Die Schwingen des Lichtes - Franky Körber - E-Book

Die Schwingen des Lichtes E-Book

Franky Körber

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Beschreibung

Wir sind verstrickt in die Mythologie, mehr als uns lieb ist. Die Erde im Planetensystem, Mittenerde (genannt Midgard) im Reich des Yggdrasil und Gaia, die feinstoffliche Erde, sind tief ineinander verwoben. Das All-Eine, das Sein, es ist in Aufruhr geraten. Die Farben der Welten beginnen zu schwinden. Der "Kalte Tod" nagt am Volke der Elben. Das Feenland verdorrt. Die Zauberer streiten. Die Nornen haben es vorausgesagt: eine Wikka aus der Welt der Gaia kann die Farben zurückbringen, die Völker vereinen, die Schwinungen der Farben in das neue Zeitalter führen. Doch dazu müssen die dunklen Kräfte gebannt werden, muss BiFröst, die Regenbogenbrücke im Ragnarök zerstört, neu entstehen. ... nur ein Adventure Game?

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2025

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der Spiegel noch blass

erscheint eine Welt

nur Ahnung

noch Planung

ein Hauch

aus Seele

Verlangen

aus Sehnen

und Drängen

nur Trug?

noch Rauch

schaut tiefer Dir

in den Ätherleib

bist dorthin verrückt

wirr die Gedanken

geschundene Segel

zerschmetterte Planken

Du weißt

denn Du wusstest

nicht nur ein Gespür

nun blick in den Spiegel

er öffnet die Tür

*

Prolog

uralt weises Wissen schwebt im Raum

„Wie oben so unten“

so einfach, ich glaubte es kaum

sie suchten zu leugnen, zu löschen

das ewige Wissen zu zerstören

doch das Wissen wächst täglich neu

soll jedem gehören

Welten werden vergehen

doch der Himmel bleibt immer bestehen

denn niemand, ja niemand

beendet das Sein

Dinge können vergehen,

doch das Eine wird ewig bestehen

die Seele aus Liebe und Angst

bleibt ewig vereint

uralt weises Wissen belebt jeden Sinn

jenseits der Spiegel des Geistes

treibt es Dich hin

töricht der Zorn

die Sucht, der Gedanke an Macht

der Tag kehrt den Sinn,

kehrt die Furcht, kehrt die Nacht

Wärme erfüllte dort das Sein

als des Zauberers Reise begann

Zeitalter glitten dahin

von je her das Wissen verrann

Im Anfang der Zeit

waren Sonne, Mond

und alle Wesen vereint

Wir erhielten den Ruf

vom König der Wälder

Er lehrte uns ahnen

die Wunder der Elder

Am Ende der Zeit

werden Sonne und Mond

und alle Wesen vereint

in dem Zeitalter der Zauberer

unter der Sonne

in dem das Wissen vor dem Leben begann

war das Licht erfüllt von Farben

war die Finsternis eine Fremde

war der Tag froh der Nacht

Die Planeten des Universums lachten laut

und alle Orte waren erfüllt

von glücklichen, liebenden Wesen

*

Die Legenden berichten von der Welt Thýria, die der unseren sehr ähnlich, vor allem aber sehr nahe ist. In früheren Zeitaltern, so sagt man, habe es Tore gegeben, die Gaia und Mittenerde mit Thýria und auch einigen weiteren Welten verbanden. Gaia war noch eine sehr junge Welt, mit neugierigen Bewohnern, die es bald verstanden einen blühenden Handel mit den Wesen Wälderlands zu treiben, die einst aus Thýria gekommen waren. Allerdings trug der Begriff Handel damals eine etwas andere Bedeutung als heute. Es wurden nicht Waren oder Rohstoffe getauscht, nicht Lizenzen oder Soldaten, sondern Geschichten, Märchen, Legenden, Erfahrungen und Wünsche. Ja, am liebsten tauschten die jungen Gaianer Wünsche; denn die Wunscharchive der Waldelben aus dem Wälderland waren reich an einer unvorstellbaren Vielfalt. Da gab es beispielsweise Wünsche der Genesung. Kaum denkbar wäre die Heilung eines lieben Angehörigen ohne einen solchen Wunsch gewesen. Auch der Wunsch nach einer fruchtbaren Nachkommenschaft stand hoch im Kurs; denn schließlich hofften die Menschen im Alter von ihren Enkeln und Urenkeln versorgt zu werden.

Die Waldelben hingegen sammelten Legenden, vor allem eben jene aus Thýria. So sehr sehnten sie sich nach ihrer Heimat. Äonen vor der Zeit hatten die Fehden zwischen Elben und Feen in jener großen unbegriffenen Schlacht geendet, die sie Dannbarar nannten, die beiden Völkern unüberwindbaren Schaden zugefügt hatte. Ihre Macht und ihr Wissen waren zu groß, als dass sie einen Kampf überhaupt in Betracht hätten ziehen dürfen. Aber Unvernunft ist leider kein Vorrecht der Menschheit.

Kaum jemand konnte mehr einen echten Grund für die Auseinandersetzung nennen oder einen Sinn darin erkennen. Wer das Feenreich einmal besucht hat, weiß wie unnahbar diese Wesen werden, wenn sie auch nur die Idee eines bösen Gedankens in ihrer Umgebung spüren. Seit diesem furchtbaren Streit suchen sie verzweifelt nach einem Wesen, dem sie wieder ihr vollstes Vertrauen entgegenbringen können. Bislang vergeblich. Niemand außer dem Regenbogen, den sie BiFröst nennen, ist rein. Und dieser Regenbogen wurde zerstört. Die gesamte Existenz des Feenvolkes fußte in dieser einen Gabe, der Schwingung des Vertrauens, die seither in jenem Universum fehlt. Dabei waren die Feen doch von ihrem Ursprung ein ebenso lebenslustiges wie feinfühliges Volk gewesen. Der Verlust des Vertrauens fraß sie regelrecht auf. Unzählige Feen, selbst die Herrscherin Mirhanëa, waren in tiefer Traurigkeit verdorrt.

Für diejenigen unter Euch, die bereits bei der Betrachtung der Aura farbliche Unterschiede erkennen können, mag es von Nutzen sein zu wissen, dass die Farbe Orange in ihrer prächtigsten Schwingung ursprünglich dem Feenreich entsprang. Ihre üppige Fülle im Universum versorgte die Völker mit den Gefühlen besten Vertrauens. Und wer anderen vertraut, bildet eine gesunde, kräftige Gesellschaft mit vielen Nachkommen und einer kreativen Entwicklung. So traf vor allem der Verlust des Orange in der Skala der Farben des Kosmos die Welten schwer. Die Legendenforscher Mittenerdes vertreten bis heute die Ansicht, der Mangel habe zum völligen Verlust der Kreativität im Reiche Asengard geführt, und damit die Ragnarök geradezu heraufbeschworen. Wenn dem so wäre, dann war Dannbarar eine Fügung des Schicksals, von den Nornen geknüpft. Dann war dieser Kampf seit Anbeginn den Augen der Netzweberinnen nicht verborgen gewesen und musste geschehen. Ein erster, vielleicht der erste Schritt in das dunkle Zeitalter.

Seit Dannbarar waren die Tore nach Thýria für die Waldelben verschlossen. Selbst die Erinnerungen verblassten bereits. So sammelten sie jede erdenkliche Geschichte über ihre ursprüngliche Heimat, waren über die Maße froh über den florierenden Legenden-Handel, vor allem mit den jungen Menschheiten aus Gaia und Mittenerde.

