Die Honigtöchter - Cristina Caboni - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Honigtöchter E-Book

Cristina Caboni

4,4
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die geheime Sprache der Bienen erzählt von Liebe und der Vergangenheit einer Insel ...

Kurz nach Sonnenaufgang verlässt Angelica Senes eine Landstraße in Südfrankreich und folgt einem von Rosmarin und Lavendelbüschen gesäumten Weg. Sie sucht den Bienenstock auf, den man ihr anvertraut hat. Sie ist reisende Imkerin, und sie liebt ihre Freiheit. Auch wenn sie dabei das türkisblaue Meer ihrer Heimat Sardinien vermisst. Erst als ihre Patentante stirbt und ihr ein Cottage hinterlässt, kehrt Angelica zurück. Doch dort muss sie sich dem stellen, was sie einst zurückließ: ihrer Familie, den Geheimnissen der Insel – und Nicola, dem Mann, an den sie schon als Kind ihr Herz verlor ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 465

Bewertungen
4,4 (24 Bewertungen)
15
3
6
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch:

Kurz nach Sonnenaufgang verlässt Angelica Senes eine Landstraße in Südfrankreich und folgt einem von Rosmarin und Lavendelbüschen gesäumten Weg. Sie sucht den Bienenstock auf, den man ihr anvertraut hat. Sie ist reisende Imkerin, und sie liebt ihre Freiheit. Auch wenn sie dabei das türkisblaue Meer ihrer Heimat Sardinien vermisst. Erst als ihre Patentante Margherita stirbt und ihr ein Cottage hinterlässt, kehrt Angelica auf die Insel zurück. Doch dort muss sie sich dem stellen, was sie einst zurückließ: der Vergangenheit ihrer Familie, den Geheimnissen der Frauen der Insel – und Nicola, dem Mann, an den sie schon als Kind ihr Herz verlor …

Autorin:

Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Die Welt der Düfte und Essenzen, in der ihr Debütroman Die Rosenfrauen spielt, ist ihre große Leidenschaft.

Von Cristina Caboni bereits erschienen:

Die RosenfrauenBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Cristina Caboni

Roman

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »La custode del miele e delle api« bei Garzanti Libri, Mailand.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Cristina Caboni

Vermittelt durch Laura Ceccacci Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Troni

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Getty Images/Julia Khusainova

kw · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17681-5

www.blanvalet.de

Eine Biene setzt sich auf eine Rosenblüte,sammelt den Nektar und fliegt dann davon.Wie viel Glück liegt doch in den kleinen Dingen!

Trilussa

Gewidmet meinem Mann Roberto und meinem Sohn Davide. Beide haben das Herz am richtigen Fleck und kennen die Schönheit der Bienen.

Die goldenen Bienen suchten den Honig. Wo wird er sein? Im Blau einer kleinen Blüte auf einer Knospe des Rosmarins.

Federico García Lorca

Prolog

Die salzige Meeresbrise, vollgesogen mit Feuchtigkeit und Erinnerungen, zieht die Klippe herauf. Margherita Senes schlägt die Augen auf und schaut auf den azurblauen Himmel über ihr.

Sie ist müde.

Seit einigen Monaten bleibt ihr immer öfter die Luft weg, und ihr Herz setzt für ein paar Schläge aus.

»Wir haben es fast geschafft«, murmelt sie in Richtung Horizont.

Dann lächelt sie.

Ihr Rock schleift über die Treppenstufen, als sie sich langsam darauf niederlässt. Er ist weiß, denn die Bienen lieben die klaren Farben des Tageslichts und der Sonne. In ihrer einst starken und entschlossenen Hand hält sie einen Strohhut, an dem ein Schleier befestigt ist. Sie trägt ihn zwar seit Jahren nicht mehr, aber sie hat ihn immer dabei.

Ihre Bienen sind friedlich, sie arbeitet achtsam und geduldig und erntet nur den Honig, den die Tiere nicht als Nahrung brauchen. Die Bienen wissen das und haben mit Margherita einen Pakt geschlossen, schon vor langer Zeit, als sie noch ein Kind war.

Margherita, die neue Honigtochter.

Das beruhigende Summen hüllt sie ein. Es ist wie eine Melodie, die immer mal wieder leicht anschwillt, hin und wieder mischt sich auch das Rauschen des Quellwassers darunter und erzählt ihr Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Sie steht auf.

Ihr Atem geht jetzt wieder regelmäßig, und das Herz schlägt im stetigen Rhythmus.

»Los!«, sagt sie leise zu sich selbst. Dann geht sie zur Schlucht zurück, die die Bienen gegen die Wucht des Mistrals schützt. Sie schaut ihnen noch einen Moment zu, fasziniert beobachtet sie die heranfliegenden Arbeiterinnen, die voller Blütenstaub in den Stock zurückkehren. Sie lächelt, und ihr Blick verliert sich im angrenzenden Wald.

Da ist er, sie kann ihn trotz der Entfernung erkennen. Ein jahrhundertealter Olivenbaum, geformt von der Glut der gleißenden Sonne und mondhellen Nächten. Ein würdevoller König, umgeben von seinem Gefolge aus smaragdgrünen Flechten und Moos. Seine Wurzeln reichen tief in die Erde, bis hinunter zu dem sauberen Grundwasser. Die mächtigen Äste sehen aus, als würden sie den Himmel streicheln. Margherita streckt die Hand aus, als ob sie ihn berühren wollte. Nur einen Moment, dann wendet sie sich wieder in Richtung Pfad. Sie ist glücklich. »Der Rückweg ist leichter«, flüstert sie.

Jetzt gibt es nur noch eines zu erledigen. Sie ist bereit, sie spürt es in ihrem Herzen: Der Zeitpunkt ist da. Sie muss es tun. Damit sie und ihr Werk in Erinnerung bleiben.

Dieser Gedanke begleitet sie auf dem Nachhauseweg und auch danach, während sie einen Brief schreibt, ihn anschließend in einen Umschlag steckt, den sie verschließt und auf den Tisch mit den Spitzendeckchen legt. Neben dem Umschlag steht ein Porzellanteller mit einer perlfarbenen Bienenwabe, die den betörenden Duft des ersten Frühlingshonigs verströmt.

1.

Rosmarinhonig (Rosmarinus officinalis) Mild-aromatisch und zart. Der Honig des Neubeginns und der Klarheit. Er verleiht Mut zur Veränderung, und sein Geschmack erinnert an den Duft der Blüten, aus denen er gewonnen wird. Dieser Honig ist fast weiß und von cremiger Konsistenz.

Sonnenaufgang, ihre liebste Tageszeit. Wegen der Farben, der Stille und der Gerüche. Und wegen der ungeahnten Möglichkeiten, die einem der gerade erst beginnende Tag eröffnet.

Angelica Senes hatte schon viele Sonnenaufgänge erlebt. Alle gleich und doch so verschieden. In Spanien zum Beispiel bringt die aufgehende Sonne den Himmel zum Brennen, in der Luft hängt ein Geruch nach Tränen, aber auch nach Freiheit und Unendlichkeit. Die Sonnenaufgänge im Norden sind gleißend hell und kalt, zielgerichtet und effizient. In Griechenland durchbricht die Sonne ganz plötzlich die Dunkelheit wie bei einem Feuerwerk.

Und dann gab es da noch die Sonnenaufgänge ihrer Kindheit. Wie aus Kristall, ein grenzenloses Blau, in dem sich die eigene Seele spiegelt.

Die Spuren der schlaflosen Nacht noch in den Augen, stieg Angelica aus dem Campingbus, in der Hand ein Werkzeug, das wie ein Metallhaken aussah. Er schmiegte sich perfekt in ihre Hand, sie kannte jede Unebenheit auf dem ansonsten glatten Metall. Nach vorne spitz zulaufend, leicht und dennoch robust genug, um die vollen Honigwaben anzuheben. Der Haken war ihr verlängerter Arm.

In jenen Momenten, in denen sie geduldiger und nachsichtiger mit sich war, empfand Angelica dieses Werkzeug als ihr Markenzeichen. Miguel Lopez hatte es für sie angefertigt, der Verwalter des spanischen Imkerbetriebs, in dem sie die ersten Jahre gearbeitet hatte, nachdem sie von zu Hause weggegangen war. Über dem Landgut spannte sich ein tiefblauer Himmel, die Erde der umliegenden Hügel war rot, ideale Standortbedingungen für Rosmarin, dessen silbrig grüne Blätter in der Sonne glänzten. Damals hatte Angelica nur wenig gesprochen, was der alte Imker sehr geschätzt hatte. Deshalb hatte er sie auch auf seine Kontrollgänge zu den Bienenstöcken oder bei der Suche nach neuen Standorten mitgenommen.

Miguel hatte schnell erkannt, dass sie die Sprache der Bienen verstand. Eine äußerst seltene Gabe. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden wie Angelica Senes getroffen. In dieser jungen Frau steckte etwas Besonderes. Etwas Ererbtes aus alter Zeit.

Er hatte sie heimlich beobachtet. Sie redete nicht nur mit den Bienen, sie sang auch. Sie sang für die Tiere. Wenn ihre glockenreine Stimme über den blassblau schimmernden Rosmarinfeldern aufstieg, spürte Miguel, wie sein altes Herz schneller zu schlagen begann. Ein intensives Gefühl rief ihm Dinge ins Gedächtnis, die seit Jahren vergraben waren. Als er Angelica nichts mehr vermitteln konnte – sie wusste mehr über Bienen als irgendjemand sonst –, beschloss er, ihr etwas zu schenken, das sie nicht besaß: einen handgefertigten Wabenheber.

