Die Seidenvilla - Tabea Bach - E-Book
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Die Seidenvilla E-Book

Tabea Bach

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Beschreibung

Nach einem schweren Schicksalsschlag folgt Angela der Einladung ihrer Tante, sie in Asenza im Veneto zu besuchen. Doch die Auszeit nimmt eine überraschende Wendung, als die "Seidenvilla", die letzte traditionelle Seidenweberei des Ortes, kurz vor dem Aus steht. Angela beginnt, mit ihrer Tante Pläne zu schmieden, wie man Die Seidenvilla retten könnte. Der Besitzer würde Angela die Weberei verkaufen, allerdings sind daran einige Bedingungen geknüpft. Und dann trifft sie unerwartet einen Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt ... Doch ist sie bereit für einen Neuanfang in Italien und eine neue Liebe?

Ein mitreißender Roman um Liebe, Vertrauen und den schönsten Stoff der Welt: Seide



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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1 Die Einladung2 Das Wiedersehen3 Die rosenfarbene Stola4 Schatten der Vergangenheit5 Die Seidenvilla6 Der Unfall7 Der Duft von Seide8 Das Angebot9 Ein verrückter Plan10 Die Bedingung11 Die Weberinnen12 Der Freund des Architekten13 Der Ehering14 Der omaccio15 Die rätselhafte Farbe16 Wiedersehen in Venedig17 Die himmelblaue Seide18 Der Verrat19 Ein »fabelhaftes Leben«20 Der Ball21 Die zweite ChanceDanksagungDie Geschichte um die Seidenvilla geht weiter …1 Der Jahrestag

Über dieses Buch

Nach einem schweren Schicksalsschlag folgt Angela der Einladung ihrer Tante, sie in Asenza im Veneto zu besuchen. Doch die Auszeit nimmt eine unerwartete Wendung, als die »Seidenvilla«, die letzte traditionelle Seidenweberei des Ortes, kurz vor dem Aus steht. Angela beginnt, mit ihrer Tante Pläne zu schmieden, wie man die Seidenvilla retten könnte. Der Besitzer würde Angela die Weberei verkaufen, allerdings sind daran einige Bedingungen geknüpft. Und dann trifft sie unerwartet einen Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt ... Doch ist sie bereit für einen Neuanfang in Italien und eine neue Liebe?

Ein mitreißender Roman um Liebe, Vertrauen und den schönsten Stoff der Welt: Seide

Über die Autorin

Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Frauenromanen wieder.

Tabea Bach

Die SEIDENVILLA

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

itelillustration: © Slow Images/getty-images; © Nikaa/Trevillion Images; © Atlantide Phototravel/getty-images

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7788-1

www.luebbe.de

www.lesejury.de

1

Die Einladung

Die Blüten leuchteten. Sie blendeten Angela trotz der Sonnenbrille, die sie trug, und doch konnte sie die Augen kaum von ihnen abwenden. Während sie Hand um Hand schüttelte und sich in Arme schließen ließ, die Anteilnahme all der Menschen hinnahm wie das Wetter, das unverschämt frühlingshaft war an diesem Tag Anfang April, sah sie immer wieder hinüber zu dem Hügel voller Blumengebinde – weiße Rosen, gelbe Narzissen, Tulpen und Pfingstrosen in ihrer rosa-, pink- und lilafarbenen Pracht. Ihr Duft hatte Bienen und Hummeln von wer weiß woher angelockt, sie umsummten das Grab ihres Mannes, als gäbe es kein Sterben auf dieser Welt.

Angela hatte keine Tränen mehr, sie waren bereits vor Wochen versiegt. Zwei Jahre hatte sie dem langsamen Verlöschen jenes Menschen beigewohnt, den sie mehr geliebt hatte als ihr Leben. Am Ende war der Tod eine Erlösung für sie beide gewesen, auch wenn niemand das verstand, der nicht die ganze Zeit dabei gewesen war. Und außer ihrer Tochter Nathalie, die mit ihren neunzehn Jahren aufrecht wie eine Kerze neben ihr stand und ihr Kraft und Halt gab, wusste keiner, was hinter ihr lag.

Endlich löste sich die Menschenschlange auf, und mit dem Gefühl, als hätte irgendjemand eine Fernbedienung, die ihre Bewegungen steuerte, begleitete Angela die Trauergäste zu Kaffee und Kuchen in Peters Lieblingsrestaurant am Ammersee, beobachtete sich selbst, wie sie Fragen beantwortete und mit jedem, der das Bedürfnis hatte, ihr sein Beileid auszusprechen, ein paar freundliche Worte wechselte. Sie war jedem Einzelnen dankbar. Und doch strengte sie das alles ungeheuer an.

Unglaublich viele Menschen waren gekommen, um von Peter Abschied zu nehmen. »Die Besten gehen zuerst«, sagte einer seiner wichtigsten Auftraggeber immer wieder, und alle, die es hörten, stimmten ihm zu. Peters Freund und Kompagnon Markus nahm sich seiner an, und Angela war ihm dankbar dafür. Es war anstrengend genug für sie, immer wieder aufs Neue tröstlich gemeinte Worte von ihren nächsten Freunden und Verwandten zu hören, wo doch in Wahrheit kein Trost zu finden war. Und erst als auch dies überstanden war, als sich die letzten Gäste verabschiedet hatten, merkte Angela, wie müde sie war.

Das Haus war leer und still – eine Wohltat nach diesem qualvollen Tag. Angela war sich klar darüber, dass der eigentliche Abschied von ihrem Mann schon viel früher stattgefunden hatte. Der ausgelaugte, entkräftete Körper, dessen Herz schließlich zu schlagen aufgehört hatte, war schon längst nicht mehr Peter gewesen, nur noch ein Schatten der Erinnerung an vergangenes Leben. »Ich will, dass du weiterlebst«, hatte ihr Mann ihr so oft gesagt. »Es ist mein Wunsch, dass du wieder fröhlich wirst und das Dasein auch ohne mich genießt!« Angela hatte es sich nicht vorstellen können. Auch jetzt war es kaum denkbar.

Sie nahm eine Tablette gegen die aufsteigenden Kopfschmerzen, zog das schwarze Kleid aus und hängte es zum Lüften an den Schrank, widerstand der Versuchung, die Schiebetür direkt daneben aufzudrücken, hinter der sich Peters Kleidung verbarg. Maßanzüge, italienische Modelle, jedes Stück elegant und doch so schlicht.

Angela schlüpfte in ihren Schlafanzug, obwohl es noch hell draußen war, machte sich einen Kräutertee und ging ins Wohnzimmer. Alles war so vertraut. Die Bilder befreundeter Künstler an den Wänden. Die beigen Polstermöbel. Der Designertisch aus Glas und Edelstahl. All das hatten sie gemeinsam ausgesucht, doch heute kam es Angela so vor, als betrachtete sie ein fremdes Glück, das nicht mehr existierte.

War es nicht so? Aber warum fremd?

Sie ließ sich in einen Sessel fallen und sah in den Garten hinaus. Überall sprießte und blühte es. Schneeglöckchen, Krokusse, Märzenbecher und die blauen Traubenhyazinthen, die sie so liebte.

Sie hob den Blick über die noch kahle Buchenhecke und sah in der Ferne den See, dahinter die schneebedeckten Alpen, dessen Anblick sie immer so beglückt hatte. »Welch ein Paradies«, hatte Peter oft gesagt, und Angela hatte ihm zugestimmt. Doch heute brachte dieses herrliche Panorama nichts mehr in ihr zum Klingen …

»Mami«, hörte sie Nathalies Stimme, »bist du da?« Im nächsten Augenblick stürmte ihre Tochter herein. »Puh«, machte Nathalie und warf sich in den Sessel ihrer Mutter gegenüber. »Tante Simone wollte unbedingt ein paar Tage bei uns bleiben. Sie hat behauptet, man könne dich doch jetzt nicht allein lassen. Ich hab gesagt, dass du deine Ruhe brauchst. Das stimmt doch, oder?«

Angela lächelte amüsiert. Sie kannte ihre Schwägerin. Und natürlich meinte sie es gut. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Hoffentlich warst du nicht unfreundlich zu ihr.«

»Aber nein«, beruhigte Nathalie sie liebevoll. »Ich hab ihr gesagt, dass du keineswegs allein bist, schließlich hast du mich. Darauf konnte sie nichts mehr sagen.«

»Danke …«

Angela betrachtete zärtlich ihre einzige Tochter. Auch sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Angela wusste, dass für Nathalie die vergangenen Monate ebenfalls schwer gewesen waren. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt. Aus einem sorglosen Teenager war eine junge Frau geworden, sich ihrer selbst bewusst und schmerzerfahren. Eine äußerst attraktive Frau mit ihren dunkelgrünen Augen und dem kastanienbraunen Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. An diesem Tag hatte sie es zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt. So wie sie selbst war auch Nathalie in den letzten Monaten dünner geworden, was sie zerbrechlich aussehen ließ, und doch besaß ihre Tochter eine schier unerschöpfliche Energie. Angela fragte sich, ob sie früher auch so gewesen war. So voller pulsierendem Leben, voller Pläne. Und trotz der harten Zeit, die hinter ihnen beiden lag, voller Optimismus. Das hat sie von Peter, sagte Angela sich und schloss erschöpft die Augen. Alles in diesem Haus zeugte von Peters Wesen. Und von seiner endgültigen Abwesenheit.