Eines Tages geschah es, dass sich eine Reisende Namens Aljana nach Wälderland aufmachte, den Elben von ihrer Heimat zu berichten. Sie war eine hoch gewachsene Menschenfrau von Gaia mittleren Alters, mit rötlich schimmerndem Haar. Wie viele der Menschen trug auch sie feste lederne Kleidung. Für einen Elben unverständlich. Es nimmt der elbischen Seele die Luft. Nichtsdestoweniger war man sehr neugierig auf Aljanas Geschichten.

Tief im Wald existierte ein Felsplateau, das sie den Mären-Fels nannten. Es war ein verwunschener Ort, umwachsen von großen, knorrigen Eichen. Auf einer Lichtung etwa in der Mitte des Platzes wurde ein Feuer entzündet. Im Osten stand ein herrschaftlicher natürlicher Blumenthron. Man muss wissen, dass die Elben eines der wenigen Völker sind, die beinahe ihre gesamte Heimstatt aus wachsenden Büschen und Bäumen flechten. Monate, manchmal Jahre verbringen sie mit der Gestaltung, in dem sie den Pflanzen ihre Wünsche darlegen und sie um Hilfe, Frieden und Freundschaft bitten. So wuchs auch dieser Thron aus einem immer blühenden Busch heraus, dessen bunte in rot, gelb und weiß schimmernde Blüten ihm seinen Namen gaben. Im Grunde kann man sagen, war der Busch selbst der Thron.

Dieser Ehrenstuhl galt dem hohen Besuch. Meridor, der Elbenfürst höchst selbst, geleitete Aljana zum Blumenthron und bedeutete ihr freundlich dort Platz zu nehmen. Die Frau zögerte. Als Kräuterfrau lebte sie selbst mitten im Wald unter Pflanzen. Ihre Ehrfurcht vor den Geschöpfen der Ceridwen, die in anderen Welten auch als Mutter Erde bekannt war, war sehr groß, so dass sie es nur ungern oder aber mit gebührendem Respekt wagte, sie zu nutzen. Viele Pflanzen gaben gerne ihr Aroma, ihre Blüten oder Wurzeln für die Heilung von Krankheiten, das sehende Feuer oder die Ermunterung der Seele. Doch es kam auf den Zeitpunkt und vor allem die Art des Pflückens an. Nicht auszudenken was geschah, wenn man eine Mistel am Tage pflückte, ein Nieswurz am Abend ausgrub oder Lavendel bei Neumond schnitt.

»Darf ich Dich zu unserem Fest einladen? «, strahlte der Elb, nachdem sich Aljana vorsichtig hingesetzt hatte. Er reichte ihr ein Trinkhorn mit jenem leicht vergorenen Saft, den sie Wehl nannten. Er selbst nahm ein zweites Horn, hielt es kurz gen Himmel, um dann in sich versunken davon zu nippen.

Aljana zog den herrlichen Duft tief ein. Etwas Vergleichbares fand sich auf keiner der von ihr je besuchten Welten – und sie kam wirklich viel herum. Nun nippte auch sie nach einer ehrfürchtigen Verbeugung erst vor Meridor, dann vor dem Himmel und schließlich vor Ceridwen, von dem köstlichen Getränk. Sogleich machte ihr Bewusstsein einen Freudensprung. Dieses Gebräu war unglaublich.

»Bist Du bereit? «, flüsterte Meridor nach einer Weile.

»Bereit zu erzählen? «

»Nein! «, sinnierte er lächelnd, »bereit für eine kleine Reise?

Wenn Du erlaubst, würden wir Deine Geschichte auf das Morgengrauen verschieben, während wir gemeinsam auf Dich und den Sonnenaufgang schauen. Ich lade Dich ein mit mir eine kleine Reise unternehmen. «

»Wohin reisen wir? «

Nicht, dass Aljana einer von diesen immer neugierigen Menschen gewesen wäre. Aber sie hatte von seltsamen Ritualen der Elben gehört, die nicht jeder Mensch ohne Schaden überstand.

»Wohin wird uns Deine Seele führen? «, grinste Meridor vielsagend, »oder möchtest Du Dich lieber in die Tiefen eines Elbengeistes stürzen? Hast Du Dir eigentlich schon überlegt, was Du für Deine Geschichte von uns erhalten möchtest? «

Zwei Fragen zu viel. Aljana war ein wenig verunsichert.

»Ein Wunsch? Eine Geschichte für einen Wunsch, ach ja also um ehrlich zu sein, habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Es geht nicht um mich, es geht um Dein Volk. Ich sehe das Unglück des Feenvolkes ebenso wie das Deines eigenen. Es erfüllt mich mit tiefer Trauer. Auch steht ein Feind vor den Toren einer Welt, deren Fall für unser aller Nationen von großer Tragweite wäre. Eine schlimme Tragödie. Es gibt Geschichten über Dein Land, die Du kennen solltest. Und es gibt Geschichten über das Leid der Feenvölker, die bei Euch sicher nur wenig Gehör finden. «

»Aljana, was bist Du – eine Zauberin? Woher weißt Du von all diesen Dingen, die zwischen den Welten geschehen? «

Die Kräuterfrau lachte: »Eine Zauberin, ja tatsächlich, das bin ich wohl. In meiner Welt nennen mich manche eine Hexe. Die Mutter nennt mich Wikka. Und das ist wohl, was ich bin. Aber was immer Du in mir sehen möchtest, mir scheint das trifft es. Ja, ich habe mehr erfahren, als ich in einem Leben ertragen könnte. Aber es hat mich niemand gefragt, ob ich das alles wissen möchte. «

Ein schwerer Seufzer entrann ihrer Kehle. Wenn all das geschehen würde, was ihre Ahnungen voraussagten, dann würde ihre Welt eine Menge guter Wünsche brauchen. Aber auch Elben-, Feen- und Zwergenreich wären froh über jede Hilfe und Heilung. Es stand wahrhaftig eine Zeit bevor, deren Dunkelheit alles Vorstellbare weit übertraf. Sie hatte Mühe diese Bilder für den Augenblick zu verdrängen. Schließlich fasste sie sich wieder und willigte ein, eine kleine Reise in die Tiefen der Elbenseele Meridors anzutreten.

»Du möchtest verhindern, dass ich in Deine Seele blicke «, sinnierte der Elbenfürst.

Sie sahen sich tief in die Augen. Erst jetzt erkannte Aljana die Vollkommenheit seines Antlitzes. Für einen Moment gaukelte ihr Herz ihrem Verstand etwas von Sehnsucht nach Liebe vor und löste einen ungekannten inneren Zwist aus.

‚Was bildest Du Dir ein, Deine Gedanken in diesen Zeiten an einen Elbenfürsten zu binden. Du bist eine Träumerin. ’, grübelte sie.

‚Dann lass mich doch einfach nur diesen Moment genießen. Lass mir den Traum. Mehr verlange ich nicht! ’

‚Du bist eine Wikka und Du hast eine Aufgabe – schon vergessen? ’

Aljanas Zwiegedanken-Gespräch riss nicht ab.

‚Wieso bist Du immer so unnachgiebig? ’

‚Auch ich habe Träume. Auch ich spüre eine Sehnsucht nach Wärme und Liebe. Denkst Du ich lebte nur für den Kampf? ’

‚Im Moment wird Dir wohl nicht viel Anderes übrigbleiben. Ja! – Du lebst für den Kampf. Es ist Dein Kampf. Du bist über die Maße darin verwickelt. Das weißt Du. ’

»Ist alles in Ordnung? «, mischte sich Meridor ein.

Die Wikka nickte. Doch sie mied den Blickkontakt. Das Gefühl, er könnte ihren inneren Kampf miterlebt haben, trieb ihr Farbe ins Gesicht.

