Die seltsamen Morde des Ikonenmalers - José Luis de la Cuadra - E-Book

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers E-Book

José Luis de la Cuadra

0,0

Beschreibung

Eine scheinbar zufällige Begegnung macht den psychisch labilen Ikonenmaler Alex Popow zum Besitzer einer kostbaren Ikone. Wenig später wird er neben der Leiche einer Russin bewusstlos aufgefunden. Er wurde niedergeschlagen und erinnert sich an nichts. Als weitere Leichen gefunden werden, gerät Alex unter Mordverdacht. Ein gefährliches Wodkagemisch in der russischen Botschaft und ein unanständiges Preisangebot des Patriarchen von Moskau lassen die Welt des Ikonenmalers aus den Fugen geraten. Verzweifelt sucht er Rat beim Freund und Psychiater Eugen Wiesel, der ihm die Tragödie seiner Frau Natalie in Erinnerung ruft und die Diagnose Ikonomanie stellt. Von Schuldgefühlen getrieben, beginnt Popow die Ikone zu restaurieren. Nach Entfernung der Übermalung versetzt ihn das freigelegte Bild in Panik. Nur Claudia, die schizophrene Nachbarin des Ikonenmalers, kann sein psychopathisches Wesen verstehen. Ihre Seelenverwandtschaft bringt die Beiden einander näher. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, ob Alex Täter oder Opfer ist. Als die Wahrheit ans Licht kommt, steckt der Ikonenmaler erst recht im Schlamassel. Die Ereignisse fordern weitere Opfer ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

José L. de la Cuadra

 

 

 

 

 

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers

 

 

 

 

 

Psychokrimi

Impressum

Texte: © 2020 Copyright by José Luis de la Cuadra

Umschlaggestaltung: © 2020 Copyright by José Luis de la Cuadra

Verlag: José Luis de la Cuadra, CH-3074 Muri

[email protected]

www.josedelacuadra.com

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-752970-72-2

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Zum Autor

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

Nachwort

Gleich weiterlesen?

Zu diesem Buch

 

 

Eine scheinbar zufällige Begegnung macht den psychisch labilen Ikonenmaler Alex Popow zum Besitzer einer kostbaren Ikone. Wenig später wird er neben der Leiche einer Russin bewusstlos aufgefunden. Er wurde niedergeschlagen und erinnert sich an nichts.

Als weitere Leichen gefunden werden, gerät Alex unter Mordverdacht. Ein gefährliches Wodkagemisch in der russischen Botschaft und ein unanständiges Preisangebot des Patriarchen von Moskau lassen die Welt des Ikonenmalers aus den Fugen geraten.

Verzweifelt sucht er Rat beim Freund und Psychiater Eugen Wiesel, der ihm die Tragödie seiner Frau Natalie in Erinnerung ruft und die Diagnose Ikonomanie stellt. Von Schuldgefühlen getrieben, beginnt Popow die Ikone zu restaurieren. Nach Entfernung der Übermalung versetzt ihn das freigelegte Bild in Panik.

Nur Claudia, die schizophrene Nachbarin des Ikonenmalers, kann sein psychopathisches Wesen verstehen. Ihre Seelenverwandtschaft bringt die Beiden einander näher. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, ob Alex Täter oder Opfer ist.

Als die Wahrheit ans Licht kommt, steckt der Ikonenmaler erst recht im Schlamassel. Die Ereignisse fordern weitere Opfer ...

 

Zum Autor

 

 

Der Autor ist gebürtiger Schweizer spanischer und russischer Abstammung. Er lebt in Bern, ist verheiratet und Vater dreier Töchter. Bis 2013 führte er eine Arztpraxis. Bisherige Veröffentlichungen: Die Fuge der Liebe (2014), Eine Faustsinfonie (2016), Das Tagebuch der weinenden Frau (2017).

Prolog

 

 

Dieses Buch kann Ihre geistige Gesundheit beeinträchtigen. Sollten Sie sich entschliessen, es zu lesen, müssen Sie sich dieser Gefahr bewusst sein. Wenn Sie unschlüssig sind, wenden Sie sich bitte an eine Fachperson für verdeckte Kriegsführung. Sie werden in diesem Buch nämlich erfahren, dass das Gefüge der Wirklichkeit leicht auseinanderbrechen und sich Unfassbares einschleichen kann. Wollen Sie diesem Abenteuer wirklich die Tore öffnen?

 

Ein Ikonenmaler ringt mit einer Schuld, die in seiner Seele tiefe Spuren hinterlassen hat. Gleich einem Ackerpflug treiben schwer durchschaubare Ereignisse weitere Kerben in sein Leben. Getrieben von seinen Nöten verstrickt er sich in den Maschen übler Machenschaften. Er entlarvt sich selbst als Mörder und muss erfahren, dass der Tod auch ihn nicht verschont.

 

Noch können Sie dieses Buch zur Seite legen. Sie können es in den Mülleimer werfen oder verbrennen. Aber Eines müssen Sie wissen: Wenn Sie es lesen, werden Sie zum Komplizen eines Mörders.

 

Der Autor

1

Nie hätte ich gedacht, dass es soweit kommen würde. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein ganz normaler Mensch. Friedlich, arbeitsam, mitfühlend. Und eines Tages ändert sich alles: Das innere und äußere Gerüst Ihrer Welt bricht zusammen. Sie erkennen sich nicht mehr. Ihre Freunde und Verwandte wenden sich ab, schütteln den Kopf. Sie können diesen Zustand nicht ertragen und verkriechen sich in die hinterste Ecke Ihres Daseins. Nun fragen Sie sich, wie Sie da wieder herausfinden.

Dies ist der Moment, an dem Sie ernsthaft überlegen müssen, wie es dazu gekommen ist und ob es Erklärungen gibt. Ich glaube, dass Sie das nicht tun werden. Deshalb erzähle ich Ihnen, wie es mir ergangen ist. Vielleicht hilft es Ihnen, niemals erleben zu müssen, was mir widerfahren ist.

Ich bin zum Täter geworden. Ehrlich gesagt zum Wiederholungstäter. Zum Gefangenen einer Schuld, die ich mir vor einiger Zeit aufgebürdet habe. Seither lebe ich in verschiedenen Welten. In den Grenzbereichen meiner Existenz, wenn Sie so wollen. Oder, falls Sie der griechischen Mythologie zugetan sind, zwischen Skylla und Charybdis.

Sicher möchten Sie wissen, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Glauben Sie mir, es fühlt sich nicht gut an. Ich untertreibe. Es fühlt sich schrecklich an. Zuerst bemerken Sie gar nicht, dass ein Unheil auf Sie zukommt. Es schleicht sich heran, auf leisen Sohlen. Tänzelt hinter Ihrem Rücken. Oder setzt sich auf Ihre Schulter und blickt Sie von der Seite her an. Sie werden es nicht mehr los. Es ist klebrig wie Harz oder Leim. Allzweckleim. Bitte nicht anfassen. Giftig für die Haut.