»Hast du gesehen?«, fragte Nathalie. »Tess hat geschrieben.«

Angela wandte überrascht den Kopf. »Wirklich? Das ist aber nett.«

»Ich hab den Brief geöffnet, weil ich dachte, es wäre eine der vielen Kondolenzkarten, und du wolltest ja, dass ich dir das abnehme. Es ist allerdings ein persönlicher Brief an dich, Mami. Willst du ihn lesen?«

»Morgen vielleicht«, antwortete Angela. »Für heute habe ich genug Beileidsbekundungen gehört.«

»Ja, schon«, entgegnete Nathalie aufgeregt. »Nur, der Brief ist ganz anders! Tess lädt dich zu sich ins Veneto ein. Sie findet, du brauchst Urlaub. Abstand von … von allem eben. Und weißt du was? Ich finde, sie hat recht!«

Angelas erste Reaktion war Abwehr. Doch dann sah sie den besorgten Ausdruck in den Augen ihrer Tochter und fühlte die Liebe, die von ihr ausging. Nathalie machte sich Sorgen, und das berührte sie.

»Ich denke darüber nach«, sagte sie sanft. »Morgen.«

»Versprochen?«, setzte Nathalie nach. Angela musste lachen. Das war ein altes Ritual zwischen ihnen, seit Nathalie sprechen konnte. Denn mindestens seit diesem Zeitpunkt war es ihre Art gewesen, alle möglichen Dinge auszuprobieren, die Angela eigentlich noch viel zu gefährlich für sie fand. Statt ihr etwas zu verbieten, hatte sie Nathalie immer erst das Versprechen abgenommen, vorsichtig zu sein. Jetzt hatte sie offenbar die Rollen getauscht.

»Versprochen«, sagte sie. Und schon beim Einschlafen fand sie den Gedanken, eine Weile wegzufahren, gar nicht mehr so abwegig.

Am nächsten Morgen wachte Angela mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe ihr alles wieder einfiel. Sie hatte von Blumen geträumt, um die Bienen summten. Im Traum hatte sie ihr Gesicht in die Sonne gehalten, und jemand hatte ihre Hand genommen und sie in ein Haus geführt, in ein großes Haus, dessen Wände mit Blumen bemalt waren und an dessen Decken Sonne, Mond und Sterne leuchteten. Dann war die Hand auf einmal nicht mehr da gewesen, und sie hatte einen unwiederbringlichen Verlust gefühlt. Aber nur kurz, denn eine neue Tür zu einem neuen Raum war geöffnet worden. Etwas Schönes war geschehen, doch bereits während des Aufwachens konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was …

Der Traum zerrann, Angela öffnete die Augen. Und ehe Trauer und Verzweiflung sie überfallen und lähmen konnten, schlug sie entschlossen die Decke zurück und stand auf. Während Peters Krankheit hatte sie sich an eine eiserne Routine gehalten, die ihr geholfen hatte, nicht zusammenzubrechen. Und obwohl sie niemals weiter in die Zukunft gedacht hatte als bis zur Beerdigung, oder vielleicht gerade deswegen, zog sie auch heute ihre Joggingsachen an, schnürte ihre Laufschuhe und verließ das Haus.

Das Laufen tat ihr gut. Ihre rastlosen Gedanken gaben Ruhe. Ihre Beine fanden von ganz allein den Weg hinaus aus der Ortschaft und den Feldweg entlang bis zum nächsten Dorf, hinunter zum See und am Ufer zurück. Auf der Promenade kamen ihr zwei Männer entgegen, der eine war ein Segelfreund von Peter, der seinen Hund spazieren führte. Angela nahm seinen mitleidvollen Blick wahr, als sie ihn grüßte.

»Die Allerärmste«, hörte sie ihn zu seinem Begleiter sagen. »Gerade mal fünfundvierzig Jahre alt und hat gestern ihren Mann begraben.«

Es war, als hätte ihr jemand in die Kniekehlen geschlagen. Angela geriet ins Taumeln, beinahe wäre sie gestürzt. Und dann wurde sie wütend, so sehr wie schon eine Ewigkeit nicht mehr. Würde das von jetzt an immer so sein? War und blieb sie nun die bedauernswerte Witwe, eine »Allerärmste«, die das Unglück heimgesucht hatte?

Unwillig schüttelte sie den Kopf und verfiel wieder in ihre übliche Laufgeschwindigkeit. Sie durfte nicht so empfindlich sein. Die Leute meinten es nicht böse. Doch als sie am Kiosk kurz vor dem Aufstieg zu ihrem Haus wie immer eine Zeitung kaufte, traf sie von der Besitzerin, einer älteren Frau, die sie schon lange kannte, ein ganz ähnlicher Blick. Sie las Mitgefühl darin, auch die Erleichterung, selbst nicht so hart vom Schicksal getroffen worden zu sein. Und schlecht verhohlene Neugier, wie sie, Angela, damit wohl fertig werden würde.

Das letzte steile Stück ihrer Joggingroute verlangte ihre gesamte Konzentration. Sie hatte gelernt, störende Gedanken auszublenden und sich ganz auf ihren Körper zu fokussieren. Und doch hatte sie, als sie die Haustür aufschloss, eine Entscheidung getroffen. Sie würde Tess’ Einladung annehmen und sie besuchen. Als sie kurz darauf unter der Dusche stand und das Wasser nur so auf sich herunterprasseln ließ, wurde ihr auch klar, warum. Was sie brauchte, war die Gesellschaft von Menschen, die sie so nahmen, wie sie jetzt war. Um selbst herausfinden zu können, was von ihr nach allem, was geschehen war, übrig geblieben war.

Nathalie war bereits nach München aufgebrochen, wo sie im vergangenen Herbst begonnen hatte, Kunstgeschichte zu studieren, und hatte Angela einen Zettel voller Herzen und mit der Nachricht hinterlassen, dass sie am späten Nachmittag zurück sei. Die Vorlesungen begannen zwar erst in zwei Wochen, doch Nathalie arbeitete bereits an einer Seminararbeit und recherchierte dafür in der Institutsbibliothek. Angela nickte zufrieden, ihre Tochter war ebenso diszipliniert wie sie und behielt ihre Routine bei.

Der Morgen verging mit der Erledigung jener unerfreulichen bürokratischen Angelegenheiten, die auf einen Todesfall unweigerlich folgten. Angela telefonierte mit Versicherungen, mit dem Beerdigungsinstitut, mit dem Friedhofsamt und der Gärtnerei. Sie machte Kopien von Peters Sterbeurkunde und setzte förmliche Briefe auf. Sie tat das alles mit derselben Routine, wie sie in der Vergangenheit Anträge an die Krankenkasse, die Pflegeversicherung und Schreiben an ihre Geldinstitute oder Spezialkliniken verfasst hatte. Sie wusste, dass sie außerdem noch einige weitreichende Entscheidungen treffen musste.

Peter hatte mit seinem Freund Markus eine Baufirma aufgebaut, die über die letzten zwanzig Jahre gewachsen war und sich zu einem großen, erfolgreichen Unternehmen entwickelt hatte. Seine Anteile hatte er rechtzeitig auf sie und Nathalie übertragen. Und doch gab es viele Dinge zu klären. Angela vermutete, dass Markus ihr Zeit lassen würde. Doch sie selbst wünschte sich in ihrem eigenen Interesse eine baldige Klärung der Verhältnisse. Noch war sie zu keinem Entschluss gekommen.

