Die Seidentöchter - Cristina Caboni - E-Book

Die Seidentöchter E-Book

Cristina Caboni

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Beschreibung

Eine wundervolle Geschichte über Träume aus Samt und Seide und die Kraft, das eigene Schicksal zu verändern ...

Camilla hat hochfliegende Träume von einer glitzernden Karriere in der Modewelt, doch als Marianne, ihre Ziehmutter, schwer erkrankt, beschließt sie, an ihrer Seite zu bleiben. Was wie eine Sackgasse erscheint, entpuppt sich als Neuanfang voll ungeahnter Möglichkeiten, denn Camilla findet wunderschöne, von Mariannes Mutter gefertigte Kleidungsstücke, die ihr Ungeahntes offenbaren.
In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts weiß die junge Caterina um ihr Talent fürs Schneidern und dass sie die Gabe hat, das Leben ihrer Kundinnen zu verändern. Ihr größter Wunsch wäre ein eigenes Unternehmen, doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihr ...

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Buch

Camilla hat hochfliegende Träume von einer glitzernden Karriere in der Modewelt, doch als Marianne, ihre Ziehmutter, schwer erkrankt, beschließt sie, an ihrer Seite zu bleiben. Was wie eine Sackgasse erscheint, entpuppt sich als Neuanfang voll ungeahnter Möglichkeiten, denn Camilla findet wunderschöne, von Mariannes Mutter gefertigte Kleidungsstücke, die ihr Ungeahntes offenbaren. In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts weiß die junge Caterina um ihr Talent fürs Schneidern und dass sie die Gabe hat, das Leben ihrer Kundinnen zu verändern. Ihr größter Wunsch wäre ein eigenes Unternehmen, doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihr …

Autorin

Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Ihr Debütroman »Die Rosenfrauen« verzauberte die Leser weltweit und stand allein in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Mit ihren nächsten Romanen »Die Honigtöchter«, »Die Oleanderschwestern« und »Der Zauber zwischen den Seiten« konnte sie an ihren phänomenalen Erfolg anknüpfen und ihre Fans jedes Mal aufs Neue begeistern. »Die Seidentöchter« ist Cristina Cabonis fünftes Buch, das uns in die faszinierende Welt kostbarer Kleider, raschelnder Seide und schillernder Stoffe entführt und wieder ein großes Lesevergnügen verspricht.

Von Cristina Caboni bereits erschienen:

Die Rosenfrauen

Die Honigtöchter

Die Oleanderschwestern

Der Zauber zwischen den Seiten

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Cristina Caboni

Roman

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »La stanza della tessitrice« bei Garzanti Libri, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Cristina Caboni

License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Ildiko Neer/Arcangel Images; iStock.com/ajuga; www.buerosued.deKW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24114-8V002

www.blanvalet.de

Für meinen Mann Roberto und meine Kinder Davide, Aurora und Margherita, ohne die das alles nicht möglich gewesen wäre.

Das ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut.Das Eigentliche ist für die Augen unsichtbar.

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz

Prolog

Das Kleid muss den Linien des Körpers folgen und seine Bewegungen nachzeichnen. Und wenn eine Frau lächelt, dann muss ihr Kleid mit ihr lächeln.

Madeleine Vionnet

»Schlaf jetzt, mein Kind. Sonst kommt die Mutter Sonne und holt dich.«

Angstvoll kniff Caterina die Augen zusammen, als sie an die Worte dachte, mit denen man den Kindern im Dorf gerne drohte. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, auch wenn sie mit gefalteten Händchen darum bat und die Amme ihr erklärt hatte, ein kleines Mädchen müsse einen Mittagsschlaf halten.

»Es geht nicht«, flüsterte sie.

Nur die Flickenpuppe neben ihr konnte sie hören, denn Caterina war allein im Haus. Durch die Ritzen der Fensterläden drang warmes, goldenes Licht ins Zimmer und vertrieb die kühle Dunkelheit. Ihr Herz pochte vor Aufregung.

Caterina wälzte sich unter dem Leinenlaken, das Rosa für sie gewebt hatte, hin und her. Am Rand war ihr Name eingestickt, sie fuhr mit dem Finger über die Buchstaben, und plötzlich sah sie einen Faden, der in ihrer Vorstellung zu einer Geschichte wurde. Einer Geschichte, die vom Wind erzählte, der die Vorhänge blähte und das Meer aufwühlte, wenn die Fischer in der Morgendämmerung die Netze auswarfen. Und von den Kornfeldern und den mit weißen Blüten übersäten Wiesen, über die er fegte. Und von Frauen, die hinter den Fenstern über ihren Webstuhl gebeugt saßen und Träume in Stoffe verwandelten.

Plötzlich meinte Caterina eine leuchtende Staubwolke zu sehen, die sich erst in einen Kiebitz und dann in einen Fisch verwandelte, danach in eine Raute, ein Kreuz, einen Stern und ein Dreieck, bevor das Gebilde sich in eine ­Eichel, einen Granatapfel und in das Blatt einer Weinrebe verwandelte, um schließlich zu einer Koralle tief unten im blauen Meer zu werden, das sie so sehr liebte. All das hatte ihr Rosa, die Amme, auf den gewebten Stoffen gezeigt. Jetzt tanzten die einzelnen Figuren vor ihren Augen, sie verbanden und trennten sich, sie drehten sich wie bunte Räder im Wind.

Das Kind lächelte.

Sie würde es wagen.

Entschlossen stand sie auf, verließ ihr weiches Bett, ihren Zufluchtsort, tappte zur Tür und öffnete sie. Sie wollte dem Gefühl der Einsamkeit und der Stille entfliehen.

Caterina lebte mit ihrer Amme in diesem kleinen Fischer­dorf am Meer. Im Sommerhaus der Familie, die ein großes Anwesen in der Stadt besaß und nur selten nach ihr schaute.

Vorsichtig betrat sie den Innenhof, in dem die Sommerhitze die Luft zum Flirren und die Wände zum Glühen brachte.

Schnell lief sie zu den Klippen, Rosa war dort, das wusste sie. Das kleine Häuschen, das ihr gehörte und in das sie sich zurückzog, um ihrer Arbeit nachzugehen, lag hoch oben auf dem Hügel und war mit seinen weiß gekalkten Mauern und dem roten Ziegeldach weithin zu sehen.

Atemlos blieb das Kind vor dem großen Fenster mit der steinernen Fensterbank stehen, kletterte mühsam auf die darunter aufgeschichteten Steine, streckte sich, die kleinen Hände tastend nach oben gerichtet, aber noch reichte es nicht, um in das geheimnisvolle Zimmer hineinspähen zu können.

Erst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, gelang es ihr, und sie sah Rosa, die sich über den Webstuhl beugte, die nackten Füße auf den Pedalen, die wie von Zauberhand die Litzen bewegten. Caterina war fasziniert vom Tanz der Kettfäden, einem uralten Spiel, das Rosa bereits in seinen Bann gezogen hatte, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Die Schäfte hoben und senkten sich, das Schiffchen glitt nach vorne: Der Webstuhl sang sein rhythmisches Lied. Rosas kundige Finger schienen zu fliegen, ein letzter Druck gegen den Warenbaum, und der Stoff war fertig.

Caterina kam es vor wie Magie.

»Komm rein, mein Kind, und setz dich neben mich. Wer den Mut hat, die eigene Angst zu überwinden und sich allein aus dem Haus zu wagen, kann auch den Faden des Lebens weben. Nutz die Gelegenheit und vertrau dem Schicksal.«

Das kleine Mädchen riss erstaunt die Augen auf. Wie hatte Rosa sie entdecken können, denn sie hatte sich kein einziges Mal umgedreht. Dann fiel es ihr ein: Eine Weberin brauchte ihre Augen nicht, das hatte sie oft genug zu hören bekommen.