Ihr verlängerter Arm.

Er hatte den Haken aus einem Hufeisen geschmiedet, mit unendlicher Geduld, Schritt für Schritt, für schmale Finger und besonders leicht. Genau richtig für eine Frauenhand.

Seit jenem Tag trug Angelica den Metallhaken immer bei sich. Auch jetzt, während sie zum zweiten Rosmarinfeld hinüberging, hatte sie ihn dabei. Mehr brauchte sie nicht, um die Bienenstöcke zu kontrollieren. Die Felder erstreckten sich, so weit das Auge reichte, als wären sie ein blaugrünes Meer. Auf den von Tau bedeckten schmalen Blättern spiegelte sich das noch schüchterne Morgenlicht, die aufkommende leichte Brise trug den intensiven Geruch weit ins Land.

Rosmarin. Aus dem Nektar seiner Blüten wurde ein heller, fast weißer Honig, der innerhalb weniger Tage feinkörnig kristallisierte. Aromatisch-süß und cremig-mild. Ihre Lieblingssorte.

Die Feuchtigkeit der Nacht stieg empor, eine opalisierende Wolke, die sich nach und nach auflöste. Ein schokobrauner Mastino erwartete sie vor ihrem alten Campingbus, in dem sie schon seit Jahren lebte. Die wachen dunklen Augen folgten jeder Bewegung seiner Herrin. Als sie ihm mit der Hand ein Zeichen gab, stürmte ihr der riesige Hund entgegen.

»Komm, Lorenzo, Zeit zu gehen«, sagte sie und streichelte ihm den Kopf.

Auf dem Weg nach unten plante sie ihr weiteres Vorgehen. Hin und wieder drehte sie sich um und sondierte die Umgebung. Dabei schnupperte sie immer wieder, denn die meisten Gefahren lauerten in der Luft. Vor allem aber musste sie die Bienenstöcke selbst gesehen haben, bevor sie beurteilen konnte, welches Problem François Dupont hatte. Er hatte sie eine Woche zuvor engagiert, um herauszufinden, was mit seinen Bienen los war.

Angelica war Wanderimkerin, solche Probleme zu lösen war ihr Job.

Sie wusste alles über Bienen, das Summen der Tiere war Musik in ihren Ohren, eine Sprache, die sie perfekt beherrschte. Außerdem war sie in der Lage, Düfte, Geräusche und Umwelteinflüsse treffend zu analysieren. Sobald sie die Probleme der Bienen gelöst hatte, verschwand sie wieder.

Sie war eine Honigtochter, die letzte noch lebende Bewahrerin einer alten Kunst, die nur unter Frauen weitergegeben wurde.

Plötzlich stand sie vor der Einflugschneise. Alle Gedanken lösten sich auf, wie immer, wenn sie in diese Welt eintauchte, in ihre Welt. Alles um sie herum wurde unscharf. Die Bienen flogen an ihr vorbei und verschwanden, begleitet von einem melodischen Summen. Sie folgte ihnen mit dem Blick und entdeckte die Stöcke. Sie standen am Feldrand, dicht vor einer Hecke und damit gegen den Wind geschützt. Eine gute Entscheidung. Nichts war so schädlich für einen Bienenstock wie stürmischer Wind, und in dieser Region Frankreichs konnte der Mistral sogar Bäume entwurzeln.

Sie ging näher, wobei sie auf jedes Detail achtete. Als ihr Blick auf die dicht aneinandergereihten blauen Kästen fiel, wunderte sie sich.

»Nicht das kleinste Zeichen, keinerlei Markierungen an den Kästen. Die Luftzirkulation muss unglaublich sein«, murmelte sie, während sie alle Eindrücke in sich aufnahm. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wie sollen sich die armen verstörten Bienen denn orientieren, Monsieur Dupont? An der Hausnummer etwa?«, fragte sie Lorenzo, der ihr hinterhertrottete. »Ein kleines Zeichen reicht, es muss ja nicht gleich die Sixtinische Kapelle sein«, murmelte sie kopfschüttelnd.

Sie war zwischen den Zweigen hindurch auf die Rückseite der Bienenstöcke gegangen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Hund es sich unter einem Busch bequem gemacht hatte. Es war wie immer: Er blieb so lange an ihrer Seite, bis sie sich den Bienen näherte, ab da hielt er den Sicherheitsabstand ein.

»Du bist mir ein schöner Imkerhund, du solltest dich schämen«, sagte sie leicht vorwurfsvoll, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.

Angelica streckte den Arm aus und schob den Metallhaken unter die Abdeckung des ersten Kastens. Mit einer fließenden Bewegung aus dem Handgelenk lüftete sie den Deckel und wartete, bis die Bienen hinausgeflogen waren. Sie schwirrten dicht an ihren Fingern vorbei. Angelica beobachtete ihr Verhalten aufmerksam. Die Bienen glänzten und wirkten gut genährt, mit ihren goldgelben und ockerfarbenen Streifen sahen sie wunderschön aus. Den Haken noch immer in der Hand, hob sie den Deckel vorsichtig ganz ab.

In diesem Moment begann sie zu singen. Die klare, harmonische Melodie schien über dem Feld zu schweben. Sie schloss die Augen, während der Liedtext durch sie hindurchströmte und ihr wie von selbst über die Lippen kam. Sie spürte den Rhythmus und die Sanftheit der Melodie auf der Zunge. Die Kraft floss von ihrem Herzen in die ausgestreckten Finger und von dort weiter zu den Bienen. Sie sang noch immer, und als ihr das heitere Summen der Bienen als Antwort entgegenschallte, schien sie mit ihnen zu fliegen.

Das Erste, was sie spürte, war die Wärme, die ihr wie ein Sommerwind aus dem Bienenstock entgegenströmte. Ein beruhigendes Gefühl, ihre Haut begann zu kribbeln. Ganz langsam legte sie den Deckel auf die Seite, bedächtig und hochkonzentriert. Einen Moment später begann sie wieder zu singen.

Die Nisthöhle, die ein großes Volk beherbergte, schien in Ordnung zu sein. Die Bienen flogen heraus und drängten sich alle im ersten der Stöcke zusammen, um den Eindringling neugierig zu beobachten. Die schweren, perlmuttfarben schimmernden Bienenwaben dufteten nach Honig, unter den sich schwacher Rauchgeruch mischte.

Vorsichtig hob Angelica den ersten Wabenrahmen an, schätzte den Bestand und begutachtete die Nisthöhle. Sie hatte sich einen schweren Rahmen ausgesucht, auf dessen sechseckigen Zellen die Arbeiterinnen umherliefen. Nachdem sie die dünne Wachsschicht durchbrochen hatten, mit der die Wabenzellen verschlossen waren, krochen die neugeborenen Bienen langsam heraus, noch von einer dünnen Schmierschicht bedeckt. Sofort wurden sie von den Arbeiterinnen empfangen, die sie mit ihren Antennen und Beinen liebkosten, während sich die Flügel der Jungen zum ersten Mal entfalteten.

Ein magischer Augenblick. Die Geburt eines Lebewesens war immer etwas Besonderes. Angelica war fasziniert, sie schien genau das zu erleben, was die Bienen auch erlebten, und das zu spüren, was die Bienen auch spürten, als wäre sie ein Teil des Volkes. Sie beobachtete die Arbeiterinnen, die nach ihrer Rückkehr in den Stock im Kreis zu tanzen schienen, während andere den heruntergefallenen Blütenstaub aufsammelten oder Nektartropfen aufsaugten und sie in die Waben transportierten.

Alles war perfekt organisiert, jede einzelne Biene hatte ihre Aufgabe und kannte ihren Platz im Volk ganz genau.

Ein Gedanke raubte Angelica den Atem. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um ihn zu vertreiben. Sie konzentrierte sich erneut auf den Bienenstock und nahm die einzelnen Waben nacheinander heraus, bis zur letzten. Sie arbeitete mit großer Sorgfalt, inmitten summender Bienen, im Schatten der großen Zistrosenbüsche, die das Rosmarinfeld säumten. Zum Summen der Arbeiterinnen gesellte sich das Piepsen der Finken, sie erkannte weiße Schmetterlinge … Wie hießen sie noch? Kohlweißlinge, fiel es ihr ein, als sie ihrem Flug mit dem Blick folgte. Mit ihnen schwirrten noch einige andere Schmetterlinge durch die Luft und ließen sich dann auf den Blüten nieder.

Je intensiver sie sich umschaute, desto mehr wirkte die Umgebung auf sie. Inmitten dieser Welt aus Geräuschen, vielfarbigen Insekten und der vergehenden Zeit versank sie in einem Paralleluniversum. Hier konnte man sich in einer Art Meditation verlieren oder in der Sonne verharren, nur weil sich ihre Wärme so gut auf der Haut anfühlte. Einfach so, weil man es wollte, ohne dass es irgendeinen Grund dafür gab.

Für Angelica war das ein Moment absoluter Freiheit, in dieser Welt konnte sie sie selbst sein. Ein Moment, der sie mit tiefer Freude erfüllte. Ein Moment außerhalb von Raum und Zeit, ein perfekter Moment.