Am Nachmittag, als sie sich sicher war, dass eine ältere Dame ihren Mittagschlaf beendet haben würde, wählte sie Tess’ Nummer im italienischen Veneto. Es war viele Jahre her, seit sie die Jugendfreundin ihrer Mutter zuletzt gesehen hatte, die für sie immer wie eine Tante gewesen war, die sie nie gehabt hatte. Eigentlich hieß sie Teresa, doch nachdem sie sich in John verliebt hatte, der als amerikanischer Soldat in Mannheim stationiert gewesen war, war sie ihm in die USA gefolgt, und seither nannte sie jeder nur noch Tess. Angela und Peter hatten die beiden in Florida besucht, doch das war lange her. Vor zehn Jahren war Tess zurück nach Europa gezogen, jedoch nicht nach Deutschland, sondern in eine Kleinstadt eine Autostunde nördlich von Venedig.

Angela hatte keine Ahnung, wieso die alte Dame ausgerechnet dort ihren Lebensabend verbringen wollte. Bevor Peter krank geworden war, hatte Nathalie einmal die Sommerferien bei Tess verbracht. Sie war restlos begeistert gewesen und mit dem unumstößlichen Entschluss zurückgekommen, Kunstgeschichte zu studieren, denn Tess hatte unermüdlich jedes Kulturdenkmal mit ihr abgegrast, das in der Umgebung zu finden war.

»Wann kommst du?«, fragte Tess ohne große Umschweife. »Es ist so schön, deine Stimme zu hören!«

»Ich würde dich tatsächlich gern besuchen«, sagte Angela, »wenn es dir wirklich recht ist und keine Umstände macht.«

»Mein Haus ist deines!«, entgegnete die alte Dame. »Du weißt ja, ich lebe allein. Platz ist genug. Du kannst kommen und bleiben, solange du willst.«

Angela überlegte. »Ich muss erst mit Nathalie sprechen«, wandte sie ein und wurde auf einmal unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich schon so bald fahren kann, Tess … Immerhin hat sie gerade erst ihren Vater verloren.«

»Nathalie ist ein großes Mädchen«, hörte sie Tess sagen. »Ich bin mir sicher, sie kann für sich selbst sorgen. Und wenn nicht, bring sie einfach mit.« Einen Moment lang war es still in der Leitung. »Angela«, brach Tess das Schweigen, »das mit Peter tut mir unendlich leid. Aber ich werde dir nicht mit meinem Mitgefühl auf die Nerven gehen. Ich weiß, wie das ist. Nachdem John gestorben war, hielt ich es nicht mehr aus zu Hause. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn es alle schrecklich gut mit dir meinen. Hab ich recht?«

Angela musste lachen, es war jedoch ein trauriges Lachen, und auf einmal fühlte sie nach langer Zeit wieder Tränen hinter ihren Augen aufsteigen.

»Danke«, sagte sie. »Genau so ist es, Tess.« Eine Weile sagte keine von beiden etwas, dann fragte Angela: »Wie geht es dir denn? Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«

»Noch ein Grund, mich endlich zu besuchen«, meinte Tess. »Danke der Nachfrage, mir geht es gut. Mein rechtes Knie will manchmal nicht mehr ganz so wie ich, das ist in meinem Alter wohl nichts Besonderes.« Und als Angela nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Also, ich werde Emilia jetzt das Turmzimmer für dich herrichten lassen. Und du kommst einfach, wann immer du willst. Ja?«

»Gern, Tess«, brachte Angela mühsam heraus, obwohl sie einen Kloß im Hals stecken hatte. »Ich melde mich. Und nochmals danke!«

»Ist schon gut«, wehrte Tess lachend ab. »Vergiss nicht, ich bin eine egoistische alte Frau und wünsche mir nichts weiter als deine wunderbare Gesellschaft. Reiner Eigennutz, meine Liebe!«

Sie lachten miteinander, und als sie sich verabschiedeten, spürte Angela, wie sich etwas in ihrer Brust zu lösen begann. Ja. Genau diese Art von Humor und diese Offenheit waren das, was sie jetzt brauchte.

»Natürlich komme ich zurecht«, erklärte Nathalie entrüstet. »Du brauchst ganz dringend Tapetenwechsel, Mami. Und Asenza ist einfach ein Traum. Du sprichst doch so gut Italienisch! Ich kann nicht fassen, dass wir nicht schon viel früher mal alle zusammen dahingefahren sind. Das ist die Gegend, in der Palladio seine berühmtesten Villen gebaut hat. Die Landschaft ist wunderschön, und Tess’ Haus ist unglaublich.«

»Es gibt doch noch so viel zu regeln …«

»Das kann ich machen. Ich hüte das Haus und kümmere mich um alles. Wie ich dich kenne, hast du das meiste doch eh schon erledigt. Tess hat Internet im Haus. Du kannst also auf dem Laufenden sein, wenn du das unbedingt möchtest. Fahr nach Italien, Mami! Du wirst sehen, das tut dir gut.« Angela nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. »Ist es die lange Autofahrt?«, fragte Nathalie besorgt. »Soll ich dich begleiten? Ich könnte mit dem Zug zurück …«

»Aber nein.« Angela lächelte. »Das schaff ich schon. So weit ist es nun auch wieder nicht.«

»Im Grunde ist es nur auf der anderen Seite«, meinte Nathalie und wies aus dem Fenster in Richtung des prächtigen Alpenpanoramas. »Für den Fall, dass es notwendig wird, kannst du in ein paar Stunden wieder hier sein.« Und als Angela immer noch schwieg, fügte sie verschmitzt hinzu: »An deiner Stelle würde ich vor dem Wochenende verschwinden. Mein Gefühl sagt mir nämlich, dass am Sonntag die Verwandtschaft vor der Tür steht, damit du nicht so allein bist. Tante Simone hat so etwas angedeutet.« Nathalie grinste, als Angela erschrocken die Augen aufriss. Dann lachte sie.

»Na gut. Du hast mich überzeugt. Was ist heute für ein Tag? Mittwoch? Also sollte ich wohl besser anfangen zu packen.«

Angela war fast fertig, als ihre Tochter kam und sich zu ihr aufs Bett setzte. »Ich hab im Internet nachgesehen«, erzählte Nathalie und inspizierte neugierig den Inhalt des Koffers. »Das Wetter soll die ganze nächste Woche gut sein in Asenza.« Sie entdeckte bequeme Jeans, Blusen, T-Shirts und natürlich Sportsachen und zog die Stirn kraus. »Nimm auch ein paar von deinen schicken Sachen mit«, riet sie ihrer Mutter. »Tess kennt ein paar schrecklich vornehme Leute. Soll ich dir helfen? Wenn du willst, packe ich dir zusätzlich einen kleinen Koffer, ja? Für besondere Anlässe sozusagen.«

Angela konnte sich zwar nicht vorstellen, welche besonderen Anlässe bei Tess wohl auf sie warten würden, ließ ihre Tochter aber gewähren. Im Handumdrehen hatte Nathalie ihrer Mutter lauter Dinge eingepackt, die sie schon ewig nicht mehr getragen hatte. Wann hätte sie in den vergangenen zwei Jahren auch Gelegenheit gehabt, sich zum Ausgehen schick zurechtzumachen?

Noch beim Frühstück am Freitagmorgen erschien es Angela nahezu absurd, sich in den Wagen zu setzen und einfach davonzufahren. War sie denn abkömmlich? Das war so ungewohnt nach all der Zeit, in der sie nur für Peter da gewesen war. In Gedanken ging sie noch mal durch, was sie am Vortag alles in die Wege geleitet hatte. Mit dem Gärtner hatte sie nicht nur die Grabbepflanzung besprochen, sondern ihn auch gebeten, während ihrer Abwesenheit nach dem Garten zu sehen. Ihre Zugehfrau würde regelmäßig ins Haus kommen, sodass Nathalie zum Semesterbeginn beruhigt in ihre Wohngemeinschaft im Glockenbachviertel zurückkehren konnte. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Doch nachdem sie am Friedhof haltgemacht, lange an Peters Grab gestanden und vergeblich auf die Empfindung gewartet hatte, dass hier irgendwo noch etwas von ihm geblieben war, wurde ihr klar, dass nichts sie mehr zurückhielt. Als sie die Autobahn nach Garmisch erreichte, überfiel sie ein Gefühl von Freiheit. Sie war unterwegs.

Angela holte tief Luft. Und konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so erleichtert gewesen war.

2

Das Wiedersehen

So rein und klar war die Luft, so blau der Himmel und gleißend die schneebedeckten Gipfel, dass Angela die Fahrt über die Alpen wie ein Übergang aus einem düsteren Winter voller Trauer und Schmerz in ein schwereloses Reich aus Licht und Sommer erschien. Die Südtiroler Bergwelt mit ihren schroffen Tälern und steil aufragenden Flanken aus Granit und Eis, die bizarren Formationen, die ihre Gestalt auf ihrer Fahrt ständig zu verändern und zu verschieben schienen, erinnerten sie daran, wie klein und unbedeutend das einzelne Menschenschicksal doch war im Vergleich zu den Jahrmillionen, in denen sich die Erde geformt und gefaltet hatte, bis dieses mächtige Gebirge hatte entstehen können.