Sie lief zu ihrer Amme, die ein wenig auf ihrer Bank zur Seite gerückt war. Die kleinen Hände auf den Webstuhl ­gestützt, betrachtete sie das Webmuster. Ohne dass es ihr erklärt werden musste, verstand sie, welche Geschichte Rosa damit erzählen wollte. Caterina kannte sie, sie handelte von einer Frau, die aus den Tiefen des Meeres gestiegen war. Ihr Name war Maribenia, nein, Maribelle.

1

Alpaka. Weich und anschmiegsam, glänzend und angenehm auf der Haut zu tragen. Ein Stoff der Erinnerung, der die Sehnsucht nach der Kindheit weckt. Er wird aus dem Haar der Alpakas gewonnen, einer in den südamerikanischen Anden beheimateten kleinen Kamelart, und für Jacken, Pullover, Decken und Teppiche verwendet.

Das Gewebe war hauchfein, eine besonders hochwertige Shantungseide. Der Stoff erinnerte sie an das Blau des Winterhimmels, durchsichtig wie Glas, eiskalt und scheinbar endlos.

Camilla Sampietro strich sanft darüber. Die zahlreichen Schattierungen reichten von einem sanften Türkis bis zu einem intensiven Indigo, es war ein changierendes Feuerwerk. Beim Darüberstreichen spürte man die dezenten Strukturen des kostbaren Gewebes.

Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die leicht raue Oberfläche, dabei hielt sie den Atem an wie jedes Mal, wenn sie etwas so Edles in den Händen hielt.

»Reine Seide. Dupionseide«, sagte die junge Frau, die vor ihr stand.

Eindeutig wusste sie nicht, von was sie sprach, dachte Camilla. Aber das spielte keine Rolle. Wichtig war allein die Kundin, für die das Kleid bestimmt sein sollte. Sie hatte sich als Lucy Wong vorgestellt.

Eine Weile schwiegen beide, lediglich ihre Atemgeräusche waren zu hören.

»Glauben Sie, der Stoff reicht aus, um daraus ein Kleid für mich zu machen?«, fragte Lucy schließlich zögerlich, jedoch mit hoffnungsvoller Stimme.

Das Kleid, das sie ganz vorsichtig auf den Ladentisch des kleinen Schneiderateliers gelegt hatte, in dem Camilla seit einem Jahr arbeitete, hatte ihrer Urgroßmutter gehört. Mit Tränen in den Augen erzählte sie, dass ihre Familie vor etwa hundert Jahren wegen der revolutionären Umwälzungen aus China geflohen sei, mit nichts außer ein paar Habseligkeiten, darunter ein Bündel mit dem Familienschmuck und diesem Kleid. Der Schmuck war längst verkauft, das Kleid hingegen gab es noch immer.

Ab und zu hatte es ihr Vater aus der parfümierten Schachtel genommen, in der es verwahrt wurde, und es ihr für einen kurzen Moment gezeigt, um es danach sogleich wieder behutsam in Seidenpapier zu wickeln und zurückzulegen. Aber seit ihr Vater tot war, verspürte Lucy den Wunsch, das Kleid ändern zu lassen und es selbst zu tragen, um auf diese Weise die Erinnerung an ihn ständig bei sich zu haben.

Als Camilla die junge Frau mit der eng an die Brust gedrückten Schachtel in den Laden hatte kommen sehen, war ihr auf der Stelle klar gewesen, dass es sich nicht um eine ihrer üblichen Kundinnen handelte, sondern dass es mit ihrem Anliegen eine besondere Bewandtnis hatte.

Eindeutig gehörte sie zu jener Sorte Frau, die nicht nur gut aussehen, sondern sich mit ihrer Kleidung gleichzeitig identifizieren wollten. Zum Beispiel mit einem umgearbeiteten Kleid, das einmal jemand anderem gehört hatte, einem geliebten Menschen. Eine Äußerlichkeit zwar, die allerdings eine tiefe innere Verbindung zum Ausdruck brachte.

»Das hängt vom Schnitt ab, doch ich denke schon, dass es möglich ist, daraus ein Kleid für Sie zu machen.«

Der Stoff duftete dezent nach Sandelholz. Camilla hatte es gleich beim Auspacken bemerkt und war fasziniert gewesen, denn der Geruch erinnerte sie an den Garten aus ihren Kindertagen.

Sie lächelte die junge Frau an. »Das Kleid ist in einem hervorragenden Zustand, keinerlei Beschädigungen bis auf den Kragen.«

Mit dem Zeigefinger fuhr sie fast andächtig über die ­Stickereien, die typisch waren für Kleider aus der Spätzeit der Mandschu-Dynastie: Orchideen, das Symbol der Schönheit und der Fruchtbarkeit, dazu Hunderte von Schmetterlingen, die Glück bringen sollten, sowie kupfer- und goldfarbene Fäden, die den Saum des Kragens und der Ärmel durchzogen.

Der Stoff kam Camilla vor wie ein Gemälde, ein Kunstwerk aus Farben und Formen. Sie konnte den Blick kaum von dem Kleid abwenden, so überwältigt war sie von seiner Anmut, seiner Frische und der Kraft, die es ausstrahlte. Ein Wunder nach dieser langen Zeit.

Wie glücklich musste die Auserwählte gewesen sein, die dieses Kleid einst hatte tragen dürfen. Sie malte sich aus, wie sie selbst sich darin gefühlt haben würde. Es hätte sie mit Stolz erfüllt.

Lucy sah sie an und verzog die Lippen zu einem Lächeln.

»Ursprünglich war am Oberteil ein Jadestein als zusätzlicher Schmuck eingenäht – er wurde entfernt, um das Studium meines Vaters zu finanzieren. Eine Geschichte, die ich mir früher bestimmt an die tausend Male anhören musste, denn dieser Stein scheint etwas ganz Besonderes gewesen zu sein. Fast durchsichtig, änderte er je nach Lichteinfall die Farbe. Meine Familie jedenfalls betrachtete ihn als ihren kostbarsten Besitz und hat sich höchst schwer von ihm getrennt.«

Fasziniert hörte Camilla zu, wie sehr das Schicksal dieser Familie mit diesem Kleid verwoben war, und darüber hinaus erinnerten Lucys Worte sie an ihre eigene Existenz, an ihr eigenes Denken und Fühlen. Genau das bedeutete Mode nämlich für sie: dass ein Kleidungsstück eine Geschichte erzählen konnte.

Inzwischen hatte Lucy zu sprechen aufgehört und zog mit noch immer tränenfeuchten Augen ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche.

»Das hier würde mir gefallen.«

»Schauen wir mal.«

Camilla legte das Blatt auf die Platte des Ladentischs, strich es glatt, knipste die Lampe an und betrachtete die Skizze, die ein schlichtes Modell mit ärmellosem Oberteil und knöchellangem Rock zeigte. Dann hob sie die Augen, blickte Lucy an und fuhr instinktiv mit den Fingern über den Stoff, als wollte sie die alte Seide befragen.

Und sie bekam eine Antwort.

Das Modell verblasste, und vor ihrem inneren Auge tauchte ein anderes Bild auf. Sie sah es ganz deutlich. Das eben noch streng wirkende Gewebe schmiegte sich anmutig an den feingliedrigen Körper seiner Trägerin. Ein herzförmiger Halsausschnitt brachte die Stickereien eindrucksvoll zur Geltung und unterstrich Lucys Persönlichkeit, setzte sie, mehr noch, in Szene.

Der Rock öffnete sich wie ein Kelch nach unten, ­modern und zeitgemäß, klare Linien ohne Schnickschnack, genau passend zum Typ der jungen Frau, die vor ihr stand. Der Tradition verbunden, ohne Scheu, anders zu sein als die Mehrheit, so schätzte sie Lucy ein. Und gleichzeitig dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen, gradlinig, schnörkellos, sanft und zart, das war sie. Einzigartig.