Nun, mir hat es das Gehirn vergiftet. Manche sagen, das führe zu Geisteskrankheit. Mein Gehirn ist aber nicht krank. Es wurde manipuliert. Von den Dämonen der Weltenzentrale. Einfacher gesagt, vom Schicksal.

Sie können das natürlich nicht verstehen, denn Ihr Gehirn ist nicht betroffen. Sie haben Ihr eigenes Schicksal. Meines ist von der unangenehmen Sorte. Ich würde es gerne loswerden. Aber es gehört zu mir. Es hat sich wie ein Skorpion an mir festgeklammert. Ich fürchte den Stachel, den tödlichen Stich. Das macht mir Angst.

Und doch habe ich heute morgen ganz normal gefrühstückt. Ich habe mir ein Ei gekocht. Ein Fünf-Minuten-Ei zum Auslöffeln. Dazu gab es Käse und Brot. Und starken Kaffee. Ich fühlte, dass sich etwas ankündigte. Es war nur ein Gefühl. Aber Grenzgänger wie ich spüren manchmal, was Anderen entgeht. Vor allem, wenn es sich um etwas Bedrohliches handelt. Deshalb musste der Kaffee heute morgen stark sein.

Beim Aufwachen habe ich das Zwitschern der Vögel richtig gedeutet: Der Frühling ist da. Sie werden mir zustimmen, dass man leicht in Aufregung gerät, wenn die neue Jahreszeit anbricht. Im Frühling fängt alles neu an. Man muss vorbereitet und auf Alles gefasst sein. Plötzlich steht man vor neuen Wirklichkeiten.

Sie fragen sich natürlich, welche Wirklichkeit mich heute erwartet hat. Ich sage es Ihnen: die unvorstellbarste, die Unwirklichkeit. Dabei wollte ich nur den Frühling genießen. Einfach so. Den Frühling in seiner natürlichen Bescheidenheit. Doch irgendwie passte nichts zusammen. Es war eben ... unwirklich. Wie ich Ihnen schon sagte: Mein Geist ist manipuliert, verseucht von den Dämonen der Weltenzentrale, der Steuerung meiner Existenz. Sie erinnern sich.

Jetzt sind Sie klar der Meinung, dass ich geisteskrank bin. Paranoid ... oder so. Ich verstehe das. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich bin es nicht. Es ist alles eine Frage der Interpretation und der Welt, in der Sie leben.

Alex kommt oft hierher. Der kleine Wald ist ihm vertraut. Es ist, als umarmten ihn die Äste der Bäume, als legten sie einen Mantel der Geborgenheit um ihn. Der Ort ist Therapie. Hier findet die Hoffnungslosigkeit ihren Widerspruch. Hier geschieht, was die Verzweiflung nicht zulässt: Leben. Reines Leben. Vogelgezwitscher, Blätterrascheln, Wasserplätschern, Hundegebell, Kinderschreie.

Er wäre nicht in aller Frühe zu seiner Lieblingsbank unweit des Flussufers geeilt, wenn er nicht einen inneren Drang verspürt hätte, dem erwachenden Tag ein Gesicht zu geben. Die sanfte Brise des ersten Frühlingstags auf seiner Haut zu spüren. Dem Fliessen des Wassers zu lauschen. Sich von den Kräften der Strömung tragen zu lassen und an die Anfänge zurückzukehren, als die Katastrophe noch nicht geschehen war, er die Tragödie noch hätte verhindern können.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch Äste und Büsche finden, spürt er es kommen. Es nähert sich lautlos und treibt ihm den Schweiß aus den Poren: das Grauen des Unvorstellbaren. Ein schmerzhaftes Pochen beginnt in seinem Kopf zu hämmern. Blitze zucken in den Augen. Eine Migräne schleicht sich durch die Hirnhäute. Sie zerrt an seinem Verstand und bemächtigt sich seiner Gedanken.

Ist es Einbildung oder fließt der Fluss heute langsamer als sonst? Alex reibt sich die Augen. Die Gewissheit nimmt zu. Es ist, als bewegte sich das Wasser im Rhythmus seiner inneren Stimmung, eben langsam. Das Gurgeln der Wasserwirbel klingt wie depressive Musik, wie ein Konzert tiefer Melancholie.

Es gibt Tage, die ihn zutiefst verunsichern, die ihn spüren lassen, dass seine Wahrnehmungen eigenen Gesetzen gehorchen. Dass sie seiner Kontrolle entgleiten. Heute ist ein solcher Tag. Alex fragt sich, warum der Fluss langsamer fließt. Ob eine tiefere Bedeutung darin liegt. Und vor allem fragt er sich, ob seine Beobachtung stimmt.

Professor Wiesel sagt, er leide an Ikonomanie. Sein Leben sei ein Abdruck der Bilder in seinem Atelier. Sie verzerrten seine Wahrnehmung. Und sie führten ihn in eine Scheinwelt. Na und? Weiß sein Freund und Psychiater, welche Welt für ihn, Alex, die beste ist, Schein hin oder her?

Sein Leben hat sich seit Natalies Tragödie grundlegend verändert. Er hat sich in seinem Ikonenatelier eingeigelt, hat mehr gemalt und restauriert als je zuvor. Die Arbeit lenkt ihn ab. Das ist gut. Aber die vielen Aufträge haben ihn erschöpft. Zwar lindert die Auszehrung des Körpers den Schmerz, aber die Wut seiner Schuld bringt ihn beinahe um den Verstand.

Das Atelier ist völlig überfüllt. Auftragsbilder und selbstgemalte Ikonen türmen sich bis über Fensterhöhe. Weil es nicht genug Wände gibt, hängen einige Werke frei von der Decke herunter. Die vielen Heiligen auf den hölzernen Platten sind zu seiner Familie geworden. Nicht, dass er mit dem Glauben etwas am Hut hätte, aber die mystischen Gestalten halten zu ihm. Sie hinterfragen nichts, sind einfach da. Für ihn.

Manchmal sieht er sich als altrussischen Pilger durch die Wälder streifen. Als Suchender auf dem Weg zu den weisen Starzen in ihren Hütten und Höhlen der alten Rus. Dann sprechen die allwissenden Asketen zu ihm, geben ihm Ratschläge. Sie versuchen, ihn auf den richtigen Weg zu bringen.

Den Gottesmüttern auf seinen Ikonen fühlt er sich besonders nahe. Er verehrt sie. Und sie berühren ihn. Es kommt vor, dass seine Tränen auf den Firniss tropfen. Dann öffnet sich die Türe zu Natalie, seiner Frau, und die Schuldgefühle überwältigen ihn. Er hat die Tragödie nicht nur zugelassen. Er hat sie regelrecht herbeigeführt.

