taylor

Layout design und Copyright (C) 2022 Next Chapter

Verlag: 2022 von Next Chapter

Cover von CoverMint

Dieses Buch ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie der Autorin oder werden fiktional verwendet. Eine Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Orten, oder Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig.

Alle Rechte vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung oder Verbreitung von Passagen aus diesem Buch, durch Kopieren, Aufzeichnen, oder über eine Datenbank oder ein System zur Informationsverarbeitung, ist ohne die Zustimmung der Autorin nicht gestattet.

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Sehr geehrter Leser

Für Harvey

PROLOG

Der Fluss, dieses geheimnisvolle, torfbraune Gewässer, das aus den Hochmooren entsprang, war seit Anbeginn der Zeit eine mächtige Erscheinung im Tal. Bevor die Römer kamen, hielten die keltischen Stämme sein Wasser für heilig. Das war es auch für die späteren Siedler, die seine Höhen und Tiefen verstanden. Sie hielten den Fluss für ein lebendiges Wesen, das man zu respektieren hatte und das man nicht missbrauchen oder als selbstverständlich erachten durfte. Seit Jahrhunderten war dieses Bewusstsein in den Köpfen der Menschen verankert. Es gab noch immer ein paar, welche die Verbindung zum Geist des Flusses hielten. Sie lasen die Zeichen und schauten nach den Warnungen, wenn das Wasser seine Muskeln spielen ließ und Bäume in Ufernähe entwurzelte. Es waren Menschen, die wussten, wann eine Katastrophe eintreten konnte...

Niemand konnte den Fluss lange ignorieren. Es gab Zeiten, da floss er ruhig und langsam durch die Stadt, die in Talsohle lag. In solchen Zeiten verloren ihn die Menschen etwas aus dem Gedächtnis. Aber niemand konnte ihn völlig vergessen. Ladenbesitzer und Hausfrauen, die in den frühen 1960ern selten von ihren Geschäften und Türschwellen weg kamen, merkten, wie sie an den Fluss dachten, sobald Sturmwolken am umliegenden Horizont über den Mooren aufzogen.

„Jo, Tommy“, grüßte Ralph Parnaby, der Kioskbesitzer, einen seiner Stammkunden...den legendären Tommy Page, einen Meister im Hechtfischen. „Da kommt ein Regenschauer. Wir behalten besser den Fluss im Auge.“

„Stimmt so“, meinte Tommy und bezahlte seine Zeitung. „Über eine Landschaft, die bereits jetzt so durchnässt ist, wird der Regen einfach so hinweg fließen.“

„Und das heißt, es wird Fluten geben, Tommy.“

„Ich sehe mir das heute Abend mal an. Die Fische werden es uns sicher sagen.“

Der Fluss war allen Menschen hier ständig gegenwärtig. Bei Sturm jedoch wurde er zu einer regelrechten Besessenheit.

In solchen Zeiten verwandelte er sich von einem milden und ruhigen Begleiter zu einer mythische Bestie. Verängstigte Augen schauten zum Himmel empor.

„Hier kommt er!“, riefen die Hausfrauen im Tante-Emma-Laden und nickten sich zu. „Sie werden unten bei Wade‘s Sandsäcke aufstapeln.“

„Dieser Noah, du weißt, der alte Kerl aus dem Buch Genesis, der wurde am Ende von Water Lane geboren!“

Alte Fotoaufnahmen belegten, dass es Generationen vorher durchaus üblich war, dass sich kleine Gruppen von Schaulustigen auf der Stadtbrücke versammelten, um dem Fluss zuzusehen. Diese Gruppen bestanden hauptsächlich aus Ortsansässigen im Ruhestand und entlassenen Saisonarbeitern. Bücher, die von der örtlichen Geschichte handelten, bewiesen, dass die jüngeren Männer bei weitem nicht die Weisheit der älteren besaßen. Wenn das Wasser stieg, konnten die nämlich ganz genau sagen, ob es nur von kurzer Dauer oder vielleicht ernst war.

Schon oft hatte der Fluss die Höfe der Arbeiter am Fuß des Tals überschwemmt, ob nun in der Knochenmühle, dem Schlachthaus oder der örtlichen Brauerei. Die Arbeiter hatten immer ein Paar Gummistiefel in der Umkleidekabine, so dass sie nicht einfach überrascht werden konnten.

Zeitweise wurde die Stadtbrücke für alle Fahrzeuge außer Lastwagen und Traktoren unpassierbar. Der Fluss schlug mit seinen rammbockähnlichen Strudeln aus den sturmgepeitschten Mooren wie wahnsinnig gegen die Brückenpfeiler. Auch entwurzelte Bäume, ertränkte Rinder und Schafe...und im Winter große farblose Eisblöcke, riss die starke Strömung mit sich fort.