Und davon würde das Kleid erzählen.

»Sehr schön«, erklärte sie schließlich.

Lucy hielt einen Augenblick inne, dann kam sie auf ­Camilla zu und umarmte sie.

»Danke, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig das für mich ist.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte. »Und wie geht es jetzt weiter?«

Camilla hatte Mühe zu antworten, ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Sie wusste sehr gut, wie es sich anfühlte, mit dem Verlust einer geliebten Person leben zu müssen, beseelt zu sein von dem Wunsch, etwas zu finden, das einen auf ewig an den Verstorbenen erinnerte und eine unauslöschliche Verbindung herzustellen vermochte.

»Signora Sandra wird mit Ihnen die Formalitäten klären«, sagte sie und deutete auf eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters, die gerade mit einer anderen Kundin beschäftigt war.

Ihre Chefin lächelte ihr zu. »Brauchst du mich?«

»Ja, es geht hier um etwas ganz Besonderes, ein New-Style-Kleid.«

Neuer Stil. Dieses Etikett heftete man in dem kleinen, aus einer einfachen Schneiderei hervorgegangenen Atelier von Sandra Finot solchen Kleidern an, die sich an früheren Stil­epochen orientierten und so verändert und umgestaltet wurden, dass sie jedes aktuelle Modell in den Schatten stellten. Es wurde also Altes zu neuem Leben erweckt.

Für Camilla war es die Erfüllung eines Traumes, entsprach es doch ihrer persönlichen Vision von einer Mode, die Äußerlichkeiten mit Emotionen in Einklang brachte. Vor ihrem inneren Auge pflegte sie die fertige Kreation bereits zu sehen, bevor sie einen Stich getan hatte.

Auf diese Weise arbeiten zu können, das war von frühester Jugend an ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Deshalb hatte sie sich nach ihrem Modedesignstudium darauf spezialisiert, alte Kleider so umzugestalten, dass sie wie neu wirkten, ohne dabei ihren Charakter zu verlieren.

Zu ihrem Glück war Sandra von ihrer Idee überzeugt gewesen und hatte sie eingestellt.

Camillas Entwürfe, die sich auf historische Vorlagen stützten, hauchten diesen neues, zeitgemäßes Leben ein, sodass sie weder antiquiert noch imitiert aussahen. Und sie selbst bildete die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Während sie selbst sich den Weberinnen und Schneiderinnen, den Schöpfern der ursprünglichen Modelle, nahe fühlte, bemühte sie sich, auch zwischen den Trägerinnen von damals und heute eine Verbindung herzustellen. In den Augen ihrer Kundinnen versuchte sie zu lesen, welche Wünsche sich in ihren Herzen verbargen, welche Träume sie hatten. Sie nahm ihre Gefühle auf und setzte sie in ein Modell um, dessen Vorlage dies ebenfalls zum Ausdruck gebracht hatte.

Bei diesem besonderen schöpferischen Prozess kamen am Ende ausgewählte Einzelstücke heraus, die sie den Träumen ihrer Kundinnen entsprechend geschaffen hatte und die die Hoffnungen widerspiegelten, die sie hegten, und die Erwartungen, die sie an sich, an andere, ans Leben stellten.

Das war es, was sie mit ihren Kreationen zum Ausdruck brachte, und irgendwie setzte sie damit zugleich ihre eigenen Wünsche um.

Die Stimme ihrer Chefin riss Camilla aus ihren Gedanken.

»Eine Minute noch, dann bin ich ganz für Sie da«, versprach sie, und tatsächlich gesellte sie sich kurz darauf zu ihnen, um mit Lucy den nächsten Termin zu vereinbaren und über den zu erwartenden Aufwand zu sprechen.

Unterdessen kümmerte sich Camilla um die andere Kundin, räumte auf, faltete die auf dem Ladentisch ausgebreiteten Stoffe zusammen und packte sie in das weiß gestrichene Regal zurück.

In dem kleinen Atelier sah es aus wie im eleganten Boudoir einer wohlhabenden Dame. Alles war weiß, dezent, geschmackvoll und einladend und signalisierte den Kundinnen, dass sie hier mit ihren Vorstellungen und Wünschen ernst genommen und verstanden wurden, dass sie hier willkommen waren.

Weiß waren der Schreibtisch, die Lampen und der handgewebte Teppich, den Sandra in Samugheo erstanden hatte, einem kleinen sardischen Dorf, in dem sie regel­mäßig Stoffe kaufte. Ferner der Rahmen des großen Spiegels an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, die Schneiderpuppen und die Moulages, Gipsformen in den Maßen der Kundinnen, mit deren Hilfe den Damen perfekt sitzende Kleider auf den Leib geschneidert wurden, und das Samtsofa in der Ecke, auf dem wichtige Entscheidungen getroffen wurden und wo man sich über neue Ideen und Projekte den Kopf zerbrach. Selbst die Eichendielen des Fußbodens waren weiß gestrichen.

Doch das allgegenwärtige Weiß war nicht nur dazu gedacht, modebewusste, anspruchsvolle Damen anzulocken, sondern ebenso dazu, die Strahlkraft der farbigen Stoffe zu unterstreichen, die man schließlich verkaufen wollte und die die Kundinnen in all ihren Facetten und Schattierungen bewundern sollten.

Eine solch absolute Konzentration auf die Stoffe und auf die Bedürfnisse der anspruchsvollen Kundschaft gab es weit und breit nirgendwo anders. Es war das Markenzeichen und Aushängeschild von Sandra Finots Atelier in Bellagio am Lago di Como, und nicht zuletzt aus diesem Grund hatte sich Camilla Sampietro entschieden, bei der Signora anzufangen.

»Hast du noch einen Moment Zeit? Ich würde gerne ein paar Worte mit dir reden«, hörte sie ihre Chefin sagen, nachdem sie Lucy verabschiedet hatte.

Die Frage überraschte Camilla, erschreckte sie sogar, denn unwillkürlich dachte sie an etwas Unangenehmes. An einen Fehler oder ein Versäumnis, das Sandra ihr vorhalten würde.

»Ja, ich habe nichts vor«, murmelte sie ängstlich.

Sandra nickte. »Sehr schön. Zunächst mal, wie gefällt es dir eigentlich hier in Bellagio?«

»Gut«, antwortete Camilla und meinte das ehrlich.

Für sie war dieser Ort, in dem sie derzeit lebte, ein ­Synonym für Freiheit. Wenn sie durch die Straßen und Gassen des malerischen Städtchens schlenderte und die frische Luft einsog, die der Wind vom See heranwehte, fühlte sie sich frei von allen Zwängen und genoss es, dass niemand sie kannte.

Auch wenn sie abends oder am Wochenende am Tisch in ihrer kleinen Wohnung Modelle entwarf, Stoffe zuschnitt, den Faden für die Stickerei einfädelte, konnte sie diese Freiheit fast körperlich spüren – dann gab es nichts außer ihr und ihrer Nähmaschine.

»Nach einer Weile wird es dir bestimmt langweilig werden, immerhin bist du in Mailand aufgewachsen und hast dort eine ganze Weile gearbeitet. Fehlt dir die Großstadt nicht?«

Eine berechtigte Frage. Camilla dachte nach, und plötzlich wallte Sehnsucht nach ihrem alten Leben in ihr auf. Nach der Stadt, nach den Menschen, die sie liebte. Und vor allem nach Mamy, Marianne Leclerc, nach der Frau, die sich nach dem Tod ihrer Eltern um sie gekümmert und bei der es ihr nie an etwas gemangelt hatte.

Außerdem fehlte ihr Daniela, Mariannes Nichte. Sie waren wie Schwestern aufgewachsen, ohne welche zu sein, und am Ende war das zum Problem geworden.