»Nein wirklich. Es ist alles wie es ist, wie es sein sollte. Ich weiß nicht. Es ist in Ordnung. Wollen wir zusammen reisen? «

»Nichts lieber als das! «, erwiderte Meridor, »darf ich? «

Mit einer Handbewegung bat er sie, neben ihr auf dem Blumenthron Platz nehmen zu dürfen. Aljana nickte. Der Fürst setzte sich behutsam neben sie. Seine Bewegungen waren leicht und geschmeidig. Dann legte er den linken Arm um ihre Schulter und legte die Finger sanft an ihren Kopf, den Daumen an den Hals direkt hinter dem Ohr. Eine Welle unglaublicher Wärme erfasste Aljana. Ausgehend von den Fingerspitzen des Elben strahlte es weit in ihren Körper hinein. Äußerlich ließ sie eine Gänsehaut erschauern. Sie atmete intensiv und langsam, schloss die Augen, schmiegte sich an ihn und wünschte sich den Rest ihrer Tage in dieser Haltung zu verbringen. Sie konnte all die groben Probleme der Welten zwar nicht vergessen, doch die Dinge wichen zurück.

Meridor ließ sie eine Weile, die er für einen Menschen als angebracht empfand, ihren sanften, liebevollen Gedanken an ihn nachhängen, bis er zögernd ihren rechten Arm anhob, ihn sich über die Schulter legte und ihre Finger ebenso an seinen Kopf anlegte wie er es bei ihr getan hatte. Aljana zuckte zurück. Sie fühlte die Verbindung. Sie spürte, wie seine Ströme in ihr zu fließen begannen und wie ihre kleine Seele sich im Labyrinth elbischen Empfindens verfing.

»Bist Du bereit? «, flüsterte er mit weit entrückter Stimme.

Die Wikka war nicht mehr im Stande zu antworten. Sie war natürlich bereit. Sie war zu allem bereit, genau genommen zu mehr als ihr lieb war. Die Sinne verschwammen. Sie fühlte sich eins mit ihm und mehr noch mit allem, was sein Dasein repräsentierte. In diesem Zustand existierte kein Raum mehr. Alles war eins. Ein Nebel. Eine Wärme. Ein Sein. Nichts war an diesem Ort, nichts als Wärme und Licht. Ist dies Dein wahres zu Hause, überlegte sie, die Gedanken liebevoll auf Meridor gerichtet. Der Elb schwieg. Doch sein Schweigen sprach deutliche Worte. Dies ist unser zu Hause. Dein Heim und mein Heim. Erkennst Du es denn nicht.

‚Aljana! ’, flüsterte eine entfernte Stimme, ‚bist Du bereit für den Sprung? ’

Sprung? Was für ein Sprung? Sie dachte, sie hätten bereits das Ziel ihrer Reise erreicht. War sie bereit diesen Zustand je wieder zu verlassen? Sie zögerte. Getrennt von ihrem Körper fühlte sie gleichermaßen, wie jedes ihrer Glieder in diesem Augenblick Heilung erfuhr. Alte Lasten, alte Traumata lösten sich, entschwanden ihrem Körper; denn die Seele begann loszulassen. Das innere Kind glitt durch ihre Sinne und wischte eine Träne aus ihrem Geist. Was hier gerade geschah war unfassbar. Sie glaubte, sie hätte in all den Jahren, ja in all den Leben gelernt den eigenen Körper, den eigenen Geist zu heilen. Sie dachte sie wüsste über die Dinge Bescheid. Doch dieses Gefühl war ihr vollkommen fremd, neu und gleichsam so vertraut als sei es der Ursprung allen Seins.

‚Es ist der Ursprung’, flüsterte eine Stimme und entfernte sich weiter von ihr. ‚Komm mit, bitte, sie wartet bereits auf uns. Es ist so neugierig Dich wiederzusehen. ’

Sie? Welche Sie sollte das sein. ‚Was meinst Du, wer oder was wartet auf uns! ’

‚Warum stellst Du immer diese Fragen. Komm einfach. Sie möchte Dir begegnen. Vertrau mir! ’

Sie vertraute dem Elbenfürsten. Aber halt! Diese Stimme, das war nicht die seine. Es war eine innere Stimme.

»Meridor «, raunten ihre Sinne, »bist Du noch bei mir? «

Anstelle einer Antwort spürte sie erneut jene Wärme und Verbundenheit. Natürlich war er bei ihr. Doch sie zweifelte, ob sie wirklich seine Reise angetreten hatten und nicht vielmehr ihre eigene. Denn sie hatte bereits eine Ahnung, welche Stimme ihr da zuredete, wenn nicht die des Elbenfürsten.

‚Nun – wollen wir gehen? ’

Sie war bereit. Bereit für das größte Abenteuer ihres kleinen Lebens. Bereit ihre Seele willkommen zu heißen, sich für den Moment des Flügelschlages eines Schmetterlings mit ihrer Seele zu vereinigen und dann gemeinsam das All-Eine zu erleben.

Schon die Erfahrung von ihrer Seele eingeladen zu werden, ihre Seele endlich wieder selbst zu erleben, war unbeschreiblich. Als Wikka wusste sie mehr darüber als viele andere. Sie konnte mentalen Kontakt aufnehmen, der allerdings immer nur der Gestalt verlief, dass der Geist von dem, der sie um Hilfe bat seiner eigenen Seele eine Botschaft zukommen ließ.

Aljana begleitete auch gelegentlich die Seele eines Sterbenden in die Höhle des Lichts, an jenen Ort an dem der Seele die Last des Schweigens endlich abgenommen wurde. Aljanas Seele kannte diesen Ort daher besser als viele andere, und sie sehnte sich danach, endlich – Seele in Geist – der Wikka zu begegnen. Doch die Regel des Schweigens war beinahe unumstößlich. Und so hatte Aljanas Seele selbst in der Höhle des Lichts bedächtig geschwiegen, obwohl sie seit einer Ewigkeit darauf brannte sich ihr zu offenbaren.

Doch jetzt war es etwas Anderes. Das All-Eine selbst war bereit Aljana in den Ursprung zurückzuführen. Hierzu durfte und musste ihre Seele Kontakt mit der Wikka aufnehmen. Und beide waren über und über glücklich über dieses Ereignis und noch viel glücklicher über einander. Doch bevor sie Zeit bekamen diesen Zustand zu verstehen, entschwebten sie bereits gemeinsam in den Ursprung aller Dinge. Es war überwältigend. Keine Gedanken. Keine Gefühle. Keine Sinne. Alles war eins. Alles war pures Glück. Universelle Liebe!

Wie töricht mussten nur die Seelen aller Wesen, ihre eingeschlossen, sein, sich von diesem großartigsten aller Zustände absondern zu wollen, um eigene Erfahrungen zu machen. Oder waren es am Ende die eigenen Erfahrungen, durch die das All-Eine erst an Bedeutung gewann? Aljana nahm wieder die eigenen Gedanken wahr. Sie war in ihre Träume hinabgeglitten, tastete blind in der Dunkelheit nach ihrer Seele. Doch die war längst wieder in die Sphären des Schweigens entschwunden, jederzeit bereit der Wikka die Wünsche und Befürchtungen aus dem Geist zu lesen. Der winzige Moment der Erleuchtung – so schnell wieder erloschen, so schade.

Es war recht kühl geworden. Aljana fühlte den Hauch des nahenden Morgens. Auch fühlte Sie den vertrauten warmen Körper Meridors neben sich und die zarten Lippen, die ihr die Tränen von der Wange küssten.