Niemand konnte sich an etwas Ähnliches wie die Fluten von 1962 erinnern. Ein halbes Jahrhundert später blickten ältere Ortsansässige voller Ehrfurcht auf dieses Jahr zurück. Die plötzlichen Überschwemmungen von April und Juli waren einfach nur apokalyptisch gewesen. Diejenigen, die sich an die Ereignisse dieses Jahres erinnern konnten, erzählten jedem, der lange genug aufmerksam zuhören konnte, dass diese Überschwemmungen sogar das Potential hatten, Leben zu verändern.

Im Januar und Februar hatte es heftig geschneit. Und schließlich, im März und Anfang April, hatten die sintflutartigen Regenfälle eine rapide Schneeschmelze zur Folge gehabt. Der geschmolzene Schnee war in einem einzigen großen Schwall die Hügel hinunter gestürzt...und der Fluss hatte sich verwandelt.

Tagelang hatte der Donner bedrohlich gepoltert und gewütet. Die steilen, begrünten Abhänge der Talseiten waren zu schimmernden Wasseroberflächen geworden. Bäche traten über die Ufer und wurden sofort zu Strömen, die sich Kopf voraus in den Fluss ergossen.

Im Morgengrauen war der Fluss so dunkel wie Mooreiche, und die Stadtbrücke stand mitsamt den Pfeilern im schlammigen, torfigen Wasser. Das Tosen des Wassers mischte sich mit dem Donner und Schaulustige mussten schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Am Ufer bogen sich Salweiden und Haselnusssträucher ganz wirr im starken Wind. Fabrikschornsteine und Dachziegel hielten dem Sturm nicht stand, und die Straßen der Stadt waren mit Trümmern übersät.

Frühaufsteher zogen die Vorhänge zurück und schauten zu, wie Regenschauer sich auf die Talhänge ergossen. Selbst die jüngeren Arbeiterinnen und Arbeiter wussten, dies war ein großer Regen. Für die ältere Generation war es nicht annähernd katastrophal.

Eine gewisse Unruhe machte sich in der Stadt breit. Und es regnete immer weiter.

Michael Schackleton, der örtliche Wildhüter, schlug sein Sommerlager wie immer auf einer Anhöhe im Wald auf. Jeden Tag sah er zu, wie der Wasserspiegel stieg, bis er sich schließlich fragte, ob sein Lager vielleicht davon gespült werden könnte. Dies war aber bis jetzt noch nie passiert. Aber die Fluten würden der Wilderei ein Ende setzen. Es sei denn, die einfallsreicheren Schurken im Ort entschlossen sich, mit dem Kanu zu kommen.

Wenn ein besorgter Bauer ihn nach seiner Meinung über das Wetter fragte, wollte der Wildhüter wissen, ob er sich mehr um die Erde oder mehr um Geld scherte. Natürlich antwortete der Bauer mit Letzterem. „Dann müssen Sie mich ja nicht fragen“, sagte der Wildhüter und lächelte spitzbübisch. „Die Erde liefert Ihnen alle Antworten, die Sie brauchen.“

Florrie Gaunt, die von einigen Leuten Hexe genannte geheimnisvolle alte Frau, sagte Unheil und Katastrophen für alle voraus, die nicht Acht gaben. Wenn sich ihre Kunden die Tarotkarten legen ließen, bat sie sie um ihre Aufmerksamkeit. Verwirrt schüttelten sie den Kopf. Aufmerksamkeit wozu? Ihre kryptische Antwort lautete, dass man es nie erfahren würde, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit schenkte.

Als Tommy Page hinunter zum ansteigenden Fluss ging, um sich die Fische anzusehen, bekam er den Schock seines Lebens. Seine Freunde hatten ihn gefragt, was er herausgefunden hatte. Er aber schaute sie nur an wie ein Verrückter.

„Keine Fische“, sagte er mit ehrfürchtiger Stimme.

„Keine Fische?“, wiederholten die Fragenden.

„Sie sind alle auf dem Grund und verstecken sich im Schlamm.“

Die Flut im April 1962 hatte einen großen Teil Nordenglands getroffen und war die schlimmste gewesen, welche die Stadt je erlebt hatte. Aber die am folgenden Juli war, wie einige sagten, noch sehr viel größer.

Vielen kamen sie wie eine Warnung vor, aber wovor, da waren sich die meisten Stadtbewohner nicht sicher. Kam es von ihrer Gier und ihrer Kleinlichkeit? War dies die Strafe für ernste moralische Schwächen? Diese Selbstreflexion setzte sich fort, bis die Fluten nachließen und sie die Normalität wieder in den Schlaf wiegte.

Für ein paar arglose Seelen waren es mehr als Warnungen: Die Fluten dieses Jahres glichen in Stein gemeißelten Lektionen.