»Schon, manchmal vermisse ich Mailand«, räumte sie zögernd ein, »aber ist das nicht normal?«

Sandra entging nicht, dass es ihre junge Mitarbeiterin große Mühe kostete, ihre Gefühle zu verbergen, und so wechselte sie rasch das Thema.

»Nein, einfach ist so ein Wechsel sicher nie«, meinte sie. »Vielleicht sollten wir uns lieber über wirklich erfreuliche Dinge unterhalten. Zum Beispiel darüber, dass die Nachfrage nach deinen New-Style-Modellen zunehmend steigt. Inzwischen kommen die Kundinnen von weither, bloß wegen dir. Deine Einschätzung der Marktsituation war goldrichtig. Die Duplizität von Alt und Neu weckt tatsächlich Interesse. Genau wie du es vorhergesagt hast. Und der weise Spruch von den Gegensätzen, die sich anziehen, hat sich wieder einmal voll und ganz bestätigt, oder?«

»Mehr oder weniger ist es wohl so gekommen«, erwiderte Camilla bescheiden, obwohl sie vor Stolz beinahe zu platzen glaubte.

»Es ist wie ein Schneeballsystem«, fuhr Sandra fort. »Zufriedene Kunden empfehlen uns weiter, Mund-zu-Mund-Propaganda ist offenbar nach wie vor besser als jede Werbung.« Sie hielt inne, und ihre Miene drückte Zufriedenheit aus. »Du bist wirklich gut, Camilla. Du weißt, wie skeptisch ich anfangs war. Aus Altem Neues zu machen, das klang für mich erst mal nach einer Schnapsidee, doch es hat funktioniert. Ungewöhnlich in einer Zeit, in der sich das Modekarussell normalerweise immer schneller dreht und das eben noch Neue binnen Kurzem bereits überholt ist. Du hingegen weckst dauerhafte Emotionen und triffst damit ins Schwarze.« Sandra lächelte erneut und musterte Camilla wohlwollend. »Allerdings reicht das Geheimnis für den Erfolg des New Style tiefer. Er hat das gewisse Etwas, weil er eine emotionale Beziehung ausdrückt, die man einzig und allein mit etwas eingehen kann, das man sehr, sehr liebt.«

Sandras Worte rührten sie. Sie dachte an Lucy Wong und ihr prachtvolles Kleid aus Shantungseide. Vor ihr hatte es schon Kundinnen mit ähnlichem Anliegen gegeben, und wie es aussah, würden weitere kommen.

Sie war überglücklich und stolz, dass sie mit ihrer Idee Erfolg zu haben schien. Es war an der Zeit, endlich positiv zu denken und die negativen Verhaltensmuster abzuschütteln. Schließlich hatte sie gerade erst erlebt, wie dumm es war, ständig Schlechtes zu befürchten. Sandra hatte sie keineswegs wegen irgendetwas tadeln oder ermahnen wollen, ganz im Gegenteil.

Außerdem, beschloss sie, musste sie aufhören, unent­wegt an ihr altes Leben zu denken. Stattdessen sollte sie nach vorne schauen und Marianne Leclerc und ihre Firma aus ihren Gedanken streichen. Das war nicht mehr ihr Problem, wenngleich sie noch immer den Schmerz in ihrem Herzen spürte, diese tiefe Wunde, die einfach nicht verheilen wollte.

»Schönes Wochenende, Camilla. Amüsier dich, geh aus«, verabschiedete ihre Chefin sich, nachdem sie noch eine Weile über Perspektiven und Strategien nachgedacht hatten, und klopfte ihr auf die Schulter. »Kann ich dich ein Stück im Auto mitnehmen?«

Camilla schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt einiges aufzuräumen, bevor ich gehe.«

»Okay, aber bleib nicht zu lange.«

»Nein, versprochen.«

Als Sandra die Tür hinter sich schloss, erinnerte sie das Bimmeln des Glöckchens an den Tag, als sie nach Bellagio gekommen und vor dem rot gestrichenen Haus mit den weißen Geranien vor den Fenstern stehen geblieben war. Das hatte ihr auf Anhieb gefallen. Wie alles an diesem Städtchen: das Schwappen des Wassers unter den Booten, das üppige Grün der parkähnlichen Anlagen, das satte Blau des Sees, die steinernen Brunnen, die engen Gässchen, die zahllosen Blumenkübel, die die Straßen säumten.

Sie war unendlich glücklich, in Sandras Atelier zu arbeiten. Ihr Traum war Wirklichkeit geworden. Mit einem Mal wurde sie von dem Wunsch gepackt, dieses Glück mit jemandem zu teilen. Weil angeblich das Glück größer wurde, wenn man es teilte. Zumindest hatte Marianne das einmal gesagt.

Bei dieser Erinnerung erlosch ihr Lächeln, und mit gesenktem Kopf wickelte sie die Schere in ein Tuch und legte sie in die Schublade. Mamy hatte sie ihr geschenkt. Eine Schere für sie und eine für Daniela. Sie hatte sie von einem Spezialisten extra für sie beide anfertigen lassen. Auf einer der Klingen war der folgende Satz eingraviert: Schneide alles ab, was zu viel ist, doch achte auf die entscheidenden Fäden.

Selbst Sandra war von der Schere beeindruckt und voll des Lobes gewesen.

»Ein außergewöhnliches Stück, die schönste Schere, die ich je gesehen habe.«

Marianne Leclerc war zweifellos eine Expertin in Sachen Qualität und Ästhetik. Und sie stellte hohe Ansprüche. An sich und die anderen. Stets verlangte sie das Optimum. Immer und überall.

Camilla seufzte. Bei Licht betrachtet, war es die richtige Entscheidung gewesen, Mailand zu verlassen. Es war nun einmal Tatsache, dass sie nicht zur Familie gehörte, sondern ein Eindringling war. ­Daniela hatte es offen ausgesprochen, und Marianne hatte dazu geschwiegen.

Als sie das Atelier verließ, war der Wind böiger geworden. Sie schaute zum Himmel hinauf, aus dem kleine Schneeflocken auf ihr Gesicht hinabrieselten. Sie lächelte und wurde sich bewusst, wie schön das Leben war.

Und dass es immer weiterging.

2

Angora. Warm, flauschig und anschmiegsam. Aus den Haaren des Angorakaninchens gewonnen, wird die Wolle vor allem für Pullover, Jacken und Röcke verwendet. Ein Material mit Wohlfühleffekt.

Sie riss die Augen auf und setzte sich hoch, ihr Herz klopfte wie wild, ihre Hände umklammerten panisch die Bett­decke. Einen Moment lang war sie wie gelähmt. Ihr Zimmer wurde schlagartig gleißend hell, dann verschwand das Licht wieder.

Camilla atmete tief durch. Nur ein Scheinwerfer, der von außen ihr kleines Appartement erhellte, weil sie vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen, mehr nicht. Zitternd stand sie auf und ging zu der kleinen Kochnische.

Immer noch quälte sie ein schmerzhaftes Gefühl in der Brust, eine Beklemmung, die ihr das Atmen schwer machte. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, als ob etwas einen Riss bekommen hätte. Dabei war doch alles in Ordnung, soweit sie das beurteilen konnte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, nahm ein Glas von der Spüle und lief unruhig hin und her, strich dabei mit ihren Fingern fahrig über die Möbel und Einrichtungsgegenstände.

Es gab lediglich wenig Persönliches, das meiste hatte sie in Mailand gelassen. Aber gehörten die Dinge im Palazzo Leclerc überhaupt ihr? Sie schob den Gedanken beiseite. Immerhin wusste sie allzu gut, wohin solche Grübeleien führten, und dem mochte sie sich nicht aussetzen.

Nicht in dieser Nacht, nicht in diesem Zustand.