Der Professor spricht von erzwungenem Suizid.

Haben Sie das schon mal gehört? Wissen Sie, was das ist? Gut, ich erkläre es Ihnen: Wenn man jemanden zum Beispiel durch andauernde Demütigung in den Freitod treibt, dann nennt man das einen erzwungenen Suizid. Ich, Pilger, Gottesmutterverehrer und Ikonomane, habe den perfekten Mord inszeniert. Es gibt keinen Täter. Und doch ..., jemand hat den Tod orchestriert. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Die Scham ist zu groß.

Ein Rascheln in den Büschen. Der Hauch eines Windes. Schluchzen. Die Bank knirscht. Alex dreht sich zur Seite. Eine junge Frau hat sich neben ihn gesetzt. Blondgefärbte Haare hängen in schweissigen Strähnen über ihre Schultern. Die Wimperntusche fliesst hemmungslos über die Wangen. Die Augen sind gerötet. Die Hände rastlos. Die Frau greift nach dem Taschentuch, das sie unter der Bluse am Träger ihres BHs befestigt hat. Es fällt zu Boden. Alex hebt es auf und reicht es der Frau. Ihre Blicke kreuzen sich flüchtig. In ihren Augen liegt panische Angst.

«Fehlt Ihnen etwas? Kann ich helfen? Ich meine, haben Sie Probleme?»

«Ich ..., nein, es geht schon. Nur eine kleine Schwäche.»

«Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber Sie wirken auf mich, als hätten Sie Todesangst. Werden Sie bedroht?»

«Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Probleme.»

«Ja, Sie haben Recht. Nur ..., es scheint, als hätten Sie Hilfe nötiger als ich ..., ich meine ... gerade jetzt.»

«Nur der Allmächtige kann mir noch helfen, glauben Sie mir.»

Alex wippt auf der Bank hin und her. Er ist unschlüssig.

Sie ist Russin! Ich erkenne den Akzent. Was macht sie hier?

Plötzlich wendet sich die Frau erneut zu Alex. Sie sieht ihn eindringlich an, atmet schwer. Erst jetzt bemerkt er, dass sich ihre rechte Hand krampfhaft an eine Tasche klammert. Es ist eine Art Einkaufstüte.

«Also, wenn Sie mir helfen wollen ..., bitte, nehmen Sie das».

Die Frau legt die Tasche auf seinen Schoss. Alex sieht sie verdutzt an.

«Was ich Ihnen anvertraue, ist unbezahlbar. Es darf nicht verlorengehen. Wenn es in falsche Hände gerät ...»

«Aber ...»

«Sie müssen die Tasche nehmen. Tun Sie es für mich und für Russland.»

Es ist ein Befehl. Alex kann sich ihm nicht entziehen. Konsterniert sieht er, wie die Frau aufsteht und ohne sich umzudrehen zum Uferweg eilt. Er hört das Knacken von Zweigen und die Schritte auf dem steinigen Boden. Ein Hund bellt, dann wird es still. Nur das Plätschern der Wellen dringt an sein Ohr.

Alex bleibt regungslos sitzen. Er begreift nicht, was sich hier abspielt. Die Tasche auf seinem Schoss wiegt schwer. Seine Beine beginnen zu zittern. Er möchte die Tasche loswerden. Und das so rasch wie möglich. Es ist nur eine Vorahnung, aber sie lässt seinen Herzschlag in die Höhe schnellen.

Schließlich legt er die Tasche neben sich auf die Bank. Aber sein Blick bleibt an ihr hängen. Bohrt sich hinein. Seine Hände beginnen unwillentlich an der Tasche herum zu nesteln. Sie machen sich am Verschluss zu schaffen, als wären sie fremdgesteuert.

Jetzt hält Alex inne. Er zögert.

Dann steckt er seine Hand in die Tasche und zieht das ihm anvertraute Objekt heraus. Es ist in Seidenpapier gewickelt. Bevor er sich daran macht, den Gegenstand zu enthüllen, weiß er bereits, um was es sich handelt. Er ist der Fachmann. Es ist eine Ikone.

Aber was zum Teufel ...?

Ein Schauder kriecht ihm über den Rücken. Der Telefonanruf! Die Anspielung auf die berühmte Ikone aus der Kasaner Kathedrale in Moskau. Die Warnung, sein Leben könnte in Gefahr geraten. Die Erinnerung an die Frauenstimme sitzt ihm immer noch im Nacken. Ist es dieselbe Frau? Dieselbe Stimme?

Noch heute erscheint ihm der Anruf merkwürdig, sogar unheimlich. Womöglich wollte die Frau am Telefon ihm ja nur eine Ikone zum Restaurieren übergeben. Zur Freilegung des Originalbildes. Viele Ikonen wurden in den letzten Jahrhunderten übermalt. Alex beherrscht seinen Beruf wie kein anderer. Seine Lösemittel sind legendär. Nicht nur, dass er es versteht, Originale freizulegen, er lässt sie auch in neuem Glanz wiederauferstehen. Dadurch vervielfacht er ihren Wert.

Ist er soeben Besitzer dieser Kasaner Ikone geworden? Der legendären Kasanskaja?

Oder ist er einem fiesen Trick erlegen? War die Verzweiflung der Frau gespielt, um ihm eine Ikone anzuhängen, die sie loswerden wollte? Eine Ikone, die sie und nun ihn in Gefahr bringen würde? Wäre nicht dieser vermaledeite Telefonanruf ...!

Was hier geschieht, gefällt Alex nicht. Er ist nicht in Stimmung, sich weitere Probleme aufzuhalsen. Auch wenn er nicht abgeneigt wäre, eine Kasanskaja zu besitzen, muss er der Frau die Tasche zurückgeben, wissen wer sie ist. Ihre Motive kennen. Herausfinden, warum sie davongerannt ist.

Ich muss die Frau finden!

Alex verstaut die eingepackte Ikone, schließt die Tasche, klemmt sie unter den Arm und geht zum Uferweg.

Das Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Ihm wird schwindlig. Die Beine wollen ihm nicht gehorchen. Es ist, als wollten sie ihn warnen. Aber wovor?

Ich sollte die Ikone ins Atelier bringen, um sie und mich vor möglichen Gefahren zu schützen.

Der Ikonenmaler bleibt stehen und lehnt sich an einen Baumstamm. Er bekommt kaum mehr Luft. Der Atem pfeift. Mit der Hand greift er in die Tasche seiner Jeans und klaubt einen Dosierspray hervor. Das Mittel für Notfälle. Er kriegt den Verschluss nicht auf und sinkt auf die Knie. Dunkelheit überkommt ihn. Mit letzter Kraft gelingt es ihm, den Deckel zu entfernen und einen Hub des Medikaments zu inhalieren.