1

Red Junior, getauft auf den Namen Ronnie Patterson, ein großer 15-jähriger Jugendlicher mit rotem Haar, wachte wie immer um Viertel vor sechs auf. Als er zu Bett gegangen war, hatte es geregnet und als er durch die Vorhänge schaute, konnte er sehen, dass es noch immer regnete.

„Scheiße“, stotterte er gähnend. Bei Regen war seine Arbeit immer schwerer.

Zehn Minuten später steuerte er, in Donkeyjacke und Jeans, sein Carlton-Rennrad in die Victoria Road, eine leere Zeitungstasche über der Schulter. Er hatte gerade den halben Weg die Straße runter zurückgelegt, als seine Mutter Nancy, eine verhärmte, aber immer noch attraktive, brünette Frau, mit einem Regenmantel unter dem Arm aus ihrem 1890 Semi Truck stieg.

„Ronnie...dein Regenmantel!“

Red ignorierte sie und fuhr mit dem Fahrrad weiter durch den Regen.

Die Turmuhr der Kirche St Margaret‘s auf dem Hügel über der Stadt zeigte 07:15 Uhr an. Er fuhr durch Straßen voller Pfützen, die gesäumt waren von Reihenhäusern, an denen er von Zeit zu Zeit Halt machte, um seine durchnässten Zeitungen in die Briefkästen zu werfen.

Auf einer Giebelseite hingen große Poster, die Acker Bilks Lied Stranger on the Shore und den jährlichen Marsch der Anti-Atomwaffen-Bewegung, ALDERMASTON NACH LONDON– OSTERN 1962, ankündigten.

Red schaute sich die Plakate an und zog eine Grimasse...weder sie noch der Regen juckten ihn.

Zwei Lastwagen, beladen mit Männern und Sandsäcken, fuhren vorbei. Plötzlich schaute er diesem Lastwagen ganz interessiert hinterher. Dann zählte er zwei und zwei zusammen.

„Mein Gott!“,

stöhnte er und strampelte schnell davon.

Er stieg unterhalb der Turmuhr ab und schob sein Rennrad durch das Tor und in den Friedhof. Sein Fahrrad lehnte er an einen großen Grabstein und rannte auf eine Mauer aus moosbedecktem Sandstein zu, die sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Er sprang auf die Mauer und schaute hinunter.

Der Regen hatte nachgelassen und eine verschwommene Sonne kämpfte sich durch die kolossalen Hügel aus Sturmwolken. Er rieb sich die Augen, geblendet von hellen Sonnenstrahlen, die sich in etwas brachen, das wie eine Glasscheibe aussah. Es befand sich direkt unterhalb der Stadt, wo vorher noch der Fluss gewesen war.

Schließlich, weil es Samstag war, stieß er einen lauten Schrei aus, trat wieder in die Pedale wie ein Reiter in Wells Fargo und raste vom Kirchplatz.

Hinter den verschlossenen Toren von Dykes‘ Schrottplatz schnüffelte ein riesiger schwarzer Wachhund misstrauisch in der Luft. Hinter dem Hund befanden sich baufällige Nebengebäude, die schon fast hinter den riesigen Bergen aus Altmetall verschwanden. Auf der einen Seite des Platzes stand ein schäbiges, zweistöckiges Klinkerhaus.

Sam Dykes war ein kleiner, drahtiger Mann, in dessen Adern sowohl einheimisches als auch Roma Blut floss. Er stand oben auf dem Haufen, in Arbeitskleidung voller Ruß, und zog an einem langen Bleirohr. Deborah, seine Frau, schwarz und attraktiv, mit einem leicht weißen Stich auf der Haut, hackte in einem Schuppen neben dem Haus Bündel aus Feuerholz. Ihr dunkelhäutiger 15-jähriger Sohn Len, Spitzname Mouth, arbeitete in einem nahen Schuppen, wo er emsig Farbe von einer massiven Eichenkommode kratzte. Seine leere Zeitungstasche hing an einem Nagel neben der Tür.

Red hielt außen am Tor an. Der Wachhund fing heftig an zu bellen.

Mouth bewegte sich vom Schuppen weg. Er trug eine dreckige Jeans und eine alte, graue Wolljacke. Er winkte Red zu und ging dann zum Schuppen, wo er wieder dazu überging, ein altes Fahrrad hinauszuschieben. Misstrauisch schaute er seinen Vater an.

Sam hörte auf, das Bleirohr zu schleifen. „Bring diesen elenden Köter zum Schweigen!“.

Mouth und warf mit einem Stein nach dem Hund. „Sperr ihn ein! Er ist wie du!“

Der Hund hörte auf zu bellen und winselte.

„Mouth, es ist alles überschwemmt!“, schrie Red, der seine Aufregung nicht mal mehr eine Sekunde zurückhalten konnte.

Mouth näherte sich den Toren, wo er sich auf sein Fahrrad setzte. Auf seinem gummiartigen Gesicht hatte er ein böses Grinsen.