Eingehend betrachtete sie sich im Spiegel, streckte ihre Hand nach dem verschlafenen Gesicht aus. Ich bin glücklich, sagte sie sich. Vielleicht nicht voll und ganz, doch immerhin ein wenig. Und wenig war besser als nichts. Sie wollte diese Leere, diesen tiefen Schmerz nicht mehr spüren, der zu nichts führte, wie sie leidvoll erfahren hatte.

Warum bloß schaffte sie es nicht, sich mit der Realität abzufinden?

Sie war gerade im Begriff, sich wieder hinzulegen, als ein Geräusch sie zusammenzucken ließ. Ihr Handy vibrierte. Wer um Himmels willen rief so spät in der Nacht noch an? Als sie auf dem Display eine wohlbekannte Nummer entdeckte, nahm sie das Gespräch an. Lange genug hatte sie selbst versucht, dort anzurufen, im letzten Moment allerdings immer wieder feige aufgelegt.

»Ja, bitte?«

»Camilla …«

Sie schloss die Augen, begann zu zittern, ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

»Hallo, das ist ja eine Überraschung …«, stammelte sie und war unendlich froh, Danielas Stimme zu hören.

Stille, dann ein Schluchzen.

»Bitte hör mir zu. Ich muss dir etwas sagen.«

Freude und Erleichterung lösten sich in Luft auf, und angstvoll umklammerte Camilla das Telefon.

»Was ist los?«, flüsterte sie mit gepresster, kaum wahrnehmbarer Stimme.

»Bitte lass mich einfach reden und unterbrich mich nicht. Ich weiß nicht, ob ich sonst die Kraft habe zum Weitersprechen. Marianne ist, sie ist …« Schluchzend brach Daniela ab und brauchte eine Weile, bis sie sich einigermaßen gefangen hatte. »Du musst herkommen. Ich schaffe das nicht alleine. Das bist du mir schuldig, verstehst du? Und vor allem bist du es Marianne schuldig. Alles, was du bist, bist du durch sie. Vergiss deinen verfluchten Egois­mus und spring über deinen Schatten. Komm nach Mailand zurück.«

Die Worte trafen sie wie ein Keulenschlag, und wie in einem Kaleidoskop verzerrten sich in ihrem Kopf Bilder und Perspektiven. Dieser Anruf hatte sie völlig aus dem Gleis geworfen, alles war schlagartig anders geworden. Wieder einmal.

Wenige Stunden später saß Camilla im Zug und starrte aus dem Fenster. Sie wusste nach wie vor nichts Näheres, kannte keine Einzelheiten, außer dass Marianne wegen akuter Herzprobleme ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Das hatte ihr Agnese, die Haushälterin, gesagt.

»Ich habe bereits dein Zimmer vorbereitet, mein Schatz. Alberto erwartet dich am Bahnhof. Mach dir keine Sorgen, das Schicksal der Signora liegt in Gottes Hand, er wird gewiss die richtige Entscheidung treffen.«

Wenn sie wenigstens ein Zehntel dieses Glaubens hätte, lediglich ein winziges Stück von Agneses Gottvertrauen, dachte Camilla. Doch das hatte sie nicht und es ließ sich auch nicht herbeizaubern.

Deprimiert schloss sie die Augen und massierte mit den Fingerspitzen sanft ihre Nasenwurzel, ohne dass der hämmernde Kopfschmerz Anstalten machte zu weichen. Zudem war ihre Kehle wie zugeschnürt. Ein unangenehmes und zugleich vertrautes Gefühl, das sie in Krisensituationen regelmäßig plagte. Nach dem Tod ihrer Eltern war es monatelang ihr ständiger Begleiter gewesen, hatte sie noch gequält, als sie längst keine Tränen mehr gehabt hatte.

Eine Welt ohne Marianne, ein Leben ohne sie?

Unvorstellbar. Nicht zuletzt deshalb hatte sie sich für Bellagio entschieden. Weil sie nicht zu weit weg sein wollte von ihr. Von der Mutter, die gar nicht ihre Mutter war.

Sie zwang sich, ruhig zu atmen, um die Angst im Zaum zu halten, bevor sich daraus eine Panikattacke entwickelte. Was nichts daran änderte, dass Mamy sich offenbar in Lebensgefahr befand, sonst hätte Daniela sie nicht so dringlich angefleht, nach Mailand zu kommen. Zurück nach Hause.

Gleich nach der Ankunft am Bahnhof Milano Centrale tauchte sie in das Großstadtleben ein, wurde mitgerissen vom schier endlosen Strom der Pendler. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, so schnell wieder hier zu sein und erst recht nicht aus einem so schmerzhaften Anlass.

Sie zwang sich, die Tränen zurückzudrängen, und ging Richtung Ausgang. Der Chauffeur der Leclercs erwartete sie schon. Und in dem Moment, als sie ihn entdeckte, überkam sie ein wirkliches Gefühl von Heimat.

Alfredo, inzwischen in fortgeschrittenem Alter, trug wie immer seine tadellos gepflegte Uniform. Höflich verbeugte er sich zunächst und nahm sie dann spontan in den Arm.

»Nur Mut, mein Kind.«

Seine liebevolle Zuwendung und sein mitfühlendes Lächeln brachten ihre Selbstbeherrschung ins Wanken. ­Alfredo und Agnese hatten ihr stets sehr nahegestanden. Sie ließ den Kopf gegen die Brust des alten Mannes sinken und suchte seine tröstende Wärme.

Die Vergangenheit hatte sie eingeholt.

Der Boden unter ihren Füßen schien nachzugeben, der Gedanke, dass Marianne sterben könnte, lähmte sie. ­Camilla fühlte sich hilflos angesichts dieser neuerlichen Konfrontation mit dem Tod. Schließlich wusste sie um seine Endgültigkeit. Desgleichen um seine Sinnlosigkeit sowie um die Leere und die Verlorenheit, die er mit sich brachte. Sie hatte es schmerzhaft genug erfahren müssen, nachdem ihre Eltern durch einen Unfall aus dem Leben gerissen worden waren, während sie selbst mit Glück auf dem Rücksitz überlebt hatte.

»Ich habe ihr noch so viel zu sagen, was ich bisher nicht sagen konnte«, erklärte sie mit einer vor Furcht und grenzenlosen Verzweiflung zitternden Stimme.

»Für Worte, die aus dem Herzen kommen, ist es nie zu spät. Ich bin sicher, dass es der Signora bald besser gehen wird. Du wirst sehen, alles wird gut«, versuchte Alfredo sie aufzumuntern und drückte sie erneut an sich.

»Ja, alles wird gut«, wiederholte sie, als würde sie sich selbst beschwören wollen.

Was hätte sie sonst sagen sollen?

Die Fassaden der Häuser, die vielen Lichter vermittelten ihr trotz ihres Kummers ein vertraut beruhigendes Gefühl, sodass sie gefasst zuhörte, als Alfredo sie während der Fahrt auf den neuesten Stand brachte. Seit einigen Tagen hatte sich Marianne offenbar nicht so recht wohlgefühlt, die ersten Warnzeichen aber in den Wind geschlagen. Dann hatte sich die Situation plötzlich zugespitzt, Verdacht auf Herzinfarkt. Zum Glück war sie gerade mit Daniela zu einer Kontrolluntersuchung in der Klinik gewesen, sodass die Ärzte sofort reagieren konnten. Im Augenblick galt ihr Zustand als stabil.

Mamy war eine starke Frau, redete sie sich selbst gut zu, sie würde es bestimmt schaffen. Wenn nicht sie, wer sonst?

Die Luft war klar, der Himmel blau, genau wie in Bellagio während der letzten Wochen. Dennoch war alles anders. Es brauchte nicht mehr als einen kurzen Augenblick, um das Leben völlig auf den Kopf zu stellen.