Sie passierte den Brenner, und ihr Wagen rollte in weiten Serpentinen hinunter nach Brixen und weiter nach Bozen und in das Tal der Etsch. Die steinernen Riesen blieben hinter Angela zurück, und sie tauchte mehr und mehr ein in fruchtbares Land, wo Obstbäume in voller Blüte standen und die nach Süden geneigten Hänge mit dem frischen Grün der in regelmäßigen Reihen gepflanzten Weinreben bedeckt waren. Die Sonne schien hier viel intensiver als zu Hause, und im Auto wurde es warm.

Angela machte an einer Raststätte halt, zog ihre Wolljacke aus, aß ein mit luftgetrocknetem Speck und eingelegten Tomaten belegtes panino, trank einen Kaffee und kaufte sich eine Flasche Mineralwasser, ehe sie weiterfuhr. Zwei Stunden und fünf Minuten gab ihr Navigationsgerät für die restliche Strecke an.

Die schien sie durch einen einzigen großzügigen Garten zu führen. »Monte Grappa« las Angela auf einem Schild, und sie erinnerte sich, dass der berühmte Tresterschnaps gleichen Namens aus dieser Gegend stammte. Rosarot getupfte Hänge mit Plantagen voller blühender Aprikosenbäume säumten ihren Weg, und immer wieder sah sie Gruppen von schlanken, hoch aufgeschossenen Zypressen, die wie dunkelgrüne Finger mahnend gen Himmel zu weisen schienen. Als sie schließlich hier und dort Zitronenbäume entdeckte, an denen aus dem dunkelgrünen Laub nicht nur Blüten, sondern auch noch einige Früchte leuchteten, atmete sie auf. Fast hatte sie es geschafft. Nur noch wenige Kilometer trennten sie von ihrem Ziel.

Bald entdeckte Angela in der Ferne auf einem kegelförmigen Hügel eine stattliche Ansammlung wehrhafter Häuser, Türme und Zinnen aus Travertingestein, das in der späten Nachmittagssonne schimmerte wie reines Gold.

Tess hat sich da ein ganz besonderes Fleckchen Erde ausgesucht, dachte sie, als sie die Serpentinen der steilen Zufahrtsstraße nach Asenza hinauffuhr. Jede Biegung bescherte ihr einen noch herrlicheren Blick nach Süden, wo sie unter einem Schleier aus Dunst Venedig vermutete. Dann passierte sie ein trutziges Tor und fand sich innerhalb einer mittelalterlichen Stadtanlage wieder. Die Straße verengte sich, und obwohl sie langsam fuhr, dröhnten die Reifen auf dem Pflaster.

Vorsichtig überquerte Angela einen trapezförmigen, leicht ansteigenden Platz, folgte der Anweisung ihres Navigationsgeräts und bog links in eine Gasse ein. Einige Hundert Meter führte sie diese in einer Schleife sanft bergan, bis sie schließlich vor einem schmiedeeisernen Tor endete. Angela schaltete den Motor ab und stieg aus.

Zwischen den uralten Mauern staute sich die frühlingshafte Wärme, der Duft von Rosen mischte sich mit dem herben Aroma von Zedern. Das Gezwitscher unzähliger Vögel drang aus dem dichten Laub der Bäume jenseits des Tores. Eine Hecke stand in hellgelber Blüte. Angela wollte eben nach einer Klingel beim Tor suchen, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Eine pummlige Frau um die fünfzig mit freundlichen Lachfältchen um die Augen kam den Kiesweg herunter zum Tor.

»Signora Angela?«, fragte sie und öffnete den Riegel. »Benvenuta! Ich bin Emilia. Die Signora erwartet Sie schon.«

Quietschend öffneten sich die beiden Flügel des alten Tores. Emilia winkte sie herein, und Angela fuhr langsam die Einfahrt hoch, die von prächtigen Strauchrosen gesäumt wurde. Angela war überrascht, mitten in dieser Altstadt, die ihr so eng und gedrängt erschienen war, einen so großzügigen Garten vorzufinden. Entlang der Mauer stand eine Reihe von Bäumen mit dunklen Laubkronen, eine mächtige, uralte Zeder reckte ihre fedrigen Äste über einen Teil des herrschaftlichen Hauses. Wie die ganze Stadt war auch Tess’ Anwesen aus dem gelblichen Travertin erbaut. Es wirkte trutzig und verwinkelt. Im hinteren Teil erhob sich ein wehrhafter Turm, der mit Zinnen gekrönt war.

»Hier können Sie Ihr Auto abstellen«, rief Emilia ihr auf Italienisch durchs offene Autofenster zu und wies auf einen mit Glyzinien überrankten Parkplatz.

Noch ehe Angela ihr Gepäck aus dem Kofferraum holen konnte, war ein junger Mann zur Stelle, den Emilia als ihren Sohn Gianni vorstellte und der Angela versicherte, dass sie sich von nun an um nichts mehr zu kümmern brauche.

»Lei deve essere stanchissima«, erklärte die Haushälterin mit warmer Stimme. »Sie müssen müde sein nach so einer langen Fahrt! Bitte kommen Sie.«

Sie führte Angela ins Haus und durch einen dunklen Korridor eine Treppe hinauf in den ersten Stock und öffnete die Tür zu einem lichtdurchfluteten Zimmer. Angela schloss geblendet die Augen.

»Da bist du ja! Herzlich willkommen in der Villa Serena«, hörte sie eine altvertraute Stimme. Vor einer beeindruckenden Glasfront, die die gesamte Breite des Raumes einnahm und die nur von gotischen Fensterbögen unterbrochen wurde, erhob sich mühsam eine Gestalt. Angela beeilte sich, Tess entgegenzugehen. Die alte Dame schloss sie in die Arme. Sie hielten sich lange fest. »Gut, dass du da bist«, sagte Tess. »Lass dich ansehen! Mager bist du geworden! Und blass. Du lieber Himmel! Das werden wir ändern. Emilia kocht fantastisch, und der Frühling hier im Veneto wird dir guttun! Setz dich doch! Wie war die Fahrt?«

»Danke, gut. Ich habe mir Zeit gelassen.«

Erst jetzt begriff Angela, dass sie sich im ersten Obergeschoss des Turms befanden, den sie beim Hereinfahren entdeckt hatte. Sie nahm Tess gegenüber Platz und sah aus dem Fenster. Der Ausblick nahm ihr fast den Atem.

»Schön, nicht?«, fragte Tess mit einem breiten Lächeln.

»Schön ist gar kein Ausdruck«, brachte Angela heraus.

»An manchen Tagen kann man sogar Venedig sehen«, erklärte Tess. »Aber meistens ist die Serenissima unter einem Schleier verborgen wie eine kokette Frau.« Ein unwirklicher zartvioletter Schein lag über der sanft in Richtung Süden abfallenden Landschaft. Weinberge, Obsthänge, Wiesen und Felder gingen allmählich über zu einer schier endlos scheinenden Ebene und verschwammen in der Weite, die sich in einem golden schimmernden Horizont verlor. Im Westen näherte sich gerade die Sonne ihrem täglichen Untergang, sie brachte den Himmel zum Verglühen. »Was ist?«, unterbrach Tess Angelas sprachloses Staunen. »Trinkst du einen Prosecco mit mir zur Feier des Tages?«

»Gern!«, antwortete Angela und betrachtete liebevoll ihre Gastgeberin.

Tess war älter geworden, aber unter dem silbergrauen Pagenschnitt blitzten sie dieselben hellwachen kobaltblauen Augen an, die sie früher an ihrer Nenntante so bewundert hatte. Tess war Mitte siebzig und immer noch sehr schlank.

»Willkommen in Asenza«, sagte Tess. »Bitte fühl dich hier wie zu Hause!«

Emilia brachte einen Teller mit gesalzenen Mandeln und selbst gebackenen knusprigen Grissini und einen Prosecco aus dem benachbarten Val Dobbiadene.