„Ich weiß. Ich habe es gesehen.“

Sam nahm das Bleirohr ab und warf es in ein leeres Ölfass. „Du bist um 12:00Uhr wieder hier, hast du gehört, Junge? Es kommt eine Ladung von Donny.“

Deborah hörte auf zu hacken und richtete sich auf. „Es ist Samstag, Sam. Lass ihn doch ein bisschen Zeit mit seinen Freunden verbringen.“

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Frau!“, knurrte Sam.

„Aber Sam...

„Halt den Rand!“

Deborah wandte sich ab und ihre Augen verrieten den jahrelangen verborgenen Schmerz. Sie hackte weiter Holz.

Mouth keifte bösartig und schaute seinen Vater finster an...mit einem solch giftigen Blick, dass Red schockiert war. Ihre Beziehung war noch mehr vergiftet, als ihm aufgefallen war.

Mouth öffnete das Tor. „Komm schon, Red, verschwinden wir von dieser elenden Müllhalde“.

Die beiden Freunde radelten schnell davon.

Wasser hatte die Arbeitsstätten nahe des Flusses überschwemmt: Die Schafzüchter, die Knochenmühle, die Brauerei, die Futterhändler. Arbeiter aus dem Ort luden Sandsäcke von den Lastwagen, die Red vorhin gesehen hatte. Die Männer der 08:00Uhr-Schicht, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen, kämpften sich durch die Fluten vor dem Fabriktor.

Das bei weitem größte Gebäude stand im rechten Winkel zum Fluss. Auf einer langen Wand, die aus orangefarbenen Ziegeln gemauert war, standen in schwarzen Großbuchstaben die Worte WADE‘S KARTOFFELN.

Rechts der Buchstaben befand sich das Logo, ein Riese auf grün-rapsgelbem Grund, mit einem Kartoffelsack über der Schulter. In der anderen Hand jonglierte er mit drei großen Kartoffeln und im Gesicht hatte er ein dämonisches Grinsen. Mehrere Kastenwagen auf dem Hof waren mit demselben Logo bemalt. Sie standen bis zu den Achsen im Wasser.

Die Arbeiter legten Sandsäcke in die Gänge und pumpten das Wasser aus den Nebengebäuden. Dies war das übliche Vorgehen. Red und Mouth standen mit ihren Fahrrädern da und schauten von außerhalb der Fluten dem Treiben zu.

Mouth sagte mit spöttischem Grinsen zu Red:

„Die nächsten 50 Jahre hier drin, Red ... Knollen eintüten, bis zur Rente!“

Red war es gewohnt, dass Mouth ihn runter machte. Er sagte in hochtrabendem Ton:

„Besser als in der Knochenmühle, nicht wahr? Auch die Bezahlung ist besser als bei den Schienen.“

Die Aussicht, nach der Schule bei Wade‘s zu arbeiten, lag sonnenklar vor seinen Augen. Aber ein Zeitraum von 50 Jahren lag jenseits seiner Vorstellungskraft.

Red Senior, getauft auf den Namen John Patterson, Reds Vater, fuhr in seinem Ford Popular vor Er war ein großer, starker Mann, mit dünnem, roten Haar und einem grünen Overall am Leib, darunter Hemd und Krawatte. Auf der rechten Vordertasche des Overalls prangte das Logo von Wade‘s.

Er streckte den Kopf aus dem Autofenster.

„Wäre der Boss nicht so gierig, dann hätten wir längst schon einen Hochwasserschutz. Der Fisch stinkt immer vom Kopf!“

Red Senior war der Vorarbeiter bei Wade‘s. Er war die Schnittstelle zwischen Geschäftsleitung und Arbeiterschaft und kritisierte alle. Alle waren daran gewöhnt und tolerierten seine heftigen Ausbrüche mit dem nötigen Humor. Er runzelte die Stirn, denn scheinbar merkte er jetzt, dass sein Sohn hier war.

„Hast du den Papierkram erledigt, Junge?“

Red zuckte mit den Schultern. „Natürlich.“

„Hast du schon gefrühstückt?“

„Nein, Papa. Noch nicht.“

Red Senior schaute die beiden Jugendlichen streng an und meinte: „Nun, hier unten könnt ihr euch nicht nützlich machen!“

Dann wartete er, bis Red und Mouth sich vom Acker machten, fuhr auf den Werkhof und brüllte durch sein Autofenster Anweisungen hinaus. Ein paar Minuten lang gaben sich die Männer auf dem Hof Mühe, schneller zu arbeiten.

Red saß auf der Mauer des Kirchplatzes, die Beine übereinander geschlagen. Mouth urinierte an einen Grabstein, dann hüpfte er neben ihn. Sie schauten die überschwemmten Felder im Osten der Stadt hinunter. Verwundert riss Mouth die Augen weit auf.