Als die Lebensgeister zurückkehren, findet sich Alex am Boden liegend. Er hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist.

Unsicheren Schrittes folgt er den Fussspuren der Frau, die in der weichen Erde deutlich sichtbar sind. Dabei stolpert er mehrmals über Wurzeln. Die Äste der schief stehenden Bäume schlagen ihm ins Gesicht. Der Morgennebel trübt die Sicht. Sein Puls pocht wild. Wie durch ein Fernrohr blicken ihm die panischen Augen der Frau entgegen. Er ruft laut nach ihr. Hallo, hallo, warten Sie! Ich muss mit Ihnen sprechen. Sein Atem stockt erneut und er glaubt, sich übergeben zu müssen.

Alex hält an und stützt die Arme auf den Oberschenkeln ab. Er schließt die Augen, um das anschwellende Schwirren in seinem Kopf zu vertreiben. Stattdessen verstärkt es sich zu einem Crescendo hässlichen Lärms. Plötzlich blitzt ein Messer auf, dann wird es still in seinem Kopf. Als er aufblickt, traut er seinen Augen nicht. Seinen Lippen entweicht ein Schluchzen, fast ein Heulen.

Die Frau liegt unmittelbar vor ihm in einer Blutlache. Mitten im Gestrüpp. Der Kopf ist zur Seite gedreht, die Haarspitzen tanzen im Wasser des Flusses. Die Bluse ist aufgerissen und in der Mitte des Körpers klafft eine Wunde. Die Beine sind gespreizt. Ein Schuh steckt in der Erde, der andere hängt an einem Ast. Neben der Leiche liegt ein blutiges Messer.

Alex taumelt. Wer ...? Das Messer ...!

Hört er Schritte hinter sich?

Sein Kopf explodiert. Dunkelheit umgibt ihn. Er fällt in ein schwarzes Loch.

2

Alex erwacht auf der Intensivstation des nahen Privatspitals. Als er versucht, die Augen zu öffnen, sieht er durch das Gitternetz seiner Wimpern verschwommene Köpfe. Ein helles Licht blendet ihn. Lippen bewegen sich. Alex kann nichts verstehen. Er möchte schreien, bringt aber keinen Laut heraus. Es ist, als steckte eine fette Kröte in seinem Hals. Seine Glieder fühlen sich teigig und geschwollen an. Er versucht, die Finger zu bewegen, was ihm nicht gelingt. Die rechte Grosszehe lässt sich nach oben ziehen, dann auch die linke. Er kann die Knie um wenige Zentimeter anheben. Dabei bemerkt er, dass eine Decke auf ihnen lastet. Er scheint in einem Bett zu liegen. Aber wo ist sein Kopf? Er kann ihn nicht spüren. Jemand muss ihn abgeschlagen haben. An seiner Stelle liegt ein Klumpen Schmerz. Und dann ist da dieses schwarze Loch, in das er hineingefallen ist.

Kann man in ein Nichts fallen? In ein schwarzes Nichts?

In seinem Kopf ist Leere.

War da eine Frau? Auf der Bank? Auf meiner Bank?

«Herr Popow, hören Sie mich?»

Ich bin hier.

«Öffnen Sie die Augen.»

Sie sind offen. Ich sehe trotzdem nichts. Nur Wimperngitter.

«Versuchen Sie, die Finger zu bewegen.»

Geht nicht.

«Sie haben die Beine bewegt.»

Ich weiss.

Jemand macht sich an seinen Augen zu schaffen. Sein oberes Lid wird brutal nach oben gezogen, eine Lichtquelle hin- und hergeschwenkt. Alex versucht erneut zu schreien. Diesmal kann er ein leises Krächzen hervorbringen. Die Gesichter über ihm werden schärfer. Die Menschen, die um ihn herumstehen, sind von seinen Lauten begeistert.

«Er lächelt! Er Spricht! Hören Sie, wir sind auf der Intensivstation. Sie wurden niedergeschlagen.»

Aha, deshalb das Loch. Ist es in meinem Schädel? In meinem Hirn? Kann ich mich deswegen an nichts erinnern? Ist das Loch das Nichts, in das ich hineingefallen bin?

«Ich ... ich ... bin im Nichts.»

«Nein, Sie haben ein Loch im Schädel. Sie werden sich erholen.»

«Aber ... ich weiß ... nichts mehr. Keine Ahnung, was geschehen ist. Ich sehe eine Frau, dann ist Filmriss.»

«Sie müssen Geduld haben. Sobald es Ihnen besser geht, wird Sie die Polizei vernehmen.»

«Die Polizei? War ich in eine Schlägerei verwickelt?»

«Es wurde jemand ermordet.»

«Wer ...? Ich ...? Habe ich ...?»

Alex beginnt am ganzen Leib zu zittern.

«Bitte regen Sie sich nicht auf. Sie sollen sich jetzt ausruhen. Schlafen Sie ein wenig.»

Zuerst wach werden, dann schlafen. Ein Loch, ein Nichts. Und ein Mord. Was habe ich getan?

Eine Krankenschwester macht sich am Infusionsschlauch zu schaffen. Alex erkennt ihre Gesichtszüge. Große Augen, geschwungene Lippen, ein leises Lächeln hinter Haarsträhnen.

«Schwester ...?»

«Der Arzt sagt, Sie sollen schlafen.»

«Solange ich nicht weiß, ob ich ein Mörder bin, kann ich nicht schlafen. Sagen Sie mir: Bin ich ein Mörder?»

«Sie sehen nicht danach aus. Obwohl ..., es heißt, Mörder sähen aus wie Sie und ich, also wie ganz normale Menschen.»

Normale Menschen? Wie ich? Ich soll normal sein? Oder ein Mörder?

Alex schluckt trocken.

«Schwester, wie groß ist mein Loch?»

«Es liegt eine Gaze darüber, ich habe es nicht gesehen.»

«Aber wenn ich ein Loch im Kopf habe, weshalb sollte ich ein Mörder sein?»

Die Schwester streicht ihm über die Wange.

«Schlafen Sie jetzt. Es ist schon Mitternacht.»

«Würden Sie mir einen Gefallen tun?»

«Kommt drauf an.»

«Bitte rufen Sie morgen meinen Psychiater an. Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht. Er heißt Professor Wiesel, Eugen Wiesel. Er ist mein Therapeut.»

«Ich werde das gerne dem Frühdienst weiterleiten, wenn Sie brav sind und jetzt schlafen. Soll ich Ihnen noch eine Schmerzspritze geben?»