Die Welt der Bienen.

»Steig auf in den Himmel, goldene Biene, steig auf, du Königin der Blüten. Du hütest das Leben, du achtest auf das, was sein wird …«

Sie beendete die Kontrolle des ersten Bienenstocks. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Die Bienen glänzten und flogen lebhaft umher, sie sammelten Blütenstaub und Nektar. Die Vorratsspeicher waren gut gefüllt. Sie hatte nichts entdeckt, was auf Krankheit oder Verwaistheit hindeuten könnte, von der starken Luftzirkulation einmal abgesehen. Die Bienenkönigin war jung und stark und hatte die Eier gleichmäßig in den dafür vorgesehenen Wabenzellen abgelegt. Und die hölzernen Wabenrahmen hatten genügend Abstand voneinander.

Nach dem immer gleichen Ablauf öffnete sie einen Stock nach dem anderen, mit wachem Blick, vorsichtig und hochkonzentriert. Erst zur Mittagessenszeit beendete sie ihre Arbeit. Sie wartete, bis die Bienen, die sich auf ihr niedergelassen hatten, davongeflogen waren, und ging dann, gefolgt von Lorenzo, den Weg wieder hinauf. In der Nähe einer Tiertränke blieb sie stehen. Der Hund steckte die Schnauze ins Wasser und trank. Auch Angelica erfrischte sich. Während das Wasser von ihr abperlte, wirbelten ihre Gedanken in alle Richtungen durcheinander wie die Bienen. Die Sonne schien kraftvoll, bald würde sie den Hut aufsetzen müssen.

Ein Bild formte sich in ihrem Kopf: Margherita, ihre geliebte Jaja. Die Frau, die ihr diesen Gesang beigebracht hatte, hatte immer einen Hut bei sich. Einen Moment lang blickte sie wehmütig in Richtung Horizont, ehe sie sich an den Aufstieg machte.

Genug Zeit, um noch einen anderen Bienenstock zu kontrollieren, dachte sie, weiter unten im Tal, Richtung Meer. Vielleicht sollte sie dort hinfahren.

Sie verstaute die Ausrüstung im Campingbus und wollte den Motor starten. Er hustete, das war aber auch alles. Angelica schloss die Augen und betete, dann drehte sie erneut den Zündschlüssel und warf der getigerten Katze einen Blick zu, die sich auf dem Armaturenbrett zusammengerollt hatte. Pepita, das neue Mitglied ihrer seltsamen Familie.

»Halt dich gut fest, meine Schöne.«

Die Katze warf ihr einen gelangweilten Blick zu, gähnte und schloss die Augen. Als der Motor endlich startete und der Bus einen Satz nach vorne machte, seufzte Angelica erleichtert auf.

2.

Akazienhonig (Robinia)Duftet nach Vanille und frischem Gras. Wenn man die Augen schließt, meint man ein weißes Blütenmeer vor sich zu sehen. Er gilt als Honig des Lächelns und schenkt Lebenskraft. Sein Geschmack ist mild und unaufdringlich, die Kristalle sind sehr klein.

Am nächsten Morgen verließ Angelica das Gut von Monsieur Dupont bereits sehr früh. Sie hatte ihm einige wichtige Hinweise gegeben und war für ihre Arbeit bezahlt worden. Vor allem hatte sie ihm geraten, die Bienenstöcke zu markieren, am besten in den Lieblingsfarben der Bienen: Gelb, Blau und Grün – und zwar abwechselnd. Auch wenn die Bienen immer in ihren Stock zurückfanden, war es wichtig, ihnen eine Orientierungshilfe zu geben, besonders in windigen Regionen wie dieser. Danach war sie gegangen, ihre Aufgabe war erledigt. Aber sie empfand weder Freude dabei noch Melancholie. Sie empfand überhaupt nichts.

Sie starrte auf das Auto vor ihr und dachte an längst vergangene Zeiten.

In der letzten Nacht hatte sie wieder diesen Traum gehabt, in dem Jaja, die sie wie eine Mutter aufgezogen hatte, nach ihr rief. Angelica lief ihr entgegen, aber es gelang ihr einfach nicht, bei ihr anzukommen. Sie musste ihr dringend etwas sagen, ihrer innig geliebten Jaja, sie wiederholte es mehrmals. Nur was?

Angelica schloss für einen Moment die Augen, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße. Das Gefühl von Enttäuschung und Verlust war so groß, dass es fast körperlich wehtat. Absurd! Sie seufzte. Langsam hatte sie wirklich die Nase voll.

»Pass auf bei Träumen in der Morgendämmerung«, murmelte sie, ein typischer Ausspruch ihrer Mutter. Ihre Gedanken kehrten wieder zu Jaja zurück.

»Die Bienen sind die Wächterinnen der Blüten, mein Kind. Sie sind sehr klug und wissen alles über uns. Sie ernähren uns, sie heilen uns, sie übermitteln uns ihr Wissen. Man muss ihnen nur zuhören. Du darfst keine Angst vor ihnen haben.«

»Ja, Jaja.«

»Gut. Dann kannst du jetzt mit dem Lied beginnen. Erinnerst du dich an den Text?«

Angelica hob den Blick und nickte. Natürlich erinnerte sie sich. Die Worte waren ihr wie ins Gedächtnis eingebrannt. Schlicht und klar.

»Ja, natürlich. Steig auf in den Himmel, goldene Biene …«

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Wiese vor ihr, wo neben dem Affodillfeld zehn Bienenstöcke aufgereiht waren. Die Blüten wiegten sich sanft im Wind wie ein schneeweißer Mantel, von dem ein ursprünglicher, intensiver Duft aufstieg. Angelica war fasziniert, sie spürte die Wärme, roch den Duft und hörte das Summen der Bienen. Sie wusste, dass sie alles genau beobachten musste, das war die Grundregel, die ihr Jaja beigebracht hatte. Und sie hatte keine Angst. Aber sie nahm auch das süßliche Gift in der Luft wahr, Verheißung und Warnung zugleich. Im Winter hatte sie das aufgewühlte Meer gesehen, die gewaltigen tosenden, dunklen Wellen mit den weißen Schaumkronen. Wunderschön, aber auch erschreckend. Hier und jetzt empfand sie genau so. Sie schluckte, ihr Hals war trocken, die Lippen waren ausgedörrt, doch sie wollte nicht aufgeben. Sie musste achtsam sein und Respekt haben. Ganz behutsam nahm sie den Hut mit dem Schleier vom Kopf. Jetzt gab es nichts mehr zwischen ihr und den Bienen. Sie begann wieder zu singen, anmutig und sanft. Plötzlich gesellten sich zu ihrer hellen Kinderstimme die tiefen, melodischen Töne der Frau an ihrer Seite, die sie zum Weitermachen ermunterte.

Sie streckte ihre kleine Hand aus, genau wie Jaja es ihr beigebracht hatte.

»Jetzt kannst du die Wabe berühren.«

Angelica riss die Augen auf. Ein goldener Tropfen perlte über das weiße Wachs. Die Bienen flogen darauf zu, und nur Sekunden später hatten sie den Tropfen aufgesogen. Sie flogen davon und gaben Angelica Gelegenheit, das zu tun, was sie vorhatte.

Langsam drückte das Mädchen mit der Fingerkuppe in das weiche, warme und duftende Wachs. Der Honig umhüllte ihre Fingerspitze. Sie führte sie an die Lippen und probierte. Der Honig war aromatisch-süß und schmolz auf der Zunge. Sie lächelte, tauchte den Finger erneut hinein und ließ den zähen Saft in die gewölbte Innenfläche der anderen Hand fließen wie in ein Gefäß.

»Bist du bereit? Sie kommen zurück …«

Da kamen sie auch schon. Vorsichtig setzten sich die Bienen auf ihre Hand, eine nach der anderen. Es war ein Augenblick puren Glücks. Die Beinchen tanzten auf Angelicas weicher Haut und kitzelten sie. Ihr Lachen wurde fortgetragen, über das Land bis zum Meer, wo es sich mit den Wellen des smaragdgrünen Wassers mischte. Das Lied kam ihr in den Sinn.

»Steig auf in den Himmel, goldene Biene. Steig auf, du Königin der Blüten. Du hütest das Leben, du achtest auf das, was sein wird. Das Wasser machst du süß, die Worte und den Gesang …«

»Siehst du? Sie haben dich willkommen geheißen. Auch du bist jetzt eine Honigtochter, mein Kind.«

»Eine Honigtochter?«

»Ja. Ab jetzt bist du, Angelica Senes, eine Honigtochter.«

»Genau wie du, Jaja?«

Stille, dann ein leichtes Lachen wie ein Seufzen des Windes.

»Ja, genau wie ich.«

Während der Fahrt erwachte die Landschaft zum Leben. Gewaltige Traktoren mit riesigen Rädern kamen Angelica entgegen, aber auch alte Fuhrwerke, von Pferden oder Eseln in rotem Zaumzeug gezogen. Am Straßenrand hatten die Bäume Gebäuden Platz gemacht: einfachen Hütten, hauptsächlich kleinen und einigen größeren Häusern.