„Scheiße...die ist echt riesig! Eine solch große Überschwemmung habe ich noch nie gesehen! Das Wasser ist direkt zum Wald des Wilden Mannes hinunter geflossen! Warum zum Teufel hast du mir nichts davon gesagt, Red?“

„Habe ich doch.“

„Ich wette, bis morgen ist das meiste davon wieder weg. So schnell wie der Wasserspiegel gestiegen ist, wird er auch wieder sinken. Wenn wir ihn auf dem Höhepunkt sehen wollen, sollten wir heute gehen. Am besten holst du Brock und Raggy.“

Red sah mitgenommen aus. „Raggy ist eine Nervensäge. Wenn wir ihn mitnehmen, müssen wir auf ihn aufpassen.“

Für einen Moment machte Mouth ein seltsam berechnendes Gesicht, das Red nicht deuten konnte. „Raggy ist nützlich“, sagte er, ohne nähere Angaben.

„Aber der Hellste ist er nicht“, widersprach Red. „Man kann nie wissen, ob er nicht etwas Bescheuertes tut.“

Mouth zeigte ungeduldig auf die Grabsteine. „Du kannst nach ihm sehen, Red, wenn es dich stört. Sag ihnen, dass wir unterwegs zum Wald des Wilden Mannes sind. Sei um halb zehn beim Römerlager.“

„Ach was! Was ist mit dir los? Warum kannst du Raggy nicht holen?“

„Mein Gewehr ist in Reparatur. Ich musst hinunter zum Battersby-Hof und es holen. Sag Brock, dass er sein Gewehr und seine Gummistiefel braucht. Und hol uns auch noch ein Sandwich für später, in Ordnung?“

„Herrische Sau!“

Mouth grinste ihn spöttisch an, sprang von der Mauer und schnappte sich sein Fahrrad. Red sah ihm hinterher, als er ging. Er nahm Mouths Launen hin, denn die Tage, in denen er mit ihm auf Abenteuerreise war, waren gute Tage. Mit Mouth betrat er eine wilde Welt, zu der alle anderen scheinbar den Bezug verloren hatten.

Mouth war der gefährlichste Mensch, den Red kannte.

Nach einem Frühstück aus Eiern, Speck und geröstetem Brot, gefolgt von mehreren Scheiben Toast mit Marmelade und einer Tasse Tee, fiel Red Mouths Aufforderung wieder ein.

„Könntest du mir heute ein paar Sandwiches machen, Mama? Ich hätte Lust auf eine Fahrradtour.“

Nancy drehte sich vom großen Gasherd mit sechs Kochfeldern, der zu ihrer neuen Küchenerweiterung gehörte, zu ihm um und fragte: „Du bist nicht rechtzeitig zum Abendessen zurück?“

„Ich fahre vielleicht hinaus zum Schloss. Ich habe keine Zeit, zurückzukommen.“ Er erwähnte weder Mouth noch den gestiegenen Fluss, denn beides hätte mit Sicherheit zu heftigen Meinungsverschiedenheiten geführt.

„Käse und Essiggurke?“

„Toll.“

„Tee um Sechs. Nicht vergessen.“

Während Nancy das Essen zubereitete, radelte er zum Haus der Familie Brockless. Frank Brockless war Baudirektor im Gemeinderat und lebte mit seiner Familie in einem abgelegenen Steinhaus, das sich auf einem neu angelegten Grundstück am Westrand der Stadt befand. Edna Brockless war Anwaltssekretärin in einer Anwaltskanzlei im Ort. Sie hatten zwei Söhne, den 15-jährigen George, Spitzname Brock, und seinen 10-jährigen Bruder Simon, der für jeden ein frühreifer, kleiner Quälgeist war, besonders wenn man 15 war.

Red fühlte sich von der Familie Brockless etwas eingeschüchtert. Sie waren besser gestellt als seine Eltern und Frank glaubte an den Besitz von Eigentum. Diese kapitalistische Einstellung verurteilte Red Senior, wann immer ihn die Geschäftsleitung bei Wade‘s unter Druck setzte.

Die Tatsache, dass er ihr Haus in der Victoria Road gekauft hatte, wurde mit der Begründung gerechtfertigt, dass der Mietwohnraum in der Stadt vom Fluss und den Kakerlaken eingenommen war.

Red, der am Vordertor der Familie Brockless angehalten hatte, wollte gerade von seinem Fahrrad steigen, als ein Rover P4 aus der Ausfahrt auf die Straße fuhr. An dessen Steuer saß Frank im Geschäftsanzug. Red radelte an ihm vorbei, dann drehte er um und fuhr zurück, kaum dass Frank außer Sichtweite war.

Als er zur Vordertür ging, kam kurz etwas Sonnenlicht durch die Wolken und schien grell, fast bedrohlich im Glas der modernen Erkerfenster. Noch ehe er an die Tür klopfen konnte, kam die kleine, mollige, blonde Edna vom Garten aus auf ihn zu. Sie trug Gartenhandschuhe und hielt eine Gartenschere in der Hand.