Seit sie die Nachricht erhalten hatte, drehten sich ihre Gedanken allein um Marianne. Alles andere, Sandra ­Finot, das Schneideratelier, ihre ehrgeizigen Pläne, spielte mit einem Mal keine Rolle mehr.

»Wir sind da. Ich warte im Auto auf dich, nimm dir alle Zeit der Welt.«

Alfredo zeigte auf den Eingang des Krankenhauses, und Camilla stieg aus. Eine Böe erfasste sie, sie wickelte sich fester in den Mantel, obwohl sie wusste, dass es die innere Kälte war, die sie frösteln ließ, und nicht die frostige Februar­luft.

Sie blieb einen Moment vor der Schiebetür stehen und atmete tief ein, um sich Mut zu machen. Sie war früher schon einmal mit Marianne in dieser Klinik gewesen, die man leicht für ein Nobelhotel halten könnte, wenn das Personal nicht weiße Kittel tragen würde. Mamy war also in allerbesten Händen, das wusste sie, und trotzdem musste sie mit eigenen Augen sehen, in welchem Zustand sie sich befand.

Den Mittelpunkt und Blickfang des großzügigen Eingangsbereichs bildete ein extravagantes verglastes Servicedesk, um das herum sich Sofas und Sessel gruppierten. Zwei Empfangsdamen kümmerten sich zuvorkommend um die Belange der Besucher. Ohne auf die anderen Wartenden Rücksicht zu nehmen, schoss Camilla vor.

»Guten Tag, mein Name ist Camilla Sampietro, und ich möchte zu Signora Marianne Leclerc.«

Die Frau hinter dem Tresen übersah geflissentlich ihr unhöfliches Vordrängen, schenkte ihr ein professionelles Lächeln und sah in ihrem Computer nach.

»Tut mir leid, es haben ausschließlich Familienangehörige Zutritt. Ihr Name steht nicht auf meiner Liste der berechtigten Personen.«

Camillas Herzschlag beschleunigte sich. »Bitte schauen Sie noch einmal nach, das muss ein Irrtum sein.«

Hilfsbereit scrollte die Empfangsdame erneut die Liste herunter und schüttelte den Kopf.

»Nein, wie gesagt, ausnahmslos die hier aufgeführten Familienangehörigen haben Zutritt zu Signora Leclerc. Ihr Name ist nicht dabei.«

Nichts zu machen, eine Familienangehörige war sie nicht, da Marianne sie nicht adoptiert hatte. Sie war nichts als ein Waisenkind, das sie aus lauter Gutherzigkeit bei sich aufgenommen hatte. Es war eine groß­mütige Geste gewesen, eine gute Tat, mehr nicht. Exakt das hatte ­Daniela ihr bei ihrem letzten Streit vorgehalten und ihr auf diese Weise klargemacht, dass sie im Grunde nicht dazugehörte.

Rigoros schob sie die trüben Gedanken beiseite. Lange genug hatte sie unter Ausgrenzungen gelitten, inzwischen wusste sie, wie sie damit umgehen musste.

Camilla holte tief Luft und ging in die Offensive, stützte kampfeslustig beide Hände auf den gläsernen Tresen.

»Hören Sie gut zu«, herrschte sie die Frau an. »Sie werden mir nicht verbieten, sie zu sehen. Entweder Sie sagen mir jetzt, auf welchem Zimmer sie liegt, oder ich mache mich auf, sie selbst zu suchen.«

»Lassen Sie sie durch«, ertönte eine heisere Stimme aus dem Hintergrund.

Als sie sich umwandte, stand hinter ihr ein hochgewachsener braunhaariger Mann im zerknitterten Anzug und mit müdem Gesicht, die Hände tief in den Taschen vergraben. Sie erkannte ihn sofort.

»Ciao, Marco, wie geht es Marianne? Gibt es etwas Neues?«, sagte sie, eilte auf ihn zu und krallte ihre Finger in sein Hemd.

Er löste ihre Hände und umfasste sie. Einen Moment lang dachte Camilla, er wolle etwas sagen, aber es kam nur ein langer Seufzer über seine Lippen. Anschließend schenkte er ihr ein Lächeln, das sie nicht recht interpretieren konnte. So war es immer bei Marco Barberini.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Camilla. Marianne hat nach dir gefragt, doch wir wussten nicht, was wir ihr sagen sollten.«

Dieser Satz wühlte sie endgültig auf, und vehement löste sie sich aus seiner Umarmung.

»Dass ich komme, das hättet ihr sagen sollen, nein, sagen müssen.«

Sie machte einen Schritt rückwärts und entschwand durch die Tür, durch die er gekommen war, ohne recht zu wissen, wohin sie führte. Hauptsache, sie fand Marianne, und das würde sie. Ihrem Instinkt folgend, hastete sie die Treppe hoch und war fast oben angelangt, als Marco sie an den Schultern packte.

»Bleib einen Moment stehen und hör mir zu.«

»Warum sollte ich?« Sie warf ihm einen flammenden Blick zu. »Hast du etwa gedacht, ich würde nicht kommen? Ist das dein Ernst, Marco? Für wen hältst du mich eigentlich? Glaubst du wirklich, dass ich die Frau im Stich lasse, die mich großgezogen hat?«

Die ganze Zeit über hatte sie versucht, sich zu beherrschen, jetzt konnte sie nicht mehr. In ihr brachen alle Dämme.

Marco schüttelte den Kopf, sein Gesichtsausdruck wurde hart.

»Es geht hier nicht um dich oder um mich und nicht um irgendwen sonst. Allein Marianne zählt.« Er sah ihr tief in die Augen. »Sie darf sich nicht aufregen, mach deshalb keine Szene und vergieß keine Tränen, bitte. Lächle einfach, und sag ihr, dass du sie liebst.«

Camilla schluckte die beißende Antwort herunter, die ihr auf den Lippen lag. Dafür war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Allerdings hatten Marcos Worte sie tief getroffen, mehr als wenn er handgreiflich geworden wäre und sie geschlagen hätte.

»Lass mich los«, giftete sie ihn an, bevor ihr dämmerte, dass er im Grunde recht hatte.

Doch hatte er so etwas zu ihr sagen müssen? Ausgerechnet er. Der Mann, der einmal der Fixpunkt ihres Lebens gewesen war und noch viel mehr.

Schweigend folgte sie Marco zu einem Vorraum, in dem einige Sessel an kleinen Tischen standen, auf denen Zeitschriften lagen. Eine große exotische Pflanze sollte offenbar eine gewisse Gemütlichkeit verbreiten. Wirklich auffällig an dem Raum war einzig die breite Fensterfront zu Mariannes Krankenzimmer. Sie ging darauf zu und presste die Hände gegen die Scheibe. Ihre Augen bemühten sich, die grauhaarige Frau richtig in den Blick zu bekommen, die zwischen dem Bettzeug kaum zu erkennen war. Camilla straffte die Schultern, trat einen Schritt zurück und streifte sich den Kittel und die Handschuhe über, die Marco ihr hinhielt.

»Das schaffe ich alleine«, sagte sie steif, ging zur Tür und drückte die Klinke herunter.

Marianne öffnete die Augen. Augen so blau wie der Himmel und so scharf wie Rasierklingen. Augen, die einen mal fürsorglich und liebevoll, mal vernichtend und voller Verachtung ansehen konnten. Ganz nach Lust und Laune.

»Mamy?«

»Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lassen würdest. Komm her, mein Kind, und umarme mich. Du hast mir so sehr gefehlt.«

»Du mir auch, Mamy, du mir auch.«

3

Byssus. Kostbar und exklusiv. Die Seide des Meeres, die aus den Haftfäden der Steckmuschel gewonnen wird. Muschelseide wurde für die Bekleidung von gekrönten Häuptern, Fürsten und Päpsten verwendet. Auch heute noch gibt es sogenannte »Byssus-Meister«, die die wertvollen Fäden zu Stoffen verweben.