«Ich weiß nicht, ob das hilft. Mein Körper ist eine einzige Masse Schmerz. Aber ich glaube, der Schmerz sitzt im Gehirn. Ich fühle mich schuldig. Nicht noch ein weiterer Mord! Ich habe schon meine Frau umgebracht, mit einem Messer. Das glaube ich wenigstens. Vielleicht hat auch sie es getan. Ich ...»

Alex hört, wie sich die Zimmertüre hinter der Schwester schließt. Das Licht ist ausgegangen.

Die Dunkelheit umgibt ihn wie ein bleierner Mantel und zieht ihn immer tiefer hinunter. Er wähnt sich in seinem Atelier. Die heiligen Gestalten seiner Ikonen treten aus den Holzplatten und bilden einen Kreis um ihn herum. Sie schützen ihn vor dem Ungemach, welches sein Leben zu zerstören droht. Er sieht die Leiche seiner Frau, die Blutlache, das Messer. Dann streift er durch den Wald am Flussufer und steht vor einer Toten. Wer ist sie? Die Russin? Seine Frau? Wessen Blut klebt am Messer?

Plötzlich liegt er in den Kissen der Behandlungsbank seines Therapeuten. Professor Wiesel raucht eine Havanna und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. Der Rauch zieht zur Decke und formt sich zu einem Wort: WARUM?

Am Morgen weckt Alex der Duft eines Parfums. Es ist die Krankenschwester mit den großen Augen und den geschwungenen Lippen. Sie hat sich zurechtgemacht und misst ihm Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Sie riecht gut.

«Sie sind fit, Herr Popow, guten Tag.»

«Wurde der Professor avisiert?»

«Sie könnten mir einen guten Tag wünschen, so wie ich es getan habe, und ... nein, der Arzt hat es verboten. Zuerst die Polizei, dann der Psychiater.»

«Diese Reihenfolge gefällt mir nicht. Zuerst muss mein Gehirn behandelt werden. Ich weiß nichts.»

«Sie müssen das mit dem Arzt besprechen. Er kommt gleich. Möchten Sie frühstücken?»

«Mir steckt immer noch eine Kröte im Hals. Vielleicht können wir mit einer Tasse Kaffee beginnen.»

«Hier kommt Ihr Arzt. Ich werde den Kaffee später bringen. Wenn es lange dauert, werde ich Sie dem Frühdienst übergeben.»

Ich werde mich ohnehin gleich übergeben.

Der Arzt ist ein Mittvierziger. Hornbrille. Laptop. Stethoskop um den Hals gelegt (damit man sieht, dass er Arzt ist).

«Herr Doktor, ich brauche meinen Psychiater. Mein Kopf ist leer.»

«Wir haben in der Computertomographie keine Hirnläsionen gefunden. Sie können also ganz beruhigt sein. Übrigens wartet die Polizei im Vorraum. Ihre Überwachungskurven zeigen keine Auffälligkeiten. Also sind Sie vernehmungsfähig. Bevor sie aufgewacht sind, haben wir die Kopfverletzung frisch verbunden. Sie wurde genäht und ist reizlos. Wir werden Sie noch 24 Stunden überwachen, dann können Sie nach Hause gehen. Ihr Psychiater wird Sie in seiner Sprechstunde erwarten. Wir werden für Sie einen Termin vereinbaren. Heute ist Mobilisationstag, das heißt, Sie werden mit Unterstützung der Physiotherapie auf die Beine gebracht. Haben Sie noch Fragen?»

Was soll es da noch zu fragen geben? Alles klar. Einfach aufstehen, mobilisieren und verschwinden. So einfach ist das.

«Ihre Ausführungen sind klar und abschliessend, Herr Doktor. Ich habe keine Fragen.»

«Einen guten Tag noch. Ich werde jetzt die Beamten hereinbitten.»

Beamte? Na bitte schön.

«Guten Tag Herr Popow. Mein Name ist Paul Wehrlen, Kriminalkommissar. Und das ist Peter Ott, mein Assistent. Wir hoffen, Sie fühlen sich gut und möchten Sie zu den Ereignissen am Fluss befragen.»

«Bin ich verhaftet?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Mein Kopf ist nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist und befürchte, ich könnte etwas Schlimmes angerichtet haben.»

«Sie meinen, Sie könnten der Mörder sein?»

«So kann man es ausdrücken.»

«Sie wurden von hinten niedergeschlagen. Wir glauben, dass das der Mörder war. Können Sie etwas dazu sagen?»

«Nein, kann ich nicht. Ich war nicht bei Sinnen, irgendwie verwirrt. Meine Erinnerung ist weg. Heute Nacht habe ich eine Leiche gesehen, aber das war ein Traum. Ich glaube, es war meine Frau. Sie wissen sicher, dass meine Frau ...»

«Sie wollen sagen, Ihre Frau ist tot? Nicht nur im Traum?»

«Ja, nicht nur im Traum.»

«Das tut uns leid. Wir wussten es nicht. Ist es nicht sonderbar, dass Sie von einer Leiche träumen, nachdem Sie gestern in unmittelbarer Nähe zu einer solchen niedergeschlagen wurden, sich aber an die Tote nicht erinnern?»

«Sie sagen es. Ich glaube, es muss einen Zusammenhang geben. Ich meine, zwischen mir und der Leiche. Zumindest in meinem Kopf.»

«Nun, wie dem auch sei, Ihr Arzt sagt, dass Ihre Erinnerung zurückkehren wird. Sie leiden an Amnesie, verursacht durch den Schlag. Wir werden Sie später darüber befragen. Vielleicht wissen Sie aber, wo Sie sich vor dem Ereignis aufgehalten haben.»

«Nein, aber ich kann raten. Ich gehe fast täglich an den Fluss. Ganz in der Nähe, zwischen Bäumen, steht eine Bank. Meine Lieblingsbank. Es ist ein Ort der Stille und des Friedens. Man hört nur das Gurgeln der Wellen, das Zwitschern der Vögel und anderes mehr. Die Stimmung beruhigt mich. Mein Psychiater sagt, ich brauche das. Ich leide nämlich an Ikonomanie.»

«An Ikono-was?»

«IkonoMANIE, eine seltene Form der Depression. Meine Frau, Sie wissen ...»

«Ja, ja, das haben Sie erwähnt. Wenn ich Sie richtig verstehe, könnten Sie sich also vor dem Mord in der Nähe des Tatorts am Fluss aufgehalten haben. Kennen Sie eine Frau Namens Tanja Fedorowna? Eigentlich heißt sie Tatjana, aber in ihren Dokumenten steht fast überall Tanja, der Verniedlichungsname.»

Wehrlen hält ihm eine Fotografie vor die Augen.

«Der Name sagt mir nichts. Ist das die Ermordete?»

«Allerdings. Sie ist Russin.»

Der Kommissar runzelt die Stirne.