Sie schaute Red misstrauisch an und kam seiner Frage zuvor. „George lernt gerade. Er muss an seine Zukunft denken. Wie soll er vorwärts kommen, wenn du ihn dauernd störst? Nächste Woche seht ihr euch in der Schule. Tschüss!“

Red lag eine Antwort auf der Zunge, die er aber für sich behielt. Mouth hätte ihr vielleicht gesagt, was sie mit ihrer Gartenschere tun konnte, wegen des Spitznamens seines Freundes, aber Red wollte keinen Streit. Heute, so hatte er entschieden, würden sie einfach Spaß haben.

Kaum war Edna wieder im Garten, öffnete Brock die Vordertür. Er war blond und stämmig, wie seine Mutter, hatte eine elegante, gut genährte Erscheinung und war hübsch anzusehen, in seiner Strickjacke und der grauen Flanellhose. Red fühlte sich schmuddelig in seiner alten Donkey Jacke und den Jeans.

„Was ist los, Red?“, flüsterte Brock.

„Hast du den Fluss gesehen?“

„Nein.“

„Der ist gewaltig.“

„Gehen wir auf die Jagd?“

„Natürlich.“

Sie grinsten verschwörerisch.

Red radelte durch die hinteren Gassen, in die ärmeren Straßen, zur südlichen Innenstadt. Er hielt neben einem schäbigen Gartentor an und stieg ab. Gerade wollte er sein Fahrradschloss abschließen, überlegte es sich dann aber anders, denn er merkte, dass das nicht viel Sinn machte. Jeder, der vorbei kam, konnte einfach das Fahrrad hochheben und damit abhauen. Das war in diesem Stadtteil nicht unüblich. Er entschloss sich, das Fahrrad mit in den Hof zu nehmen.

Er tat sich schwer, in den Hof zu kommen. Dann merkte er, dort stand eine alte Wäschemangel mit festgelaufenen Walzen hinter dem Tor, die verhinderte, dass es sich ganz öffnete. Rostige Fahrradrahmen, kaputte Möbel und Unrat säumten den Hof. Kinder jeden Alters, die jüngsten halbnackt, gingen in dem heruntergekommenen Haus ein und aus.

Er lehnte sein Fahrrad gegen die Mangel und fragte sich, ob er das Richtige tat. Ohne Raggy wäre ihr Tag wesentlich entspannter, denn ihn würden sie dauernd im Auge behalten müssen, falls er etwas Dummes tat. Aber Mouth wollte ihn, weil er ihn herumkommandieren konnte. Und er wollte auch Brock, das wusste Red, weil er ihn aufziehen konnte. Mouth brauchte Leute um sich, die er dominieren und nerven konnte.

Noch ehe er die Hintertür erreichen konnte, drückte sich der 9-jährige Billy in einem zerrissenen, schmutzigen Hemd vorbei und versuchte unbeholfen die Lampe vom Fahrrad zu ziehen.

Red explodierte verbittert. „Weg da, Billy! Stehle die von jemand anders!“

Billy bedachte Red mit einem breiten, comic-stripartigem Grinsen. Aber er hörte auf, an der Lampe zu zerren.

Ricky Bottomley war 14 Jahre alt und bei allen unter dem Namen Raggy bekannt. Er tauchte im Gang auf. Er war mit einem dreckigen Pullover bekleidet, der an den Ellbogen Löcher hatte. Raggy war kümmerlich, hatte Pusteln und blasse Haut. Er grinste und entblößte blutendes Zahnfleisch.

„Wo gehen wir hin, Red?“, fragte Raggie mit ausgebrannter, krächzender Stimme.

„Wilder Mann“, formte Red langsam mit dem Mund, denn Raggy war taub und musste von den Lippen lesen. „Der Fluss ist angestiegen.“

Raggy grinste breiter.

„Du brauchst Gummistiefel und einen Regenmantel.“

Raggy nickte und kicherte aufgeregt. „In Ordnung.“

Red starrte ihn mitleidig und mit Ekel an.

Ein Lastwagen, beladen mit Männern und Sandsäcken, fuhr dröhnend durch die Innenstadt. Die Männer, die hinten im Lastwagen saßen, grölten und pfiffen einem jugendlichen Mädchen hinterher, das mit einer älteren Frau die Straße entlang ging.

„Jo, Sally...zeig uns deine Titten!“

„Hol sie raus, Mädel und lass mal sehen!“

Sally Bell, eine hübsche, 15-jährige Blondine, gab sich die größte Mühe, das zu überhören. Ihre Tante Josie, schlicht und dürr, hob drohend den Finger und schrie zurück:

„Ihr solltet euch schämen!“

Die Männer auf dem Lastwagen verfielen in einen heulenden Chor, wie läufige Hunde.