»La cena è quasi pronta«, kündigte Emilia das baldige Abendessen an. »Gibt es irgendetwas«, fragte sie vorsichtig, »das Signora Angela nicht mag?«

»Angela mag alles«, sagte Tess, »nicht wahr?« Angela nickte lächelnd. Das war schon immer so gewesen, und es hatte sich nicht geändert. Emilia atmete erleichtert auf. Nur allzu große Portionen, dachte Angela, die schaffe ich momentan nicht. Doch vorsichtshalber sprach sie das nicht laut aus. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«, fragte Tess, während Emilia den Prosecco einschenkte. »Fünf Jahre?«

»Mama ist vor fünf Jahren gestorben«, antwortete Angela. »Es war sehr lieb von dir, dass du zur Beerdigung gekommen bist.«

»Das war selbstverständlich«, unterbrach Tess sie. »Sie war wie eine Schwester für mich. Ich wäre auch jetzt gekommen, Angela, doch mit meinem Knie …«

»Das versteh ich doch, Tess«, beruhigte Angela sie. »Mir tut es leid, dass ich dich noch nie hier besucht habe.«

»Jetzt bist du ja da«, sagte Tess und stieß mit ihr an. »Das ist die Hauptsache.«

Angela nahm einen Schluck. Der Prosecco erfrischte sie und prickelte auf ihrer Zunge.

»Nathalie hat oft von Asenza geschwärmt«, bemerkte sie.

»Deine Nathalie ist ein fabelhaftes Mädchen. Du kannst stolz auf sie sein«, erklärte Tess und knabberte an einem Gebäckstück. »Ich werde den Sommer mit ihr nie vergessen. Damals war ich noch besser auf den Beinen«, fügte sie wehmütig hinzu. »Was haben wir nicht alles miteinander unternommen!«

»Danach hat sie beschlossen, Kunstgeschichte zu studieren«, bestätigte Angela. »Und nichts hat sie mehr davon abbringen können. Sie hat sogar freiwillig Italienisch gelernt. Im Augenblick schreibt sie eine Seminararbeit über irgendeinen Aspekt die Architektur Palladios betreffend, ich habe vergessen, worum genau es geht …«

»Über die Abweichungen der römischen Villenstruktur in Palladios Werk, untersucht anhand der Villa Barbaro in Maser«, verkündete Tess mit einiger Befriedigung in der Stimme.

Angela riss verblüfft die Augen auf. »Woher …«

»Wir haben regen E-Mail-Kontakt, deine Tochter und ich«, erklärte Tess mit einem verschmitzten Lächeln. »Hin und wieder schickt sie mir auch eine Nachricht per WhatsApp. Weißt du was?«, rief sie aus. »Wir machen jetzt ein Selfie und schicken es ihr. Damit sie weiß, dass du gut angekommen bist!«

Die alte Dame zückte ihr Smartphone, das in einer mit glitzernden Steinen besetzten Hülle steckte, und winkte sie heran. Angela kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Tess tat so, als bemerkte sie es nicht, und schoss ein paar schöne Bilder von ihnen beiden. Dann setzte sie ihre Lesebrille auf und tippte auf dem Display herum. »So«, rief sie zufrieden aus, »erledigt! Möchtest du jetzt deine Zimmer sehen? Du kannst dich bis zum Abendessen noch eine Weile hinlegen.«

Emilia ging voran. Die rundliche Italienerin erklomm erstaunlich behände zwei weitere Stockwerke, bis es nicht mehr höher ging, und öffnete eine schwere Tür aus dunklem Holz.

»Eccoci!«, rief sie aus und schaltete das Licht an. Angela trat über die Schwelle und fand sich in einem geschmackvoll mit alten Möbeln eingerichteten Salon wieder. Zwei bequem wirkende Sessel und ein dazu passender Zweisitzer gruppierten sich vor einem offenen Kamin. An einem ganz ähnlichen Fenster wie in Tess’ Salon stand ein quadratischer Tisch mit gedrechselten Beinen und ebensolchen Stühlen. »Das Schlafzimmer ist dort drüben«, erklärte Emilia, durchquerte den Salon und öffnete gegenüber eine weitere Tür zu einem Raum, in dem Angela ihr Gepäck entdeckte. »Und das Badezimmer befindet sich nebenan. Handtücher liegen bereit, das Bett ist bezogen. Im Schrank hängt ein Frotteemantel. Außerdem finden Sie darin eine warme Decke, denn die Nächte sind manchmal noch frisch hier oben. Und wenn etwas fehlt, per favore, Signora, sagen Sie es mir. Und jetzt lass ich Sie erst einmal ein bisschen in Ruhe. Gianni wird Sie zum Abendessen holen. Va bene?«

»Ja, vielen Dank!«

Emilia verschwand, und Angela ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als ob sich der Raum um sie drehte. Sie schloss die Augen. Das Gefühl blieb. Das macht die Fahrt, sagte sie sich, zog die Beine an und rollte sich auf die Seite. Im nächsten Augenblick war sie eingeschlafen.

Ein zaghaftes Klopfen weckte sie auf. Sie fuhr hoch. Es war dunkel. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Sie tastete nach einem Lichtschalter und riss die Nachttischlampe herunter. Desorientiert stand sie auf und tapste vorsichtig durch den Raum zur noch immer offen stehenden Tür, die zum Salon führte und durch die ein fahler Lichtschein fiel. Endlich fand sie einen Lichtschalter, schloss geblendet die Augen und öffnete die Tür. Gianni stand davor und sah sie erschrocken an.

»La cena è pronta«, sagte er verlegen. »Ich soll Sie zum Essen holen.«

Angela wäre am liebsten wieder zurück ins Bett gekrochen, sie fühlte sich wie erschlagen und aus tiefen Träumen gerissen. Doch das konnte sie Tess an ihrem ersten Abend nicht antun.

»Gleich«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Ich brauche nur ein paar Sekunden.«

Sie ging ins Badezimmer. Dort spritzte sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, starrte ihr zerknittertes Spiegelbild an, kramte ihren Kosmetikbeutel aus dem Koffer und kämmte sich wenigstens das Haar. Sie wischte sich die zerlaufene Wimperntusche ab und zog ihre Lippen nach. Hoffentlich erschienen an diesem Abend noch keine vornehmen Gäste. Und wenn doch, so war es ihr in ihrem erschöpften Zustand auch egal.

Tess saß bereits bei Tisch, als Angela das geräumige Esszimmer im Erdgeschoss des Turms betrat. Als Vorspeise gab es eine cremige Erbsensuppe, und mit ihr kam auch Angelas Appetit.

»Ich dachte, nach der Fahrt magst du sicher etwas Leichtes«, meinte Tess, als Emilia eine Platte mit gedünstetem Fisch auftrug. Dazu reichte sie eine leckere Zitronensoße.

»Danke«, antwortete Angela erleichtert, »das ist genau das Richtige.«

Sie sprachen nicht viel an diesem Abend. Tess war feinfühlig genug, um Angelas Erschöpfung wahrzunehmen. Nach dem Essen brachte Emilia duftenden Lindenblütentee, den sie schweigend tranken, dann entschuldigte sich Tess und ging zu Bett.

Als Angela ihr Reich wieder betrat, summte es nur so in ihrem Kopf vor Müdigkeit. Sie nahm eine heiße Dusche und schlüpfte in ihren Pyjama, holte die Decke aus dem Schrank, für alle Fälle. Als sie die Laken zurückschlug, musste sie lächeln: Emilia hatte ihr eine Wärmflasche ins Bett gelegt und daneben ein Paar weiche weiße Baumwollsocken mit gehäkeltem Spitzenrand.

Angela kam sich nur einen Augenblick lang albern vor, dann zog sie die Bettsöckchen über ihre Füße und kuschelte sich in das noch ungewohnte Bett. Sie überlegte, ob sie die hölzernen Fensterläden schließen sollte, doch sie hatte keine Lust, noch einmal aufzustehen. Also löschte sie das Licht und lauschte einige Atemzüge lang den Geräuschen der fremden Umgebung. Vor einem der Fenster sang ein Vogel eine letzte getragene Weise. Wie schön das klingt, dachte Angela. Und mit diesem Gedanken glitt sie hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

3

Die rosenfarbene Stola

Sie wachte auf, weil ihr ein Sonnenstrahl mitten ins Gesicht schien, und stellte fest, dass sie noch genauso dalag, wie sie eingeschlafen war. Die Zeiger ihrer Armbanduhr standen auf kurz vor sieben. Fast zehn Stunden hatte sie geschlafen wie ein Stein.

Angela fühlte sich erfrischt und sprang aus dem Bett, lief barfuß zum Fenster und spähte hinaus. Es ging nach Osten, wo die Sonne gerade eine Handbreit über dem Horizont stand. Als sie einen Flügel öffnete und sich hinauslehnte, wurde ihr kurz schwindlig. Wie Rapunzel im Märchen bewohnte sie das höchste Zimmer im Turm, direkt unter ihr lag der Garten. Sie sah in die Krone der alten Zeder, in der Vögel ihren Morgengesang angestimmt hatten.