Das Handy klingelte, und sie steckte sich den Kopfhörer ins Ohr. »Ja?«

»Ciao, ich bin’s.«

Angelica konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Ciao.«

»Ist es gerade ungünstig?«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Wie geht’s, Mamma?«

Pause, dann ein kurzes Auflachen. »Habe ich dir nicht beigebracht, dass man Fragen nicht mit Gegenfragen beantwortet?«

Sie ging nicht darauf ein, aber ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ja, Mamma.«

»Wo bist du gerade?« Marias Stimme klang samtweich.

»In Frankreich. Habe ich dir das nicht gemailt?«

»Ich lese meine Mails nur selten, das solltest du inzwischen wissen.« Wieder eine Pause, diesmal länger. »Kommst du demnächst nach Italien?«, platzte es dann regelrecht aus ihr heraus, als hätte ihr diese Frage schon lange auf der Zunge gelegen.

Angelica reagierte verblüfft. »Wie ausgemacht, nächsten Monat. Warum?«

»Ich überlege wegzufahren.«

Komisch. Allein der Gedanke, in einen Zug zu steigen, war ihrer Mutter zuwider. Und Flugreisen machten ihr eine Höllenangst. »Wo willst du denn hin?«

Erneut Stille, als suchte sie nach Worten. »Das weiß ich noch nicht genau. Nachdem Gennaro … Ich habe viel Zeit. Zu viel.« Ihre Stimme brach.

Selbst zwei Jahre nach dem Tod ihres zweiten Mannes Gennaro Petri trauerte Maria Florinas immer noch. Dieses Geständnis wunderte Angelica. Es passte gar nicht zu ihrer Mutter.

»Mamma, was ist los? Muss ich mir Sorgen machen?«

»Ach was. Wir haben einen neuen Priester, Don Pietro, der Reisen organisiert. Klöster und Kirchen besichtigen …« Wieder hielt sie inne. »Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff, wusstest du das? Sakraltourismus. Ich habe mich entschlossen mitzufahren. Deshalb rufe ich an …«

Angelica überlegte. Auch das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Einen Gedanken weiterzuspinnen, die Stimmlage zu analysieren und auch das Unausgesprochene zu erspüren. Oft verbargen sich gerade darin die wahren Hintergründe. Sie wusste das, nur zu gut wusste sie das. Ihre Mutter sagte ihr nicht die Wahrheit. Einen Augenblick lang war sie versucht anzuhalten und der Sache auf den Grund zu gehen. Aber nachdem sie kurz vom Gas gegangen war, beschleunigte sie wieder. Wenn Maria sich einmal entschlossen hatte, dann konnte nichts sie davon abbringen. Sie konnte also nur warten.

»Bist du sicher?«

»Ähm, ja. Es geht ja auch nicht gleich los. Vorher muss ich noch etwas erledigen.«

»Was denn?«

»Nichts Wichtiges, mach dir keine Sorgen.«

»Mit anderen Worten, es geht mich nichts an.«

»Du kannst ganz beruhigt sein, ich geb dir Bescheid, ja? Du rufst nicht an, ja?«

Angelica zog die Augenbrauen hoch. »Was? Warum?«

Es war typisch für ihre Mutter, Distanz zu wahren und Grenzen zu setzen. Daran sollte sie sich inzwischen gewöhnt haben. Im Grunde war es schon immer so gewesen. Auf der einen Seite war ihre Mutter, die entschied. Auf der anderen sie, die sich anpasste oder es jedenfalls versuchte. Aber hier stimmte etwas nicht. Nachdem sie die erste Enttäuschung überwunden hatte, wurde ihr klar, dass da wirklich etwas aus dem Ruder lief.

»Ich möchte nicht, dass du dein Geld aus dem Fenster wirfst.«

Die Antwort kam spontan und beruhigte sie ein wenig. So kannte sie Maria. Angelica schüttelte den Kopf, ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen. Ihre Mutter war eine sprunghafte Frau voller Widersprüche, das war nun mal so. In ihr vereinten sich sanfte Geigenmelodien mit dröhnenden Trommeln. Sie war rau, scharf und dennoch liebenswert.

»Gut, dann warte ich deinen Anruf ab, ja?« Sie wollte gerade auflegen, als sich ein Satz in ihren Gedanken formte, der ihr spontan über die Lippen kam. »Ich hab dich lieb.«

Die Spannung war jetzt mit Händen zu greifen, und Angelica bereute die vier Worte, kaum dass sie ausgesprochen waren. So etwas mochte ihre Mutter gar nicht, es war ihr ausgesprochen unangenehm. Sie wollte gerade hinzufügen, dass es ihr leidtat, dass sie sich hatte gehen lassen, dass sie sich seit einiger Zeit merkwürdig fühlte und nicht schlafen konnte, als Maria ein Schluchzen zu unterdrücken versuchte.

»Was hast du?« Angelicas Stimme war nur noch ein Flüstern, und sie umklammerte das Handy so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

»Ich … Es ist schwer, unendlich schwer.«

»Was denn, Mamma?«

»Weißt du, manchmal frage ich mich, ob ich eine gute Mutter war, ob ich es hätte besser machen können.«

Wieder Stille, voller Schatten und Düsternis. Angelica zwang sich, sie zu ignorieren.

»Fang nicht wieder damit an, Mamma. Hör auf damit. Ich mag mein Leben, wie es ist.«

»Ja, aber warum musstest du weggehen?«

»Musste? Schluss jetzt.« Ihre Reaktion war schärfer als gewollt, aber dieser weinerliche Ton machte sie aggressiv. So kannte sie ihre Mutter gar nicht.

»Ich hab dich auch lieb, mein Kind. Worte sind Schall und Rauch, vergiss das nie, mein Mädchen«, fuhr Maria fort. »Es sind die Taten, die wirklich zählen. Ich rufe dich an, wenn ich wieder zu Hause bin. Hab Geduld. Du wirst sehen, alles wird gut.«

Angelica wollte noch etwas erwidern, aber das Gespräch war beendet. Sie starrte auf das Handy, fuhr auf den Seitenstreifen und hielt an. Dann wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Es klingelte, wieder und wieder. Plötzlich erlosch der Bildschirm. Verdammt! Sie versuchte, das Handy noch einmal einzuschalten, aber keine Reaktion. Ungeduldig steckte sie das Ladekabel in die Buchse. Sie würde Maria später anrufen. Und zwar genau deshalb, weil ihre Mutter es nicht wollte. Sie würde sie anrufen, weil sie wissen wollte, was hinter diesem letzten Satz steckte. Um welche Worte, um welche Taten ging es? Wo zum Teufel fuhr sie überhaupt hin? Und vor allem, was würde gut werden?

Aber was ging sie das alles an? Ihre Mutter konnte tun und lassen, was sie wollte, genau wie sie auch. Sie waren erwachsene Menschen, und jede war für sich selbst verantwortlich.

Maria hatte ihr Nomadenleben nie akzeptiert. Sie hatte ihre Getriebenheit nicht begreifen können. Gennaro hingegen, ihr Vater, oder vielmehr ihr Stiefvater, hatte sie verstanden und unterstützt.

»Wenn sie jetzt als junge Frau die Welt nicht sieht«, hatte er gesagt und versucht, zwischen ihnen zu vermitteln.

Lange hatte Angelica sich bemüht, Maria ihr Bedürfnis nach Freiheit zu erklären, doch die Mutter hatte sie nie verstanden, sondern sehr darunter gelitten. »Du hast doch alles, was man sich wünschen kann.« Diese Worte setzten jeder Diskussion ein Ende, noch bevor sie begann.

Angelica hatte sich entschieden: Sie tat genau das, was sie wollte. Immer neue Sonnenaufgänge, immer neue Sonnenuntergänge, immer neue Orte. Sie liebte es, ihren ganzen Besitz in einem Rucksack zu verstauen und einfach loszufahren. Sie brauchte niemanden. Nicht mehr.

Die Worte ihrer Mutter ließen sie nicht los. Was hatte sie dieses Mal vor? Diese Frau war ihr ein Rätsel. Sie atmete tief durch, so lange, bis der Druck auf ihrer Brust nachließ. Warum wunderte sie sich eigentlich noch? So war Maria eben.

Sie lächelte bitter. Im Grunde war es ein Wunder, dass sie ihr überhaupt von der Reise erzählt hatte.

Gut, sollte Maria tun und lassen, was sie wollte. Sie würde ihren eigenen Weg gehen.

Sie hatte die Bienen, Pepita und Lorenzo. Und immer wieder neue Sonnenaufgänge.

Angelica fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt entschlossen.

Als sie rasant anfuhr, wirbelte der Campingbus eine Staubwolke auf. In ihrem Kopf wechselten sich Erinnerungen ab, in rascher Folge und immer bedrohlicher. Sie versuchte das Chaos in ihren Gedanken zu ordnen, vergebens. Zurück blieben nur Angst und Leid. Die Dunkelheit einer mondleeren Nacht, während der Wind an den Fensterläden rüttelte. Sie begann zu zittern.

3.

Erdbeerbaumhonig (Arbutus unedo)Eine bittersüße Rarität. Er gilt als Honig der Kraft, der bei schwierigen Entscheidungen hilft. Er schmeckt nach Bittermandeln und edlen Hölzern, aber gleichzeitig auch süß, mit Röstkaffee- und Kakaoaromen. Seine Kristalle sind sehr fein, die Farbe ist haselnussbraun.

Angelica war sechs Jahre alt.