Josie nahm schützend Sallys Arm und führte sie zum Schaufenster einer Metzgerei. Auf einem Schild, das über der Tür hing, stand: DAVID BLADES FRISCHFLEISCH UND WILD. Kurzsichtig schaute Sally durchs Fenster und legte ihre Hände auf das beschlagene Glas.

Sally fuhr mit dem Fuß ungeduldig über den Asphalt. Sie trug einen billigen Rock und ein Top, das zwei Nummern zu klein für sie war. In den letzten sechs Monaten war sie aufgeblüht, zum schönsten Mädchen der Stadt, und Josie konnte mit ihrem Bedürfnis nach neuer Kleidung nicht Schritt halten.

Während Josie in ihrem Geldbeutel wühlte, hielt sich Sally ein Transistorradio ans Ohr, aus dem leise das Lied Nut Rocker von B. Bumble & The Stingers drang.

„Ich geh nur mal schnell zu Blades‘s und hole uns etwas Blutpudding zum Tee. Sally...hörst du mich?“

Sally nahm das Transistorradio vom Ohr. „Gib mir etwas Kleingeld, Tante Josie.“

„Was...für Zigaretten? Zigaretten und Popmusik...das ist alles, was du im Kopf hast!“

„Es ist Rock‘n Roll“, berichtigte Sally und runzelte die Stirn.

„Aber wie weit kommst du damit?“, fragte Josie unruhig und frustriert. „Was wirst du mit deinem Leben anfangen?“

„Ich wollte nur eine Kippe“, schmollte Sally.

„Wäre es nicht besser wir essen?“,

fragte Josie und drehte sich zum Gang der Metzgerei. Sally trat einen Schritt zurück.

„Ich gehe dort nicht rein. Dieser David Blades hat scharfe Augen. Sein Blick wandert über deinen ganzen Körper.“

„Dann bleib schön hier. Wir müssen früh beim Flohmarkt sein. Wie willst du eine Arbeit bekommen, wenn du nichts Anständiges anzuziehen hast?“

Als Josie sich in die Schlange vor der Metzgerei einreihte, tauchte Red auf und fuhr schnell mit dem Fahrrad vorbei. Sally rief ihm nach. Er hielt an und lächelte ihr freundlich zu.

„Schnell, Red, gib uns eine Kippe, bevor Josie zurückkommt.“

„Ich habe dir in der Schule welche gegeben.“

„Das war gestern. Ich habe keine mehr.“

„Was bekomme ich dafür?“

„Einen Kuss, wenn du willst.“

Sie gingen in eine nahe gelegene Gasse und küssten sich heftig und schlunzig. Red versuchte, sich zurückzuziehen, aber Sally klammerte sich eng an ihn.

„Bleib noch etwas, Red. Kuschle noch eine Minute mit mir. Die Macker von Kollegen kotzen mich an.“

Das war ihm unangenehm. Sally war herzlich und liebreizend und sie machte ihn verrückt, wie auch die Hälfte der Männer in der Stadt. Er aber hatte einen Termin, der Vorrang hatte.

„Ich kann nicht, Sal. Ich treffe mich mit Mouth.“

Sie schaute verletzt drein. Mehr als alles andere wollte sie mit Red zusammen sein. Er war so nachdenklich und liebevoll...sie war sich nicht sicher...sie dachte, sie sei vielleicht in ihn verliebt.

„Was hat Len Dykes, das ich nicht habe?“

„Er ist ein Kumpel“, sagte er etwas dämlich. „Wir haben Spaß.“

Sie drückte sich eng an ihn und fuhr ihm mit den Fingern über die Brust.

„Auch wir könnten Spaß haben, Red.“

Das zerriss ihn förmlich. Noch ein paar Sekunden und er wusste, er würde nachgeben. Er warf mit einer Schachtel Players nach ihr.

„Du bist mir was schuldig, Sal.“

Er gab sich Mühe und entschied sich. Er küsste sie auf die Wange und schob sie weg. Als er die Gasse verließ, schrie sie ihm nach:

„Wann immer du willst, Red!“

Sie zündete sich eine Zigarette an und schaute ihm traurig nach, als er wegfuhr.

Am Ende der Straße hielt Red an und schaute zurück, sein Gesicht voller widersprüchlicher Gefühle. Er wusste, er sollte echt zurück zu Sally, bevor ein schmieriger Junge versuchte, sie ihm auszuspannen. Seit zwei Monaten ging er mit ihr und dennoch war er sich immer noch nicht sicher, was sie für ihn empfand. Plötzlich versperrte ihm ein Kastenwagen von Wade‘s seine Sicht auf sie. Er unterdrückte seine Bedenken und radelte davon.

Als er um die Ecke bog grüßte ihn Cathy Raines, die wie Sally zur Oberschule. Cathy war groß, hatte schwarzes Haar und Sex drang ihr aus sämtlichen Poren. Sie winkte ihm heftig zu.