«Soweit wir unterrichtet sind, haben Sie familiäre Beziehungen zu Russland. Durch Ihre Großmutter. Sie sind Ikonenmaler, spezialisiert auf die Restauration christlich orthodoxer Ikonen. Waren Sie schon einmal in Russland?»

«Ich war bereits drei Mal dort. Es gibt einige für Ikonenmaler wichtige Orte, an denen berühmte Künstler gewirkt haben oder bedeutende Ikonen gefunden wurden. Es gibt Legenden, die von Wundern berichten. Man kann nicht an Ikonen arbeiten, ohne ihre Geschichten zu kennen.»

«Wo waren Sie genau?»

«Nun, ich war in Kasan, Wladimir und Smolensk. Das sind Orte, die berühmten Ikonen den Namen gegeben haben. Ein typisches Beispiel ist die Kasanskaja, die vor ungefähr fünfhundert Jahren in Kasan aufgetaucht ist.»

«Dann haben Sie also Kontakt zu Russen?»

«Ich arbeite im Auftrag. In der Regel sind die Auftraggeber aus dem Westen, aus England, USA, Deutschland. In diesen Ländern gibt es viele russische Exilgruppen aus der Sowjetzeit. Sie haben oft Ikonen mitgebracht, die sie aus den Kirchen gerettet haben, bevor diese durch die Kommunisten zerstört wurden. Manchmal handelt es sich um übermalte Objekte. Man bittet mich dann, das ursprüngliche Bild freizulegen.»

«Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu irgendwelchen Russen, oder zu Personen mit russischen Namen?»

«Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Ich spreche nicht gut russisch.»

War da nicht eine Frau mit russischem Akzent auf der Bank?

«Diese Frau, Tanja Fedorowna, ist hier nicht gemeldet. Sie ist möglicherweise kürzlich eingereist. Haben Sie zurzeit einen Restaurationsauftrag?»

«Ich glaube ja, aber in meinem gegenwärtigen geistigen Zustand kann ich mich nicht erinnern, woher die Ikone stammt, an der ich arbeite. Es tut mir leid. Sobald ich entlassen bin, werde ich meinen Psychiater aufsuchen. Er muss mir meine Hirnzellen zusammenflicken.»

«Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Außerdem wird Ihnen noch heute eine DNA-Probe von Ihrer Mundschleimhaut entnommen. Zur Sicherheit. Wir wissen ja noch nicht, welche Spuren wir auf dem Messer und an der Ermordeten nachweisen werden. Es könnte Sie entlasten.»

«Oder belasten.»

«Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen, Herr Popow. Erholen Sie sich erst einmal. Wir melden uns. Einen guten Tag noch.»

Ja, der Teufel. Ich spüre ihn. Er ist auf der Lauer. Eugen nennt ihn Schatten, mein Schatten. Und Tanja? Wer ist Tanja? Ist sie die Auftraggeberin? Die Frau, die mich angerufen hat? Kann es sein, dass ich die Ikone ...?

Der Kaffee, den man ihm gebracht hat, schmeckt bitter. So wie der heutige Tag ... und wie die Krankenschwester des Frühdiensts. Sie präsentiert sich als Ausbund von Hässlichkeit. Alex weiß nicht, ob er sie einen Tag lang ertragen kann. Sie schaut ihn böse an, wenn sie ins Zimmer kommt. Als durchschaute sie ihn. Als wisse sie, was er längst vermutet.

Wenn Gedanken sprechen könnten, hätten sie Einiges zu berichten. Alex braucht die Pflegefrau nur anzusehen, und schon purzeln die Verdächtigungen aus ihrem Mund. Zudem ist sie grob. Man kann in ihren Gesichtszügen erkennen, dass sie es geniesst, ihm den Verband zu wechseln. Jedes Mal reißt sie ihm genüsslich ein paar Haare aus. Sie wählt möglichst große Pflaster, damit beim nächsten Wechsel noch einige Haare mehr daran kleben bleiben. Und sie lässt keine Gelegenheit aus, um ihm unter die Nase zu reiben, wie groß das Loch in seinem Kopf ist.

«Es gibt noch Kaffee, dann ist fertig ausgeruht.»

Alex blickt ihr in die Augen. Sie hat ihr Makeup verschmiert, was die Frau nicht hübscher macht. Die Pupillen leuchten aufdringlich, sie blitzen regelrecht. Der Ikonenmaler hält sich am Bettgestell fest. Was er in ihnen liest, lässt ihn erschauern: Mörder!

3

«Eugen, ich habe gemordet. Zum zweiten Mal. Du weißt ...»

«Ja, ja, über deine Frau haben wir schon mehrmals gesprochen. Bitte, wir wollen dieses Thema heute beiseitelassen. Erzähl mir, was geschehen ist.»

«Wenn du nicht über meine Frau sprechen willst, dann kann ich dir nicht sagen, was geschehen ist. Es gibt eine Verbindung. Ich habe die Leiche Natalies gesehen, im Traum. Und zuvor wurde ich von einem Spaziergänger und seinem Hund, vor einer Leiche liegend, am Boden aufgefunden. Neben mir lag ein blutverschmiertes Messer. Das steht in der Zeitung. Und die Leiche ist eine Russin. Ich stehe unter Verdacht, weil ich russische Ikonen restauriere. Die Heiligenbilder wenden sich plötzlich gegen mich. Ikonomanie, deine Diagnose, ich weiß. Das Schlimmste ist, ich arbeite an einer Ikone und weiß nicht, woher ich sie habe. Vielleicht von der Leiche, ich meine von Tanja, so hiess sie, die Tote, als sie noch lebte.»

«Kennst du sie?»

«Nein, man hat mir eine Fotografie gezeigt. Ich habe keine Erinnerung an sie. Irgendetwas lässt mich an Natalie denken. Vielleicht eine Fehlschaltung meiner Synapsen. Um es offen zu sagen, ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr. Mein Kopf ist leer wie ein Sack, aus dem das Gemüse herausgefallen ist. Ich fühle mich schrecklich. Du weißt, ich mag keine Leichen in meinem Leben. Vor allem seit das mit Natalie geschehen ist. Noch weniger mag ich Messer. Sie lösen in mir Übelkeit aus. Ich benütze sie nicht einmal mehr zum Essen. Ob allem Kummer bin ich auf bestem Weg, mich in der Ikonenmystik zu verlieren. In der Ikonomanie, wie du es nennst. Ich bin zum Pilger geworden, der durch die Birkenwälder streift, der das unablässige Gebet vor sich hinmurmelt, um den Tod seiner Frau zu sühnen.»

«Du hast deine Frau in den Tod getrieben. Gut, ich verstehe, dass du dich schuldig fühlst. Du warst nicht freundlich zu ihr. Sie hat dich genervt. Das ist alles.»