Eine schmallippige Frau in einem hellblauen langen Rock mit weißen Muscheln und roten Schmetterlingen darauf hatte sie besucht. Sie hatte es ihr gesagt! Mit ernster Stimme, den Finger auf sie gerichtet, als ob es etwas Schreckliches wäre, sechs Jahre alt zu sein.

»Ich bin Signorina Pintus, Clelia Pintus, die Schuldirektorin.«

»Schule?«

»Ganz genau, Schule.« Die Frau hatte einige Schritte auf sie zu gemacht und dabei die Lippen noch fester zusammengepresst. »Wo ist deine Mutter?«

Angelica hatte sie mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. Schule? Davon wusste sie nichts. Hektisch hatte sie in ihren Erinnerungen gekramt und alle Regeln aufgerufen, die ihre Mutter ihr eingeschärft hatte.

»Nicht alleine das Haus verlassen, nicht bei Margherita um Geld betteln. Das Bett machen, den Teller nach dem Essen abwaschen. Die Haare zweimal am Tag kämmen. Das Gesicht gründlich waschen, ebenso gründlich die Zähne putzen, Zahnärzte kosten nämlich ein Vermögen, und ich mache mich schon genug krumm. Den Boden fegen und den Dreck in den Mülleimer schütten. Das Basilikum, die Tomaten und den Rosmarin gießen. Wenn du den Herd anmachst, pass auf, dass du dich nicht verbrennst. Und sprich mit niemandem.«

Jede einzelne dieser Regeln hatte sie befolgt, abgesehen von ihren Besuchen bei Jaja, die waren eine Ausnahme. Ausnahme war ein Zauberwort. Es bedeutete, dass eine bestimmte Regel nicht galt. Sie liebte Ausnahmen.

Die Direktorin hatte wieder zu sprechen begonnen, deshalb musste Angelica sich auf ihre Worte konzentrieren, um sogleich wieder an die Regeln ihrer Mutter zu denken.

Nein. Von Schule hatte sie nichts gesagt.

Die Frau mit den kirschrot angemalten Lippen und den hellen Augen starrte sie weiter an, so durchdringend, dass sich ihr der Magen zusammenzog. Angelica betrachtete den Milchkaffee vor ihr, das auf dem Kamin geröstete Brot und den Honig, den Jaja ihr geschenkt hatte. Der Hunger war ihr vergangen.

»Also? Willst du wohl antworten? Du bist wirklich ungezogen«, echauffierte sich Signorina Pintus und stemmte die plumpen Hände in die Hüften. Ihr Blick war bedrohlich geworden.

In diesem Moment fing Angelica an zu zittern, und eine fürchterliche Angst stieg in ihr auf. Eine kalte düstere Angst, so düster wie die mondleere Nacht ohne Sterne, als ihre Mutter nicht zu Hause gewesen war und sie sich unter dem Bett versteckt hatte.

Auf einmal kam ihr dieses seltsame Wort in den Sinn, das ihre Mutter so häufig verwendete: Konsequenz. Konsequenz bedeutete, dass jemand etwas machte, und genau weil er es gemacht hatte, passierte etwas anderes. Fast immer etwas Schlechtes.

Sie hätte nicht gehen und sich bei Jaja Milch holen dürfen. Wenn sie die Regel ihrer Mutter befolgt hätte und zu Hause geblieben wäre, dann hätte die Frau sie nicht gefunden.

»Meine Mutter ist nicht da«, hauchte sie, während Verzweiflung in ihr aufstieg. Sie musste etwas tun, diese Frau wegschicken, die den gleichen stechenden Blick wie ihre Mutter hatte, wenn sie die Geckos fixierte, die kopfüber die Decke entlanghuschten. »Mamma kommt bald zurück, sie ist bloß einkaufen«, fügte sie hinzu und versuchte dabei, überzeugend zu wirken.

Aber die Frau schien zu ahnen, dass es eine Lüge war. Lügen waren erfundene Dinge. Sie dienten dazu, Störenfriede zu vertreiben. Auch das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Störenfriede und Nervensägen waren schlecht. Sie konnten eine Menge Ärger machen und dafür sorgen, dass man an einem schrecklichen Ort eingesperrt wurde, wo Kinder ohne Vater landeten. Kinder, deren Mütter arbeiten mussten, so wie ihre.

Deshalb sagte sie lieber nichts mehr. »Nicht mit Fremden sprechen, die nehmen dich sonst mit.« Die Mahnung tönte dem Mädchen in den Ohren, genau wie an jenem Tag, als Maria Florinas ihre Tochter davor gewarnt hatte, was passieren würde, wenn die Institutionen herausfanden, in welchen Verhältnissen sie lebten.

Angelica wusste nicht, wer oder was »die Institutionen« waren. Nicht weil Maria es ihr nicht erklärt hätte, aber »Institutionen« waren zu viele Sachen auf einmal, und das hatte sie nicht verstanden. Sie wusste nur, dass sie im besten Fall in einer Fürsorgeanstalt, im schlimmsten Fall in einem Waisenhaus landen würde.

Fürsorgeanstalt, Waisenhaus. Schreckliche Wörter. Maria hatte sie ausgesprochen, als wären sie ein Sumpfloch. Einmal hineingefallen, kam man nie wieder hinaus. Und selbst wenn man es doch schaffte, klebte der Dreck auf einem. Vor nichts auf der Welt hatte Angelica mehr Angst. Nicht einmal vor dem Sturm, der vom Meer kam, oder vor dem Blitz, der den Nachthimmel erhellte.

»Meine Mutter kommt bald zurück«, hatte sie wiederholt und dabei versucht, noch überzeugender zu wirken.

Aber Signorina Pintus schien ihr gar nicht zuzuhören. Angelica sah sich verzweifelt um. Was konnte sie nur tun?

Die Direktorin war einfach reingekommen. Dabei durfte doch kein Fremder ins Haus, das war eine andere Regel. Wie hatte sie das nur vergessen können?

Mit zusammengepressten Lippen und indem sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte, war das Mädchen hinter der Frau hergelaufen. »Nichts anfassen. Mamma möchte das nicht.«

Warum wollte diese Frau das nicht verstehen? Angelica riss ihr die Dinge immer wieder aus der Hand und stellte sie an ihren Platz zurück.

Sie erinnerte sich an den Tag am Strand, als sie den großen ockerfarbenen Hund gesehen hatte. Sie hatte Angst vor ihm gehabt, vor den langen Zähnen, dem Knurren, weshalb sie die Augen fest zusammengepresst und sich ganz klein gemacht hatte. Als sie die Augen wieder geöffnet hatte, war der Hund verschwunden. Vielleicht funktionierte das auch mit dieser Frau? Wie damals presste sie die Augen fest zusammen und öffnete sie dann wieder. Aber die Direktorin war immer noch da und hielt den Eimer und den Schrubber in der Hand, mit dem Angelica den Boden gewischt hatte. Das Mädchen rannte auf sie zu und riss ihr beides aus den Händen.

»Das gehört meiner Mamma«, schrie sie.

»Na hör mal, als ob ich euch was stehlen wollte!«, rief die Frau empört.

Angelica musterte sie misstrauisch und setzte sich dann wieder auf ihren Platz. Signorina Pintus nahm nach kurzem Zögern neben ihr Platz. Sie lächelte. Das war fast schlimmer als schreien.

Musste sie jetzt noch mehr Angst haben?

»Also, meine Kleine, wo ist denn deine Mutter? Du kannst es mir ruhig sagen, du musst keine Angst haben.«

Angelica hatte aber Angst. Und zwar so sehr, dass ihre Zähne klapperten und ihre Unterlippe zitterte. Sie mochte diese Frau nicht. Sie spürte, wie der Blick der Fremden auf ihr lastete. Sie wusste, was die Aufgabe einer Direktorin war: zu kontrollieren. Das bedeutet, eine Sache mit den Händen, den Augen oder den Gedanken zu überprüfen. Auf alle Fälle etwas Bedrohliches. Ihre Mutter tat das auch immer, wenn sie nach Hause kam. Und wehe, sie fand einen Kratzer oder einen blauen Fleck, dann gab es Ärger.

»Meine Mamma ist nicht da, aber sie kommt bald.« Noch eine Lüge. Dieses Mal war sie ihr sogar ganz leicht über die Lippen gekommen, als Tochter der Angst.

Signorina Pintus musterte sie erneut, als ob sie den falschen Ton der Lüge gespürt hätte. Zuerst betrachtete sie ihr Kleid, um sie dann abzutasten. Und schließlich das Gesicht zu verziehen.

»Du bist ja nur Haut und Knochen.«

Angelica schwieg. Sie konnte nichts tun, während die Frau mit ihren strengen Fingern ihre Arme und Schultern betastete. Aber als die Fremde versuchte, ihr den Mund zu öffnen, biss sie zu. Das konnte sie gut, doch die Frau zog die Hand gerade noch rechtzeitig weg, verpasste ihr eine Ohrfeige und zog sie so fest an den Haaren, dass ihr die Tränen kamen. Sie weinte trotzdem nicht oder schrie gar. Sie biss sich auf die Lippen, mehr nicht.