Camillas Lieblingsplätze im Palazzo Leclerc waren immer schon der Innenhof und der Garten mit seinen mächtigen Bäumen gewesen, deren Blätter sich im Herbst rot färbten. Am liebsten hatte sie lang ausgestreckt auf einem Bett aus Blättern gelegen, die von den Zweigen gefallen waren, und versonnen hinauf in den Himmel geschaut.

Der vierstöckige Palazzo im Zentrum von Mailand wurde zur Straße hin von vier Säulen flankiert, während sich zum Innenhof mosaikgepflasterte Bogengänge öffneten. In ihrer Kinderzeit waren sie gewissermaßen eine Art Spielzimmer für sie gewesen, wobei es ihr vor allem die Marmorbänke angetan hatten, auf denen sie ihre Bilder ausbreiten und Betten für ihre Puppen bauen konnte. Noch schöner war es jedoch gewesen, auf ihnen herumzuhüpfen oder dort einfach zu sitzen und vor sich hin zu träumen.

Auf einer dieser Marmorbänke hatte sie Marianne das erste Mal gesehen. Den Teil des Palazzo, in dem Marianne residierte, durfte sie nämlich nicht betreten, sie wohnte mit ihren Eltern im Personaltrakt. Als Schneider der Mode­firma Leclerc war ihnen das Privileg zuteilgeworden, hier zu wohnen. Eine solche Wohnung hätten sie sich sonst nie und nimmer leisten können. Und ihre Mutter wurde nicht müde, das unentwegt zu beteuern und dankbar dafür zu sein.

Die Signora ist eine Heilige, war einer ihrer Lieblingssätze.

Als kleines Mädchen hatte sie natürlich nicht gewusst, was das bedeutete, aber gespürt, dass es etwas sehr Positives sein musste. Deshalb hatte sie auch keine Angst gehabt, als Marianne Leclerc in den Hof gekommen war und sich auf eine der Bänke gesetzt hatte, um die neuen Stoffmuster zu begutachten. Ein wunderschönes Bild: die attraktive Frau und die prächtigen Stoffe, die im Licht der Sonne wie Schmetterlingsflügel glänzten. Ohne Scheu war sie auf sie zugegangen.

»Ciao.«

Marianne hatte fragend aufgeblickt.

»Und wer bist du?«

»Ein Kind.«

Daraufhin hatte die Signora ihre Augenbrauen hochgezogen und sie neugierig gemustert.

»Kannst du mir vielleicht noch etwas von dir erzählen, das ich nicht sehen kann?«

»Das kommt darauf an, was du wissen willst. Über Stoffe zum Beispiel weiß ich eine ganze Menge.«

»Über Stoffe?«

»Ja, das interessiert mich. Ich habe so eine Schachtel, die mein Papa mir geschenkt hat. Darin sind die schönsten Stoffe der Welt, und alle sind ganz unterschiedlich. Seide ist so weich und sanft, als würde sie dich streicheln, und Samt ist so zart wie eine Umarmung. Wolle ist warm, aber pikst manchmal – da muss man aufpassen, sie ist ganz schön hinterlistig. Baumwolle dagegen fühlt sich angenehm an und irgendwie fröhlich, Leinen ist so frisch wie der Wind. Wenn du willst, kannst du den Himmel auf die Stoffe malen, die Sterne und die Sonne, sogar das Meer. Dann sieht dein Kleid noch schöner aus, und du fühlst dich wohl darin.«

Einen Moment lang hatte Camilla geglaubt, die Frau habe kurz gelächelt, doch sie war sich nicht sicher gewesen.

»Nun gut, meine kleine Unbekannte. Und was machst du hier in meinem Hof und meinem Garten?«

Daraufhin hatte Camilla sich gereckt und selbstbewusst erklärt: »Ich springe, zeichne und renne über die Bänke«, um sogleich einschränkend hinzuzufügen: »Natürlich ziehe ich vorher die Schuhe aus, damit ich nichts schmutzig mache. Hier kann ich den Himmel und die Bäume sehen und sogar singen, wenn ich Lust dazu habe.« Dann war ihr plötzlich noch etwas eingefallen. »Soll ich dir was zeigen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, hatte sie Marianne bei der Hand genommen und mit sich gezogen. Nachdem die Signora anfangs absolut nicht begeistert von der Idee gewesen war, hatte sie schließlich ihren Widerstand aufgegeben und war dem Mädchen seufzend zur Mauer gefolgt. Dort verbarg sich hinter einem Kamelienstrauch ein schmaler Durchgang zu einem von außen nicht einseh­baren kleinen Platz, auf dem ein Hocker und ein wackeliger Tisch mit einem zu kurzen Bein standen, dem erst ein Stein einigermaßen Halt gab. Ein Blumenkübel komplettierte die Ausstattung. Das war Camillas Geheimversteck.

»Hier kannst du alles sein, was du dir wünschst. Dies ist der Ort der Träume.«

»Der Ort der Träume?«

»Ja, hier kannst du dich verstecken, wenn es dir nicht gut geht. Zum Beispiel, wenn jemand mit dir geschimpft hat. Niemand außer mir und jetzt dir kennt diesen Platz.«

»Aha.«

Während die Frau nach dieser Erklärung einen Moment lang in Schweigen versunken war, hatte das Kind Blumen aus dem Kübel gepflückt und sie ihr hingehalten.

»Die sind schön und duften gut, du musst sie in eine Vase stellen. Sie heißen Margeriten.«

»Danke.« Marianne hatte an den Blumen gerochen und sich dann umgesehen. »Dieses geheime Plätzchen hatte ich ganz vergessen.«

»Niemand kommt hierher, außer mir natürlich. Wenn du willst, darfst du mein Versteck ebenfalls benutzen. Ich leihe es dir. Du siehst nicht besonders glücklich aus und brauchst vielleicht dringend einen solchen Ort der Träume, damit es dir besser geht.«

An diesem Tag waren Marianne und Camilla Freundinnen geworden.

Eine kinderlose Frau und ein einsames Kind, das diesen verborgenen Winkel als sein kleines Reich betrachtete. Als seinen Rückzugsort. Hier hatte sie auf dem Blätterbett gelegen, in den Himmel geschaut und davon geträumt, nach den Sternen zu greifen, Stoffe zu weben und daraus Kleider zu schneidern, die glücklich machten. Ganz nach dem Vorbild ihrer Eltern.

Jetzt, viele Jahre später, suchte sie erneut den Innenhof auf, um nach dem magischen Ort zu suchen, an den sie Marianne vor vielen Jahren geführt hatte. War es eine Eingebung oder die Erinnerung an das glänzende Stück Stoff gewesen, das sie ihr damals geschenkt hatte und das sie immer bei sich trug? Wie um sich zu vergewissern, holte sie es aus ihrer Tasche und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Sogleich sah sie, wie das Licht die Farben leuchten ließ, und hörte, wie das Gewebe leise zu flüstern begann.

Es erzählte ihr eine wohlbekannte Geschichte: die Geschichte von Camilla und Marianne.

Als sie ihr Geheimversteck erreichte, war sie enttäuscht, denn es kam ihr längst nicht mehr so schön vor wie früher. Im Grunde war es nur eine Ecke hinter einer verwitterten Natursteinmauer, in der sich vor ihrer Zeit womöglich einmal ein Stall oder ein Schuppen für Gartengeräte befunden hatte. Der Trog, in dem einst Margeriten geblüht hatten, war leer. Inzwischen kam offensichtlich nicht einmal mehr der Gärtner hierher.

Ihren Ort der Träume hatte man der Natur überlassen.

Ein wenig melancholisch kehrte sie zum Palazzo zurück, und während sie die Treppenstufen hinaufstieg, wurde ihr klar, dass dieser verwunschene Platz bloß das erste von vielen Verstecken gewesen war, die sie im Laufe der Jahre für sich gefunden hatte. Zuletzt Bellagio.