»Deine Seele ist wieder in ihren Kokon zurückgekehrt? «, flüsterte der Elbenfürst.

Aljana nickte. »Ja, dort wartet sie auf eine weitere Offenbarung. Sie wird mich niemals verlassen. Selbst wenn mein Ich für immer erlischt! «

Meridor nickte. Aljana dankte dem Elbenfürsten für dieses wundervolle Erlebnis.

Mittlerweile dämmerte ein sanfter Morgen über den Horizont.

»Es wird Zeit für Deine Geschichte, Aljana. Die Sonne wird bald am Firmament erscheinen. Zahllose Ohren sind auf Dich gerichtet. Zahllose Herzen warten voller Sehnsucht darauf, etwas Neues über Thýria zu erfahren oder einfach nur eine schöne Geschichte zu hören, die sie zum Träumen verleitet. Magst Du beginnen? «

Die Wikka blinzelte. Während sie noch in den Armen des Elbenfürsten lag, hatte sich das Volk bereits auf dem Mären-Felsen versammelt. Lautlos hatten sie bequeme Plätze eingenommen und warteten artig, aber gespannt auf den Beginn einer Geschichte über ihre Heimat.

‚Zeit zu berichten? ’, grübelte Aljana. Oh je, das hatte sie vollkommen vergessen. Die Wikka blinzelte. Berührt von der Menge, die sich bereits um sie und Meridor versammelt hatte, richtete sie sich auf, zupfte ihre Kleider zurecht und bemühte sich, einen möglichst natürlichen Eindruck zu machen. Bevor sie jedoch mit der Geschichte begann, reichte man ihr und dem Fürsten ein kleines Frühstück, bestehend aus einem silbrig schimmernden belebenden Getränk, das die Elben Salmas nennen, und einigen Brem-Früchten vom Bala-Baum. In kürzester Zeit schoss die Energie in ihren Körper und Aljana war hellwach.

»Thýria «, begann sie bedeutungsvoll. Doch dann schüttelte sie den Kopf.

»Wisst ihr, gerade habe ich dank eures liebevollen Fürsten Meridor eine Reise unternommen, die so unglaublich schön war, dass sie mit Worten niemals zu beschreiben wäre, ja nicht einmal mit Gedanken oder Gefühlen. Mir scheint, es gibt nur zwei Dinge, derer dieses Erlebnis würdig ist: Den Sonnenaufgang und den Klang der Harfe. Der Sonnenaufgang steht bevor ... «

Eliasar, der Harfner, trat Freude strahlend an sie heran: »Wenn Du erlaubst, holde Wikka? Es wäre mir eine große Ehre den Klang eurer Worte mit ein paar süßen Tönen zu umspielen. «

Wie aus dem Nichts zauberte er eine etwa zwanzigsaitige Harfe. Aljana erkannte sie sofort: Mnemandhana, das sagenumwobene Instrument durch dessen Spiel Quellen wieder rein, Sterne wieder hell und die Gemüter der Elben wieder glücklich wurden. Trotz der hohen Fähigkeiten der Elben, die sie seit langem kannte, hatte sie Mnemandhana für eine wunderbare Träumerei, für eine Legende gehalten. Nun erhellte bereits der Anblick dieses wundervollen Instruments Aljanas Gemüt. Sie atmete tief und ihr war, als spüre sie das zarte Schwingen ihrer Seele.

Eliasar breitete eine fein gewebte Decke linkerhand des Blumenthrones aus, setzte sich mit verschränkten Beinen darauf, stellte die Harfe mit einer ehrfürchtigen Bewegung vor sich hin, zog den zart geschnitzten Kopf Mnemandhanas an die Schulter und begann sie durch ein leichtes Streicheln der einen und anderen Saite zu erwecken. Vor den Augen der Zuschauer schien sich die Harfe zu recken und zu strecken, als erwache sie tatsächlich gerade erst aus einem wundervollen Traum. Ein Raunen ging durch die Menge. Und selbst Aljana war nicht minder erstaunt über das, was vor ihren Augen gerade geschah. Es war eine Harfe. Eine ganz besondere zwar. Aber dennoch ein hölzernes Kunstwerk, nicht ein lebendes Wesen. Sie alle mussten einer optischen Täuschung unterlegen sein.

Eliasar schmunzelte. Dann flüsterte er ganz leise Mnemandhana etwas zu, strich über die Zarge und entlockte ihr solch süße sanfte Klänge, dass es die Herzen mit einer Pracht und Liebe erfüllte, die kaum zu ertragen war. Lächelnd nickte er Aljana mit einem Blick zu, der bereits zu verraten schien, welch fantastische Geschichte nun folgen sollte.

Aljana zögerte. Sie hatte von Ereignissen zu berichten, die nicht in das Land der Legenden gehörten. Schließlich war sie eine Kräuterfrau, eine Wikka, die der Ceridwen, der Herrin selbst diente, und keine Geschichtenerzählerin, auch wenn sie die Gilde der Barden über alle Maßen schätzte. Gleichsam hielt sie es durchaus für sinnvoll, den Geschehnissen von denen sie zu berichten hatte, etwas Märchenhaftes zu geben. Es sollte nicht von Schaden sein, wenn der Inhalt ihrer Botschaft sich nur sehr langsam, vielleicht im Laufe von Tagen oder Wochen den Zuhörern erschloss. Doch Aljana bezweifelte dies im Grunde. Und – ehrlich gesagt – hätte sie ohnehin am liebsten nur kurz über die Dinge berichtet, die sich in Thýria und auch im Feenreich Irandhar zugetragen hatten, um sich dann gleich wieder auf den Weg in die anderen Welten zu machen. Es schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit dem Erzählen von Geschichten, mit Seelenreisen und schönen Melodien aufzuhalten. Doch ihr blieb keine Wahl. So begann sie also zum Klang der Harfe, die Ereignisse in eine Legende zu verwandeln.

»Es ist «, fing sie an, »nicht lange her, da begab ich mich auf eine Reise durch die alten Länder. Ich hatte von Dingen gehört, die mich erschreckten. Von dem grausamen Machtstreben einiger, mir fremder Herrscher in den unterschiedlichsten Provinzen verschiedener Welten. Aber auch, und das machte mir weit größere Sorgen, von einer fehlenden Farbe im BiFröst, dem Regenbogen, der Asengard mit den Welten verbindet. Das mag für manch einen nicht beunruhigend, fast wie eine Kindergeschichte klingen, doch es ist bedauerlicher Weise sehr dramatisch. So wie eine Harmonie aus der Gesamtzahl einzelner Töne besteht, kann das Spektrum der Farben das engelhafte Weiß nur in aller Vollständigkeit darstellen. Diese fehlende Farbe zerreißt das Ganze. Dies ist ein erster Schritt zur Verdunkelung der Welten. Wir alle können uns deren Folgen ausmalen. «

Es herrschte betretene Stille. Zu diesem Zeitpunkt durfte Aljana keinesfalls den Ursprung der Ereignisse in der Feenwelt erwähnen. Die Elben, die sich der Bedeutung von Farben, Tönen, ja selbst der Schwingung als Antrieb im Universum, viel bewusster waren, als beispielsweise die Menschen von Gaia oder Mittenerde, hätten nicht nur dem Feenvolk schwerste Vorwürfe gemacht. Sie hätten sich selbst für ihre Taten von Dannbarar verdammt, wären am Ende vielleicht in vollkommene Agonie verfallen, wie bereits andere Licht sensible Völker vor ihnen. Nein, die Wikka musste ihr Wissen äußerst zurückhaltend präsentieren. Aljana biss sich auf die Lippe. Wieso musste sie immer wieder mit der Tür ins Haus fallen? Es war ungeschickt wie nur was, den Bericht mit der fehlenden Farbe im Spektrum zu beginnen. Wie dumm von ihr.