»Nun ja, immerhin bist du ordentlich gekämmt.«

Angelica funkelte die Schuldirektorin empört an. Natürlich war sie das. Sie trug einen Mittelscheitel und auf beiden Seiten einen Zopf. Ihre Mutter hatte ihr das Flechten diesen Sommer erst beigebracht, und sie war stolz darauf, es ganz alleine zu können. Bloß durfte sie das niemandem sagen. Signorina Pintus umfasste ihren Kopf und drehte ihn nach rechts und links. Zum Glück hatte sie am Abend zuvor gebadet, dachte das Mädchen, als ihr die Frau hinter die Ohren schaute. Und das Kleid war neu. Ein bisschen zu groß, aber neu.

»Sauber scheinst du ja zu sein, gut. Sobald deine Mutter zurückkommt, sagst du ihr, dass die Schule begonnen hat. Wenn du dich nicht bald dort blicken lässt, komme ich wieder, dieses Mal mit der Polizei.«

Polizei? Angelicas Herz hämmerte in ihrer Brust. Dieses Wort kannte sie nicht. Was war das, die Polizei? Das Wort wickelte sich um ihre Zunge, lähmte ihre Lippen. Als sie es zumindest in Gedanken aussprechen konnte, fuhr die Direktorin bereits fort.

»Hast du mich verstanden?«

Das Mädchen nickte, weil es nicht wusste, was es sonst hätte tun sollen. Sie wusste zwar nichts über diese Polizei, aber sie war sich sicher, dass es etwas Böses war. Böse und furchteinflößend. Wie die Störenfriede und die Fremden.

Dann war die Frau endlich gegangen. Angelica hatte die Luft angehalten, bis Signorina Pintus hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Sie hatte die Tür abgeschlossen und war ins Bett gekrochen, das sie sich mit ihrer Mutter teilte. In die hinterste Ecke hatte sie sich gedrückt und sich mit wild klopfendem Herzen und Tränen in den Augen dort versteckt.

Und jetzt? Was konnte sie tun? Ihre Mutter würde so schnell nicht wiederkommen. Sie hatte noch eingekauft, bevor sie das Haus verlassen hatte, was bedeutete, dass sie mindestens eine Woche lang weg sein würde, das wusste Angelica. Sie musste arbeiten, hatte Maria ihr erklärt, denn nur durch Arbeit verdiente man Geld und konnte sich etwas zu essen kaufen.

Jaja. Der Name tauchte in ihrem Kopf auf. Sie musste zu Jaja gehen, die würde wissen, was zu tun war. Fest entschlossen, rannte sie die Treppe nach unten und aus dem Haus. Barfuß. So schnell sie konnte, hastete sie den steinigen Pfad entlang bis zu ihrer Patin.

»Jaja! Jaja!«

Sie klopfte fest an die Haustür, aber niemand machte auf. Jaja war nicht da! War sie auch weggegangen, genau wie Maria? Panische Angst ergriff von Angelica Besitz. Sie war so verzweifelt, dass sie mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmerte und immer lauter den Namen ihrer Patin schrie.

Plötzlich hielt sie inne und riss die tränenüberströmten Augen auf. Die Bienen. Jaja war bestimmt bei den Bienenstöcken oben im Wald. Wieder rannte sie los, das trockene Gras raschelte unter ihren nackten kleinen Füßen. Es stand so hoch, dass sie an manchen Stellen kaum darüberschauen konnte. Völlig außer Atem blieb sie irgendwann stehen, schloss die Augen und lauschte. Da! Das Summen der Bienen und das Rauschen des Baches wiesen ihr den Weg. Sie lief weiter bis zu der Lichtung mit dem uralten Olivenbaum. Darunter stand Jaja. Sie drehte ihr den Rücken zu.

»Hilfe, Hilfe!«, brüllte sie.

»Ite dimonui. Was ist los?«

Margherita Senes, ihre Jaja, drehte den Kopf, und als sie das Mädchen erkannte, ging sie mit ausgebreiteten Armen auf es zu, während Angelica ihr entgegenstürmte. Die Bienen waren aufgeflogen und schwebten wie eine drohende schwarze Wolke über ihr.

»Bleib stehen. Ich komme. Beweg dich nicht.«

Die Warnung erreichte das Mädchen jedoch nicht. Die Bienen sammelten sich aufgeregt. Angelica kümmerte sich nicht um die bedrohlichen Geräusche, sondern warf sich in Jajas Arme und brach in Tränen aus. Mit ihren kleinen Fingern umklammerte sie verzweifelt den Stoff des langen Rockes.

»Die Polizei. Die Schuldirektorin. Sie bringen mich weg.«

Margherita beugte sich nach unten und drückte das Mädchen fest an sich. In diesem Moment schwärmten die Bienen aus und flogen auf sie zu, aber statt das Mädchen anzugreifen, formierte sich der Schwarm neu und bildete einen Schutzwall um die beiden.

Margherita wirkte überrascht. Auf ihrem Gesicht erschien ein geheimnisvolles Lächeln, ein zufriedenes Lächeln, in das sich auch ein wenig Stolz mischte. Zärtlich strich die alte Frau über Angelicas Kopf. Ein letzter Blick auf den goldenen Schwarm, der weiter um sie herumsurrte, dann zog sie das Mädchen an die Brust.

»Beruhige dich, hör auf zu weinen. Das hilft nichts, mein Kind.«

Angelica wischte sich mit der einen Hand übers Gesicht, während sie mit der anderen weiterhin fest Jajas langen Rock umklammerte. Das Schluchzen hatte nicht aufgehört, es war nur tiefer geworden.

»Gut. Jetzt gehen wir zurück nach Hause.«

Angelica hielt Jajas Hand fest umklammert. Sie bemerkte nicht, dass die Bienen einen Korridor gebildet hatten, durch den sie hindurchgehen konnten. Nachdem sie ins Haus gegangen waren, schloss Margherita die Tür hinter ihnen, und die Bienen flogen zu ihren Nisthöhlen im Olivenbaum zurück.

»Ich habe Kekse gebacken, die mit Honig. Magst du welche?«

»Ja, Honig ist lecker.«

»Komm, lass uns in die Küche gehen.«

Behutsam schob sie das Mädchen vor sich her. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Lippen nur ein Strich. Sie wusste, dass es früher oder später passieren musste, das hatte sie auch der Mutter gesagt. Sie hatte versucht, Maria davon zu überzeugen, das Mädchen bei ihr zu lassen. Dann wäre es in Sicherheit. Aber dieser Sturkopf hatte ja nicht hören wollen. Stolz, Verantwortungslosigkeit und Dummheit. Diese drei Charaktereigenschaften vereinte Maria Florinas in sich.

Aber auch wenn Margherita mit ihrem Versuch gescheitert war, für Angelica tat sie alles.

»Solange ich lebe, wird dir keiner etwas tun, ninnia. Du musst keine Angst haben, meine Kleine, ich bin immer für dich da.«

Dieses Versprechen hatte sie gehalten. Jaja kaufte ihr Hefte, Bücher und eine Schürze. Sogar mit Schleife, in Rosa. Angelica war überwältigt. Die Schürze war an der Taillennaht gekräuselt, die Farbe erinnerte an Rosenblütenblätter und den Himmel bei Sonnenaufgang. Sie war wunderschön, das Schönste, was sie jemals besessen hatte. Angelica roch daran und führte sie dann mit geschlossenen Augen an die Lippen.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Jaja zeigte ihr die Schule. Sie war gar nicht so schlimm. Und erst die vielen Kinder! Angelica kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Jaja redete mit Signorina Pintus, und die beiden begleiteten sie in ihre Klasse. Die junge Lehrerin war eine hübsche Frau, genau wie ihre Mutter, nur dass Signorina Adele braune Haare hatte, während Marias Schopf fast schwarz war. Angelica konnte nicht verstehen, was Jaja mit den beiden Frauen besprach, aber mitten im Gespräch wurde Signorina Pintus rot wie eine Tomate aus dem Garten ihrer Mutter, und Adele ging auf sie zu und umarmte sie.

Ab diesem Augenblick waren alle richtig nett zu ihr gewesen. Jaja hatte sie nach der Schule wieder abgeholt und sie fest an der Hand genommen. Sie hatte ihr ein Bett im Turmzimmer hergerichtet, dem schönsten Raum im ganzen Haus.

»Das hier wird immer auch dein Zuhause sein, ninnia. Vergiss das nie.«

Vom Turm aus konnte man in klaren Nächten die Sterne und das Meer sehen. Es gab nichts Schöneres für Angelica, als mit den Sternen zu sprechen und zu erleben, wie sich bei Sonnenaufgang der türkisblaue Himmel glutrot färbte.

4.

Lavendelhonig (Lavandula spp.)Mild und heilsam. Gilt als Honig der Ruhe und hilft, das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Er duftet nach Blüten und Wildkräutern. Charakteristisch ist seine leichte Weihrauchnote im intensiven Nachgeschmack. Er ist elfenbeinfarben und hat hauchzarte Kristalle.

»Komm schon, geh dran«, murmelte Angelica und zählte die Klingeltöne.

»Guten Tag, hier ist der Anrufbeantworter von …«

Mit einer ungeduldigen Geste beendete sie den Anruf und warf das Handy auf das Armaturenbrett. Das war nun schon das dritte Mal, dass sie versuchte, ihre Mutter zu erreichen. Warum ging sie nicht dran? Sie versuchte die diffuse Angst abzuschütteln, die sie seit ihrem letzten Gespräch begleitete. »Ich probier’s später noch mal«, murmelte sie mit Blick auf das Handy.