„Hey, Red, gehen wir anschließend schnell wohin?“

Red ignorierte sie und radelte weiter. Einst war er mit Cathy gegangen, aber sie ging mit jedem. Sie ging sogar mit den rauen Kerlen aus der Knochenmühle. Verglichen mit Sally war sie niemand.

Cathy schaute Red finster hinterher. Diese Sally Bell hatte es ihm angetan. Das kleine Fräulein Titte. Red sollte ihr Freund sein, nicht Sallys: Ein gut aussehender toller Mann mit einer sicheren Zukunft bei Wade‘s. Sie schwor sich, eines Tages würde sie es ihm heimzahlen.

2

Das Römerlager war ein großes, holpriges Feld, welches die restliche Anhöhe jenseits der Kirche St. Margaret an der Ostgrenze der Stadt einnahm. Es war eine bekannte, archäologische Stätte, manche Forscher bezeichneten sie sogar als berühmt, und im Stadtmuseum befanden sich hunderte Artefakte von diesem Ort.

Jenseits des eingezäunten Bereichs des Lagers fiel das Land leicht ins Tal ab, von wo sich die überschwemmten Weiden stromaufwärts ausbreiteten, in abgelegene Wälder und auf den düsteren Horizont der Moore zu, die jenseits davon lagen.

Um 21:30Uhr, nach der Uhr der Kirche St Margaret‘s, hatte eine Gruppe von vier Jugendlichen das Lager erreicht und sie schauten über die Wildnis aus Bäumen und Wasser. Mouth und Brock lehnten sich an den Zaun, der die altertümliche Stätte umgab und schauten auf die überschwemmten Felder. Red kletterte über den Zaun in das nächste Feld und schnitt mit seinem Taschenmesser einen Ast von einem Schwarzdornbusch ab.

Auch Raggy kletterte darüber und stand in der ersten Grube voller Wasser. Er wirkte in seinem zerlumpten, beigefarbenen Dufflecoat und der geflickten Cargo Hose wie eine verwitterte Vogelscheuche, als er da so fasziniert in die glänzende Flut schaute.

Alle bis auf Raggy trugen Luftgewehre offen herum. Red hatte seine Airsporter mit neuer Feder, Mouth sein Vorkriegsmodell Webley Mark Two, mit abnehmbarem Lauf und Brock hatte das alte deutsche Original, das er von Red abgekauft hatte, eine Woche, nachdem dieser seine Airsporter gekauft hatte. Reds Gewehr war das neueste und hatte den höchsten Druck, kurz danach kam das von Mouth.

Sie alle trugen schwarze Gummistiefel mit schweren Gummisohlen. Die von Raggy waren halblange Damenstiefel. Red tippte mit dem Schwarzdornast auf einen und sagte:

„Hast du die Gummistiefel von deiner Mama gemopst, Raggy?“

Raggy, der das von seinen Lippen gelesen hatte, grinste.

Mouth und Brock stießen hinzu. Brock wanderte mit dem Arm über das unebene Feld.

„Die Römer haben dieses Feld nach dem Fluss, der einen alten keltischen Namen hat, benannt.“

Er nickte altklug, als spräche er mit einem Geschichtskurs. Mouth und Red schauten gelangweilt drein.

„Die Römer waren 350 Jahre hier. Schon beeindruckend, bedenkt man, dass man nach so langer Zeit noch immer den Grundriss dieser Festung sehen kann.“

Mouth schaute finster. „Von dir wird gleich kein Grundriss mehr übrig sein, du Brockle-Arsch, wenn du nicht aufhörst, so anzugeben.“

Brock erwiderte mit einem unantastbar überlegenen Gesichtsausdruck: „Ich meine nur, es ist wichtig, dass ihr die örtliche Geschichte kennt.“

Niemand hörte ihm zu. Mouth schaute Raggy mit einem abgeneigten Gesichtsausdruck an.

„Hey, Raggy, du hässliches Balg, du hast kein Gewehr, also musst du den beschissenen Teil erledigen.“

Raggy schaute verwirrt drein, denn er konnte Mouths Worten nicht folgen. Red stieß ihn mit dem Ast, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Langsam bewegte er die Lippen.

„Raggy, du bist der Späher. Du sagst uns, wenn es gefährlich wird. Tiefes Wasser und Löcher und so etwas.“

Damit reichte er Raggy den Ast.

„In Ordnung, ich bin der Späher“, bestätigte Raggy und zeigte sein blutendes Zahnfleisch.

Mouth spuckte an den Zaunpfahl.

„Auf zum Wald des Wilden Mannes, Raggy. Erlege für uns ein zwei Tonnen schweres Kaninchen!“

Raggy grinste und lachte dreckig, denn er hatte kein Wort verstanden. Er fuhr mit dem Ast durch das Weidegras.

Er war Ede. Er war wichtig. Er schaute stolz.