Die glasierten Tonziegel unter ihren Füßen waren so alt, dass ihre Oberfläche an vielen Stellen abgetreten war und sich samtig unter ihren nackten Füßen anfühlte. Von ihrem Badezimmer aus hatte sie einen Blick auf die Ausläufer des Monte Grappa. Angela ging hinüber in das andere Zimmer, das nach Süden zeigte. Die Aussicht zog sie erneut in ihren Bann. Wie so oft hatte sie den Impuls, nach Peter zu rufen, damit er sich das auch ansah. Wann würde sie jemals lernen, dass er sich nie wieder an ihre Seite stellen konnte? Der Schmerz knäulte sich hinter ihrem Brustbein zusammen und wollte sich ausdehnen, doch Angela ließ es nicht zu, wandte sich ab und beschloss, wie jedes Mal, wenn dies der Fall war, aktiv zu werden. Etwas in ihr ahnte, dass sie es nicht ertragen würde, sollte sich die innere Tür zu ihrem Schmerz, die sie fest verschlossen hielt, eines Tages öffnen.

Am Morgen vor ihrer Abreise war sie nicht joggen gegangen, und nach der stundenlangen Fahrt fühlten sich ihre Glieder verspannt an. Am besten, sie lief jetzt gleich eine Runde.

Angela öffnete ihren Koffer und suchte die Sportkleidung heraus. Fünf Minuten später ging sie die vielen Treppenstufen hinunter und sah sich im Erdgeschoss um. Sie fand das Esszimmer, wo sie mit Tess zu Abend gegessen hatte, und gleich daneben eine geräumige, gut eingerichtete Küche mit einem Ausgang zum Garten. Die Tür war jedoch verschlossen.

Angela zögerte, ging zurück in den Flur. Sie erkannte, dass Küche und Esszimmer zum Turmbau gehörten und dass die Ebenen des Turms und der Villa nicht ganz miteinander übereinstimmten – deshalb musste man ein paar Stufen zur Eingangshalle hinuntergehen. Im Vestibül stand eine schwere Kommode, darauf lag ein Zettel mit einer Nachricht. Deine Hausschlüssel, Angela, las sie in der charakteristischen Handschrift ihrer Gastgeberin, viel Spaß beim Frühsport.

Zunächst erkundete Angela im Gehen die Umgebung. Von dem Platz, über den sie am Tag zuvor gekommen war, führte die Hauptstraße steil empor zu einer Kirche. Rasch stieg Angela hinauf. Hinter dem Gotteshaus entdeckte sie einen kleinen Friedhof mit den für Italien so typischen Grabsteinen – außer dem Namen der Verstorbenen waren Porträtfotos aus deren besten Jahren in den Stein eingelassen. Angela ließ den Friedhof rechts liegen und ging noch ein kleines Stück weiter hinauf zur höchsten Stelle der Altstadt, die ein besonders trutziger Palazzo mit gleich zwei Wehrtürmen einnahm. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen, auf der in Beton eingearbeitete Glasscherben jedem Eindringling signalisierten, wie wenig willkommen er war.

Angela blieb stehen und sah sich um. Auf Kopfsteinpflaster lief es sich nicht besonders gut, doch schließlich entdeckte sie einen Feldweg, der hinter dem Palazzo den Hang entlangzuführen schien. Auf gut Glück schlug sie ihn ein, und tatsächlich verlief er in einem Bogen um die alte Stadtbefestigung herum, die an vielen Stellen noch deutlich zu erkennen war. Nach einem guten Kilometer bog er ab und folgte einem Ausläufer des Hügels durch Obstgärten und Weinberge und dann einem Bachlauf bergab. So gelangte Angela am Fuße des Hügels unvermittelt in ein Neubaugebiet, das von der Altstadt aus überhaupt nicht zu sehen gewesen war. Sie lief an riesigen Anwesen mit Pools in den weitläufigen Gärten vorüber und an einem Tennisplatz, wo zu dieser frühen Stunde bereits zwei Spieler einander gekonnt den Ball parierten. Die Bewegungen der beiden Männer wirkten routiniert, als spielten sie schon eine halbe Ewigkeit miteinander. Angela musste daran denken, dass sie während ihrer Jugend jahrelang selbst eine ziemlich gute Spielerin gewesen war und so manchen Pokal gewonnen hatte. Peter und sie waren gemeinsam für eine Saison Mitglied in einem Tennisclub gewesen. Weshalb hatten sie damals eigentlich wieder aufgehört? Die Arbeit, dachte Angela. Das Unternehmen hat einfach immer im Vordergrund gestanden.

An einer besonders schönen Stelle, kurz bevor ihr Weg den Hügel hinauf in Richtung città vecchia führte, fiel Angela eine Villa auf, die eine Hälfte weiß und glatt verputzt, die andere aus unbehauenem Travertin, dazwischen Glas. Ein Architektenhaus, dachte Angela. Während der vergangenen zwanzig Jahre hatte sie in Peters und Markus’ Baufirma dem Büro vorgestanden und dabei ausreichend Erfahrung gesammelt, um zu erkennen, dass sich hier jemand einen eigenwilligen Traum verwirklicht hatte. Eigentlich hatte Angela vor langer Zeit an der Stuttgarter Akademie Angewandte Kunst mit dem Schwerpunkt Textildesign studiert, doch nach ihrer Heirat war sie in Peters Unternehmen eingestiegen. Das hatte einfach mehr Sinn ergeben, solange Nathalie klein gewesen war. Irgendwann hatte sie es nicht mehr infrage gestellt.

Der Aufstieg erinnerte Angela an die letzten beiden steilen Kilometer ihrer heimatlichen Joggingstrecke, jedoch nur die Steigung, ansonsten fühlte man sich hier in Asenza wie in einer anderen Welt. Nathalie hat recht, dachte Angela, als sie das Tor zu Tess’ Garten aufschloss. Es ist ein Ort wie in einem Märchen.

Dieser Eindruck bestätigte sich im Laufe des Tages.

Zum Frühstück überraschte Emilia sie mit einem spritzigen Salat aus Orangen, Mangos, Papaya und den ersten Erdbeeren, mit hauchfeinen Pfannkuchen aus Mais und Frischkäse aus Ziegenmilch. Außerdem hatte sie winzige pistaziengefüllte Brioches gebacken, die mit einer Spur Staubzucker überpudert waren.

»Das ist alles viel zu viel«, protestierte Angela, die in den vergangenen zwei Jahren morgens nur einen Esslöffel Müsli mit Milch heruntergebracht hatte.

»Probier wenigstens von allem ein bisschen«, bat Tess. »Du bist viel zu dünn. Hast du dich in letzter Zeit mal im Spiegel angeschaut?«

Angela gab zu, dass sie das schon seit einer Weile vermied. Weil sie ihr unglückliches Gesicht nicht mehr hatte sehen können, ihre geröteten Augen, die in dunklen Höhlen steckten, ihre hohlen Wangen und ihr stumpfes, schulterlanges Haar, das seit Peters Erkrankung seltsamerweise nicht mehr richtig wachsen wollte. Sie wusste, dass ihre Hüftknochen hervorstachen und man an ihrem Rücken jede Rippe sah. Sie war immer ein schlanker Typ gewesen, noch nie hatte sie die Sorgen anderer Frauen gehabt, die über zu viel Gewicht klagten. Aber mit einer Körpergröße von eins fünfundsiebzig nur zweiundfünfzig Kilo auf die Waage zu bringen, war entschieden zu wenig.

»Das wird schon«, beruhigte Tess sie, als sie Angelas unglückliche Miene sah und bemerkte, wie sie sich mit der zweiten Hälfte ihres Maispfannkuchens abmühte. »Du musst dich zu nichts zwingen. Una ciliegia tira l’altra, sagt man hier. Der Appetit kommt beim Essen. Du wärst die Erste, die Emilias Kochkünsten widerstehen könnte.«

Dann wechselte sie das Thema, indem sie vorschlug, nach dem Frühstück eine kleine Runde durch das Städtchen zu drehen. »Ich war schon lange nicht mehr draußen vor dem Tor«, erklärte sie. »Wenn du Geduld mit der alten Tess hast und wir bei Fausto einen Cappuccino trinken können, schaffe ich es sicher bis hoch zur Kirche.«

Und so geschah es. Tess benutzte einen Stock, um ihr schmerzendes Knie zu schonen, und hakte sich auf der anderen Seite bei Angela ein. Fast zu jedem Haus, an dem sie vorüberkamen, wusste die alte Dame unterhaltsame Geschichten zu erzählen, vor allem an der Piazza della Libertà, wie der trapezförmige Platz hieß, gab es davon reichlich. Inzwischen war das Städtchen belebt, alle paar Schritte trafen sie auf Bekannte von Tess. Sie stellte Angela unermüdlich als Tochter ihrer verstorbenen besten Freundin vor, die endlich den Weg zu ihr ins schöne Asenza gefunden hatte und gedächte, ein paar Wochen zu bleiben. Zuerst wollte Angela protestieren, doch dann fiel ihr auf, dass sie sich noch gar nicht überlegt hatte, wie lange ihr Aufenthalt in Italien dauern sollte, und so beschloss sie, es bei »ein paar Wochen« zu belassen. Sie war ja gerade erst angekommen. Alles Weitere würde sich fügen.