«Du untertreibst, Eugen. Du weißt ganz genau, dass unsere Ehe am Ende war. Und das Messer ..., das blutige Messer neben dem leblosen Körper meiner Frau ..., es ist Zeuge der tödlichen Demütigung, die ich ihr zugefügt habe.»

«Jetzt sind wir wieder in der Falle. In der Falle des erzwungenen Suizids. Dabei wollten wir doch über die Ereignisse am Fluss sprechen. Bitte, Alex, der Klinikarzt hat mich angerufen. Er sagte, deine Tomographie zeige keine Hirnläsion. Es ist trotzdem verständlich, dass dein Gedächtnis ausgefallen ist. Der Schlag auf den Hinterkopf, der Sturz, der Schock durch die Leiche, das Messer ...»

«Was auch immer geschehen ist, Eugen, die Idee, dass jemand hinter der Ikone her sein könnte, an der ich arbeite, treibt mich in den Wahnsinn. Womöglich wurde ich wegen dieser Ikone niedergeschlagen. Verstehst du mich?»

«Wie kommst du denn darauf, dass jemand hinter dir und deiner Ikone her ist?»

«Man hat mich niedergeschlagen, um mich zum Mörder zu machen oder weil ich gemordet habe. Bewusstlose können ja nicht mehr davonrennen. Jemand will mich außer Gefecht setzen, mich vernichten.»

«Ich beginne zu verstehen. Du bist zufällig vorbeispaziert, die Frau war schon tot und der Mörder ergriff die Gelegenheit, dich am Tatort festzunageln. Oder du hast sie ermordet und der Schlägertyp war zufrieden mit deiner Arbeit. Zum Dank hat er dir ein Loch in den Schädel gerammt.»

«Keine Ahnung, warum ich an einer Leiche vorbeispazieren sollte. Normalerweise sitze ich auf meiner Bank. Das hast du mir empfohlen. Und ich tue alles, was du mir sagst, das weißt du.»

«Könnte es sein, dass du dich aus irgendeinem Grund von der Bank entfernt hast? Hat dich jemand angesprochen?»

«Es gibt in meinem Hirn eine Art Hintergrundrauschen. Es scheint, als sei da eine Frau gewesen, neben mir auf der Bank. Ich glaube, sie glich der Russin auf der Fotografie. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war sie die Besitzerin der Ikone, an der ich arbeite. Sie könnte sie mir übergeben und ich sie in meinem Atelier in Sicherheit gebracht haben. Stell dir vor, bei der Restauration würde herauskommen, dass sich hinter der Übermalung eine millionenschwere Originalikone verbirgt. Ich hätte ein perfektes Motiv, um die Frau zu ermorden. Und stell dir vor, der Verursacher meines Lochs will mich kaltstellen, um seinerseits an das Bild zu kommen ...»

«Genug, Alex, du verfängst dich in Hirngespinsten. Du brauchst Ruhe. Es war einfach zu viel für dich. Deine Ikonomanie ist in einer instabilen Phase. Ein kleiner Stress und ...»

«Da ist noch etwas, Eugen. Gestern war ich wieder am Fluss. Ich habe mich auf die Bank gesetzt. Und sie war auch da, die Frau, die Russin. Aber sie war nicht tot, sie war quietschlebendig.»

«Eine Halluzination, Alex. Wir kennen das. Nach einem Schockzustand kann es zu dissoziativen Visionen kommen. Ich kann dir das so erklären: Ein prägender Eindruck, zum Beispiel der Anblick eines Toten oder einer Toten, kann in deinem Gehirn eine Region aktivieren, die Halluzinationen erzeugt. Gleich einem Fussabdruck bleibt die Vision haften und manifestiert sich jedes Mal, wenn das auslösende Ereignis sich zurückmeldet.»

«Du meinst, jedes Mal, wenn ich mich, wie vor dem Mord, auf die Bank setze, erscheint die Halluzination der Ermordeten?»

«So ungefähr. Ich weiß nicht, ob der Vorgang sich wiederholen wird, aber im Hinblick auf deine Genesung empfehle ich dir, auf weitere Ausflüge an den Fluss zu verzichten. Es würde dich zu nahe an das Verbrechen bringen. Auch die Arbeit an der Ikone in deinem Atelier scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt kontraindiziert.»

«Die Arbeit an der Ikone zu unterbrechen ist für mich unmöglich. Wenn ich nicht arbeite, quälen mich Schuldgefühle. Es ist das Messer, Eugen, meine Frau ... Das Messer zermartert mein Gehirn. Und jetzt sind es schon deren zwei. Ich muss dieses zweite Messer gesehen haben, auch wenn ich mich nicht daran erinnere. Die blutige Klinge ist die Verbindung zwischen den beiden tödlichen Ereignissen. Sie ist die Waffe, die mein Leben zerstört.

Habe ich dir übrigens gesagt, dass die Ikone, von der ich spreche, eine Gottesmutter darstellt? Nein, das habe ich dir nicht gesagt. Aber ich denke, es ist kein Zufall. Das Marienbild lindert meinen Schmerz, es tilgt meine Schuld. Dann sehe ich das Licht der Hoffnung. Für mich ist das eine Art sakrale Psychotherapie. Jetzt siehst du, wie wichtig es ist, meine Arbeit weiterzuführen.»

«Du willst sagen, dass die Verherrlichung der Gottesmutter deine Seele heilt? So wie es die alten Russen machten, die ihre Ikonen in der Schlacht hochgehalten haben, um den Sieg zu erringen? Als dein Psychiater kann ich das verstehen, aber nur aus dem Blickwinkel der Tiefenpsychologie. Ich muss dich davor warnen, dich im Mystizismus der christlichen Orthodoxie zu verlieren. Du hast zwar russische Wurzeln. Diese Welt ist aber nicht die deine. Das Einzige, was dich mit dem russischen Mystizismus verbindet, ist dein Beruf des Ikonenrestaurators. Und wahrscheinlich deine Krankheit, die Ikonomanie.

Du bist ein faszinierender Einzelfall, Alex. Die heutige Generation leidet an der Sucht zur Selbstdarstellung. Wir nennen das auch Ikonomanie. Man fotografiert sich und entblösst sich anschließend in den sozialen Medien oder man ergötzt sich an sich selbst und eifert den Idolen nach. Diese Form der Ikonomanie gilt als gesellschaftsfähig und nicht als krankhaft. Aber du ..., du betreibst ein Ritual der Selbsterkenntnis mit Hilfe alter Archetypen. Du gehorchst den Ikonen, die dir Dieses und Jenes versprechen. Du leidest an der Krankheit in ihrer reinsten Form. Nur ..., mitunter schleichen sich fremdartige Ideen und Überzeugungen in deinen Kopf, wie zum Beispiel Messermorde. Ich will nur hoffen, dass du die Auswüchse deines Gehirns nicht in die Tat umgesetzt hast.»