Angelica sah sich um. Sie hatte Agde erreicht. Die kleine, am smaragdgrünen Meer gelegene Stadt war ein Juwel inmitten naturbelassener Wälder. Angelica fuhr langsam, den Blick starr auf den Verkehr gerichtet. Eine neue Straße, ein neues Abenteuer. Nach einem Abstecher nach Avignon würde sie nach Arles weiterfahren, wo sie an einem Kongress teilnehmen würde. Sie plante ihre Route genau und organisierte die Etappen im Vorfeld.

Als sie nach ihrer Wasserflasche suchte, bemerkte sie, dass sie eigentlich gar keinen Durst hatte, und ließ es wieder sein. Unvermittelt tauchte eine Haltebucht vor ihr auf, und sie bremste ab.

Wasser, so weit das Auge reichte. Das tiefblaue, an manchen Stellen sogar violett leuchtende Meer. Angelica blieb einige Minuten stehen. Die Sonne hatte sich hinter einer vorbeiziehenden Wolke versteckt, und wieder nahm das Meer eine andere Farbe an, jetzt war es silbern. Sie neigte den Kopf und schaute zu Boden. Dieses Meer war es nicht, das sie im Herzen trug. Nicht dieses …

Ihr Meer war saphirblau, und wenn die Sonne am höchsten stand, konnte man es kaum vom Himmel unterscheiden. Ihr Meer war aber auch grün, mit türkisfarbenen Sprenkeln und golden und orangefarben, wenn die Sonne unterging. Ihr Meer roch nach Salz und klang nach Lachen.

Zuerst war es Jaja, jetzt war es das Meer in Abbadulche, jenem Dörfchen auf der kleinen Insel vor Sardinien, wo sie aufgewachsen war, das in ihren Erinnerungen auftauchte und sich mit Macht in ihre Gedanken drängte.

Als ihr bewusst wurde, wie sehr sie sich danach sehnte, wurde sie ganz starr. Als ob der Ort ihrer Kindheit auf einmal nach ihr rufen würde. Aber das war unmöglich, so ging das nicht. Es gab dort nichts mehr, das für sie von Bedeutung war. Das hatte sie vor langer Zeit beschlossen.

Lorenzo hatte sich auf der Fußmatte zusammengerollt, den Blick fest auf sie gerichtet.

»Hör auf, mich so anzustarren. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, okay?«

Während Angelica den Motor wieder startete, überlegte sie weiter. Sonst gab sie sich doch auch nicht so leicht irgendwelchen Sentimentalitäten hin. Sie fuhr sich durch die Haare. Wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit zu viel gearbeitet. Sie war einfach müde, das war es. Deshalb lastete die Einsamkeit so sehr auf ihr.

»Es ist bloß die Müdigkeit«, wiederholte sie.

Vielleicht hätte sie die Einladung von Monsieur Dupont doch annehmen sollen. Das Angebot, noch einige Tage zu bleiben, war ebenso unmissverständlich wie seine Absichten. Der erste Kuss war eine Verheißung. Ein interessanter Mann. Und obwohl sie beide ungebunden waren: besser die Finger davon lassen.

Angelica machte eine Handbewegung, als wollte sie den Gedanken verscheuchen. Sie war nicht geblieben, hatte das Bett nicht mit ihm geteilt und sein Angebot abgelehnt. Sie war in ihren Campingbus zurückgekehrt und hatte die ganze Nacht wach gelegen.

Warum? Die Frage stand nach wie vor im Raum, klar und deutlich. Genau wie die Antwort. Sie sehnte sich nicht nach flüchtigen Augenblicken der Leidenschaft, sondern nach einer festen Beziehung. Das hatte sie inzwischen verstanden. Sie sehnte sich nach Beständigkeit.

Unterwegs gelang es ihr nicht, die Müdigkeit abzuschütteln, die sie in den letzten Monaten immer öfter überfiel. Sie dachte eine Weile darüber nach, bis ihr klar wurde, dass das Wort Müdigkeit das Gefühl nicht treffend beschrieb. Sie war gar nicht müde, sie war leer. Und das schmerzte sie.

Schließlich kam das Bewusstsein und mit ihm die Angst. Eine Angst, die so tief ging, dass Angelica erzitterte. Wie lange schon war das Leben an ihr vorbeigezogen? Sie tastete nach Lorenzo und fand ihn an ihrer Seite. Obwohl es tröstlich war, das weiche Fell ihres Gefährten unter den Fingern zu spüren, begriff sie, dass es dieses Mal nicht reichen würde, um die Kälte zu vertreiben, die ihr wie eine Schlange unter die Haut kroch.

Der Hund jaulte und leckte ihr die Hand. Sie lächelte ihm zu, als ob sie ihn beruhigen wollte. Da tauchte Pepita neben ihr auf.

»Es geht mir gut. Wirklich. Macht euch keine Sorgen.«

Angestrengt konzentrierte sie sich auf die Schilder am Straßenrand, dann blinzelte sie ein paarmal hintereinander. Verdammt, sie konnte die Schrift einfach nicht lesen. Sie rieb sich die Augen, fuhr langsamer und blieb schließlich stehen.

»Das geht vorbei«, sagte sie sich, »es geht vorbei.«

Wie lange war es schon her, dass sie in einem richtigen Bett geschlafen hatte? Sie überlegte einen Moment und lächelte dann. Sie konnte sich nicht erinnern. Ihr Zuhause war der Campingbus, und das nun schon seit so langer Zeit, dass sie sich gar kein anderes vorstellen konnte. Geschweige denn einen festen Wohnsitz.

In Wahrheit war der Bus etwas ganz anderes: ihre Art, Probleme zu lösen. Dank ihm konnte sie allem ausweichen, was ihr unbequem war. Einfach alles hinter sich lassen. Ohne jemandem etwas erklären zu müssen. Ihr ging es gut dabei, oder etwa nicht? Nur ganz wenige Menschen waren ihr wirklich wichtig. Echte Freunde? Kaum. Die Einsamkeit hatte ihre Vorteile.

Angelica konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag, fest entschlossen, die in ihr aufsteigende Melancholie zu vertreiben. Das war es, was sie quälte, das und die Träume. Jaja, die ihr zeigte, wie man den Honig aus den Waben löst, ohne sie zu beschädigen. Jaja, die ihr erklärte, wie die Königinnen ihre Eier in die verwaisten Wabenzellen legen. Jaja, die ihre Hand hielt, während sie gemeinsam sangen und die Bienen um sie herumschwirrten, bis aus ihrem Lied und dem Summen eine Melodie wurde. Jaja, die sie jedes Mal zur Mole mitgenommen hatte, wenn die Sonne unterging, wo ihr Schäferhund Omero wartete. Neben ihm kauerte eine in sich zusammengesunkene Frau mit leerem Blick. Das passierte oft, mit wechselnden Frauen. Manchmal hatten sie auch Kinder dabei. Jaja nahm die Kinder in den Arm, küsste sie zärtlich auf die Wangen und segnete sie, indem sie das Kreuz auf ihre Stirn zeichnete. Sie schenkte ihnen ein Glas Honig, und wenn das Boot sich langsam von der Mole entfernte, folgte sie ihm mit dem Blick, bis es am Horizont verschwunden war. Dann erst ging sie mit Angelica an der Hand langsam davon.

»War das auch deine Schwester, Jaja?«

»Alle Frauen sind meine Schwestern, ninnia. Sie sind alle meine Schwestern.«

»Und die Kinder?«

»Sind meine Kinder. Die Kinder aller Frauen.«

»Wie bei den Bienen?«

»Wie bei den Bienen.«

Die Erinnerung löste sich langsam auf, während Angelica in die Realität zurückkehrte. Eine tiefe Sehnsucht nach der verzauberten Welt ihrer Kindheit überkam sie, aber sie wischte sie beiseite. Warum musste sie ständig an Jaja denken? Warum träumte sie so intensiv von ihr? Und vor allem: Was wollte Jaja ihr sagen?

Als das Telefon klingelte, nahm sie sofort ab.

»Hey, Herumtreiberin!«

Der zärtliche Klang in der Stimme ihrer Freundin Sofia linderte die Enttäuschung, dass es nicht ihre Mutter war.

»Ciao.«

»Wohin verschlägt es dich diesmal?«

»Nach Avignon.«

»Du kommst zu mir? Ein Überraschungsbesuch?«, rief Sofia begeistert.

Angelica biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte sie nicht vor, Sofia zu besuchen, doch sie fand nicht die richtigen Worte, es ihr zu sagen. Sie wollte die Freundin nicht enttäuschen. Sofias Freude wirkte ansteckend, und sie erwischte sich dabei, dass sie sogar ein wenig lächelte.

»Ich …«

»Komm schon, bei mir bist du doch so gut wie zu Hause. Zumal es dein Eigentum ist.«

»Bitte fang nicht wieder damit an, ich bin nicht in der Stimmung«, seufzte Angelica, während sie erneut eine Haltebucht ansteuerte.