Sie nahmen den Aufstieg zur Kirche in Angriff. Auf halber Strecke kehrten sie in die Bar des Hotel Duse ein, wo Fausto hinter seiner Theke Tess freudig begrüßte und sofort eine Wörterkaskade auf sie niederprasseln ließ, die Angelas Italienischkenntnisse bei Weitem überforderte. Gleichzeitig betätigte er die Hebel einer urtümlichen Kaffeemaschine, die ratterte und dampfte und schließlich zischend eine winzige Menge pechschwarzen Kaffees in eine Tasse spuckte, den der barista mit aufgeschäumter Milch so kunstvoll aufgoss, dass am Ende ein T mit einem Herz darum im Schaum zu erkennen war.

»Er liebt mich einfach«, erklärte Tess gerührt und bestellte für Angela genau dasselbe. »Ich war lange nicht mehr hier, offenbar hat man sich schon Sorgen gemacht.« Tess lächelte. Im Licht der Morgensonne erkannte Angela, dass sie sich sorgfältig, wenn auch dezent geschminkt hatte und dass sie immer noch die attraktive Frau war, die sie immer gewesen war.

Nach ein paar weiteren chiacchiere, wie hier Dorftratsch lautmalerisch genannt wurde, tranken sie ihren Cappuccino aus, stillten ihren Durst mit einem Schluck Wasser, der in Italien selbstverständlich mitserviert wurde, und setzten ihren Weg fort. Das verbleibende Stück bis zur Kirche war steil, Tess legte es schweigend und konzentriert zurück.

Endlich waren sie oben. Doch zu Angelas Verwunderung schien die Kirche Tess kein bisschen zu interessieren.

»Siehst du das Haus dort drüben?«, fragte sie und wies mit ihrem Stock in Richtung des trutzigen Palazzos mit der scherbenbewehrten Mauer. »Die legendäre Schauspielerin Eleonora Duse hat es im Jahr 1920 gekauft«, erklärte Tess. »Sie war bis zum Wahnsinn in den Dichter Gabriele d’Annunzio verliebt, diesen alten Faschisten. Er war ihre große Liebe, obwohl er sie überhaupt nicht verdient hatte, denn damals hatte er sie bereits zum Teufel gejagt. Sie kam hierher, verliebte sich in diesen Ort so wie ich, kaufte dieses Haus und ließ es aufwendig umbauen, während sie zu ihrer allerletzten Tournee aufbrach, die sie in die USA führte. Unterwegs wurde sie plötzlich krank und starb. Sie hat nie hier gewohnt.« Tess schwieg und ließ ihren Blick über das riesige Anwesen gleiten – mit einer Miene, als ränge sie um eine Entscheidung. Ihre Brauen waren konzentriert zusammengezogen, die Augen verengt. »Sie hat Tausende von Menschen zum Träumen gebracht«, fuhr sie schließlich fort. »Doch ihre eigenen Träume hat sie nicht verwirklichen können: die Frau des Mannes zu werden, den sie so liebte, in das Haus einzuziehen, von dem sie sagte, dass es nur auf sie gewartet habe, endlich Ruhe zu finden … Nach ihrem letzten Willen liegt sie übrigens hier begraben, auf diesem Friedhof. Sie erhielt ein richtiges Staatsbegräbnis.«

»Und was wurde aus dem Haus? Wer wohnt heute darin?«

»Ein alter Kauz namens Lorenzo Rivalecca. Er ist schon über achtzig und noch schlechter auf den Beinen als ich.«

»Du kennst ihn?«

»Natürlich!« Tess lachte. »Hier kennt jeder jeden. Aber den alten Lorenzo kenne ich noch viel länger als alle anderen.«

Ehe Angela nachfragen konnte, wie das sein konnte, drehte sich die alte Dame um und begann langsam den steilen Abstieg. Angela wusste, dass dieser für ein geschädigtes Knie noch schmerzhafter war als der Aufstieg, und beeilte sich, Tess ihren Arm anzubieten. Dankbar hakte die sich unter, und Angela fühlte die Zerbrechlichkeit, den warmen Körper ihrer mütterlichen Freundin. Sie dachte an ihre eigene Mutter, die ganz plötzlich an einem Schlaganfall gestorben war, ein aufgeschlagenes Fotoalbum mit uralten Urlaubsbildern aus Italien auf dem Schoß. So hatte Angela sie damals angetroffen.

Einmal mehr wurde sie sich der Vergänglichkeit allen Lebens bewusst. Sie dachte an Peter. Der bohrende Schmerz hinter ihrem Brustbein begann wieder aufzuleben. Angela atmete tief durch. Und fragte sich, wo er jetzt wohl war. Ob etwas von ihm übrig geblieben war, wie die Kirche es lehrte. Bei aller Skepsis dem Glauben gegenüber, vor allem nach Peters langem, sinnlosem Leiden, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass während des langsamen körperlichen und geistigen Verlöschens, dem sie monatelang beigewohnt hatte, alles von ihm verloren gegangen war.

Auf der Piazza angekommen bog Tess zu Angelas Überraschung nicht in die Gasse ein, die zu ihrem Haus führte, sondern zog sie sanft in die entgegengesetzte Richtung.

»Komm«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen!«

Die Straße führte parallel zum Hang an einem Friseurgeschäft und einem Laden für Damenunterwäsche vorüber. Angela blickte an den honigfarbenen Häuserfassaden empor und entdeckte viele kleine Balkone mit schmiedeeisernen Geländern, über und über mit Blumentöpfen behängt, aus denen knospende Geranien und Petunien hervorquollen und grün wuchernde Pflanzen ihre Blätter und Triebe der Sonne entgegenreckten.

Vor einem Laden, dessen Schaufenster Angela sofort in den Bann zog, blieb Tess stehen. Dort waren Stoffe in kunstvollen Faltenwürfen drapiert, und Angelas professionelles Auge erkannte sofort, dass es sich um ganz besondere Textilien handelte. Tess warf ihr einen Blick zu wie jemand, der eine Überraschung plant, und öffnete die Ladentür. Ein tiefer Glockendreiklang ertönte, als sie das Geschäft betraten.

Angela sah sich um. Das Licht war gedämpft, und doch leuchteten ihr aus den zahlreichen Regalen Stoffe in allen Regenbogenfarben entgegen. Großformatige Tücher hingen über Ständern und lagerten sorgfältig zusammengelegt auf niedrigen Tischen.

»Seide?«, fragte sie und ihre Augen wurden größer.

»Handgewoben«, ergänzte Tess.

Angela griff nach einem karmesinroten Schal und befühlte ihn vorsichtig. Er war unglaublich weich und glatt und von einer Zartheit, die etwas in ihr berührte. Sie nahm ihn, ging näher ans Fenster, wo das kräftige Rot im Tageslicht erst richtig zur Geltung kam, und nickte anerkennend. Dann legte sie den Schal zurück und betastete ein quadratisches Tuch. Ein Teil erschien ihr schöner als das andere, jedes Gewebe fühlte sich unterschiedlich an.

Angelas Blick fiel auf eine Stola. Sie hatte die Farbe von ganz hellen Rosenblüten, einem zarten Rosé, fast weiß und doch nicht weiß. Sie fühlte sich kühl und warm zugleich an, und als Tess sie ihr probehalber um ihre Schultern legte, war ihr, als legte sich ein Schutz um sie, eine Wohltat, eine zweite Haut.