«Du kannst hoffen, was du willst, Eugen. Wenn ich an meinen Ikonen arbeite, eröffnet sich mir eine ekstatische Verbundenheit mit einer Welt, die mich weit über die profane Wirklichkeit meines armseligen Lebens hinwegträgt. Ich bin dann nur noch Gast auf dieser Welt und pilgere zum heiligen Berg Athos, wie es die russischen Gottsucher und Ikonenmaler damals zu tun pflegten. Auf dem Rückweg besuche ich ein Höhlenkloster, wo mir die Starzen und Mönche den Weg weisen. Dann weiß ich: Ich bin befugt, meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende zu führen.

Die Messermorde sind keine Hirngespinste, Eugen. Sie suchen mich und sie finden mich. Ich bin wehrlos gegen sie. Wurde ich nicht neben Tanjas Leiche aufgefunden? Und meine Frau Natalie, lag sie nicht in ihrem Blut? Es gibt sehr wohl Messer und Tote in physischer Nähe zu mir. Dass mich Delikte verfolgen, ist nicht meine Einbildung. Sie gehören zu mir.

Ob ich ein Mörder bin oder nicht, werden wir sehen. Man hat mir eine DNA-Probe abgenommen. Irgendwo an der Leiche oder am Messer muss der Täter Spuren hinterlassen haben.»

«Langsam frage ich mich, Alex, ob du den Psychotherapeuten spielst. Willst du auf meinem Stuhl Platz nehmen?»

«Nein, ich arbeite lieber mit den Händen und erschaffe mir Kraft meines Körpers meine eigene Welt. Es ist die urtümlichste Art, sich zu verwirklichen.»

«Irgendwie muss ich dich bewundern. Du erschaffst aus Handwerk Geistiges, begegnest nach einem Mord der Getöteten und machst ein Messer zur Nabelschnur zweier Taten. Ich finde, dein psychischer Zustand nimmt brillante Formen an, Alex. Aber du weißt, was deine Frau angeht, bin ich nicht deiner Meinung. Wir werden ein anderes Mal darüber sprechen. Ich wurde nämlich gebeten, einen Diskurs über die Beziehung zwischen Ikonomanie und den Abgründen der menschlichen Seele zu halten. Und mein Vortrag vor der Gesellschaft für sakrale Mystik beginnt in exakt fünfundzwanzig Minuten.»

«Ich wünsche dir viel Erfolg.»

Alex bleibt lange im Sprechzimmer des Professors sitzen. Die Gedanken jagen ihn. Das Gespräch mit dem Psychiater hat nicht viel gebracht. Er fühlt sich keinen Deut besser. Die Ungewissheit nagt immer mehr an seinem Verstand. Was ihn am meisten beunruhigt, ist das wiederholte Aufblitzen der Messerklinge in seinem Kopf. Hier muss es einen Zusammenhang zu den Ereignissen geben. Kein Gehirn kann etwas speichern, das nie stattgefunden hat. Keine Datenplatte speichert Bits, die nicht eingegeben wurden. Auch Erinnerung ist nichts anderes als neuraler Transport von Impulsen.

Wie hat Eugen die Messermorde bezeichnet? Als fremdartige Ideen? Wie kann ein Psychiater Ideen als fremdartig bezeichnen, wenn sie dem menschlichen Gehirn entspringen? Für ihn, Alex, sind die Messer die Instrumente, die sein Leben zerschnitten haben. Unabhängig davon, ob sie zum Morden benutzt wurden oder nicht. Auch wenn sein Erinnerungspegel auf null gesunken ist, steht für ihn fest, dass die Messer einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Insofern muss er seinem Psychotherapeuten widersprechen.

Mit Eugens Ansichten kann er sich einfach nicht anfreunden. Ein Seelenklempner kann sich nicht ins Gehirn seines Patienten setzen. Er kann nur Symptome interpretieren. Niemals wird Alex die Arbeit an der Ikone unterbrechen.

Diese Arbeit ist für das seelische Gleichgewicht des Ikonenmalers zu wichtig. Ebenso erscheint ihm widersinnig, dass er die Bank am Fluss meiden soll. Dort hat das Unheil begonnen, jedenfalls das zweite. Er muss sich der Wirklichkeit stellen, will er seinem entleerten Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wo könnte das besser gelingen, als in der Nähe des Tatorts? Wer könnte ihm besser helfen als seine Halluzination der toten Tanja, wenn es denn eine ist?

4

«Ich habe auf Sie gewartet».

Die Stimme gehört der Frau mit dem blonden Haarschopf. Alex erkennt die Russin sofort. Sie sitzt auf seiner Bank. Er weiß nicht, ob er erfreut sein oder panisch werden soll. Ungefähr zehn Schritte vor der Frau hält er an. Er sieht sie von hinten. Sie hat einen Arm über die Rückenlehne geschlagen. Ein völlig normaler Anblick. Alex findet es allerdings merkwürdig, dass das Plätschern des Wassers nicht zu hören ist. Auch die Vögel sind verstummt. Er reibt sich am Ohr. Totenstille. Leichenstille, könnte man sagen.

Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten. Nummer eins: davonrennen. Nummer zwei: mich der Wahrheitssuche opfern. Option Nummer zwei macht mir zwar Angst, aber sie ist die Favoritin. Wenn ich etwas für mein Gedächtnis tun will, MUSS ich mich auf die Bank setzen. Ganz nach dem Motto ‘retten, was noch zu retten ist’.

Es liegt nicht in seiner Natur, vor den Schrecken des Lebens zu fliehen. Also nähert sich Alex der Frau. Dabei hält er sie fest im Blick, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich sitzen bleibt. Sie bleibt. Je mehr er sich abmüht, die Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, umso mehr erscheinen ihm ihre Konturen unscharf. Und noch etwas fällt dem Ikonenmaler auf: Die Frau bewegt sich nicht.

Wenn man eine Tote sieht, die nicht mehr tot ist, und die wie eine Lebendige aussieht, dann fragt man sich, ob die Beobachtung in der Wirklichkeit angesiedelt ist. Aber das Knirschen seiner Schritte auf dem steinigen Weg beruhigt Alex: Die vertrauten Geräusche sprechen für das reale Hier und Jetzt.

Der Ikonenmaler setzt sich. Er schaut die Frau nicht an, sondern blickt geradeaus Richtung Fluss.

«Ich dachte, Sie wären tot.»

«Aber nein, mein Lieber. Können Sie sich nicht erinnern? Wir treffen uns nicht zum ersten Mal. Wo ist die Ikone?»

«Was meinen Sie damit?»

«Sie haben richtig gehört: wo ist die Tasche mit der Ikone, die ich Ihnen gegeben habe?»

«Sie haben mir eine Ikone gegeben?»

«