»Während meiner Wanderungen lud mich Heimdallr nach Asengard ein. Die Zeitenwende hat angefangen. Asengard hat begonnen neu entstehen. Die Himinbiörg ist beinahe wieder vollständig aufgebaut. Das Tor BiFröst, die Brücke nach Mittenerde wurde bereits gesehen. Selbst die Menschen beider Welten scheinen ihre eigene Rolle in der Geschichte wieder zu erkennen, in dem sie den Urdbrunnen immerhin wieder für möglich halten und in den Gefilden vermuten, in denen er sich tatsächlich unter ihren Füßen befindet. Auch Irminsûl erfreut sich der Gedanken einiger. Und sie werden es noch in dieser Ära entdecken.

Aber auch Niefelheim und Jötunheim sind erwacht und erwarten Respekt. Wir alle wissen, welche Herausforderung damit auf uns wartet. «

Aljana machte eine bedeutungsvolle Pause, die Eliasar mit einer dramatischen Intonation wohl zu untermalen verstand. Die Wikka warf Meridor einen verstohlenen Blick zu, den er zu deuten wusste. Die Zeit war reif für eine kleine Sensation. Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor und würde seinen Teil beitragen, die Herzen der Elben über die Maße zu öffnen. Die Sonne schlich sich über den Horizont. Das Licht hielt Einzug und prophezeite einen wundervollen Tag.

»Meine Lieben «, fuhr Aljana mit deutlich sanfterer Stimme fort, »wie ich bereits erwähnte, führte mich meine Reise durch viele Länder und Welten. Manches erfuhr ich, das mich zutiefst bedrückt. Einiges aber auch, das mein Herz vor Freude hüpfen lässt. Und so geschah es, dass ich über die Brücke BiFröst nicht nur nach Asengard gelangen konnte, sondern von Heimdallr persönlich an das geheime Tor Dwarl gebracht wurde! «

Ein Raunen ging durch die Menge. Dwarl, die Zauberin hatte das dreizehnte Tor gefunden. Genau in diesem Moment lugten die ersten Sonnenstrahlen über das Firmament. Die Menge war außer sich, tobte. Das Szenario war perfekt.

Aljana blickte den Elbenfürsten an. Der jedoch lächelte nur, als habe er längst davon gewusst. Was hatte sie erwartet?

Eliasar ließ die Harfe klingen. Eines jener vergessen geglaubten Lieder aus einer fernen Zeit tönte in ihren Ohren. Dabei wirkte der Harfner selbst überrascht, als spiele Mnemandhana diese Melodie ohne sein Zutun. Seine Finger flogen über die Saiten, wenngleich er diese Tonfolge noch niemals in seinem Leben gehört, geschweige denn je gespielt hatte. Wirklich erstaunliche Dinge geschahen an diesem Morgen.

Der Horizont färbte sich rot. Die Auren von Aljana, dem Fürsten und dem Harfner erstrahlten farbenfroh in astralem Glanz.

»Bist Du hineingelangt? «, rief jemand aus der Menge.

»Wo steht das Tor? «, fragte eine junge Elbenfrau.

»Welche Worte sind graviert? «, wollte ein anderer wissen.

Das Volk war derart aufgewühlt, dass Aljana vor Rührung gar nicht mehr zu Wort kam. Fassungslos und fasziniert zugleich sah sie auf die neugierigen Gesichter.

»Etwas mehr Gelassenheit könnte uns allen wohl gut anstehen! «, erhob sich Meridor lachend, dem Chaos ein Ende zu bereiten. »Ja, sie ist dort gewesen. Es ist in der Tat eine glückliche Kunde. Aljana, die Wikka, die Kräuterfrau, die Zauberin war in Thýria. Sie hat vieles erlebt, von dem sie uns allen gerne erzählen würde, wenn wir sie nur ließen. Also wie ist es? «

Schlagartig war es Mucksmäuschenstill still. Selbst die Harfe schwieg und erweckte den Anschein, als blicke sie sehnsuchtsvoll zu Aljana hinüber.

»Es ist wahr «, fuhr die Wikka fort, »ich war dort. Ich war im alten Elbenreich. Es ist wirklich wunderschön dort.

Meine Reise begann an jenem Ort, den wir den Brunnen der Nornen oder auch Urdbrunnen nennen. Seit Generationen galt er als verschollen, in den Mythen versunken. In Wahrheit aber hatte man ihn vor den viel zu jungen und törichten Herrschern des Nordens verborgen, deren Hang zur Zerstörung aller Werte der Mutter, – Ja sogar der Mutter selbst! – unaussprechliches Leid über Mittenerde gebracht hatte.

Andererseits entsprach diese Entwicklung dem vorausgesagten Lauf der Dinge. So waren die Fäden nun einmal gesponnen. So sollten es geschehen. Und selbst jener junge Gott der Menschen erwies sich als ein Teil dieser Offenbarung. Aber ich bin nicht hierhergekommen, um Euch mit den Angelegenheiten der Menschen zu langweilen. «

Die Nornen

Gaia hat mir die Gabe des Sehens verliehen,

hat mich Offenbarung gelehrt

ich sah einen Raum

in der flirrenden Luft

ich hatte eine Vision

von Blut und Stahl

der Dämon war dem Zauberer

dicht auf den Fersen

ich legte eine Spur

im Schleier des Nebels

durchschritt ein Tor

mit Zorn erhobenen Fäusten

der Nebel glühte

die See war aufgewühlt

ich vernahm die Stimmen

des Zauberers und eines Mädchens

ich bin die Priesterin

der Insel hinter dem Meer

der Regenbogen steht mir zu Seite

meine Gedanken wurden geschaffen

Gefühle in die Wurzeln der Bäume zu betten

meine Seele wurde wieder geboren

die Macht der Mutter erneut zu gebären

ich bin Werdandi

die Tochter der Göttin

mein Lachen erklingt

im Morgengrauen

ich webe die Netze

ich läute ihre heilige Mette

ich knüpfe die Schreie im Sturm

ich höre ihre Qualen

die Zeit ist reif

zu viel Furcht und Angst

die Visionen

mahnen zu handeln

»Der Brunnen war nach langer Zeit endlich wieder zugänglich. In einer Nacht, deren Bedeutung lange feststand, traf ich mich dort mit einigen Vertretern der Völker. Allesamt freundliche Wesen, deren Sinnen das Ansinnen den All-Einen selbst ist.

Wir lauschten den Worten der Urd, die uns empfing und in ihrer heiligen Halle am großen See tief im Fels willkommen hieß. Sie bewirtete uns fürstlich.

Dann erfuhren wir von Werdandi vieles über die Veränderungen im ersten Zeitalter. Geschichte wird bedauerlicherweise meistens geschrieben von den Siegern. Das war uns allen klar. Doch wie sehr diese Geschichte von den wahren Ereignissen abwich, das ahnten nur wenige von uns. Heimdallr etwa hatten sie gänzlich aus den Annalen der Erdheit getilgt und auf diese Weise den Weg nach Asengard für die Menschen verschlossen.

Tatsächlich wusste niemand mehr, welche Bedeutung Heimdallr für die Menschheit und andere Welten hatte, dass er über viele Generationen der wichtigste und beständigste ihrer Götter gewesen war. Manchmal braucht es nur wenige Ahnenfolgen, um aus einem Helden einen Berserker zu machen oder ihn sogar vollständig aus den Gedanken zu löschen. Werdandis Schilderungen waren atemberaubend und erschreckend zugleich.