»Die steht dir ausgezeichnet«, bemerkte Tess und drehte Angela ein wenig, sodass sie sich in einem Spiegel sehen konnte. »Passt wunderbar zu deinem blonden Haar und deinem Teint.«

»È vero«, hörte Angela überrascht eine angenehme Frauenstimme sagen und blickte sich um. Eine junge Frau, die sie auf Mitte zwanzig schätzte, mit lebhaften bernsteinfarbenen Augen und braun gelocktem Bubikopf war durch die Tür hinter der Theke getreten und strahlte sie an. »Wie für Sie geschaffen, Signora!«

»Darf ich vorstellen?«, warf Tess ein. »Meine Nichte Angela. Ich darf dich doch so nennen? Sie ist die Tochter meiner besten Freundin. Und dies ist Fioretta!«

»Wie schön!«, rief die junge Italienerin. »Herzlich willkommen! Sind Sie zum ersten Mal in Asenza?«

»Ja«, antwortete Angela, während ihre Finger nicht anders konnten, als über die Textur der Stola zu streichen. »Es ist so schön hier! Ich kann verstehen, dass Tess hier nicht mehr wegmöchte! Aber bitte, erzählen Sie mir, woher sind diese Webarbeiten?«

»Aus unserer tessitura natürlich«, antwortete Fioretta. »Unserer Seidenweberei. Die besteht bereits seit fast zweihundert Jahren. All diese Stücke sind ausnahmslos auf historischen Webstühlen in Handarbeit hergestellt. Auch diese schöne stola. Maddalena hat sie angefertigt. Sehen Sie, hier steht es …« Fioretta war zu Angela getreten und wies auf ein kleines Etikett, das unauffällig an die Webkante genäht worden war. Angela erkannte ein stilisiertes Weberschiffchen, darunter den Schriftzug Tessitura di Asenza. Fatto a mano da Maddalena. »Jede Weberin hat ihr eigenes Zeichen«, erklärte Fioretta weiter. »Denn jedes Webstück trägt das Wesen von dem, der es gemacht hat. Und Maddalena ist bekannt für ihre besonders anschmiegsamen Arbeiten.«

»Und wo genau befindet sich die Weberei?«

»Hier in der Seidenvilla«, antwortete Fioretta und wies in Richtung der Tür, durch die sie gekommen war. »Wenn Sie möchten, kann ich gern eine Besichtigung arrangieren. Ich glaube, du hast die Werkstatt auch noch nie gesehen, Tessa, oder? Ich spreche das vorher immer mit den Weberinnen ab. Überraschungsbesuche schätzen sie nämlich nicht so sehr.«

Wie hübsch das klingt, Tessa, dachte Angela. Sie kannte die Vorliebe der Italiener, an deutsche Namen, die auf einen Konsonanten endeten, ein a oder ein o anzuhängen, je nachdem, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte.

»Das wäre schön«, antwortete sie rasch. »Wann immer es passt. Tess’ Haus ist ja gleich um die Ecke. Es hat keine Eile.«

Und doch fühlte sie eine Ungeduld in sich, diese traditionelle Weberei, in der solche Prachtstücke entstanden wie das, was sie gerade über ihren Schultern trug, mit eigenen Augen zu sehen.

Ihr Herz schlug höher, je länger sie sich im Laden umsah. Da gab es weiche Seidenstoffe, aber auch sehr fest gewobene. Manche schienen glatter und glänzender als andere. Sie sah unifarbene und solche, in denen ungewöhnliche Töne miteinander kombiniert worden waren. Ein Tuch, das wirkte wie eingefangene Wellen eines Meeres, zog ihren Blick auf sich, es war aus verschiedenfarbigen Garnen in Petrol, Türkis, Himmelblau und Flaschengrün gefertigt und glänzte stärker als die anderen Tücher.

»Hier hat Anna Seide mit einer seltenen Baumfaser vermischt, die aus Indonesien stammt«, erläuterte Fioretta. »Sehen Sie? Das hellblaue Garn hat einen anderen Glanz. Anna liebt es, zu experimentieren. Schauen Sie dieses hier.« Sie zog aus einem Regalfach ein dunkelgrünes Tuch heraus. »Wirkt es nicht wie ein Stück aus einer Blumenwiese? Dafür hat Anna Rohseide und gesponnenen Hanf verarbeitet. Übrigens werden die Fasern in unserer Weberei alle mit natürlichen Pigmenten eingefärbt. Jedes einzelne Stück ist ein Unikat.«

»Wunderschön!«, sagte Angela anerkennend.

»Sie müssen wissen, Fioretta«, ergänzte Tess, »Angela ist Textilkünstlerin. Wenn jemand eine gute Arbeit von Massenware unterscheiden kann, dann sie.«

Angela wurde es heiß. Sie hatte schon so lange nicht mehr als Textilkünstlerin gearbeitet. In einem hatte Tess allerdings recht: Sie liebte diese Art von Handwerkskunst, die man immer seltener antraf. Umso gespannter war sie darauf, die Frauen kennenzulernen, die so herausragende Arbeiten fertigten.

»Wer macht bei Ihnen die Entwürfe?«, fragte sie Fioretta.

Die wirkte verwirrt. »Niemand«, erklärte sie. »Es gibt keine Entwürfe. Jede Weberin macht, was ihr gefällt. Manchmal kommt auch so etwas dabei heraus.« Fioretta zog eine kunterbunte Arbeit aus einem Fach unter der Verkaufstheke hervor, der die Unlust beim Herstellen schon von Weitem anzusehen war. Ein jämmerlicher Flickenteppich aus feinstem Material. »Hier hatte jemand einen denkbar schlechten Tag.« Sie versuchte vergeblich, das Gewebe irgendwie zurechtzuzupfen. »Das kommt eben auch mal vor«, sagte sie und schob schulterzuckend das unverkäufliche Stück wieder ins unterste Fach zurück.

Doch Angela sah den Wert des kostbaren Rohmaterials, die vergeudete Arbeitszeit. Sie hatte nicht umsonst zwanzig Jahre lang die Geschicke eines erfolgreichen Unternehmens begleitet. So etwas durfte nicht allzu häufig passieren, sollte die Existenz einer Werkstatt nicht in Gefahr gebracht werden.

»Wie lange arbeitet eine Weberin denn an einer solchen Stola?«, fragte sie und wies auf die rosenfarbene, die sie noch immer nicht abgelegt hatte.

»Gut und gern zwei Tage«, antwortete Fioretta. »Allein das Aufbäumen des Webstuhls für mehrere Tücher nimmt einen ganzen Monat in Anspruch. Von der Zeit, die es braucht, vorher die Seide einzufärben, ganz zu schweigen.«

Angela schwieg beeindruckt. Im Geist überschlug sie die Lohnkosten und versuchte, den Wert des Rohmaterials einzuschätzen. Diese Stola musste ein Vermögen kosten, sie würde sie sich nicht leisten können. Behutsam nahm sie sie von ihrer Schulter, und als sie sie wieder sorgfältig zusammenlegte, stellte sie erstaunt fest, dass sie fröstelte.

»Was machst du da?«, erkundigte sich Tess. »Die stola ist wie für dich gemacht, Angela. Wir werden sie mitnehmen.«

Angela wehrte ab. »Ich kann mich noch nicht entscheiden«, vertröstete sie Tess. »Wir kommen zurück und lassen uns die Weberei zeigen. Und dann überleg ich noch mal.«

Sie wandte sich zum Gehen um und sah, wie Tess und Fioretta einen Blick wechselten. Sie würde es später Tess erklären. Schade, dachte sie mit einem ihr völlig fremden Bedauern, als sie sich von Fioretta verabschiedete. Sie liebte schöne Dinge. Und doch war es nicht ihre Art, alles gleich haben zu wollen, was ihr gefiel.

Ihre eigenen Arbeiten, die sie vor ihrer Heirat und in den ersten Jahren ihrer Ehe, bevor Nathalie geboren war, angefertigt hatte – hauptsächlich Wandbilder aus ungewöhnlichen Materialien –, hingen in so manch privater und öffentlicher Sammlung. Im Rahmen ihres Studiums hatte auch sie das Weben erlernt und damals die halbe Verwandtschaft mit ihren ersten Versuchen beschenkt, bis sie mit ihrer Fertigkeit in dieser Technik so zufrieden gewesen war, dass sie sie beruflich einsetzen konnte. Das war allerdings lange her. Die rosenfarbene Stola hatte sie nun an ihre alte Leidenschaft für besondere Fasern erinnert. Sie hatte ihr das Gefühl gegeben, sie zu umhüllen wie eine liebevolle Umarmung.

Den Nachmittag verbrachte Angela in ihrem Turmgeschoss, wo sie endlich ihr Gepäck ausräumte und ihre Sachen im Schrank und in der geräumigen Kommode ihres Schlafzimmers verstaute. Der große Koffer war bald geleert, und Angela stellte ihn auf den Treppenabsatz vor ihrer Tür, so wie Emilia sie gebeten hatte. Dann öffnete sie den kleineren, den ihre Tochter ihr gepackt hatte. Ganz oben lagen sorgfältig gefaltet zwei zarte Baumwolltücher. Darunter fand sie ihre cremefarbene Clutch, die zu all ihren Kleidern passte.