Und von dort hatte Marianne sie nach Mailand zurückholen lassen, ganz bewusst, da war sie sich sicher.

Obwohl mittlerweile ein paar Tage seit ihrer Rückkehr vergangen waren, erschien es ihr nach wie vor irgendwie unwirklich, wenn sie aus dem Garten kam und jenen ­Flügel des Palazzo betrat, den Marianne für sich behalten hatte. Dabei hatte ihr alles noch ganz deutlich vor Augen gestanden, als wäre sie keinen Tag von hier fort gewesen. Im Hochparterre befanden sich die reich bestückte Bibliothek, das Musikzimmer mit dem Flügel, der imposante ­Salon und das gemütliche Wohnzimmer, in dem Marianne, Daniela und sie so viele Stunden miteinander verbracht hatten.

Im Stockwerk darüber lagen die Schlaf- und Gästezimmer, und ganz oben gab es ein Atelier, in dem die wichtigsten Kunden empfangen und die kostbaren Kleider präsentiert wurden. Das war Mariannes Reich, perfekt strukturiert und luxuriös ausgestattet. Man konnte die durch ihre Abwesenheit bedingte Leere förmlich spüren, es war, als würde die Zeit stillstehen.

Alles wartete auf die Rückkehr der Patronin, die heute noch aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte.

Camillas Ziel waren diesmal allerdings nicht die Räume im Hochparterre, sondern die Küche im Erdgeschoss, wo Agnese sie schon erwartete.

»Bist du bereit?«, erkundigte sie sich mit einem verschwörerischen Lächeln.

»Ja.«

»Es wird nicht leicht, das wissen wir alle. Trotzdem steht fest, dass sie dich braucht.«

Die Haushälterin wischte sich die Hände an der Schürze ab und hielt der jungen Frau eine Schale Gebäck hin.

»Leistest du mir noch ein wenig Gesellschaft, bevor du aufbrichst? Auf dem Küchentisch wartet bereits eine Tasse Tee auf dich.«

Seitdem sie aus Bellagio zurück war, setzte Agnese alles daran, sie mit ihren Kochkünsten zu verwöhnen. Das war ihre Art von Fürsorge. Die buttrigen Plätzchen, die auf der Zunge zergingen, waren ihr Lieblingsgebäck, der aromatische Tee gehörte zu ihren Lieblingssorten.

Camilla seufzte. Es tat ihr unendlich gut, umsorgt zu werden, und half ihr, sich ungeachtet aller Widrigkeiten besser zu fühlen.

Im Moment mochte sie sich nicht mit der Zukunft beschäftigen, wichtig war allein die Gegenwart. Sie war glücklich, dass es Marianne wieder einigermaßen ging, alles andere würde sich finden.

Nachdenklich starrte sie auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Tasse. Der fruchtig-süße Duft erinnerte sie an die gemeinsamen Stunden mit Daniela, damals, als sie sich noch nahe gewesen waren. Jetzt sprachen sie kaum mehr miteinander.

Sie waren enge Freundinnen gewesen. Gemeinsam hatten sie die University of Arts in London und das Polimoda in Florenz besucht, danach den Abschluss am Istituto ­Marangoni in Mailand gemacht, als Jahrgangsbeste natürlich. Doch irgendwann hatte sich etwas verändert, warum auch immer. Mit einem Mal war das selbstverständliche Vertrauen verschwunden, sie hatten aufgehört, sich alles zu erzählen, ihre Erfolge zu teilen und sich gegenseitig die Tränen zu trocknen.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«

»Ach nichts, kein Grund zur Sorge.«

Agnese seufzte. »Hör nicht auf Daniela, du weißt ja, wie sie ist. Sobald sie sich beruhigt hat, wird sie bestimmt auf dich zukommen.«

Wenngleich sie wusste, dass Agnese eine gute Beobachterin war und die Zusammenhänge scharf analysierte, war Camilla immer wieder erstaunt, wie treffsicher sie ihre Schlüsse zog und sogar erriet, was andere dachten.

Camilla nickte. »Möglich, aber jetzt müssen wir erst mal an Mamy denken, alles andere ist zweitrangig.«

Worte, mit denen sie sich selbst Mut zu machen und die Gedanken an Daniela beiseitezuschieben versuchte. Was nicht einfach war. Zu tief saß die Verbitterung über die hasserfüllten Demütigungen, die sie hatte hinnehmen müssen. Über die Bestrebungen, sie auszugrenzen und ihr unaufhörlich unter die Nase zu reiben, dass sie nicht dazugehörte, weil sie nicht ebenbürtig, sondern von bescheidener Herkunft war. Und sogar wenn sie am Krankenbett zusammengetroffen waren, hatte Daniela sie behandelt wie eine Fremde.

»Der Wagen wartet, geh jetzt«, mahnte Agnese.

An der Tür blieb Camilla noch einmal stehen. Sie hatte zwar Mariannes Mantel und den Schal dabei, doch war sie nicht sicher, ob das bei dieser Kälte reichte.

»Würdest du Alfredo bitten, noch etwas zu warten?«, bat sie und rannte die Treppe hoch in das Schlafzimmer ihrer Ziehmutter.

Dort öffnete sie den Kleiderschrank und wählte ein warmes Wolltuch in bunten Farben. Mamy liebte ­Rottöne, das Tuch würde hoffentlich ihre Stimmung heben. Zufrieden lächelnd ging sie endgültig nach unten, wo die Leclerc-­Limousine schon mit laufendem Motor auf sie wartete und gerade per Fernbedienung das große Tor geöffnet wurde.

»Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen«, rief sie und sprang rasch in den Fond des Wagens.

Im selben Augenblick erstarb ihr Lächeln, denn am Steuer saß nicht wie erwartet Alfredo.

»Ciao, Camilla.«

»Marco?«

»Warum so erstaunt?« Er legte den Gang ein, gab Gas und fuhr los. »Da es noch einige Formalitäten zu regeln gibt, musste ich ohnehin ins Krankenhaus.«

Marco war Anteilseigner in Mariannes Unternehmen und beriet sie bei Bedarf in geschäftlichen Dingen.

Sie sah ihn fragend an, ohne etwas zu sagen. Ihr war die Lust zu reden gründlich vergangen, und so schaute sie ­demonstrativ nach draußen.

»Es tut mir leid.«

Einen Moment lang glaubte sie sich verhört zu haben. Der große Marco Barberini entschuldigte sich bei ihr? Dass er, der Erbe einer der weltgrößten Stoffdynastien, der sich seines gesellschaftlichen Ranges sehr wohl bewusst war, sich bei einer unbedeutenden Person wie ihr entschuldigte, grenzte wahrlich an ein Wunder.

Allerdings hatte es einmal eine Zeit gegeben, in der sie diesem brillanten Mann, der stets wusste, was er tat, und stets erreichte, was er wollte, sehr nahegestanden hatte. Vielleicht zu nahe.

Doch daran mochte sie nicht denken. Das war aus und vorbei und inzwischen nicht mehr wirklich wichtig. Zumindest für ihn nicht, wie es schien.

»Entschuldige. Was hast du gerade gesagt?«

Er lächelte nachsichtig. »Dass es nicht einfach war in den letzten Monaten.«

»Das dürfte uns allen so ergangen sein«, antwortete sie sarkastisch.

So leicht wollte sie ihn nicht davonkommen lassen, wollte ihm zu verstehen geben, dass er keinen Exklusivanspruch auf Probleme hatte. Bei jedem anderen wären ihr unqualifizierte Äußerungen egal gewesen, sie hatte gelernt, so etwas wegzustecken. Bei ihm nicht. Außerdem machte er sie nervös mit seinem undefinierbaren Blick.

»Du bist so anders.«

Was wollte er damit sagen, fragte sie sich und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.