Es folgten ausgiebige Diskussionen über die Quelle, das Wesen der Dinge selbst. Erst wenn Du seine ursprüngliche Natur erfasst hast, so heißt es, wirst Du den Fluss des Seins begreifen. Und so mussten wir tatsächlich erkennen, dass sich die großen Zusammenhänge über die Jahrhunderte aus unserem Bewusstsein geschlichen hatten. Wir hatten gelernt, Krankheiten zu besiegen, die ohne unser Zutun gar nicht erst entstanden wären. Wir hatten gelernt auf Katastrophen zu reagieren, die ohne unsere Furcht niemals hätten geschehen können. Wir hatten gelernt uns vor Herrschern zu ducken, die ohne unsere Angst niemals zu Herrschern aufgestiegen wären. All das war für uns unvorhersehbar, nein undurchschaubar gewesen und doch war es am Ende ein Teil der großen Prophezeiung. Erst jetzt begannen die Anwesenden des Rates die Verknüpfungen der Ereignisse mit dem Geist des Universums zu erahnen. Dabei können wir nicht einmal behaupten, wir wären naiv gewesen oder hätten die Dinge nicht begreifen wollen. Tatsächlich waren sie hinter einem Schleier verborgen geblieben, den nur die Nornen zu durchdringen in der Lage gewesen waren.

Nun war es endlich an der Zeit die junge Skuld anzuhören, die die Herrscher über die Menschen vor langer Zeit hinzu erdacht hatten. Sie hatten den Begriff der Zukunft eingeführt, der die Menschheit in die Sklaverei brachte, aber das ist eine andere Geschichte.

Ja – es ist in der Tat etwas schiefgelaufen. Der Ereignishorizont hatte sich personifiziert und eingemischt, hatte eine neue Ebene erschaffen, mit der niemand hatte rechnen können. Man sprach von einer nicht vorgesehenen Veränderung in der Evolution.

So wie ein Kind aus den eigenen Erfahrungen lernt, begann mit einem Mal, vollkommen unerwartet, die Evolution selbst neue, eigene, eigensinnige Wege zu gehen. Sie gehörte plötzlich nicht mehr zu den Wesen, die wir als Lichtgestalten anerkennen, deren Ziel die Einheit aller Dinge ist.

Ich rede von jenen Engeln und anderen Helfenden, die mit Freude dienen und immer nur auf das gute Ende einer inkarnierten Seele hinarbeiten, selbst, wenn wir darin in diesem Leben häufig den wahren Sinn verkennen und es leider viel zu oft verdammen und daran verzweifeln.

In unserem tiefsten Inneren wissen wir: Niemand möchte uns verletzen. Sogar unsere sogenannten Feinde entpuppen sich am Ende häufig als freundliche Seelen, manchmal als die besten aller Freunde, die ihren Teil beitragen, wie sie es im Sein zwischen den Leben versprochen hatten. Und dennoch tut es manchmal über alle Maßen weh, an einer schweren Krankheit zu leiden oder jemanden zu verlieren. Dabei sollten wir eigentlich wissen, dass unsere eigene Seele sich diese Aufgabe zwischen den Leben gestellt hat um etwas zu lernen, zu erkennen. Wie oft sind wir in der Höhle des Lichts unseren Beschützern und auch unseren Freunden und bisweilen eben gerade jenen vermeintlichen Feinden weinend in die Arme gefallen, haben sie voller Freude begrüßt und gleichsam erst in diesem Moment erkannt, welch unglaubliches Unrecht wir aus Unwissenheit über sie und über uns selbst in ein vergangenes Leben brachten.

Doch nun würde sich das ändern. Die Schleier sollten fallen. So hatte es die Evolution beschlossen. Nicht alles würde sich von einem Tag auf den anderen offenbaren. Behutsam hatte eine Entwicklung eingesetzt, die Skuld als Verehrlichung bezeichnete. Was den Elben seit Urzeiten angeboren war, sollten nun auch andere Völker, vor allem aber die Menschen erhalten: Die intuitive Fähigkeit Lüge von Wahrheit zu unterscheiden.

Weitere Veränderungen waren im Gange. Aber davon wollte oder durfte die junge, dritte Norne zunächst nicht berichten. Zu angemessener Zeit würden wir mehr darüber erfahren. Dies waren ihre Worte.

Als wir die Nornen verließen war ein voller Mondumlauf durchschritten. Einige planten die Rückkehr zu ihren Völkern, andere hatten spezielle Aufgaben bekommen, etwa, an zentralen Punkten ein Gleichgewicht herzustellen. Ich selbst musste mir eingestehen, dass ich vollkommen aufgewühlt und unentschieden war. Es mag meine Art sein, über Dinge lange und intensiv zu grübeln, bevor ich sie in mich hineinlasse.

Viele Tage hielt ich mich noch in der Nähe des Brunnens auf, vielleicht in der Hoffnung Skuld noch einmal zu begegnen, mir von ihr das eine oder andere erklären lassen zu können oder mehr über die Erweiterung der Fähigkeiten zu erfahren, die ich zu einem unbedeutenden Teil ohnehin bereits zu spüren glaubte. Natürlich war dieses Ansinnen vollkommen absurd.

So irrte ich mehr oder minder sinnlos in der Welt umher, als ich eines Tages in einem abgeschiedenen Tal zu einer kleinen Quelle im Fels kam, derer ich mich aus mir unerklärlichen Gründen zu erinnern glaubte. Das Wasser floss in ein von Menschenhand gemauertes Becken. Von dort aus lief es weiter in einen kleinen Teich. In unmittelbarer Nähe stand ein anmutig gewachsener Eschenring, wie er in alter Zeit, weit vor der Tradition der Eichenwälder häufig zu finden gewesen war.

Die Reste unterschiedlicher Bebauungen in der Umgebung verrieten nur sehr wenig über seinem ursprünglichen Zweck. Ich versuchte mir dessen Sinn zu erschließen. In der Legende hieß es, die Asen seien nach Mittenerde gelangt, um dort den Brunnen der Nornen aufzusuchen. Dort hätten sie regelmäßig Rat gehalten. Eine innere Stimme hatte mich auf diese Legende hingewiesen. Und wirklich, die Dinge schienen zusammen zu passen. In der alten Zeit, hieß es, seien die Asen vom Fuße der Brücke BiFröst zu den Nornen hinübergeritten. Auf schnellen Pferden konnten sie die Strecke in kurzer Zeit hinter sich bringen. Weiter berichtete die Geschichte von einer kleinen Quelle im Stein am Fuße des BiFröst. Und dann war da der Eschenring. Bei dem Weltenbaum Yggdrasil handelte es sich um eine Esche. Die Verbannung der Eschen war ein Werk der Jünger dieses jungen Gottes. Sie hatten den wahren Baum durch die Eiche ersetzt, den Naturwelten damit ein ordentliches Stück Magie entzogen, wenngleich die Eiche die ihr zugesprochene Aufgabe sicherlich gerne übernahm, womit wiederum jene Jünger kaum zu rechnen vermocht hatten. Eschenringe, so sagten die Alten, wären nicht zu zerstören. Man können die Bäume abholzen so oft man wolle. Die Eschen wuchsen immer wieder nach und wären zum richtigen Zeitpunkt wieder bereit die ihnen zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Alles sprach tatsächlich dafür, dass sich an dieser Quelle der Zugang zum Asenreich Asengard befunden haben musste: Die Regenbogenbrücke BiFröst.