»Du bist nie in der Stimmung, wenn es darum geht, dir das Geld zurückzugeben. Ehrlich gesagt geht mir das ziemlich auf die Nerven.«

»Behalte es. Ich brauche es sowieso nicht. Gib es mir zurück, wenn du kannst.«

Sofia wollte etwas erwidern, entschied dann aber, dass es wenig Sinn hatte, diese Diskussion am Telefon zu führen. Bei einem Teller Lasagne und einem Glas Weißwein wäre dazu eher Gelegenheit, entschied sie. Obwohl mit Leib und Seele Griechin, hatte sie von Angelicas Mutter gelernt, wie man Pasta machte. Maria war eine hervorragende Köchin. Ihrer Lasagne konnte keiner widerstehen, dachte sie zufrieden.

»Okay, wann kommst du?«

»Heute Abend.«

»Ich freu mich.«

»Mach bloß keine Lasagne. Und keinen Wein auf. Die Antwort ist und bleibt nein.«

»Auf was?« Sofia gab sich ahnungslos.

»Auf alles, was du im Sinn hast.«

»Besteht vielleicht die vage Hoffnung, dich doch noch zu überzeugen, mit einem Nachtisch zum Beispiel?«

Angelica lachte. »Willst du mich etwa verführen?«

»Ich bin nur eine gute Köchin.«

Sie lachte wieder. »Und eine wunderbare Freundin, deshalb werde ich auch immer für dich da sein. Du schuldest mir nichts.« Dann seufzte sie, und ihre Stimme wurde traurig.

»Was ist los, Angelica?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.« Der heitere Tonfall war umgeschlagen, die Lust auf Scherze vergangen.

»Das erzählst du mir am besten in Ruhe. Ich kaufe Wein, eine Kiste dürfte reichen. Beeil dich bitte, aber nicht zu sehr. Dieses Ding, mit dem du unterwegs bist, scheint mir von nichts als den Gebeten deiner Mutter und zwei Rollen Klebeband zusammengehalten zu werden.«

»Ich habe ihn gerade erst durchchecken lassen, der Mechaniker meinte, er tut es noch ein paar Jahre.«

»Ach, wirklich?«, spottete Sofia und rollte mit den Augen. »Das beruhigt mich aber! Ich richte dein Zimmer her. Diesmal gibt es keine Diskussion. Du schläfst in einem richtigen Bett. Kuss, bis bald.«

»Spürst du ihn? Gleich kommt er. Lass ja nicht los.«

Angelica hielt den Atem an und umklammerte Jajas Hand. Ihr langer Rock bauschte sich wie eine Glocke und hob sich. Sie griff danach und lachte. Auch Angelica lachte. Etwas schlug ihr ins Gesicht, doch sie spürte keinen Schmerz. Es war eher wie ein Kitzeln. Man nannte diesen Wind Mistral. Er konnte zu einem orkanartigen Sturm werden, deshalb musste man sehr vorsichtig sein. Wer mit dem Boot auf dem Meer unterwegs war, geriet schon mal in große Schwierigkeiten.

Die Höhle lag hinter ihnen, aber um dem Wind zu lauschen, musste man hier stehen, auf dem Felsen, der den Strand überragte. Unten sah sie die weiße Gischt der Wellen auf dem sonst azurblauen Meer, das heute silbergrau schimmerte. Auch das war ein Zeichen. War das Meer grau, hieß es besonders vorsichtig sein. Die Wellen reißen dich mit und tragen dich davon. Hinaus aufs offene Meer.

»Du darfst keine Angst vor dem Wind haben, er erzählt dir von den fremden Orten, die er besucht hat. Hör zu, was er dir zu sagen hat.«

Angelica kniff die Augen fest zusammen. Konzentriert lauschte sie, doch nach einer Weile verlor sie die Geduld. »Ich verstehe es aber nicht.«

Ein leises Lachen, dann legten sich die Finger der Frau auf die des Kindes.

»Streck die Hand aus, spüre den Wind, rieche ihn. Er spricht nicht wie ein Mensch mit uns, das wäre ja auch komisch, oder? Der Wind besteht aus Luft, und die Sprache der Luft sind die Gerüche. Wenn du verstehen willst, was er zu dir sagt, dann musst du riechen.«

Angelica riss die Augen auf, hob das Gesicht und atmete tief ein. Einmal, zweimal, dann grinste sie. Der Wind kam vom Fischteich.

»Ja, sehr gut. Jetzt setz dich da drüben hin, und rede weiter mit dem Wind.«

Während die alte Frau zu den Bienenstöcken hinter dem Felsen ging, rannte Angelica zur Höhle. Sie schlang die Arme um den Körper. Der Wind war kalt, er stemmte sich ihr entgegen und drängte sie zurück. Sie musste lachen und ging mehrere Male vor und zurück. Ihr Lachen war bis zu Margherita gedrungen, die ihr einen nachsichtigen Blick zuwarf und sich dann wieder an die Arbeit machte.

Da war der Eingang zur Höhle. Da sie die Dunkelheit fürchtete, setzte sie sich neben den Eingang. Mit einem Mal fühlte sie sich stabiler. Sie mochte dieses Wort, es gab ihr Sicherheit. »Stabilität« war ein komplizierter Begriff, er hatte viele Bedeutungen. Stabilität hieß, dass Jaja ihr zulächelte, dass das Abendessen pünktlich auf dem Tisch stand und dass die warme Decke auf dem Bett lag. Dass Jaja ihr den Fluss zeigte, der gluckernd über die Steine floss und die Geheimnisse des Waldes preisgab. Sie hatte dieses Gluckern nie verstanden, Jaja hingegen schon.

Angelica dachte darüber nach, und ihr Blick hellte sich auf. Die Worte des Wassers waren wie die Worte des Windes und die der Bienen. Wie die der Sonne und der Katzen, der Hunde und der Schafe.

Zufrieden und stolz stand Angelica auf und rannte zu Jaja hinüber. Sofort war sie von Bienen umhüllt, sie sang und hüpfte. Dann hatte sie Jaja erreicht.

»Aber wie soll ich das alles kapieren?«

Margherita hob den Blick. »Du musst nur zuhören, ninnia.«

Anrufbeantworter.

»Mamma, nimm ab!«

Entnervt legte Angelica auf und starrte auf das Handy. Und wenn sie schon abgereist ist?, dachte sie. Vielleicht ist sie in einer Kirche oder einem Kloster mit dicken Mauern, an irgendeinem einsamen Ort. Das könnte ihr Schweigen erklären. Mit eingeschaltetem Handy betrat man keine Kirche. So etwas würde Maria nie machen. Sie biss sich auf die Lippen. Dann legte sie das Telefon auf das Armaturenbrett.

Sie hatte in ihrem Leben schon viele Orte gesehen, einsame und weniger einsame. Dabei hatte sie auch stets das Umfeld kennengelernt. Den Boden, die Pflanzen, das Essen, die Menschen. Und die Bienen.

Die Bienen waren für sie der Spiegel des Ortes, an dem sie lebten und wirkten. Sie sammelten Pollen und Nektar und gaben beides als Honig zurück. Sie befruchteten Blüten, damit Früchte entstehen konnten. Selbst ihr Tod war nützlich für die Gemeinschaft, denn er zeigte an, dass etwas im Ungleichgewicht und die Umwelt immer häufiger verschmutzt war. Die Bienen waren sozusagen die Hüter der Natur.

Angelica fragte sich oft, wieso der Mensch sich selbst und die Natur vergiftete, allein aus rücksichtsloser Profitgier. Ist es wirklich erstrebenswert, dreckiges Wasser zu trinken und Früchte zu essen, die mit Pestiziden besprüht werden, damit sie größer und schöner werden? Sie erinnerte sich noch genau an den Geruch eines Bienenstocks, den der vergiftete Blütenstaub eines Sonnenblumenfeldes zerstört hatte. Nachdem er erkannt hatte, dass er selbst für den Tod seiner Bienen verantwortlich war, war der Imker in Tränen ausgebrochen. Er hatte nicht gewusst, dass die Sonnenblumensamen mit einem neuartigen Pestizid behandelt worden waren, das erst in die Pflanzen und dann in die Blüten gewandert war und so seine tödliche Wirkung an die Bienen weitergegeben hatte.

Naiv war Angelica nicht, sie kannte die gewinnorientierte Welt nur zu genau. Sie wusste, dass die Ursache in der Illusion lag, mit dem Versprühen einer Chemikalie wie von Zauberhand alle Probleme lösen zu können.

Einfach so und zugleich so einfach, dass der Gedanke unwiderstehlich war. So konnte man auf einen Schlag jeden Zweifel, jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Das Problem waren die Menschen, die keine Zeit und keine Geduld mehr hatten. Die alles wollten, und zwar sofort. Die keine Wege mehr beschreiten, sondern nur noch Ziele erreichen wollten.

Jedes Mal wenn sie einen Bienenstock überprüfte, richtete sie ihr Augenmerk vor allem auf die Umgebung sowie die Boden- und Luftqualität. Sie versuchte, die Imker von ihren Methoden der biologischen Schädlingsbekämpfung zu überzeugen. Natürlich versprach sie keine Wunder, bot jedoch zumindest eine Alternative zur chemischen Keule an. Ihr Studium der Zoologie und der Verhaltensforschung, das sie mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, war also doch zu etwas nütze gewesen.

Seit jeher waren die Natur, der Erdboden, der Wind und das Wasser ihre Weggefährten. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich wohl. Mit der Zeit war Angelica Senes ein Teil der Welt geworden, die sie vor so vielen Jahren kennengelernt hatte. Die Welt der Bienen.