Ich begann nach Zeichen zu suchen. Solchen etwa, die in den Felsen geritzt seien oder anderen, die in der Landschaft selbst verborgen sein mochten. Auch versetzte ich mich in Trance, um vielleicht auf diese Weise das eine oder andere über diesen Ort, dessen Ursprung oder dessen Bestimmung zu erfahren. Und tatsächlich überfluteten mich Visionen von Dingen, die im Laufe von tausenden von Jahren an diesem Ort geschehen waren.

Endlich wusste ich nun meine Aufgabe zu deuten: Ich würde den Schlüssel finden und BiFröst, die Regenbogenbrücke würde neu entstehen. So wie es die Prophezeiung vorhergesagt hatte. Nur hatte Skuld darauf verzichtet zu erwähnen, dass ausgerechnet eine unscheinbare Wikka in derlei Dinge verstrickt sein sollte. Aber wo ich nun schon einmal dabei war, diese Variante des Schicksals auf den Weg zu bringen, ergab ich mich gerne diesem Schicksal.

Ich überlegte: Was wusste ich von BiFröst?

Die Regenbogenbrücke hatte den Asen Jahrhunderte oder gar Tausende von Jahren als Tor nach Mittenerde gedient, das sie seinerzeit als Midgard bezeichneten. Einer alten Zeichnung zufolge war BiFröst nicht einfach nur ein Regenbogen. Vielmehr sah sie aus wie ein Kelch, mit einer Öffnung nach oben. Und nicht nur das. Der Kelch besaß einen geraden Strahl, der diagonal von Asengard nach Midgard führte. Wenn das alles war, was ich wusste, würde es mir kaum helfen, BiFröst herbei zu rufen, zu öffnen oder auf welche Weise auch immer zu aktivieren.

Da musste es noch etwas Anderes geben. Ich hatte bestimmt etwas vergessen, etwas überhört oder übersehen.

Hatte Skuld mir vielleicht einen versteckten Hinweis gegeben? Wenn es meine Bestimmung war, dann würde ich das Tor nach Asengard früher oder später öffnen – aber wie?

BiFröst war ein Regenbogen, also musste er bei Regen entstehen. Obgleich die Wetterbedingungen für die nach Mittenerde kommenden Asen sicher keine große Rolle gespielt haben konnten. Der Legende zufolge sicherte Heimdallr von der Himinbiörg aus den Regenbogen, der das Tor nach Midgard und über Midgard nach Niefelheim darstellte. Wenn also jemand dieses Tor öffnen konnte, dann war es wohl der Lichtgott Heimdallr höchst selbst.

Es lag nun klar auf der Hand. Ich musste ihn auf irgendeine Weise auf mich aufmerksam machen. So versetzte ich mich auf dem Platz zwischen den Eschen in Trance. Abgesehen von einem Reh, das neugierig daherkam, im Laufe der Nacht seine Scheu überwand und sich zu mir gesellte, bemerkte ich nichts.

So verging die Nacht. Der Tag erwachte im Morgendunst. Die Sonne blinzelte, glitt über den Horizont. Das Reh, das sich in der Nacht als treuer Begleiter erwiesen hatte, sprang in den Wald hinein und ward nicht mehr gesehen. Gegen Mittag hatte sich der Nebel vollständig aufgelöst. Die Sonne stand im Zenit über einem tiefblauen Himmel. Ich konzentrierte meine Sinne auf Heimdallr. Mit einem Mal spürte ich einen Schauer im Genick und ich erblickte tatsächlich den prächtigsten Regenbogen meines Lebens. Das Herz hüpfte mir vor Freude in der Brust. Niemals werde ich diese erste Begegnung vergessen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf diesen schönsten aller Regenbögen. Allein seine Farben waren von einer Anmut und Aufrichtigkeit, dass es mir unvermittelt Tränen der Sehnsucht in die Augen trieb. Dass ihm eine Farbe fehlte, bemerkte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich so bewegungsunfähig dagesessen haben mochte. Doch endlich erwachte ich aus dieser Starre aus Ehrfurcht und Faszination und zögerte keinen Moment den Weg des BiFröst zu beschreiten.

*

Der alte Gott reckte und streckte seine müden Glieder. Die Augen geschlossen, sickerte ein träges Bewusstsein aus der Ewigkeit nur mühsam in den noch über die Maße matten Körper. Genau genommen waren müde und matt nicht die richtigen Attribute für diesen Zustand. Es handelte sich wohl eher um eine Art Manifestierung des Geistes. Eine Erfahrung, die selbst Heimdallr noch nicht gemacht hatte.

Unendlich lange, so schien es ihm, hatte seine Seele in jenem All-Einen geschlummert, gebettet in die zärtliche Umarmung von Liebe, Reinheit und ewigem Friede, wie sie nur im All-Einen ihre Heimstatt fand.

Heimdallr genoss in ersten Atemzügen noch jenes Empfinden des gemeinsamen Ganzen, das zu verlassen er nur widerwillig bereit war. Vage begann er sich zu erinnern vor endlosen Zeiten etwas Anderes gewesen zu sein, als nur oder gerade ein Teil des Unendlichen Einen, das er nun wieder zu verlassen gezwungen war. Ein Individuum? Ein Handelnder? Eine Kreatur der Schöpfung! Nein – ein Schöpfender selbst.

In jener einen letzten Schlacht hatten sich sein Schicksal und das seines gesamten Geschlechtes erfüllt. So stand es geschrieben und so war es geschehen in den Jahren ab Eintausenddreihundertdrei nach der Zeitrechnung des jungen Gottes auf Mittenerde. Zorn breitete sich aus in seiner Seele. Der erste Versuch eines wütenden ersten Schreis versiegte in sich, zerfiel in einer neu erschaffenen Kehle.

»Wer tut mir das an? Habe ich denn diesen Schlaf nicht verdient? «

Das heiße Blut begann durch die Adern des Asen zu strömen. Einem reißenden Fluss gleich ergoss sich die Flut glühenden Lebenssaftes über den wieder erstarkenden Körper. Und mit der Flut kamen die Erinnerungen zurück, zunächst vage und unbestimmt, dann erschreckend deutlich. Und mit den Erinnerungen kamen die Gefühle. Mit den Gefühlen bereits die erste vermaledeite Ahnung der Sehnsucht.

Heimdallrs Seele bäumte sich auf. Niemals wieder wollte sie das All-Eine verlassen. Wer wagte es, sie aus dem friedvollen Schweigen der Vereinigung herauszureißen? War seine Seele dort doch längst gebettet gewesen für die Ewigkeit.

Verzweifelt rangen Seele und Geist – einem Wirbelsturm gleich, der Bäume entwurzelt und Wetter entfacht, wie sie der schlimmsten Träume würdig sind.

»Wer tut mir das an? « schrie Heimdallr abermals; und der Zorn verlieh seinem Antlitz den Glanz und die Hitze eines feurigen Vulkans.

Während der Kampf in der Seele noch tobte, entsann sich der Körper seiner Sinne und Funktionen, erblühte kräftig, mächtig, frisch, zu neuem Sein und neuem Tun, spürte Hoffnung, Sehnsucht, Mitgefühl, längst bereit zu schöpferischem Treiben.

Heimdallr riss die Augen auf, sprang mit einem Satz aus jenem Bett, das ihm Heimat war, Stätte von Geburt und Tot zugleich. Während er die Augen durch den Raum schweifen ließ, begann der Raum selbst gerade erst sich zu entwickeln, als sei er neu und just in diesem Augenblick entstanden. Vom Gedanken in die Augen in das Sein!

Der Hüne schrak zurück. Landete rittlings auf dem Bett. Was für ein Spuk war das? Vieles hatte sich ereignet in jener ewig fern scheinenden Zeit vor seinem Totenschlaf. Aber Dinge, die sich erst erschaffen, in dem Moment da das bloße Auge sie erspäht, das war der Schöpferkraft zu viel. Daran musste selbst ein Ase sich erst einmal gewöhnen.

Obgleich, argwöhnte er, es immerhin möglich war, dass sein Erwachen selbst, sein langsam sich reckender und streckender Körper und sein von der Anstrengung jener seltsamen Wiedergeburt angespannter Geist, ihm einen Streich spielten.

Aus dem Nichts entstand nach und nach das Schlafgemach, wie es Heimdallr von damals her kannte. Wobei man sich dieses Nichts aus dem heraus alles zu wachsen begann, sagen wir, etwas anders vorstellen muss als ein Nichts im Sinne von leer. Ein hünenhafter Ase saß auf einem über die Maße großen, durch Ornamente verzierten fünfeckigen hölzernen Bett. Von den Ecken ragten gewaltige Pfeiler zu einer Decke herauf, die das Firmament selbst zu bilden schien, übersät von einer unendlichen Zahl leuchtender und aufblitzender Sterne. Die beiden Säulen des Kopfendes waren durch eine Art Hängebrücke miteinander verbunden, welche in den Farben des Regenbogens prächtig schillerte. Der Blick über das Kopfende hinaus offenbarte nicht etwa eine feste, wie auch immer geartete Wand. Ein, wie es schien, ewiger Sonnenaufgang, bot dem Betrachter ein Bild endlosen Friedens. Einem seichten Morgendunst schien sich der in zartes rot gefärbte Sonnenball anzuschmiegen. Die Szene empfahl sich als zeitlos scheinend seit Beginn der Welten.

Erfreut, wenngleich von tiefer Ehrfurcht ergriffen, beobachtete der Ase dieses ihm aus früheren Tagen bekannte und doch immer wieder einzigartige Ereignis. Für diesen Blick allein lohnte sich das Leben.

Heimdallr seufzte: »Wüssten sie doch nur um die gestalterische Kraft dieses täglichen Sonnenaufgangs. Weder Asen noch Vanen hatte diese schöpferische Energie jemals gekümmert. Um wie viel weniger konnten die Wesen der anderen Welten da die großartige Fähigkeit erkennen, mit der sie doch seit mehr als sechstausend Jahren verbunden waren.

Alles hätte dieser Moment des erwachenden Tages ihnen geschenkt; doch kaum jemand vermochte sein Schicksal in die Hände einer aufgehenden Sonne zu legen.

Wie dumm und naiv sie doch waren, einzig ihrer Arbeit Lohn Anerkennung zu zollen. Der Preis war hoch, zu hoch für einen Asen und unvorstellbar für einen Sterblichen.

Heimdallr blickte zum Fußende seines riesigen Bettes. Zwei äußerst filigran geschnitzte Säulen ragten parallel zum Firmament hinauf, während die dritte, die mittlere, den eigentlichen Ankerpunkt zu bilden schien. Weder Säule noch Pfeiler. Die Weltenesche selbst erbot sich, dieser Heimstatt Stabilität und Ausgleichung zu geben. Dieses Privileg hatte Odin Heimdallr einst gewährt. Und es war sicher eines der unglaublichsten Geschenke, das je ein Ase erhalten hatte. Als sei der Weltenbaum, den sie Yggdrasil nannten, eben selbst erst erwacht, bildeten sich feine Knospen weit oben, wo Krone und Firmament verschmolzen.

Heimdallr rückte ein wenig herüber, lehnte sich mit dem Rücken an den gewaltigen Stamm, Beine und Blick abermals gegen den Sonnenaufgang gerichtet.

»Ach Du alter Baum«, dachte er, »wo ist nur ihr Glaube geblieben?

War wirklich alles Bestimmung?

Nein – Du und ich, wir wissen es besser. Wir wissen, weil wir ahnen; denn die Ahnung hat dem Wissen die Schöpfung voraus. «

Heimdallr reckte die Hände über den Kopf, berührte die feste, kühle Rinde des Baumes. In dem er die Augen schloss spürte der Ase den Saft, der, von den drei heiligen Brunnen Mimir, Urd und Hvergelmir gespeist, weit unten durch die Wurzeln bis in die zarten Verästelungen hineinfloss. Unweigerlich gedachte er der Nornen, die unten in Midgard an ihrem Brunnen saßen und das Schicksal der Menschenwesen spannen oder es wenigstens früher einmal gesponnen hatten. Wie es ihnen wohl ergangen war seit diesem unsäglichen Ende der anderen Welten?

Werdandi, die jüngere, lag ihm besonders am Herzen. Genau genommen hatte sie ihm immer ein wenig nähergestanden, als es für beide gut gewesen wäre. Wie er war sie eine Schaffende. Ihre schöpferische Kraft hatte die eine oder andere liebsame Veränderung in die, ach so eintönige, langweilige und sicherheitsbetonte Welt der Ceridwen gebracht. Er musste unweigerlich schmunzeln, hätte beinahe begonnen laut loszulachen. Ob sie wohl auch zurückgeholt oder erweckt worden war? Ihm sollte es recht sein.

Wieder gingen seine Gedanken zu jener Kreatur, die ihn zur Rückkehr zwang. Jetzt, wo sein altes Heim mit all seinen Wohnlichkeiten und Gerüchen, mit all den Gefühlen und Sehnsüchten zurückkehrte, war er fast ein bisschen dankbar, fast.

Heimdallr sah sich im Zimmer um oder in dem, was sich gemächlich zu seinem Schlafgemach entwickelte. Während der Raum selbst nur über eine einzige feste Wand verfügte, in die eine schwere Eichentür eingelassen war, die zu den übrigen üppigen Gemächern seiner Burg führte oder bald wieder führen würde, gab es sonst keine weiteren. Wände waren Grenzen. Und Grenzen sollten nur einen wahrhaft winzigen Teil des Lebens ausfüllen. So verfügte dieser Raum eben lediglich über diese eine einzige Wand und einen Holzbohlenboden, der sich bei genauerem Hinsehen als ein unglaublich feines Geflecht von Verästelungen des Yggdrasil entpuppte. Diese Äste waren fest ineinander verschlungen, nach der Art, wie die Elben aus Thýria ihre Häuser und Paläste bauten oder besser gesagt wachsen ließen, indem sie den sie umgebenden Bäumen lediglich die Vorstellung von einer ihnen angenehmen Behausung vermittelten und sie diese Bäume im Gegenzug mit intensiver, liebevoller Pflege für ihr Wohlwollen belohnten. Es war eine fantastische Symbiose zweier sonst so unterschiedlicher Wesenheiten.

Links vom Bett entstand oder wuchs, wie auch immer man es bezeichnen wollte, ein Tisch. Der bestand aus einem Wurzelstumpf, auf dem eine runde Kupferplatte ruhte. Wenn Heimdallr auch inzwischen begriffen hatte, dass all diese Dinge aus seiner Erinnerung rührten, so war er doch verblüfft über die Originalgetreue Replik jenes Tisches, der die Halle über Jahrtausende geschmückt hatte. Das Kupfer war überzogen von einer grünen Patina. Abbildungen der Sonne, des abnehmenden Mondes, bestimmte Sterne und Sternhaufen sowie zwei Grenzlinien, von denen die eine fälschlicherweise von vielen als der Gürtel des Orion gedeutet wurde, waren filigran in die Kupferplatte eingearbeitet.

Der Ase erinnerte sich sehr gut an die Ereignisse, die den weisen Tyron seinerzeit bewogen hatten, ihm diese kostbare Himmelsscheibe zum Geschenk zu machen. Heimdallr selbst hatte



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